Die „Bibliothek der Neologie“ verfolgt das Ziel, zehn zentrale, in sich geschlossene Texte oder Textsammlungen der den Kernbestand deutscher Aufklärungstheologie markierenden Neologie in kritischer Hybrid-Edition und damit in einer für die interdisziplinäre Forschung und den akademischen Unterricht gleichermaßen geeigneten Darbietung bereitzustellen. Als Auswahlkriterien dienen dabei insbesondere die repräsentative Bedeutung der Verfasser, die fächerübergreifende Relevanz und gattungsspezifische Streuung der Texte, die in diesen Texten erfolgte exemplarische Bearbeitung einer für die Aufklärungsepoche zentralen Problemstellung sowie die diesen Werken zukommende geistesgeschichtliche und kulturwissenschaftliche Dignität.
Die sechs in diesem Band präsentierten Schriften markieren den Höhepunkt der zwischen Johann Salomo Semler (1725–1791) und Carl Friedrich Bahrdt (1740–1792) ausgetragenen Streitigkeiten, enthalten deren jeweilige Glaubensbekenntnisse und vermitteln damit einen exemplarischen Eindruck vom Ablauf zeitgenössischer theologischer Auseinandersetzungen, die nicht etwa auf den binnentheologischen Raum beschränkt blieben, sondern breite kulturelle Aufmerksamkeit erfuhren. Die „Editorische[n] Hinweise“ halten die notwendigen technischen Informationen bereit. Die sachbezogene „Einleitung“ sowie die „Erläuterungen“ und Register werden ein Übriges tun, um dieser aufklärungstheologischen Kontroverse die wissenschaftliche Aufmerksamkeit zuzuwenden, die sie verdient.
Federführend koordiniert wurde die Erstellung dieser kritischen Ausgabe von Andreas Pietsch und Christian Weidemann. Die unter meiner Leitung stehende „Bibliothek der Neologie“ wird in ihrem editionswissenschaftlichen Teil an der Arbeitsstelle Münster, in ihrem informationswissenschaftlichen und -technologischen Teil an der von Jan Brase geleiteten Arbeitsstelle Göttingen erstellt. Die Namen aller wissenschaftlichen und studentischen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind auf unserer Homepage in der fortlaufend aktualisierten Projektvorstellung (www.bdn-edition.de) verzeichnet.
Ein Editionsprojekt dieser Größenordnung kann nur als ein Gemeinschaftsunternehmen realisiert werden. Mein herzlicher Dank gilt allen, die daran zielführend mitgewirkt haben. Desgleichen danke ich der Deutschen Forschungsgemeinschaft für ihre großzügige Unterstützung sowie dem Tübinger Wissenschaftsverlag Mohr Siebeck für die vorzügliche Herstellung des Bandes.
Der erste Band der „Bibliothek der Neologie“ vereint mehrere Schlüsselfragen der Theologie der Aufklärungszeit. Im Zentrum steht die im 18. Jahrhundert virulente Frage nach der Verbindlichkeit von Glaubensbekenntnissen, die besonders unter Neologen kontrovers diskutiert wurden. Das Verhältnis von Tradition und Offenbarung stand ebenso auf dem Prüfstand wie das soziale und politische Verständnis von Gemeinschaft und Individuum. Hier lässt sich ein schleichendes Erodieren von theologischen Kernbeständen beobachten, das symptomatisch für die Neologie ist und den Weg vom Alt- zum Neuprotestantismus ebnen half.
Mit Carl Friedrich Bahrdt (1740–1792) und Johann Salomo Semler (1725–1791) verbindet dieser Band nicht nur zwei zentrale Protagonisten der beiden entscheidenden Theologengenerationen der Aufklärungstheologie. Er präsentiert vielmehr auch typische Formen der Auseinandersetzung zwischen zwei exponierten Antipoden, die jeweils das Arsenal medial inszenierter Eklats beherrschten und dafür sorgten, dass die hier dokumentierte Kontroverse um die christlichen Glaubenssätze keineswegs auf den engen Raum theologischer Fakultäten beschränkt blieb, sondern die interessierte bürgerliche Öffentlichkeit erreichte. Entscheidend dafür war der wachsende Einfluss von Journalen und Zeitschriften im 18. Jahrhundert, die ihren interessierten Lesern den „Fall Bahrdt“ teils kritisch, teils wohlwollend, teils auch süffisant unterhaltend vermittelten.
Die hier versammelten sechs Druckschriften der zwei Exponenten dokumentieren zudem, wie unterschiedlich die konkreten Grenzsetzungen zwischen Tradition und Innovation ausfallen konnten. Sie zeigen den Facettenreichtum neologischer Entwürfe und offenbaren deutliche Meinungsdifferenzen und Auseinandersetzungen zwischen denjenigen, die zu dieser Richtung der protestantischen Aufklärungstheologie gezählt werden können.
Carl Friedrich Bahrdt wurde am 25. August 1740 im ostsächsischen Bischofswerda geboren. Sein Vater, der Theologe Johann Friedrich Bahrdt (1713–1775), stieg 1755 in Leipzig zum ordentlichen Universitätsprofessor auf und bekleidete später auch das Amt des Dekans und des Rektors. Nach zweijährigem Besuch des berühmten Internats Schulpforta und zeitweiligem Privatunterricht bei Johann August Ernesti (1707–1781) nahm Bahrdt 1756 das Studium der Theologie in Leipzig auf. 1761 erwarb er den Magistergrad und die Erlaubnis, philosophische Vorlesungen zu halten. Bahrdt entwickelte sich zu einem beliebten Prediger und wurde im Mai 1767 zum außerordentlichen Professor für geistliche Philologie ernannt.
