Vorwort

Die „Bibliothek der Neologie“ verfolgt das Ziel, zehn zentrale, in sich geschlossene Texte oder Textsammlungen der den Kernbestand deutscher Aufklärungstheologie markierenden Neologie in kritischer Hybrid-Edition und damit in einer für die interdisziplinäre Forschung und den akademischen Unterricht gleichermaßen geeigneten Darbietung bereitzustellen. Als Auswahlkriterien dienen dabei insbesondere die repräsentative Bedeutung der Verfasser, die fächerübergreifende Relevanz und gattungsspezifische Streuung der Texte, die in diesen Texten erfolgte exemplarische Bearbeitung einer für die Aufklärungsepoche zentralen Problemstellung sowie die diesen Werken zukommende geistesgeschichtliche und kulturwissenschaftliche Dignität.

Als ein klassischer Neologe war Gottfried Leß (1736–1797), von 1763 bis 1791 an der Reformuniversität Göttingen lehrend, stetig darum bemüht, gegenüber der radikalen westeuropäischen Religionskritik und namentlich gegenüber den dort ventilierten Strömungen des Deismus und Materialismus in apologetischer Absicht die selbstständige Dignität der Christentums zu erweisen und den tradierten biblischen und kirchlichen Lehrbestand durch kritische Revision und populartheologische Transformation für die religiöse Lebenspraxis nutzbar zu machen. Seine auf die Kultivierung und Stärkung des frommen Subjekts ausgerichtete Religionstheologie artikulierte sich nicht zuletzt im Medium der allenthalben als Hauptmotor neologischer Glaubensvergewisserung geschätzten und genutzten aufklärerischen Predigt. Den hier vorgelegten, in drei unterschiedlichen Auflagen publizierten „Sontags-Evangelia übersezt, erklärt, und zur Erbauung angewandt“ kommt in diesem Zusammenhang jedoch eine Sonderstellung zu, denn bis auf wenige Ausnahmen handelt es sich nicht um genuine Predigten. Vielmehr bringt Leß hier alle in der kirchlichen Perikopenordnung vorgesehenen Evangelientexte in musterhafter, postillenartiger Weise zur Auslegung und vermittelt auf diese Weise einen repräsentativen Eindruck von der neologischen, auf Besserung und Erbauung zielenden Entfaltung bedeutender Stücke des Neuen Testaments.

Federführend koordiniert wurde die Erstellung dieser kritischen Ausgabe von Bastian Lemitz. Er hat auch die glänzend informierende sachhaltige „Einleitung“ sowie die „Editorische[n] Hinweise“ verfasst, die zusammen mit den „Erläuterungen“ und Registern der gefälligen Benutzung des Bandes entgegenkommen. Die unter meiner Leitung stehende „Bibliothek der Neologie“ wird in ihrem editionswissenschaftlichen Teil an der Arbeitsstelle Münster, in ihrem informationswissenschaftlichen und -technologischen Teil an der von Jan Brase geleiteten Arbeitsstelle Göttingen erstellt. Die Namen aller wissenschaftlichen und studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind auf unserer Homepage in der fortlaufend aktualisierten Projektvorstellung (www.bdn-edition.de) verzeichnet.

Ein Editionsprojekt dieser Größenordnung kann nur als ein Gemeinschaftsunternehmen realisiert werden. Mein herzlicher Dank gilt allen, die daran zielführend mitgewirkt haben. Desgleichen danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ihre großzügige Unterstützung sowie dem Tübinger Wissenschaftsverlag Mohr Siebeck für die vorzügliche Herstellung des Bandes.

Albrecht Beutel

Einleitung

von Bastian Lemitz

I.

Wiewohl nahezu drei Jahrzehnte eine der prägenden Gestalten der Göttinger Theologischen Fakultät, fand Gottfried Leß (1736–1797) in der Theologiegeschichtsschreibung der Folgezeit nur am Rande Erwähnung und drohte letztlich ganz in Vergessenheit zu geraten. Während bereits Zeitgenossen in Leß bei aller Gelehrsamkeit keinen fortschrittlichen, sondern einen „zurückgebliebenen“ oder zwischen orthodoxem und rationalistischem Standpunkt gefangenen Theologen sahen, werden derartige, vor allem in der älteren Literatur immer wieder vertretene Urteile seit einiger Zeit grundlegend revidiert. Mittlerweile wird Leß als bedeutender Repräsentant eines aufgeklärten Religionsverständnisses gewürdigt und zu den „namhaftesten Neologen“ gezählt.

