|a[1]| Gotthilf Samuel Steinbart’s
Königl. Preußl. Consistorialraths und öffentlichen Lehrers der
Gottesgelehrsamkeit und Vernunftweisheit bey der
Universität zu Frankfurth an der Oder

System
der reinen
Philosophie oder Glückseligkeitslehre
des
Christenthums

für die
Bedürfnisse seiner aufgeklärten Landesleute
und andrer
die nach Weisheit fragen
eingerichtet.


Züllichau,
in der Waysenhaus und Frommannischen Buchhandlung.
1778.
|a[2]|
|a[3]| An Seine
Hochfreyherrliche Excellenz
den Hochgebornen Herrn
Carl Abraham
Freyherrn von Zedlitz
Königl. würklichen Geheimen Etats- und
Justitz-Minister,
Erbherrn auf Capsdorf, Michelwitz etc.
als
Chef des geistlichen Departement
und
Obercuratoren der Universitäten. |a[4]|
|a[5]| Hochgeborner Freyherr,
Höchstgebietender Herr Geheimer Etatsminister,
Mein gnädiger Chef.
Als Ew. Hochfreyherrl. Excellenz mir vor vier Jahren das öffentliche Lehramt der Gottesgelehrsamkeit bey der hiesigen Universität, mit Genehmigung des Königes, übertrugen, hatte ich bereits einige Jahre vorher das Glück genossen, bey der Bearbeitung der Entwürfe zur weitern Aufklärung und Verbesserung der Sittlichkeit unsrer Nation Ew. Excellenz nach meiner |a[6]| ganzen Denkungsart näher bekannt geworden zu seyn. Ew. Hochfreyherrl. Excellenz äußerten in dieser Rücksicht das Zutrauen zu mir, daß ich in meinem akademischen Amte solche Prediger bilden würde, wie sie die Einwohner der königl. Länder und besonders der Marken nach dem jetzigen Maaß ihrer Cultur bedürften. Ich habe meine ehrerbietigste Dankbegierde gegen dieses gnädige Zutrauen nur durch das Bestreben, mich vermittelst der emsigsten Erfüllung meiner Amtspflichten, desselben immer würdiger zu machen, in dem engen Bezirk meines Hörsals bisher geäußert: weil ich zuvörderst alle Disciplinen, welche Lehrer der Weisheit für ein gesittetes Volk auszubilden erforderlich sind, vollständig ausarbeiten wollte, bevor ich einzelne Theile meines Plans öffentlich bekannt machte. Ich habe nun diese Arbeit vollendet; und überreiche hiermit Ewr. Hochfreyherrl. Excellenz, als hohem Chef der Kirchen in den Preußl. Staaten, welchem der König die Fürsorge für |a[7]| den Geist der Nation übertragen hat, mein System über die Glückseligkeitslehre des Christenthums, und über den großen Einfluß desselben auf die Wohlfahrt der Völker. Da von der immer mehrern Berichtigung dieses Systems der ganze Nutzen des öffentlichen Lehramtes bey der Nation abhängt, so ist dieses ein Gegenstand der Ewr. Hochfreyherrl. Excellenz ganze Aufmerksamkeit verdient. Des Königes Maj. beschließen das huldreiche Handschreiben, darin Sie mich der gnädigen Aufnahme der Ihnen zugeschriebenen Prüfung der Beweggründe zur Tugend aus dem Grundsatz der Selbstliebe, zu versichern geruhet haben, mit den merkwürdigen Worten: Les Chretiens se font dans de certaines circonstances une morale bien oposée à celle, qu’ils envisagent comme divine. Il seroit utile de bien lever cette difficulté, et très important de rechercher la meilleure maniere de former les hommes, pour que l’amour propre |a[8]| soutenu, si vous le voulez, par votre principe, fasse sur eux, dans toutes les circonstances de leur vie, l’impression la plus promte, la plus sure, la plus generale et la plus constante. Diesen großen Zweck, ein habituell wirksames Erkentniß von den Vortheilen einer durchaus tugendhaften Denkungsart unter allen Umständen des Lebens, in der Nation zu verbreiten, habe ich ganz eigentlich durch die gegenwärtige Schrift, vermittelst der Wiederherstellung der reinen Philosophie des Christenthums zu befördern gesucht. Ew. Hochfreyherrl. Excellenz ersuche ich nun ehrerbietigst, und vor dem zuhorchenden Publikum feyerlichst, mein System über die christliche Glückseligkeitslehre theils Selbst nach Dero erleuchteten und tiefdringenden Einsicht in wahre und gemeinnützige Weisheit einer eignen genauern Prüfung zu würdigen: theils dasselbe auch