Nachhaltigen Eindruck hinterließen bei ihm der orthodoxe Philosoph Christian August Crusius (1715–1775), dessen begriffsanalytische Schärfe Bahrdt für seine eigenen Schriften zu übernehmen trachtete, sowie der Exeget Johann Friedrich Fischer (1726–1799), der ihm die historisch-philologische Methode vermittelte und bei seinem jungen Zuhörer erstmals Zweifel an der klassischen Trinitätslehre weckte. Bahrdts frühe Schrift Der Christ in der Einsamkeit (1763) ist zwar noch ganz der lutherischen Orthodoxie des Vaters verpflichtet, zeigt aber bereits viele der Charakterzüge, die ihn bald zu einem der meistbewunderten und bestgehassten Autoren der Zeit werden lassen sollten. Kompromisslosigkeit in der Sache; die Lust zur Provokation und furchtlose Bereitschaft, sich Feinde zu machen; der scharfsinnige Blick für die Schwäche in den Argumenten anderer; aber auch das unter den zumeist spröden deutschen Theologen der Zeit herausragende rhetorische Talent sowie die Skrupellosigkeit in der Aneignung fremden geistigen Eigentums: all das ist hier bereits zu besichtigen. Das Jugendwerk machte entsprechend Furore: Lavater reagierte mit einer scharfen anonymen Gegenschrift, Goeze mit der Einladung, für eine Archidiakonstelle in Hamburg vorzusprechen, progressive Autoren wie der Mendelssohn-Freund Thomas Abbt (1738–1766) rechneten Bahrdt fortan unter die „protestantischen Inquisitoren“.
Einer Leipziger Professorenkarriere in den Fußstapfen des Vaters stand nichts im Wege, doch brachte sich Bahrdt mit einem handfesten Skandal selbst zu Fall: Eine Prostituierte gab ihn als Erzeuger ihres ungeborenen Kindes an, der Versuch, die Angelegenheit unter der Decke zu halten, missglückte kläglich. In der Folge musste Bahrdt 1768 seine Stelle in Leipzig verlassen. Auf Vermittlung des Hallenser Philologen und akademischen Strippenziehers Christian Adolf Klotz (1738–1771) übernahm Bahrdt noch im selben Jahr eine Professur für Biblische Altertümer an der Philosophischen Fakultät der Universität Erfurt. Wenig später erwarb er auch den theologischen Doktortitel und das Recht, theologische Vorlesungen zu halten. Die alteingesessenen orthodoxen Erfurter Professoren sahen ihre Pfründe bedroht, versuchten Bahrdt zu denunzieren, bestärkten ihn dadurch aber nur in dem Willen zur Abkehr von der Theologie seiner Jugend. Der zweibändige Versuch eines biblischen Systems der Dogmatik (1769/70) zeigt Bahrdt erstmals als typischen Vertreter der Neologie, der sich sowohl von Orthodoxie als auch Rationalismus zu distanzieren bemüht: Er sieht in der Heiligen Schrift, und nicht etwa in den symbolischen Büchern, den entscheidenden Maßstab der Lehre, bestreitet eine Verbalinspiration, verteidigt eine modifizierte Form der Erbsünden- und Satisfaktionslehre, hält an der Göttlichkeit Jesu Christi fest, nimmt weiterhin ewige Höllenstrafen an, besteht jedoch zugleich auch auf einer aktiven Mitwirkung des Menschen an seinem Heil. Bemerkenswert ist Bahrdts inklusivistische Auffassung, nach der zwar eine Religion die beste sei, obgleich nicht notwendig „die allein wahre“ sein müsse – ja mehr noch: Auch wenn sich allgemeine Kriterien angeben ließen, die Entscheidung darüber, welche christliche Kirche die beste sei, müsse er dem Leser vorbehalten. Mit solch ungeschützten Äußerungen bot Bahrdt ein leichtes Ziel für seine Erfurter Gegner. Man holte ein Gutachten bei der Universität Wittenberg ein, das Bahrdts Schrift prompt „Indifferentistische[r], Pelagianische[r] und Calvinistische[r] Irrthümer“ beschuldigte und empfahl, dem Verfasser im Falle eines ausbleibenden Widerrufs das Lehramt zu entziehen.
In diese Zeit fiel Bahrdts erste Korrespondenz mit seinem späteren Antipoden Johann Salomo Semler, den er auch in Halle besuchte. Die beiden schlossen Freundschaft und betrachteten sich als Bundesgenossen. Semler stärkte Bahrdt u.a. in der Auseinandersetzung um die Dogmatik den Rücken und bedauerte nur, dass dieser aus politischer Rücksicht nicht noch weitergegangen sei. Als Bahrdt aufgrund der ständigen Auseinandersetzungen mit der Fakultät und eines drohenden finanziellen Ruins Erfurt verlassen wollte, empfahl Semler ihn für eine Professur in Gießen. Während Semler auf dem Höhepunkt des späteren Streits den Bordell-Skandal ins Feld führen sollte, um eine Lehrtätigkeit Bahrdts in Halle zu verhindern, sah er 1771 in den „aus Leipzig entlente[n] Erzälungen“ noch kein Hindernis für eine Einstellung.