Geboren wurde Gottfried Leß am 31. Januar 1736 im westpreußischen Konitz (poln. Chojnice) als Sohn des dortigen Bürgermeisters Johann Matthias Leß und seiner Frau Dorothea Elisabeth. Nach dem Schulbesuch in seiner Heimatstadt wechselte er zur Vorbereitung auf das Universitätsstudium im Alter von 14 Jahren auf das Collegium Fridericianum nach Königsberg. Im Anschluss studierte Leß bis 1755 in Jena und bis 1757 in Halle. An der Fridericiana war es vor allem Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757), der ihn in besonderer Weise förderte und prägte. Als eine auf Empfehlung Baumgartens angestrebte Anstellung an der Universität Halle fehlschlug, kam Leß 1757 über Konitz als Pfarramtskandidat nach Danzig und wurde dort 1761 zum Professor Theologiae extraordinarius am akademischen Gymnasium berufen. Im darauffolgenden Jahr brach Leß zu einer Gelehrtenreise nach Holland und England auf. Auf dem Rückweg trug ihm Gerlach Adolph von Münchhausen (1688–1770) 1763 eine außerordentliche Professur und das Amt des Universitätspredigers an der jungen Georgia Augusta an. 1765 wurde er in Göttingen zum ordentlichen Professor berufen und im darauffolgenden Jahr zum Doktor der Theologie promoviert. Auf einer Erholungsreise, die den gesundheitlich immer wieder angeschlagenen Leß 1774 in die Schweiz und nach Frankreich führte, lernte er seine spätere Frau kennen. 1784 wurde Leß Konsistorialrat und Primarius der Göttinger theologischen Fakultät. Das Amt des Universitätspredigers hatte er aus gesundheitlichen Gründen bereits 1777 offiziell niedergelegt. Als der große Zuspruch, den er zu Beginn seiner Tätigkeit in Göttingen als Dozent und Prediger erfuhr, abnahm, wechselte Leß 1791 nach Hannover über und wurde als Nachfolger seines ehemaligen Göttinger Kollegen Johann Benjamin Koppe (1750–1791) Konsistorialrat und Oberhofprediger sowie Generalsuperintendent der Grafschaft Hoya-Diepholz. Nach Johann Adolf Schlegels (1721–1793) Tod übernahm er noch im selben Jahr zusätzlich die Generalsuperintendentur des Fürstentums Calenberg, 1795 wurde er schließlich Direktor der hannoverschen Hof-Töchter- und Söhneschule. Gottfried Leß starb am 28. August 1797 im Alter von 61 Jahren infolge einer Krankheit.

Kennzeichnend für Leß’ Werk und Wirken ist eine in der Forschung oft hervorgehobene, in tiefer und aufrichtiger Frömmigkeit und Liebe zur christlichen Religion gründende Konzentration auf den praktischen Nutzen des Christentums. Regelmäßig und von seinem Selbstverständnis als Theologe zeugend hat sich Leß auch in zeitgenössische Debatten eingeschaltet.

Während seiner mehr als ein Vierteljahrhundert andauernden Lehrtätigkeit konnte Leß auf eine beträchtliche Zahl angehender Theologen, in seiner Eigenschaft als Universitätsprediger über die Theologische Fakultät hinaus auf Universität und Stadt wirken und so in substantieller Weise zur Befestigung eines im aufklärerischen Sinne umgeformten Religionsverständnisses beitragen. Zudem wird man „den Einfluß nicht unterschätzen dürfen, den gerade Leß durch seine teilweise weitverbreiteten Publikationen auf die theologisch Interessierten in der zeitgenössischen Bildungsöffentlichkeit ausübte.“ Aus guten Gründen kann Gottfried Leß zu den profilgebenden Persönlichkeiten und Multiplikatoren der protestantischen Aufklärungstheologie nicht nur in Göttingen gezählt werden.

II.

Leß ist der Verfasser von über 70 größeren und kleineren Schriften überwiegend apologetischen, dogmatischen und moralischen Inhalts, zudem hat er nicht weniger als 190 Predigten veröffentlicht. Damit nimmt Leß nicht nur den vordersten Rang aller Göttinger Universitätsprediger ein, sondern gehört überdies zu den publikationsstärksten Aufklärungspredigern überhaupt.