von den rechtschaffensten und gelehrtesten geistlichen Räthen des Königes, den Vätern der |a[9]| Kirchen von beyden Confessionen, untersuchen zu lassen, und derselben Gutachten zu erfordern. Die höhere Genehmigung meines Systems von Seiten des hohen Departement der geistlichen Sachen im königlichen Etatsministerium, dem nur allein in den königlichen Staaten das oberrichterliche Amt, was zum Besten der gesamten Nation öffentlich gelehret werden darf, zukommt, wird mir zur besondern Aufmunterung gereichen, in meinem Standpunkt und so weit der Bezirk meiner Wirksamkeit reicht, nach allen meinen Kräften zur Beförderung der großen und wohlthätigen Entwürfe Ewr. Hochfreyherrl. Excellenz in Absicht der Nationalcultur beyzutragen. Hierdurch hoffe ich zugleich am eigentlichsten mich der vorzüglichen Protection und des besonders gnädigen Wohlwollens ferner empfänglich zu machen, wodurch Ew. Hochfreyherrl. Excellenz mich bisher in so vieler Beziehung zu der ehrfurchtsvollsten |a[10]| Dankbarkeit Ihnen verpflichtet haben, mit welcher ich zeitlebens seyn werde
Ewr. Hochfreyherrl. Excellenz,
Meines gnädigen Chef und Herren
Frankfurth
den 11ten May
1778.
amtsunterthäniger und ganz eigner devotester Verehrer
Gotthilf Samuel Steinbart.

|a[I]| Anrede an das lesende Publikum .

Es ist dieses die erste Schrift, in welcher ich unter meinem eignen Namen im Publikum erscheine. In meinen bisherigen kleinen Abhandlungen habe ich nur incognito einige denkende Leute unterhalten wollen. Nicht alle unbenahmte Schriften, die man mir in öffentlichen Blättern zugeeignet hat, sind von mir; und auch nach denen, welche es sind, möchte ich nicht gern gerade zu beurtheilet werden. Die Reisekleider machen mich darin unkenntlich; denn ich habe sie insgesamt in einigen Zwischenstunden auf meinen Geschäftsreisen, wenn ich irgends wo einige Tage müßig bleiben mußte, entworfen. Da ich mir nun künftig zum öftern eine förmliche Audienz beym Publikum zu erbitten gedenke, und mir sehr viel an einer gün|aII|stigen Aufnahme gelegen ist, so erkenne ich es für eine Pflicht des Wohlstandes und der guten Ordnung mich zuvor wegen meiner schriftstellerischen Herkunft öffentlich zu legitimiren. Es wird dieses am leichtesten durch eine kurze Erzählung der Geschichte meiner Erkentnisse bewirkt werden können.
Ich bin von einem Vater erzogen worden, der von der Seite seines natürlichen Verstandes, seiner Einsichten in die Geschäfte des Lebens, seiner Arbeitsamkeit, vorzüglich aber, wegen seiner Rechtschaffenheit und Amtstreue ein wirklich großer und recht vorzüglicher Mann war; allein die Denkungsart desselben über Religionswahrheiten war zu der Zeit in Halle ausgebildet worden, da verschiedne würdige Männer sich rühmlichst bemüheten, den bisherigen ganz speculativen und polemischen Vortrag des Christenthums mehr für das Herz der Menschen zur Erweckung guter Gesinnungen einzurichten; dabey aber, wie es gewöhnlich geschieht, auf der andern Seite zu weit gingen, und auf eine mystische Sprache verfielen, die zwar gute Empfindungen erregte, aber nicht geschickt war, den Verstand gehörig zu erleuchten, und deutliche gründliche Einsichten in den Zusammenhang der Wahrheiten hervorzubringen. In dieser Sprache ward ich über die Religion unterrichtet, und dabey zu überhäuften Andachtsübungen angehalten. Bisweilen durchliefen gewisse warme angenehme Gefühle mein Herz, die ich für Seligkeit hielt: öfters aber befand ich mich in der größten Unruhe und Aengstlichkeit, weil ich mich überredete, es läge nur an mir selbst, daß ich den über|aIII|spannten Anforderungen der Religion nicht genügen könnte. Nicht selten fiel mir dann bey, ich fehlte nur darin, daß ich zu viel mitwirken wollte, und dann gab ich mir nicht weiter Mühe, auf mich selbst aufmerksam zu seyn, sondern überließ mich allen jugendlichen Empfindungen in der Erwartung, daß die Gnade wol zu rechter Zeit mich wieder ergreifen würde.