Semler wurde am 18. Dezember 1725 in Saalfeld (Thüringen) geboren. Wie Bahrdt war er der Sohn eines Theologen, des späteren Superintendenten Matthias Nikolaus Semler, und einer Pfarrerstochter. Das ihm während seiner schulischen Ausbildung abverlangte pietistische Gebaren verabscheute er als heuchlerisch und anti-intellektuell. Zwischen 1743 und 1750 studierte er in Halle, zunächst vor allem alte Sprachen, Geschichte und Philosophie, dann Theologie. Nach dem Abschluss arbeitete Semler als Redakteur bei der Coburger Zeitung Auszug aus allen Theilen der neuesten Geschichte und als Privatlehrer für Arabisch. 1751 folgte er einem Ruf an die Universität Altdorf als Professor für deutsche Reichsgeschichte und lateinische Poesie. Das bereits in dieser frühen Phase ausgeprägt breite thematische Interesse Semlers, ein gewaltiges Arbeits- und Lektürepensum sowie ein außergewöhnlich gutes Gedächtnis sollten ihn bald zu dem wohl gelehrtesten deutschen Theologen seiner Generation machen. Früh zeigte sich auch Semlers besonderes Interesse an einer historisch-kritisch verfahrenden Hermeneutik. Er war mit den Verfassern der beiden bedeutendsten Hermeneutiken der Zeit, Georg Friedrich Meier (1718–1777) und Johann Martin Chladenius (1710–1759), gut bekannt.
Der größte Einfluss ging jedoch von dem Hallenser Theologen Siegmund Jacob Baumgarten (1706–1757) aus, dessen freier Umgang mit Studenten, stupendes Wissen und kein Gebiet der Theologie auslassender systematischer Zugriff Semler imponierten. Die an Christian Wolff (1679–1754) geschulte „scientifische“ Darstellungsweise seines Lehrers war Semlers Sache indes nicht, und auch von vielen der eher orthodoxen dogmatischen Festlegungen Baumgartens emanzipierte er sich nach und nach. 1753 etablierte Baumgarten Semler als Professor in Halle – gegen erheblichen Widerstand an der Fakultät. Nach dem Tod seines Lehrers im Jahre 1757 gab Semler zahlreiche Werke aus dessen Nachlass heraus und fügte ihnen ausführliche Einleitungen, Kommentare und Anhänge bei. Obwohl in seiner Hallenser Frühzeit von den (pietistischen) Kollegen beim Ministerium als ungeeignet denunziert, setzte Semler sich durch und erhielt nach dem Tod Baumgartens 1757 den Posten des Direktors des Theologischen Seminars. Er reformierte in den folgenden Jahren das Hallenser Theologiestudium und verlangte von den Studenten u.a. vermehrte Kenntnisse in Ontologie, Logik, Geschichtswissenschaft, Mathematik und Naturphilosophie.
In den 1770er Jahren kehrten sowohl Semler als auch Bahrdt der traditionellen theologischen Metaphysik endgültig den Rücken. Bahrdt radikalisierte sich auf seinem 1771 angetretenen Posten in Gießen und verstrickte sich in bittere Auseinandersetzungen mit den orthodox gesinnten Professoren, v.a. mit Johann Hermann Benner (1699–1782). Er lehnte die klassische Trinitätslehre nun offen ab und ging sogar so weit, die Identität von Wort und Gott in Joh 1,1 aufzuheben, um stattdessen zu übersetzen: „Der Logus, war schon bey dem Entstehen dieser Welt. Er war bey Gott: [...] denn es war nur Gott und der Logus“. Die Zweinaturenlehre hält er für irrelevante Spekulation, Erbsündentheorie und Dämonologie lehnt er ab, in der Versöhnungslehre favorisiert er einen unverstellten Pelagianismus. Zur etwa gleichen Zeit gibt Semler eine Übersetzung von Samuel Clarkes zu Recht als arianisch verdächtigtem Werk The Scripture-Doctrine of the Trinity (1712) heraus. In der Vorrede fragt er rhetorisch: „Finden wir wirklich hier sogleich die klare Ueberzeugung, daß diese [...] Lehrbestimmung[en] wider Arianer, Pelagianer, u.s.w. den wirklichen eigentlichen Grund der christlichen Religion, wodurch sie christliche Religion ist, und [i]nnerliche neue Vollkommenheiten der Seele mit sich führet, ausmachen und enthalten?“ In kurzer Abfolge erschienen in diesen Jahren Semlers Hauptwerke, eine lateinische und eine deutsche „liberale“ Dogmatik sowie seine wohl berühmteste Schrift, die vierbändige Abhandlung von freier Untersuchung des Canon (1771–1775). Sie alle befestigten bei den Zeitgenossen Semlers Ruf als eines heterodoxen theologischen Neuerers.
Den Sachwaltern der lutherisch-orthodoxen Tradition erschienen Semler und Bahrdt nun als veritables Duo infernale: „[W]enn nach den semlerischen Grundsätzen die heilige Schrift zu Grunde gerichtet, oder wenn sie nach den Bahrdtischen modernisirt, das ist lächerlich und stinkend gemacht wird, was wird alsdenn aus der Christenheit werden? ein Sodom und Gomorra.“ Dass es zwischen den beiden vielfach angefeindeten theologischen Aufklärern schon bald zum Bruch kommen würde, war nicht abzusehen.