Als apologetisches Hauptwerk ist der Beweiß der Wahrheit der Christlichen Religion (1768) zu nennen, eine weit verbreitete Schrift, die bis 1785 in fünf Auflagen vorlag und deren sechste Auflage als zweiter Band des unvollendet gebliebenen Werks Ueber die Religion. Ihre Geschichte, Wahl, und Bestätigung in Dreien Theilen (1786) erschienen ist. Als ein wesentlicher Auslöser für Leß’ apologetisches Interesse darf der zunehmende Einfluss des englischen Deismus gelten, wie ihn Leß während seiner Gelehrtenreise kennengelernt haben wird. Daneben wandte sich Leß verstärkt auch gegen den Materialismus etwa eines Julien Offray de La Mettrie (1709–1751). Als auffallend progressiv muss die positive Bewertung Mohammeds und des Korans angesehen werden. Zu den zeitgenössischen Reaktionen auf Leß’ apologetisches Hauptwerk zählen die entschiedene Zurückweisung antikatholischer Einlassungen durch den Jesuiten und Polemiker Aloys Merz (1727–1792) sowie die Textmontagen des radikalen Religionskritikers Christian Ludwig Paalzow (1753–1824). Bislang unbemerkt geblieben ist, dass Leß mit seinem Beweiß der christlichen Wahrheit auch zur literarischen Figur geworden ist.

Im Bereich der Dogmatik gehört Leß mit seiner 1779 publizierten Christliche[n] Religionstheorie oder Versuch einer praktischen Dogmatik (31789) neben Griesbach und dessen ab der zweiten Auflage unter verändertem Titel erscheinenden Anleitung zur gelehrten Kenntniß der populären Dogmatik (1779) zu den ersten Vertretern eines neuen dogmatischen Genres, der sich bereits in den betreffenden Titeln wiederfindenden praktischen oder Populardogmatik. Während Carl Friedrich Bahrdt (1740–1792) in seinem immer wieder gerne angeführten Kirchen- und Ketzer-Almanach gewohnt bissig urteilt, in der Leß’schen Dogmatik werde „das alte Ragout mit frischer Soße“ serviert, und grundsätzlich bedauert, dass Leß, „der die Wahrheit so liebt und so redlich sucht, sie immer nur wie die Sonne hinter den Wolken sehen muß“, werden in der gegenwärtigen Forschung insbesondere zwei Aspekte als eigenständig hervorgehoben: Zum einen wird (vielleicht etwas zu kurzschlüssig) darauf hingewiesen, dass einer zwar mit der „populären“ Dogmatik verwandten, aber von ihr zu unterscheidenden „praktischen“ Dogmatik der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit zu eignen habe; zum anderen wird betont, dass sich die als „wissenschaftliche, oder philosophische Kenntniß der Dogmatik“ oder „Philosophie ueber christliche Dogmatik, oder Religions-Theorie“ verstandene praktische Dogmatik im Unterschied zur herkömmlichen Schuldogmatik zusätzlich auch auf die Moral erstrecke. Das Urteil, Leß habe „die Glaubenslehre […] aus der Schule in’s Leben eingeführt, oder aus der Theorie zur Praxis gebracht“, ist eben dieser konzeptionellen Verschränkung von Dogmatik und Moral geschuldet.

Obgleich konzeptionell untrennbar mit der Dogmatik verbunden, liegt Leß’ vielleicht bedeutendstes Betätigungsfeld in der Bearbeitung der christlichen Moral, die er insbesondere in dem gleichnamigen Hauptwerk aus dem Jahr 1777 (31787) begründet und entfaltet. Für Leß begreift die christliche Moral „beides das Natur- und das Geschriebene Gesetz Gottes in sich“, doch ist die Bibel als göttliches Gesetzbuch „der vornehmste, ja der Einzige Erkenntniß-Grund Gottes“ derselben, die christliche Moral mithin „die Lehre von den Gesetzen Gottes.“ In dem Grundsatz, sein Streben immer auch auf die Gesellschaft als Ganzes zu richten, wird ein maßgeblicher Impuls zur Entwicklung einer christlichen Sozialethik gesehen. Bemerkenswert ist, dass Leß, der mit seiner Christliche[n] Moral binnen weniger Jahrzehnte einen festen Platz in der Geschichte der protestantischen Moraltheologie erhalten hat, auch auf die katholische Morallehre seiner Zeit einigen Einfluss ausgeübt hat.