Mit dieser Gemüthsfassung brachte mich mein Vater auf die berühmte Schule des Klosters Bergen. Auch hier herrschte noch damals der mystische Lehrton in öffentlichen Religionsvorträgen und mein Vater ward sehr gerne gehört. In den theologischen Classen lernten wir dagegen nach Baumgartens Dogmatik und Polemik Begriffe kunstmäßig spalten und bis in solche kleine Theile zergliedern, die nicht mehr mit dem bloßen Verstande, sondern nur vermittelst dazu ganz eigentlich zugespitzter technischer Redformeln annoch gefaßt werden können. Dis hatte ich auch schon selbst so ziemlich gelernt, daß ich nachkünsteln konnte, aber das Geheimniß aus allen Splittern wiederum ein richtig zusammenhangendes Ganze, einen vollständig deutlichen Sachbegrif, zusammenzusetzen, ward uns nicht beygebracht, und ist mir ein Geheimniß geblieben, daher ich auch in der Folge diese ganze Kunst als für mich unfruchtbar aufgegeben habe. Wer mir einen deutlichen Begrif von einer Taschenuhr machen will, der zerlege mir solche in ihre merklich verschiedene größern Theile, und zeige mir diese einzeln von allen Seiten, und dann die Art der Zusammensetzung, so werde ich alles be|aIV|greifen; wer aber die Räder in ihre Zähne zerspaltet und aus jedem Stift noch neue Theile macht, der wird meine Vorstellung von der Uhr mehr verwirren als aufklären. Denn wie kann das was in Staub zermalmet ist, als ein nach allen Theilen vollkommnes zusammenhängendes Ganze übersehen werden. Möchten doch die scharfsinnigen Gelehrten sich der Gränzen, wie weit jede Zergliederung der Begriffe zweckmäßig ist, allezeit deutlich bewußt bleiben! wie viele ängstliche Mühe würden sie ihren Schülern ersparen, wie viel reeller und praktischer würde das Erkentniß von vielen Wahrheiten seyn, worüber die Aufmerksamkeit durch so vielen Wortkram zerstreuet wird.
Die vortrefliche Anweisungen, welche ich dagegen in der Mathematik, Physik, Philosophie und den schönen Wissenschaften auf Bergen erhielt, brachten mir einen wahren Geschmack am Studiren und an der Lektüre bey. Ich ward in die Gesellschaft einiger der geschicktesten Pädagogisten aufgenommen, welche insgeheim eine auserlesene Bibliothek verbotener Bücher in einer Krankenstube, deren schwächlicher Bewohner der Haupteigenthümer derselben war, verborgen hielten. Hier laß ich unter andern auch die Schriften des Philosophen von Ferney; anfänglich mit großer Beunruhigung und Aengstlichkeit, indem ich gern meinen bisherigen Glauben wider den Spötter vertheidigen wollte, und doch zum öftern gezwungen ward ihm beyzustimmen: nach und nach mit immer größerer Begierde und Beyfall. Endlich kam es mit mir so weit, |aV| daß ich deutlich einsahe, ich müßte entweder den bon sens verabschieden und auf den Gebrauch meiner eignen gesunden Vernunft auf immer Verzicht thun, oder aber mein ganz Religionssystem aufgeben. Das erste war mir unmöglich und also erfolgte nach vielem Kämpfen das letzte. Ich ward also ein theoretischer Freygeist, behielt aber dabey die mir durch meine Erziehung habituell gewordne Ehrfurcht gegen Gott und gegen die Stimme meines Gewissens bey.