In Gießen hatte sich die Lage für Bahrdt inzwischen zugespitzt: Kollegen und Pfarrkonvente waren gegen ihn beim Landgrafen vorstellig geworden, die Solidaritätsadresse eines Teils der Studentenschaft wurde ihm als Aufrührertum ausgelegt. Bahrdt nahm daher 1775 das gut dotierte Angebot des Schweizer Politikers und Freiherrn Ulysses von Salis-Marschlins (1728–1800) an, dem Landschulheim in Marschlins (Graubünden) als Direktor vorzustehen und es in ein reformpädagogisches Philanthropinum zu überführen. Bahrdt verfasste einen auf das Prinzip der „Fröhlichkeit“ gegründeten, ehrgeizigen Erziehungsplan und unterrichtete selbst. Wegen Kompetenzstreitigkeiten mit von Salis, der als Fürsorger der Schule alle Fäden in der Hand behielt, blieb es jedoch bei einem einjährigen Intermezzo.
Bahrdt wechselte 1776 auf eine Superintendentur nach Bad Dürkheim, Residenzstadt des Grafen (und späteren Fürsten) von Leiningen-Dagsburg. 1777 rief er im benachbarten Schloss Heidesheim ein Philanthropinum ins Leben, das sich jedoch schon bald zu einem für ihn existenzbedrohenden finanziellen Fiasko auswuchs. Als es 1779 zu einem weiteren einschneidenden Wendepunkt in Bahrdts Biographie kam, hinterließ er nicht zum ersten Mal in seinem Leben verbrannte Erde: ein bankrottes Erziehungsinstitut, wütende Eltern, geprellte Gläubiger, zerbrochene Freundschaften, eine Magd mit unehelichen Zwillingen. Bahrdts Erwartung, Hilfe bei Semler in Halle zu finden, sollte sich als Irrtum erweisen.
Die Druckerschwärze von Lessings Nathan der Weise war kaum getrocknet, als Carl Friedrich Bahrdt im Sommer 1779 sein selbstbewusstes Glaubensbekenntniß publizierte. Auf dem Gipfelpunkt des sogenannten Fragmentenstreits (1774–1780), als viele Theologen alarmiert und ein breites Publikum für aufklärerische Gedanken sensibilisiert waren, ging Bahrdt daran, überkommene Glaubensformeln auf ihren Nutzen und Nachteil für die Gläubigen zu befragen. Sein Befund war niederschmetternd und sein Plädoyer an den Kaiser eindeutig: Angesichts der verheerenden Wirkung der amtskirchlichen Dogmatik für viele Tausende appellierte er eindringlich an Joseph II., man möge gegenüber Andersdenkenden mehr Toleranz wagen.
Der Vergleich mit dem Fragmentenstreit, den Lessings wohldosierte Publikation von Reimarus’ offenbarungskritischen Thesen unter dem Titel Fragmente eines Ungenannten ausgelöst hatte, drängt sich schon deshalb auf, weil beide Kontroversen nahezu gleichzeitig stattfanden und einen medial ähnlichen Verlauf nahmen. Zudem waren sie auch inhaltlich und sogar in Hinblick auf die beteiligten Akteure aufs engste miteinander verwoben. So nahm der Streit um Bahrdt zu dem Zeitpunkt an Fahrt auf, als sich Semler explizit in den Fragmentenstreit einmischte. Auch in quantitativer Hinsicht ist der Streit um Bahrdts Glaubensbekenntniß mit dem Fragmentenstreit durchaus vergleichbar.
Die Kontroverse um das Glaubensbekenntniß hatte folgende Vorgeschichte: Auslöser der Auseinandersetzung war Bahrdts freie Übertragung des Neuen Testaments, die erstmals 1773/74 und erneut 1777 erschienen war. Die Publikation verkaufte sich gut, fand jedoch ein geteiltes, überwiegend hämisches Echo. So lobte zwar Lavater Bahrdts Übertragung als „Meisterwerk“, doch Goethe verspottete sie bereits 1774 in einem satirischen Gedicht. Lessing zeigte sich in der Folge als Fürsprecher, Goeze hingegen als vehementer Kritiker Bahrdts.
Erst jedoch die offizielle Denunzierung beim Reichshofrat im Herbst 1778 durch den Bücherkommissar Franz Xaver Anton von Scheben (1711–1779) setzte ein obrigkeitliches Zensurverfahren in Gang, das entgegen dem versöhnlichen Urteil der eigens eingeholten Gutachten zweier theologischer Fakultäten dem Protestanten Bahrdt Heterodoxie vorwarf und von ihm im Frühjahr 1779 binnen festgesetzter kurzer Frist ein schriftliches Bekenntnis zur lutherischen Orthodoxie einforderte. Gegen dieses Verfahren formierte sich schnell eine gelehrte Diskussion darüber, ob es grundsätzlich angemessen sei, dass der katholisch dominierte Reichshofrat in Wien über protestantische Theologen urteile, ohne das Corpus Evangelicorum einzubeziehen. Entscheidender für den Fortgang der Kontroverse war jedoch, dass Bahrdt seinerseits zum Gegenschlag ausholte. Denn anstatt dem Reichshofrat das geforderte Zugeständnis in Sachen Christologie und Trinitätslehre einzureichen, verfasste er noch im leiningischen Heidesheim sein provokantes Glaubensbekenntniß, das pünktlich zum Ablauf der gesetzten Frist im Frühsommer 1779 ohne obrigkeitliche Präventivzensur erschien. Das Titelblatt verschweigt bezeichnenderweise Druckort und Drucker, obwohl es ein offenes Geheimnis war, dass Bahrdts Glaubensbekenntniß auf Fürsprache einflussreicher Berliner Aufklärer in der preußischen Hauptstadt bei Mylius gedruckt worden war. Kernstück dieses kurzen Werks sind Bahrdts zehn Punkte „Was ich glaube und nicht glaube“, in denen er das traditionelle christliche Bekenntnis einer kritischen Revision unterzieht. Bahrdt entging der drohenden Verhaftung nur knapp durch seine spektakuläre Flucht mit Frau und drei Töchtern ins tolerante preußische Halle.