Seine Breitenwirksamkeit ist jedoch nicht allein seinen akademischen Abhandlungen geschuldet, sondern in besonderer Weise seinen Predigten, in denen seine theologischen Positionen ganz im Sinne der Kanzel als „Katheder der Aufklärung“ einen für die Zeit typischen Niederschlag finden. Die große Zahl seiner Predigten sind in Leß’ Zeit als Universitätsprediger entstanden, in die auch die gemeinsam mit Johann Peter Miller (1725–1789) vorgenommene Gesangbuchrevision fällt. Bekannte Predigtsammlungen sind etwa die Lehre von der christlichen Mässigkeit und Keuschheit in 12 Predigten (1772; 21780) oder die Christliche Lehre vom inneren Gottes-Dienst in zehn Predigten (1772; 21781), über die sogar Carl Friedrich Bahrdt urteilen kann, sie seien „lesenwerth, ob ihnen gleich etwas mehr Feuer der Beredtsamkeit zu wünschen wäre.“ Gerade die moralische Stoßrichtung seiner Predigten führte zu dem amüsant überspitzten Urteil, „[w]enn der Leß in Sodom Pastor gewesen wäre, so hätt’ er nützen können.“ Neben seinen Predigtreihen hat Leß auch von Amts wegen gehaltene Festpredigten veröffentlicht.

III.

Bei den ursprünglich in wöchentlicher Folge erschienenen Sontags-Evangelia (1776; 21777; 31781 [mit zeitgleichem Separatdruck der Zusäze der dritten Auflage]) handelt es sich mit Ausnahme der drei Passionspredigten und der der ersten Auflage angehängten Predigt zu Christi Himmelfahrt um erbauliche, an die Predigtpostille des 16. und 17. Jahrhunderts erinnernde Musterauslegungen der sonntäglichen Evangelien. Sie werden in der Regel nicht zu Leß’ Hauptwerken gezählt, erweisen sich bei genauerer Betrachtung jedoch als überaus komplexe und beziehungsreiche Texte, die einen repräsentativen Eindruck von der zeittypischen, auf Besserung und Erbauung zielenden Entfaltung bedeutender Stücke des Neuen Testaments vermitteln. Die im Rahmen der vorliegenden Edition vorgenommenen Erläuterungen sind ein Versuch, ihre Vielschichtigkeit anzudeuten.

Immer wieder lässt sich erkennen, dass die hier versammelten Stücke nicht unverbunden nebeneinander stehen, sondern einander ergänzen. So ist es zum Beispiel sicher kein Zufall, dass Leß gleich in der ersten Predigt Auskunft über sein Verständnis von Jesu Gleichnisreden (Parabeln) gibt. Bei diesen handele es sich um Exempel aus dem gemeinen Leben, durch die eine bedeutende Wahrheit ans Licht gestellt werde. Diese Wahrheit, die den eigentlichen Inhalt der Parabel ausmache, nenne man auch die Moral oder die Lehre der Parabel. Ist dieses in der Aufklärungszeit weit verbreitete Verständnis einmal programmatisch expliziert, reicht Leß, dem es erwartungsgemäß um die Freilegung dieser Moral oder Lehre geht, in den folgenden Predigten eine kurze Anspielung. Gleiches gilt für die „zuweilen vollständige[n] Abhandlungen über wichtige Stücke der Religion“. Die Entfaltung der betreffenden Themen (Kinderzucht, der Gebrauch der irdischen Ergötzungen etc.) kann andernorts in den Sontags-Evangelia als bekannt vorausgesetzt werden. Stichworte reichen.

Neben den Verbindungen, die innerhalb der Sontags-Evangelia festzustellen sind, lassen sich die hier versammelten Textauslegungen durchgängig auch mit Leß’ übrigem Werk in Beziehung setzen. Tatsächlich handelt es sich bei den Sontags-Evangelia um ein Spiegelbild seines in den Hauptwerken umfangreicher entfalteten theologischen Systems. Dass Leß auf der anderen Seite in seinen Hauptschriften jedoch immer wieder explizit auch auf die Sontags-Evangelia verweist, lässt wiederum ihre substantielle Bedeutung für Leß’ Gesamtwerk erkennen.