Ich war bestimmt der Nachfolger meines Vaters in der Direction des Züllichauischen Waysenhauses zu werden. Diese Stiftung meiner Vorältern hat in ihrer vom Könige ertheilten Fundation das Privilegium erhalten, daß der jedesmalige Director seinen Nachfolger ernennen kann. Als der einzige Sohn meines Vaters hatte ich also bereits von Kindheit an in den Posten desselben eine sichere Aussicht gehabt und mich an dieselbe gewöhnt. Da der Director des Waysenhauses nicht nothwendig zugleich Prediger an demselben oder überhaupt ein Theologe seyn muß, obgleich mein Vater beyde Aemter verwaltet hatte, so machte ich meinen Entwurf dahin, daß ich blos auf die Erziehungskunst studiren und mich äußerlich zur theologischen Facultät bekennen wollte, ohne mich eigentlich dem Predigtamte zu widmen.
Der damalige Abt des Klosters Bergen, der ehrwürdige Steinmetz, welchen ich nie ohne dankbare Hochachtung nennen werde, hatte schon ehedem, als er noch in Teschen stund eine sehr genaue Freund|aVI|schaft mit meinem Vater errichtet, welche durch die Aehnlichkeit ihrer theologischen Denkungsart veranlasset, und durch ihr gemeinschaftliches Interesse gegen die Herrnhüther, die sich beyder Begünstigung gerühmt hatten, noch mehr befestiget worden war.
Der Abt hatte daher meinem Vater die Pension für mich zur Hälfte erlassen und mich dagegen unter diejenigen aufgenommen, welche ihm in den Abendstunden wöchentlich einmal vorlesen mußten. Aber selten ließ er mich vorlesen; sondern er wandte die dazu ausgesetzte Stunden (weil ihm meine Bestimmung zum Vorsteher eines öffentlichen Erziehungshauses bekannt war,) größtentheils dazu an, mich über das Schulwesen überhaupt und insonderheit über die Pflichten und Klugheitsregeln bey der Direction einer öffentlichen Anstalt zu unterrichten. Diesem bekanntlich großen und erfahrnen Schulmanne habe ich die ersten Erweckungen zu dem allgemeinen Vorsatz mich den Erziehungsgeschäften überhaupt und ins Große zu widmen, zu verdanken, weil ich frühzeitig einsehen lernte, wie viel hierin noch auszurichten möglich sey. Der größte Theil meiner Zeit und meines Nachdenkens ist diesem Studium seitdem gewidmet geblieben, und ich werde dem Publikum das Resultat meiner Untersuchungen und eignen Erfahrungen nächstens in meinem Entwurf zu einer mit jedem Grade der Aufklärung einer Nation sich vervollkommenden allgemeinen Verbesserung der öffentlichen Erziehung und des Schulwesens zu seiner Zeit, und wenn wir Friede bekommen, vielleicht im kurzen vorlegen.
|aVII| Nun bezog ich die Universität zu Halle. Hier war Baumgarten zu der Zeit das Orakel der Theologen. Ich bemerkte bald, daß die äußere Lage dieses in so verschiedenen Fächern helldenkenden und scharfsinnigen Mannes ihn in seinen öffentlichen Vorlesungen und Schriften nöthigte dunkel zu bleiben und blos denen, die Fähigkeit hatten weiter zu forschen, die nöthigen Winke zu geben. Indes hofte ich ihn bey privat Unterredung offenherziger und freymüthiger zu finden. Ich setzte also meine wichtigsten Zweifel gegen das Christenthum auf, und übergab ihm solche mit dem Vorgeben, daß ein gewisser, damals in Halle studirender Cavalier, der als Freygeist bekannt war, mir solche vorgelegt hätte, ihm dieselbe aufzulösen, und ersuchte den Herrn Doctor darüber um einige Rathgebung. Herr Baumgarten sahe mein Blatt kaltblütig durch und gab mir darauf zur Antwort: „sie müssen sich niemals mit einem Naturalisten über Religionsfragen einlassen, bevor er ihnen nicht seine Prinzipien, was er für ausgemachte Wahrheit hält schriftlich vorgelegt hat: Denn die Herren leugnen immer rückwärts, wenn sie in die Enge getrieben werden, und haben oft am Ende gar keine Prinzipien. Suchen sie ihren Freund dahin zu bestimmen, daß er ihnen das, was er in Absicht der Religion glaubt und für erwiesen hält schriftlich aufsetze und unterschreibe: alsdann haben wir Prinzipien, wo wir anfangen und weiter fortbauen können, und wenn sie mir einen solchen schriftlichen Aufsatz bringen, so will ich ihnen eine Anleitung geben, wie sie weiter verfahren |aVIII| sollen.