Genauso wie Lessings Publikation von Reimarus’ Fragmenten löste auch Bahrdts polarisierendes Glaubensbekenntnis eine wahre Flut von Rezensionen und Gegenschriften aus, als deren wichtigste D. Joh. Sal. Semlers Antwort auf das Bahrdische Glaubensbekentnis (1779) gilt, der sich darin noch im selben Jahr deutlich von Bahrdt und seinen Auffassungen distanzierte. Es entspricht der Logik frühneuzeitlicher Kontroversen, dass Bahrdt wiederum direkt auf Semlers Antwort replizierte. Tatsächlich tat er dies sogar in doppelter Weise, zunächst in seiner Kurze[n] Erklärung über Herrn Doktor Semlers Antwort auf das Bahrdtsche Glaubensbekenntniß (1779) und kurz darauf ein weiteres Mal in Eine Erklärung an das Publikum über das Bahrdtische Glaubensbekenntniß von ihm selbst (1780).
Wie sehr auch die Kontroverse zwischen Bahrdt und Semler ein breites Publikum in ihren Bann zog, zeigt bereits die große Resonanz auf die Schriften und Gegenschriften in den zeitgenössischen Zeitungen und Journalen. So war etwa auch Semlers Antwort (1779) umgehend in der einflussreichen Allgemeine[n] deutsche[n] Bibliothek besprochen worden. Die Rezension war durchaus kritisch und merkte an, dass Semler in seiner Antwort keineswegs nur Bahrdt verhandelte, sondern vor allem auch sich selbst. Semler sah sich genötigt, explizit auf die Rezension zu reagieren, und publizierte dazu 1781 den ersten Band seiner fiktionalen Theologische[n] Briefe, in denen er Stellung zu mehreren aktuellen Kontroversen nahm, darunter etwa auch zu dem parallel geführten Fragmentenstreit. Im Mittelteil dieses Bandes äußert er sich ausführlich zu der Rezension in der AdB, die wir zum besseren Verständnis im Wortlaut am Ende dieses Bandes bieten.
Semlers letztes Glaubensbekenntniß über natürliche und christliche Religion (1792), das postum von seinem Schüler Christian Gottfried Schütz (1747–1832) herausgegeben wurde, erschien zwar etliche Jahre nach der anfänglichen Kontroverse um Bahrdts Neuformulierung der konfessionellen Grundbestände. Und doch nimmt bereits der Titel, der von Schütz stammt, direkt Bezug auf Bahrdts Glaubensbekenntniß. Semler greift in dieser Schrift viele Punkte nochmals auf, die auch vordem seine Auseinandersetzung mit Bahrdt bestimmten. Diese postume Schrift gilt zudem als Quintessenz von Semlers grundlegender Unterscheidung zwischen öffentlicher und privater Religion, die seine Konzeption von verbindlichen christlichen Glaubenssätzen zentral bestimmt.
Warum Semler 1779 mit seinem Weggefährten brach, ist nicht leicht zu sagen. Eine wichtige Rolle hat ohne Zweifel gespielt, dass er als Doyen der Hallenser Theologie die Fakultät davor schützen wollte, mit dem libertinären Bürgerschreck Bahrdt assoziiert zu werden. Es sollte unter allen Umständen vermieden werden, dass der Neuankömmling in Halle zu lehren begann. Mit diesem Ansinnen war die Theologische Fakultät immerhin halb erfolgreich. Der zuständige Minister von Zedlitz (1731–1793) erlaubte Bahrdt zwar das Abhalten philosophischer Vorlesungen, untersagte ihm jedoch die theologische Lehre.
Semler mag auch an verletzter Eitelkeit gelitten haben, denn der charismatische und selten langweilige Bahrdt, der im Gegensatz zu dem betulichen Hallenser Ordinarius mitreißend zu reden und schreiben vermochte, drohte ihm den Rang als unbezweifelt erster Theologe in Halle streitig zu machen. Semlers etwaige Befürchtungen erwiesen sich schon bald als nur zu berechtigt, denn in Bahrdts Vorlesungen strömten regelmäßig bis zu 400 Zuhörer, nicht nur Studenten, sondern auch Bürger mitsamt ihren Frauen und Töchtern.