Dem Titel nach werden die zu Grunde liegenden Evangelientexte „übersezt, erklärt, und zur Erbauung angewandt“, d.h., es geht Leß um eine möglichst „richtige, Deutschen verständliche Uebersezung, genaue Auslegung, und schickliche Entwickelung derselben“. Leß will erstens „fremde Redensarten und Ausdrücke, nach der Natur unsrer deutschen Sprachen umkleiden; den Schriftsteller so reden lassen, wie er ohngefähr seine Gedanken im Deutschen würde vorgetragen haben“, zweitens „den wahren Sinn kurz darlegen; die Dunkelheiten aufklären; die Schwierigkeiten auflösen“ und drittens „den ganzen Inhalt dem Verstande klar und einleuchtend, und dem Herzen wichtig und kräftig machen“. Diesem Aufbau sind die Sontags-Evangelia grundsätzlich verpflichtet.

Auch wenn Leß die Luther-Übersetzung und ihre Bedeutung für das reformatorische Christentum erwartungsgemäß hochschätzt, so erschien ihm die überkommene deutsche Gestalt der biblischen Überlieferung dennoch verbesserungswürdig. Es wundert daher nicht, dass sich die Übersetzungen, die Leß wahrscheinlich unter Benutzung der beiden großen Editionen seiner Zeit, den Ausgaben von Wettstein und Griesbach, von den den Sontags-Evangelia zu Grunde liegenden Bibeltexten angefertigt hat, häufig und mitunter stark vom Wortlaut der Luther-Übersetzung unterscheiden. Als eines von buchstäblich hunderten Beispielen kann die Übersetzung von Jak 1,17 πάτερ τῶν φώτων dienen, eine Wendung, die Luther wörtlich mit „Vater des Lichts“ wiedergibt. Leß übersetzt hingegen in für die Aufklärungstheologie typischer Weise mit „Vater alles Glücks“. Eine entsprechende Übersetzung findet sich auch in Wilhelm Abraham Tellers (1734–1804) Wörterbuch zum Neuen Testament, dessen Einfluss auf die von Leß vorgenommenen Übersetzungen eigens zu untersuchen wäre.

Auch wenn Leß in seinen Predigten die nach der synthetischen Methode verfahrende, an den Bedürfnissen der Hörer orientierte Themapredigt präferiert und die nach der analytischen Methode verfahrende Predigtform der Homilie mit ihren teils ausschweifenden exegetischen Erläuterungen als ungeeignet ablehnt, belegen die Sontags-Evangelia, dass ihr Verfasser bei der Erklärung der biblischen Texte nicht ohne die Heranziehung des im 17. und 18. Jahrhunderts zum exegetischen Rüstzeug avancierenden zeit-, kultur- oder religionsgeschichtlichen Hintergrundwissens auskommt. Besonders eindrücklich zeigen dies die Ausführungen über den mit der Eroberung Jerusalems endenden Jüdischen Krieg (66–70 n. Chr.), die andernorts ebenfalls nur noch stichwortartig aufgegriffen werden müssen.

Betrachtet man die durchweg auf die Beglückung der Adressaten und eine Besserung ihres Lebenswandels zielenden Auslegungen der einzelnen Evangeliumstexte, ist ein Grundgerüst wiederkehrender Motive und Materien wahrzunehmen, die hier kurz und ohne Anspruch auf Vollständigkeit vorgestellt werden sollen.