“ – – Ich eilte mit Freuden nach meiner Studierstube, weil ich glaubte, nichts könnte leichter für mich seyn, als ein kleines System der Wahrheiten, die ich für unbezweifelt hielt, aufzuführen. Allein kaum fieng ich zu arbeiten an, so ward ich gewahr, wie viel unbestimmtes und unzusammenhangendes in meinen Begriffen und Meinungen war, und wie sehr es mir noch an der Fertigkeit fehlte meine Gedanken für einen so scharfsinnigen methodischen Mann, wie Herr Baumgarten war, erträglich zu ordnen. Baumgarten starb etwa acht Monath nachher, ehe ich mit meinem System fertig geworden war. Aber unschätzbar ist mir demohngeachtet der Rath dieses großen Mannes geblieben. Ich ward dadurch erweckt, zeitig auf ein eignes System zu denken, und so schwer es anfangs damit hielt, einige Grundlage zu demselbigen zu machen, so habe ich doch in der Folge in mein ganzes Studiren frühzeitig Licht und Zusammenhang gebracht. Alles was ich hörte und laß, dachte ich in Beziehung auf mein System. Ich blieb mir immer bewußt, wie weit ich in der zuverläßigen Erkentniß gekommen wäre, und wo es mir eigentlich an Klarheit, Bestimmtheit, Gewißheit der Begriffe und Hauptwahrheiten noch fehlete: und so wuchs, wiewol langsam, dennoch mein gelehrtes und scientivisches Erkentniß allmälig zu etwas Ganzem heran.
|aIX| Die Annäherung der feindlichen Kriegesheere in die Gegend von Halle nöthigten mich, um von meinem Vater nicht allzu lange abgeschnitten zu werden nach Frankfurth zu gehen. Hier fand ich an dem vortreflichen Töllner einen Freund und Vater, der mir bald so viel Zutrauen einflößte, daß ich ihm meine ganze Gemüthslage entdeckte. Ich wohnte bey ihm, speisete an seinem Tisch und war sein beständiger Begleiter auf allen seinen Spatziergängen. Er vertröstete mich wegen aller meiner Zweifel, daß wenn ich den ganzen Cursus der theologischen Disciplinen unter ihm machen würde, mir aus seinen Vorlesungen alles deutlich und gewiß werden sollte, und erlaubte mir ihm täglich gegen alles, was mir in seinem Unterricht zweifelhaft geblieben wäre, meine Bedenken zu eröfnen; wir disputirten demnach täglich. Ich lernte dabey ungemein viel, aber größtentheils war mein Nachgeben über so viele Hypothesen des Kirchensystems mehr die Wirkung der Ehrerbietung, die ein Schüler seinem Lehrer schuldig ist, als der gänzlichen Ueberzeugung; und Herr Töllner fühlte und bemerkte dis selbst nur allzuwol, ohne jedoch darüber unwillig zu seyn. Bis an das Ende dieses würdigen Mannes haben unsre Dispüten, so wie unsre wärmste Freundschaft fortgedauert: aber meine ehrfurchtsvollste Dankbarkeit, wird nie so lange ich lebe, gegen ihn verringert werden.
|aX| Von Frankfurth gieng ich nach Berlin, um als Lehrer an der vom Oberconsistorialrath Hecker, meinem nachmaligen Schwager, gestifteten Realschule, die für so viele andre ein Muster geworden ist, das vorzüglichste wodurch sie sich unterschied, zu meiner weitern Bestimmung zu erlernen. Damals genoß Berlin noch nicht das Glück, daß die einsichtsvollern Prediger ihre Aufschlüsse öffentlich mitgetheilt hätten. Der freymüthige Sack war in Magdeburg, und die herrschende Denkart im Oberconsistorium war unbestimmt oder doch vor den Augen der Candidaten ein Räthsel.