Doch es wäre voreilig, die Angriffe auf Bahrdt (sowie Reimarus und Lessing) bloß als „Schwachheit eines ängstlichen, unklugen und durch den Verlust seines Applausus in Verlegenheit gerathenen Mannes“ zu betrachten, oder als politisch motivierten Akt der Selbstverleugnung. Auch wenn manche der Vorwürfe Semlers kaum anders als heuchlerisch und intellektuell unredlich zu nennen sind, so enthalten seine anti-bahrdtischen Schriften doch einen bedenkenswerten Kern, für den sich schon zuvor Ansätze bei ihm finden lassen: etwa in der kritischen Würdigung der symbolischen Bücher Apparatus ad libros symbolicos Ecclesiae Lutheranae von 1775. Für Semler ist die Erörterung der von Bahrdt so publikumswirksam attackierten klassischen Theologumena – Trinität, Zweinaturenlehre, Satisfaktion, Erbsünde, Verbalinspiration etc. – ausschließlich Sache der akademischen Theologie und gehört weder auf die Kanzel noch in die breite Öffentlichkeit. Insofern empfand er es keineswegs als Widerspruch, dass er selbst in nur für den Kollegenkreis bestimmten Werken in verklausulierter Form ganz ähnliche Dinge behauptet hatte wie Bahrdt in seiner auf weite Verbreitung angelegten Skandalschrift. Welche Auffassung man hinsichtlich der genannten Theologumena vertritt, ist laut Semler im Übrigen für das (moralische) Wesen des Christentums und die private Glaubenspraxis gänzlich irrelevant. Diese Grundüberzeugungen wurden von vielen Neologen geteilt.
Für Semler erstreckt sich die Freiheit des Gewissens nur auf die private, nicht jedoch auf die öffentliche Religionsausübung. Der Schlüssel zum Verständnis dieser Position liegt in der zeitgenössischen Theorie des Gesellschaftsvertrags: Laut ihr haben Menschen im Ausgang aus dem Naturzustand einen (fiktiven) Vertrag geschlossen, in dem sie natürliche Rechte auf einen Souverän übertragen, der ihnen im Gegenzug Schutz und Rechtssicherheit garantiert. Wie für Hobbes und Rousseau ergibt sich auch für Semler hieraus das Recht des Souveräns, im Sinne der Staatsräson eine einheitliche öffentliche Gottesverehrung bzw. ein einheitliches bürgerliches Glaubensbekenntnis festzusetzen. „[D]ie öffentliche Religionsform [ist] ganz gewis ein rechtmäßiges Band der bürgerlichen Gesellschaft“, bemerkt Semler, „die bürgerliche Gesellschaft [hat keinen] Nuzen und sichern Vortheil davon, wenn die öffentliche Religionsordnung überhaupt verspottet und verächtlich gemacht wird. Jeder weise Regent hat daher dieses nicht gestattet.“ Da das Eingehen des Gesellschaftsvertrags vernünftig war und dem objektiven Interesse der Menschheit entsprach, ist auch die damit notwendig verbundene Aufgabe des natürlichen Menschenrechts auf freie öffentliche Religionsausübung vernünftig und nicht zu beanstanden.
Hierin – und nicht etwa in systematisch-dogmatischen Fragen – ist der entscheidende Dissens zwischen Semler und Bahrdt zu suchen. Zwar hatte auch Bahrdt gegen entsprechende Einwendungen Semlers betont, dass die Abfassung des Glaubensbekenntnisses nicht auf seinen eigenen Willen zurückging, sondern er durch Beschluss des Reichshofrats zu ihr verpflichtet gewesen sei. Doch erklärt dies nicht, warum er auch zu systematischen Streitfragen Stellung bezog, die gar nicht Gegenstand seiner Verurteilung gewesen waren. In der Schlusspassage des Glaubensbekenntnisses rief Bahrdt zudem nach „Reform“ und „Freiheit“ und forderte „Rechte der Menschheit und des Gewissens“ ein, die nach Semlers Überzeugung in einer bürgerlichen Gesellschaft nicht sinnvollerweise gewährt werden können.
Im Lichte ihrer ganz unterschiedlichen Auffassungen vom Sinn und Zweck einer territorial einheitlichen öffentlichen Religion war es nur konsequent, dass Semler als einziger prominenter Neologe und zum Entsetzen seiner Kollegen das Woellnersche Religionsedikt (1788) verteidigte, während Bahrdt umgekehrt in seiner fulminanten Schrift Ueber Preßfreyheit und deren Gränzen (1787) jede Reglementierung religiöser Rede ablehnte: „Ich behaupte: das Recht, über Religion seine Gedanken mitzutheilen, darf gar nicht eingeschränkt werden, weil es keinen Fall gibt, wo der Gebrauch desselben dem Staate oder den Rechten einzeler Menschen einen wirklichen Schaden thun könnte.“
Falls Semler strategische Gründe bewogen hatten, gegen Bahrdt Stellung zu beziehen, ging die Rechnung nicht auf. Ende 1779 entzog von Zedlitz Semler, „weil [er] sein Ansehen mehr verloren hat, als er glaubt und das Institut in schlechtem Zustand ist“, den Posten des Seminardirektors sowie die Leitung des an der Fakultät ansässigen Erziehungsinstituts. Es ist immer wieder behauptet worden, die Demission habe in direktem Zusammenhang zur Auseinandersetzung mit Bahrdt gestanden, doch scheinen in Berlin übel aufgestoßene Intrigen Semlers gegen den Pädagogikprofessor (und Bahrdt-Freund) Ernst Christian Trapp (1745–1818) mindestens genauso ursächlich gewesen zu sein. Zedlitz übertrug Trapp die Leitung des Instituts, während Johann August Nösselt (1734–1807) zum Seminardirektor ernannt wurde.