Zu den auffälligsten gehört sicherlich Leß’ überaus negative Darstellung der Pharisäer, die er zu „schändliche[n] Menschen“, „Gözen der Nation“ und „scheinheiligen Betrügern und Tyrannen des Volks“ stilisiert, neben denen kaum „etwas Schändlichers, und Pestilentialischers unter der Sonne zu erdenken“ sei. Aufgrund ihrer „schwarze[n] Bosheit“ und in ihrer Eigenschaft als Meister der Intrige hätten die Pharisäer „einen Geist der Spitzfindigkeit eingefürt, welcher aus Weiß, Schwarz und aus Licht, Finsterniß machte und die klärsten Geseze Gottes so lange drehete und torquirte bis sie ein Werkzeug ihres Eigennuzes und schimpflicher Neigungen wurden.“ In diesem Zusammenhang bezeichnet Leß die Pharisäern auch als „Disputanten von Profession“ und stellt immer wieder ihre „Disputir-Sucht“ heraus. Auf diese Weise entwirft er ein Gegenbild zu Jesus und der von ihm gelehrten Religion, die „Uns [gerade] nicht zu Disputanten, sondern zu Guten, Gottgefälligen und Seiner Welt nüzlichen Menschen machen“ wolle und uns im Gegensatz zu dem „Trokene[n], Unschmakhafte[n], kraftlose[n] Geschwäz der Pharisäer und ihrer „unwürdigen, schädlichen, verderblichen Moral […] zu der ächten Tugend“ anleite. Grundsätzlich gelte, „etwas anders ist es, Religion haben, und, über die Religion gelehrt und feurig disputiren!“

In anthropologischer Perspektive fällt etwa der Themenkreis Leiden und Tod ins Auge. Das diesseitige Leben könne „nicht unsere Bestimmung, unser Alles seyn“. Vielmehr befinde sich der Mensch hier im Stand der Vorbereitung, der Zucht, der Prüfung, der Unwissenheit oder auch dem „Kinder-Stande“, sein Körper im Stande des Verfalls, zu dem die Leiden, die zwar bitter, aber heilsam seien und deren Summe die der Freuden mitnichten übersteige, und alle bekannten „Beschwerden und Mühseeligkeiten“ gehören. Diese gelte es zu ertragen. Nach dem Tod als Endpunkt der Vorbereitung folge dann der Stand der Vergeltung. Das irdische Leben, im Gegensatz zur Ewigkeit nur ein „Tropfen der Zeit“, habe man damit zuzubringen, ein gutes und gottgefälliges Leben zu führen. Diese Forderung gipfelt in der Aussage, das ganze Leben müsse „ein Studium auf den Todt“ sein. Leß’ Rat lautet: „Erwarte den grossen Lehrer, den Todt; und bete Gott mit Dank und Vertrauen an.“

Daneben findet sich eine im lutherischen Kontext durchaus vertraute Ständelehre, nach der jeder „in dem Beruf und Stande worein Gott ihn gesezt“, zu verbleiben habe. Mit den Lebensumständen zufrieden zu sein, ist für Leß eine wichtige Tugend, in der treuen und frommen Verrichtung der Berufs- und Standesgeschäfte sieht er geradezu „ein Hauptstück des Christenthums.“

Für das 17. und 18. Jahrhundert ebenfalls nicht ungewöhnlich ist die wiederholt aufscheinende Vorstellung einer scala naturae, die vom „unvernünftigen“ Tier als der niedrigsten Stufe zu den Menschen verläuft, die sich durch bestimmte Vorzüge ihrer Seele von den Tieren unterscheiden und sich durch eine besondere Gottesbeziehung auszeichnen, denn Gott ist „der Vater der Menschen. Nicht bloß Schöpfer und Erhalter wie bei den Thieren“. Gleichwohl handelt es sich bei den Menschen, da sie „unmittelbar an die Thiere gränzen“, um die „Geringsten unter den Geistern“. Von diesen führt die scala naturae dann zu den Engeln Gottes und den erhabensten bzw. „Seinem Throne allernächsten“ Geistern. In umgekehrter Richtung umfasst die scala naturae im engeren Sinne also die göttliche Schöpfung (die für Leß nicht allein unsere Welt umfasst) „vom Erzengel an, bis zum Wurm herab“. In einem weiter gefassten Sinne rechnet Leß jedoch auch mit einer „Kette: wo der Stein mit der Pflanze, diese mit dem Thier, das Thier mir dem Menschen, der Mensch mit dem Engel, und so ins Unermesliche fort, zusammengeknüpfet ist“.