Von Berlin kehrte ich also nach Züllichau zurück ohne in meiner theologischen Erkentniß einen merklichen Anwachs des Lichts erhalten zu haben, außer demjenigen, welches mir das Lesen besonders der Lockischen und Fosterschen Schriften verschaffet hatte. Diesen meinen zween Lieblingsautoren bin ich nicht nur viel materielle Aufschlüsse, sondern auch eine große Verbesserung meines formalen Denkens überhaupt und in der Theologie insonderheit schuldig. So weit war ich indes im System meines Religionserkentnisses bereits gekommen, daß ich aus der Geschichte der Gottesdienstlichkeiten unter Juden und Heiden deutlich einsahe, Jesus sey ein außerordentlicher Mann von seltenen Talenten und seltener Rechtschaffenheit gewesen. Ich hielt mich an die |aXI| ihm eigenthümliche und von seinem Liebling, dem Johannes, so oft relevirte Begriffe, daß Gott nur als Vater angesehen, nur geliebt nicht gefürchtet werden will, für alle Umstände und kleinste Veränderung unsers Lebens sorgt, und blos durch Redlichkeit und wohlwollende Gesinnungen gegen andere unter dem frölichsten und vernünftigsten Genuß alles Guten in der Welt von uns dankbar verehret werden will. Die andern Apostel schienen mir alle etwas aus ihrem vorigen privat System übrig behalten und der Lehre Jesu beygemischt zu haben. Wenn ich im alten Testament gelesen hatte, fiel mir allemal der Ausspruch Christi Joh. 10, 8, aufs Herz: alle die vor mir gewesen sind, sind Diebe und Mörder gewesen: und dieser schien mir so durchaus in seiner ganzen Ausdehnung wahr, daß alles in der mosaischen Religion nur auf Ausplünderung der einfältigen Juden angesehn gewesen sey, und diese arme Leute überdis noch Todesangst und übertriebne Furcht vor dem Zorn Gottes statt einiges Dankes von den Priestern überkommen hätten. Nachdem ich aber nachher die Geschichte der Religionen sorgfältiger studiret, mich in die Lage Mosis, und in den ganzen Plan der theokratischen Regierungsform hineingedacht, und die Reden der Propheten in Beziehung auf den Grad der Cultur der jüdischen Nation nach ihrer nächsten begränzten Absicht mir erkläret habe, so bin ich bestimmt worden, Christi Worten eine etwas gelindere Bedeutung zu geben, obgleich die Hauptbegriffe dieselben und völlig wahr bleiben, daß alle herrschende Religionsmeinungen unter den Juden, den Menschen mehr Vortheile und Freuden des Lebens geraubt als gegeben, sie mehr geängstiget und in Schrecken gesetzt als beruhiget und mit Hoffnungen erfüllet haben.
In meinem 32. Jahre bin ich mit meinem gesamten System über die Glückseligkeit und über die christliche Religion im Verhältniß gegen einander zu Stande gekommen, und habe mich auf eine feste Art überzeugt, daß der Geist der Anweisungen Christi ein göttlicher Geist ist, und der gesamte Plan des Christenthums genau mit dem ganzen Plan Gottes in der Natur übereinstimmt. Kein Trieb mich durch Neuerungen in der Lehre nahmkundiger zu machen hat mich verleitet mit Bekanntmachung dessen, was ich etwa besser als andre zu erkennen glaubte, zu eilen. Ich wünschte vielmehr, daß manches schon vor mir von vielen gesagt wäre, was ich in dieser Schrift sagen mußte, weil die erste Behauptungen den herrschenden Lehrmeinungen entgegen gesetzt sind, selten eine günstige Aufnahme erwarten können, als etwa bey den Stillen im Lande. Mein Wunsch ist auch zum Theil erreicht, und sehr vieles ist seit 8 Jahren öffentlich gesagt worden, was nun nicht mehr unerhört |aXIII| und ganz fremd klingen wird. Ich hatte mir aus der Ueberzeugung, daß auch unsre vollständig berichtigt scheinende Einsichten durch Erfahrung, durch Besprechung mit andern Gelehrten und durch Nachlesen, noch in immer höherm Grade gereiniget und bestimmter gemacht werden können, fest vorgenommen vor dem vierzigsten Jahre meines Alters nichts wichtiges über die allgemeine Verbesserung in der Religion oder öffentlichen Erziehung zu schreiben. Ich bin im verflossenen Herbst in mein 40tes Jahr getreten, und nun halte ich mich verpflichtet zu wirken, weil es Tag ist, und mit derjenigen Freymüthigkeit, welche meine innre Ueberzeugungen von mir fordern, und wozu mein akademisch theologisch Lehramt und der ausdrückliche Auftrag meiner Obern mich berechtiget und verpflichtet, das ganze Resultat meiner mehrjährigen gewissenhaften Nachforschung nach Licht und Wahrheit dem Publikum vorzulegen. Ich habe in den letztern acht Jahren keinen Hauptbegrif meines Systems zu verändern nöthig gefunden, aber wol hat mich das unschätzbare Wörterbuch des Herrn Oberconsistorialrath W. A. Tellers in den Stand gesetzt, viele Stellen der apostolischen Schriften, die ich ihrer Dunkelheit wegen dahin gestellet lassen seyn mußte, dem Geist der Religion Jesu anständig zu finden und nach ihrer wahren Abzweckung besser zu erklären.