Sowohl Semler als auch Bahrdt entfalteten in dem nun folgenden Jahrzehnt eine geradezu atemberaubende publizistische Aktivität. Bahrdt landete mit dem Kirchen- und Ketzer-Almanach aufs Jahr 1781 (1780), in dem er viele wichtige deutsche Theologen auf unnachahmliche Weise verspottete und endgültig alle Brücken hinter sich abbrach, sogleich den nächsten skandalträchtigen Bestseller. In seiner Apologie der Vernunft (1781) demolierte er scharfsinnig die klassische Satisfaktionslehre. Wenig später begann er mit den periodisch erscheinenden Briefe[n] über die Bibel im Volkston (1782/83) und Ausführung des Plans und Zweks Jesu. In Briefen an Wahrheit forschende Leser (1784–1793) eine streng naturalistische, von heutigen Exegeten nicht selten belächelte Geschichte des Lebens Jesu zu schreiben, auf die sich später u.a. Größen wie Bernard Bolzano (1781–1848) und Albert Schweitzer (1875–1965) kritisch beziehen sollten.
Bahrdts Sendungs- und Selbstbewusstsein blieb zeitlebens ungebrochen, er brachte sich als Nachfolger Lessings in Wolfenbüttel und Trapps in Halle ins Spiel und trug sogar dem amerikanischen Präsidenten George Washington erfolglos seine Dienste an. Nach dem Tod Friedrichs II. (1786) und in Voraussicht der einsetzenden Reaktion gab Bahrdt die universitäre Lehre auf, kaufte einen Weinberg inklusive Gaststube und gründete 1787 den radikalaufklärerischen Geheimbund Deutsche Union (auch: Union der Zweiundzwanziger), dem er gestützt auf anonym betriebene Korrespondenz erhebliche Anhängerschaft zu verschaffen verstand (u.a. den berühmten Freiherrn von Knigge). Im April 1789 wurde Bahrdt verhaftet, später zwar vom Vorwurf des konspirativen, umstürzlerischen Wirkens freigesprochen, jedoch für seine (von ihm selbst bestrittene) Verfasserschaft des Lustspiels Das Religionsedikt und der damit begangenen Majestätsschändung zu zwei Jahren Festungshaft verurteilt.
Semler vollendete im selben Zeitraum wichtige Werke zur neutestamentlichen Hermeneutik und frühen Kirchengeschichte, entfaltete in zahlreichen Variationen seine Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion und gab Übersetzungen von Origenes, Balthasar Bekker, Hugh Farmer u.a. mit weitschweifigen Anmerkungen und Zusätzen heraus. Unter seine Veröffentlichungen mischten sich nun aber auch mehr und mehr esoterische Themen. Semler publizierte nicht nur Sammlungen zur Formschneidekunst (1782) und berichtete in kleinen Schriften über Beobachtungen, die er auf seinen Spaziergängen in der Natur gemacht hatte, er begann auch, sich für Rosenkreuzer und Alchemie zu interessieren. Für besonderes Befremden sorgte bei den Kollegen der in einem halben Dutzend Schriften dokumentierte Einsatz für das „Luftsalzwasser“, eine von einem gewissen Baron Leopold von Hirschen vertriebene Universalarznei geheimer Zusammensetzung, bei der es sich um offenkundigen Schwindel handelte.
Bahrdt und Semler bewahrten einander trotz des Bruchs 1779 bis an ihr Lebensende die gegenseitige Hochachtung. Bahrdt spricht von seinem Kontrahenten als „ohnstreitig eine[m] unserer größten und verdientesten Theologen“ und „großen Mann“, als dem „erste[n] Mitstifter der Aufklärung in Deutschland“. Wäre er rechtzeitig abgetreten, „so müsten alle Patrioten rufen: O Ihr Germanen! setzt dem Mann eine Ehrensäule“. Trotz des Grolls über die ihm von Semler angeblich auf immer verbaute geistliche Karriere bescheinigt er ihm ein „gutes Herz“. Am bemerkenswertesten ist jedoch, dass Bahrdt die letzte große theologische Kehrtwende seines Lebens – von der Neologie zum Rationalismus – der verspäteten Lektüre von Semlers Abhandlung von freier Untersuchung des Canon zuschreibt: Sie erst hätte ihn – neben Gesprächen mit Johann August Eberhard (1739–1809) – von dem Glauben an die „Göttlichkeit der heil. Schrift“ und an die Lehre Jesu als einer „übernatürlichen Offenbarung“ kuriert. Etwa ab dem Jahr 1783 betrachtete Bahrdt nun „Mosen, Jesum, wie den Konfuz, den Sokrates, den Luther, den Semler und – mich selbst, als Werkzeuge der Vorsicht [i.e. Vorsehung], durch welche sie auf die Menschheit Gutes wirkt – nach ihrem Wohlgefallen. Ich war überzeugt, daß alle diese und ähnliche Männer lediglich aus der Quelle der Vernunft geschöpft hatten.“
Umgekehrt war auch Semler sich des intellektuellen Formats Bahrdts stets bewusst. Als dieser ihn 1782 um eine Empfehlung für die Nachfolge Trapps bat, drückte der beim Ministerium in Ungnade gefallene Semler ob dieses Ansinnens zwar seine Irritation aus, versicherte aber: „Daß Sie sich mehr als andere dazu schicken, wird niemand auf mein Urtheil ankommen lassen; ich werde es aber immer sagen“. Er schließt: „Ich werde Ihre Talente des Kopfes nie verkennen, und Ihnen noch einige mehrere des Herzens gönnen.“ Als Bahrdt ihm aus der Untersuchungshaft schrieb, zögerte der „menschenfreundliche Semler“ (Bahrdt) nicht, sich bei Woellner für den Gefangenen zu verwenden. Bahrdt wurde ein Jahr der Strafe erlassen, die Haftbedingungen wurden deutlich erleichtert. Auf der Festung Magdeburg verfasste er u.a. vierbändige Memoiren, ein Gefängnistagebuch, mehrere dickleibige Thesenromane, in denen er gegen Priesterbetrug und institutionalisierte Religion polemisiert, sowie einen Katechismus der natürlichen Religion (1790).