Im Rahmen der für Leß besonders bedeutsamen Wunderthematik wird mehr als einmal herausgestellt, dass der Jesus der Evangelien allein durch sein Machtwort wirkt. „Keine geheimnisvolle Handlungen, räthselhafte Aussprüche, affectirte Geberden, und änliche Gaukeleien sehen wir da“, ein einfacher Befehl reicht aus. Dementsprechend zeichnen sich auch die Berichte der Evangelisten insbesondere durch ihre Simplizität aus und besitzen für Leß gerade dadurch „das Gepräge der Wahrheit.“

Im Zentrum der Leß’schen Theologie steht jedoch auch in den Sontags-Evangelia die immer wieder herausgestellte Liebe Gottes zu den Menschen, aus der sich die dankbare Liebe der Menschen zu Gott und die Liebe der Menschen untereinander, beides zusammen für Leß „der Inbegrif der wahren Religion, ergibt. Die die elterliche Liebe weit übersteigende Liebe Gottes zu den Menschen ist unermesslich, Gott im Anschluss an 1Joh 4,8.16 die Liebe selbst. Von zentraler Bedeutung ist der Vers Joh 3,16, für Leß „das Allererhabenste, was je in der Welt gedacht und geschrieben worden, je gedacht und geschrieben werden kan. Jedes Wort, hat hier ein Centner Gewicht. Gott – Liebet – die Welt, die Menschen [...] So liebt Er sie, daß er seinen Sohn – den Eingebohrnen dahingiebt. – zum Creuzes Tode dahin giebt! Um sie vom Untergange zu retten! – Und ihnen ein ewiges Glück zu verschaffen! – – – Kann etwa kräftigeres ersonnen werden, unsre Seelen zu einer Göttlichen Gemütsart zu erheben?“

IV.

Betrachtet man die zeitgenössischen Rezensionen, so zeugen diese allesamt von der grundsätzlich positiven Aufnahme der Sontags-Evangelia. Die noch im Veröffentlichungsjahr 1776 erschienene Besprechung wünscht, „daß alle die unerbaulichen Postillen durch dieses Buch aus den Händen unsrer Landsleute weggerückt werden mögen“, und auch zwei Jahre später kann eine gründlichere Rezension die Sontags-Evangelia zur „wahrhaft christliche[n] Erbauung […] mit gutem Bedacht empfehlen“.

Der Erfolg der Sontags-Evangelia lässt sich zusätzlich an zwei weiteren Beobachtungen erhärten: Zum einen mag der Umstand, dass sich das von der Witwe Vandenhoeck (1709–1787) geleitete Verlagshaus nach dem Erscheinen der zweiten Auflage die verlegerischen Rechte per Druckprivileg zusichern ließ, als Beleg für den tatsächlichen und noch zu erwartenden kommerziellen Erfolg der Sontags-Evangelia verstanden werden. Zum anderen zeigt etwa das Beispiel Michael Kajetan Herrmanns (ca. 1756–1835), der für sein Homiletisches Handbuch immer wieder nahezu wortwörtlich Passagen aus den Sontags-Evangelia übernommen hat, dass Leß’ Behandlung der Evangelientexte bis in die Formulierungen hinein auch im katholischen Kontext als musterhaft angesehen wurden.

Auch wenn sich die tatsächliche Verbreitung der Sontags-Evangelia nur schwer nachverfolgen lässt, ist davon auszugehen, dass sie nicht nur im universitären und kirchlichen Kontext rezipiert, sondern auch zur privaten Erbauung gelesen wurden. Dies hängt nicht zuletzt mit der Reputation zusammen, die sich Leß als theologischer Lehrer und als Universitätsprediger der Georgia Augusta erworben hat.

Eine zusammenhängende Würdigung, wie sie für andere Theologen seiner Zeit mittlerweile geleistet ist, steht für Gottfried Leß noch aus, doch lässt sich absehen, dass er „trotz gewisser Spannungen und vermeintlicher Widersprüche in seinem Denken sehr wohl als Repräsentant der auf praktische Reformen des kirchlichen und gesellschaftlichen Lebens sowie auf die Förderung der religiös-ethischen Selbsterfahrung und Vervollkommnung des frommen Subjekts ausgerichteten Neologie zu begreifen ist.“ Um dieses Bild weiter zu schärfen, wird auch den Sontags-Evangelia besondere Bedeutung zukommen. Möge die vorliegende Edition auf ihre Weise dazu beitragen, die bisweilen noch immer kolportierten Negativurteile über Leß weiter zu revidieren und ihm zu der Aufmerksamkeit zu verhelfen, die ihm nicht nur im Rahmen der Göttinger Universitätsgeschichte, sondern auch als einem in vielerlei Hinsicht repräsentativen Vertreter der protestantischen Aufklärungstheologie zusteht.