|aXIV| Ich habe ehedem niemals darauf gedacht ein akademischer Lehrer zu werden. Meine Aussicht ging dahin, die Züllichauische Erziehungsanstalten zu einer allgemeinen Normalschule zu erweitern, auf welcher Schulmänner zur wahren Aufklärung der Nationen für alle Classen der Schulen ausgebildet werden könnten. Hierzu machte ich die Voranstalten unter der Hoffnung einer sehr großen Unterstützung. Meine Plans wurden von des Herrn Etatsministers Freyherrn von Münchhausen Excellenz, als meinem damaligen höchsten Chef, so wie nachher von meinem jetzigen Chef des Herrn Geheimen Etatsministers Freyherrn von Zedlitz Excellenz durchaus gebilliget und ihre Ausführung unterstützt: ja Se. Königl. Majestät ertheilten Höchstselbst mir die allgemeine Postfreyheit zur Correspondenz über das allgemeine Schulverbesserungswesen in ihren sämtlichen Ländern. Allein mein Vermögen ward erschöpfet, ehe die bequeme Zeit zur Ausmittelung eines hinlänglichen Fonds eintrat; und man muß abwarten bis anderweitige Bedürfnisse des Staats solche verstatten werden. Um indes meinen Geschäftskreiß zu erweitern, ward mir das akademische Lehramt hieselbst mit Beybehaltung meiner bisherigen Aemter übertragen. Wegen des allgemeinen Schulverbesserungsplans werde ich die Erwartung des Publikums nächstens durch Vorlegung desselben befriedigen. Die Hauptidee dabey ist diese, |aXV| daß zwischen dem gelehrten Stande, als dem denkenden Kopf, und den arbeitsamen Ständen, als den Händen am Staatskörper die jetzt fast gänzlich fehlende nähere Verknüpfung hervorgebracht werden muß.
Man wird schon vermuthen, daß ich mir auch bey dem Plan über meine akademische Arbeiten eine neue Bahn gebrochen haben werde. Da ich mehrere Jahre hindurch in allerley Geschäften des bürgerlichen Lebens und auf vielerley Feldern desselben geübt worden bin, so habe ich die Welt von viel mehreren Seiten kennen gelernt, als sie aus dem Fenster der Studirstube betrachtet werden kann; und hierdurch hat allerdings meine auf Schulen eingesamlete Gelehrsamkeit eine große und allgemeine Reform erleiden müssen. Wie vieles lernen wir noch, was uns im geschäftigen Leben ganz unnütz bleibt! wie vieles sollten wir frühzeitig lernen und üben, wozu uns kein Lehrer eine Anweisung giebt!
Die Theologen studiren gewöhnlich gerade so als ob sie nur um andrer Theologen willen in der Welt wären, und doch ist unleugbar, daß sie nur um derer willen da sind, die nicht Theologie studirt haben. Einem Prediger gehet in der Welt kein andrer Theologe etwas an, sondern er ist um seiner Gemeine willen da, und wenn er diese ruhiger, zufriedner, weiser macht, so erfüllet er seine Bestimmung. We|aXVI|der er noch seine Gemeine verliert oder gewinnt dabey etwas, daß die Wahrheiten welche er vorträgt, von andern Theologen eben so oder anders gedacht werden; schon lange oder erst seit kurzen erkannt worden sind. Doch ich breche hier ab und behalte mir vor in einigen Nachträgen zu dieser Schrift theils über meine bisherige anonymische Kleinigkeiten, theils über den Plan meines akademischen Unterrichts, theils über den Gebrauch dieser Schrift noch manches zu sagen, da die Messe mich übereilt hat, diese Schrift zu ihrer ganzen Bestimmung zu vollenden.