Im März 1791 starb Semler. In seinem [L]etzten Glaubensbekenntniß wird Bahrdt nicht ein einziges Mal erwähnt, doch ist er allgegenwärtig. Semler zitiert sogar eine längere Stelle aus Bahrdts obskurem Roman Ala Lama (1790). Zwei Tage vor seinem Tod erklärt er Niemeyer: „Es ist nichts als Unwissenheit in der Geschichte, daß christliche Religion mit der Bibel verwechselt ist; als ob es keine Christen gegeben hätte, da es noch keine Bibel gab“ – einmal mehr bestätigend, dass die dogmatische Kluft zwischen ihm und Bahrdt nicht überschätzt werden sollte.
Nur ein Jahr später starb auch Bahrdt. Er hatte nach der Freilassung seine Frau verstoßen, war mit einer Magd zusammengezogen und noch einmal dreifacher Vater geworden. Da er sich selbst für einen begnadeten Mediziner hielt, versuchte er ein beginnendes Halsleiden vermittelst Quecksilberkur zu heilen und verschied an den Folgen der Vergiftung, so wie kurz zuvor bereits seine von ihm behandelte älteste Tochter. In einer seiner letzten Schriften stellt er fest: „Es ist unleugbar, daß die Aufklärung bereits einem Strohme gleicht, den keine Dämme mehr aufhalten mögen.“
Weder der in seinem Leben so häufig die Moral missachtende Moralprediger Bahrdt noch der Alchemist und Woellner-Freund Semler taugen uneingeschränkt als Heldenfiguren der theologischen Aufklärung. Wahr ist aber auch: Kaum jemand hat mehr zu ihrem „Strohm“ beigetragen.
Beide Gelehrte erzeigen sich als Grenzgänger zwischen Orthodoxie und Dissidenz, ihre Lehren wie auch ihr Leben sind teils fluide, heikel und gefährdet. Bahrdt und Semler erweisen sich somit als Paradefälle für das, was Martin Mulsow jüngst „prekäres Wissen“ genannt hat. Die Auseinandersetzung um Bahrdts Glaubensbekenntniß am Ende des 18. Jahrhunderts steht auch exemplarisch für die beschränkte Wirkmächtigkeit der Buchzensur im Reich. Der Autor Bahrdt musste zwar die Strapazen einer Flucht auf sich nehmen, doch der Verbreitung und Popularität seiner Thesen dürfte das obrigkeitliche Verbot eher noch geholfen haben. Während Bahrdt in der habsburgisch-österreichischen Zensur häufig behandelt wurde, scheint die deutschsprachige Kontroverse etwa in der römischen Buchzensur keinen Widerhall gefunden zu haben. Gleichwohl ließ es sich Bücherkommissar von Scheben nicht nehmen, das ausdrückliche Lob des Papstes für sein beherztes Eingreifen gegen Bahrdt umgehend zu veröffentlichen. Sowohl Protagonisten als auch Kontrahenten versuchten gleichermaßen aus der Causa Bahrdt publizistisch Kapital zu schlagen.
Die Kontroverse um Bahrdt und Semler dokumentiert einmal mehr die Vielschichtigkeit der Neologie. Die in Gießen erscheinenden [N]euesten Religionsbegebenheiten, die akribisch die jahrelangen Auseinandersetzungen um Bahrdt begleiteten, schrieben 1790 fast schon enerviert: „Wir haben schon etlichemal erinnert, daß es schwer sey, die Theologie der Neuern genau darzustellen, da sie unter einander so sehr verschieden sind, und z.E. Bahrdt weiter geht, als Steinbart, dieser wiederum anderst lehrt, als Teller oder Semler, die allgemeine deutsche Bibliotheck aber, und manche andre anonymische Schriften, die viel Aufsehen gemacht haben, vieles wiederum ganz anderst vorstellen; der Eine den Socinianismus, ein Anderer den Scepticismus anpreiset, der Dritte viele Lehren stehen läßt, die der Vierte ausgemärzt wissen will, der Fünfte der heil. Schrift noch immer viel Ansehen übrig läßt, der Sechste dieses schwächt, und der Siebente es ganz aufhebt.“
Anhand der vorliegenden kritischen Edition der Kontroverse um Bahrdt und Semler, deren breite kulturhistorische Bedeutung hier nur angedeutet werden konnte, lässt sich die Vitalität und Vielgestaltigkeit der Neologie ermessen. Bahrdts Glaubensbekenntniß, das in Semlers [L]etzte[m] Glaubensbekenntniß ein spätes Echo findet, kann nun wie der vielbeachtete Fragmentenstreit gewürdigt werden.