Nun noch eine vorläufige Bitte an meine Leser, die ich in drey Classen eintheile:
  • 1. an die, welche mich an Einsichten übertreffen und mich beurtheilen können: Sie, theureste Männer ersuche ich in meiner Schrift auf zwey Punkte vorzüglich aufmerksam zu seyn, und mich was sie darüber besseres erkennen zu lehren:
    • a) was menschliche Glückseligkeit sey? denn hiervon hängt doch unleugbar das Urtheil ab, ob ein Weg dazu führe oder nicht?
    • b) ob eine wahre göttliche Offenbarung etwas positives enthalten könne: oder, ob in Gottes Gesinnungen, Vorschriften und Strafen etwas willkührliches statt haben könne? wie viel hiervon abhängt darf ich Ihnen nicht sagen. |aXVII|
  • 2. an die, welche Unterricht und Licht suchen: Sie bitte ich, Freunde der Wahrheit, diese Schrift nicht blos zu lesen, sondern ganz eigentlich zu studiren. Ich habe vieles zusammengedrängt und wünsche daher, daß sie oft mitten im Paragraphen absetzen, und erst das gesagte umständlicher überdenken möchten, ehe sie weiter lesen, auch daß sie das Aufschlagen der Sprüche nirgends verabsäumen wollten.
  • 3. an diejenigen, welche glauben, daß jede Abweichung vom Kirchensystem ein Verbrechen sey: Sie, Freunde des Herkommens, habe ich zu bitten, daß sie Gott und denen obrigkeitlichen Personen, welchen es allein zukommt zu richten, nicht vorgreifen und sich erinnern, daß eigentlich der Protestantismus im Gegensatz des Pabstthums darin bestehet: daß die heilige Schrift die einzige Erkentnißquelle und Schiedsrichterin in der christlichen Religion seyn solle, und daß keine menschliche Autorität die Auslegung derselben einzuschränken berechtiget sey. Ich kenne keinen andern Grundsatz, der eigentlich symbolisch wäre als diesen, und also muß ich als Protestant, als Theologe, als Professor, der mit Luthern schlechterdings gleiche Rechte hat, nothwendig so lehren, wie ich beym gewissenhaften Gebrauch aller jetzt vorhandnen Auslegungsmittel den Unterricht Christi und der Apostel verstehe. Eine |aXVIII| Wahrheit kann dadurch, daß dieser oder jener sie denkt oder nicht denkt, daß sie schon von vielen oder noch wenigen erst gesagt ist, an sich keine Abänderung erleiden.
4. an alle, daß sie vor Durchlesung des Buches die Druckfehler welche am Schlusse bemerkt werden sollen vorher verbessern, weil manche den Verstand einiger Stellen verderben. Da ich nur die ersten acht Bogen abgedruckt gesehen habe, so bitte ich sogleich darin folgende Hauptfehler zu verbessern:
Seite Zeile Anstatt lese man
3, 19. und Philologie um Philologie
5, 23. werd ich ward ich
22, 10. Stütze Reitze
24, 22. überwege überwiege
27, 25. intensirer intensiver
29, 17. das geringste als das geringste
31, 1. erhalten überkomme
13. und damals uns damals
72 letzte Zeile. durch Ueberzeugung die Ueberzeugung
81, 2. wird je je könne
82, 8 von u. ein einen
91, 4 von u. welcher welche
94, 4 v. oben und also und ihnen also
3 von u. Milere Mileve
99, 9. demnach dennoch
7 v. Ende Stude feu de
101, 20. beträgt beyträgt
104, 25. ein Gegensatz im Gegensatz
113, 2 von u. Dispotion Disposition
120, 4–5 von u. ge-samen gehorsamen
126, 3. ηθενει ησθενει
letzte Zeile aufgehoben aufgeschoben
127, letzte Zeile steige steigt