|a[1]| Einleitung.

Keine Frage kann für einen vernünftigen Menschen wichtiger seyn, als diese: Was hab ich zu erkennen und zu thun, um meines gesamten Daseyns möglichst froh zu werden, und bey allen äußern Veränderungen, die nicht von mir abhängen, eine beständige Zufriedenheit und die größte mir mögliche Summe der Freuden zu geniessen? Mit dieser Untersuchung beschäftigten sich alle Gelehrte unter den aufgeklärten Nationen des Alterthums, welche man Weise und Philosophen nannte, weil wahre Weisheit nichts anders ist, als die Wissenschaft und Fertigkeit sein Leben aufs beste zu nutzen. Was ist aber Glückseligkeit, was ist das größte Gut des Menschen, das höchste Ziel unsrer Wünsche, dem alle übrige kleinere Güter allenfals aufgeopfert, und alle übrige Zwecke untergeordnet werden müssen? Diese |a2| Frage muß vorher entschieden seyn, ehe man es unternehmen kann, eine Glückseligkeitslehre mit Sicherheit zu entwerfen; man muß das Ziel nothwendig erst festsetzen, ehe man die geradesten Wege zu demselben bestimmen kann. Dis sahen die Weltweisen unter den Griechen und Römern wohl ein, und daher finden wir in ihren Schriften so viele genaue Untersuchungen über die fines bonorum.
Nachdem aber die Lehre Jesu sich unter den gesitteten Nationen ausbreitete, und für eine göttliche Offenbarung über den Weg zur Glückseligkeit anerkannt ward, so hörten nach und nach alle weitere Untersuchungen a priori, oder aus der Natur des Menschen und der sich auf uns beziehenden Dinge über diese Fragen auf; und die christlichen Gelehrten vereinigten nun ihre Bemühungen dahin, den populären und jederman verständlichen Anweisungen des Christenthums, das Ansehen einer tiefsinnigen Gelehrsamkeit in den Augen derer, die nach Weisheit frugen, zu geben. Aber hierdurch geschahe es, daß die mit der erhabensten Simplicität vorgetragene Lehre Jesu in eine transcendente Wissenschaft verwandelt und mit übel verstandenen philosophischen Theorien aller Gegenden, worin sich das Christenthum ausbreitete, von Jahrhundert zu Jahrhundert immer mehr vermischt ward. Keiner unter den Theologen dachte darauf den Begrif der Glückseligkeit festzustellen, und in Beziehung auf denselben es deutlich zu entwickeln, wie das Christenthum seine Verehrer seliger mache. Man vergaß es allmälig ganz, worauf die Religion abziele, und gegen die Zeiten der Reformation war die Gesundheitslehre JEsu so vergiftet, der kirchliche Lehrbegrif so durchaus verderbt, daß man sich von den Lehrern moralischer Glückseligkeit für Bosheiten, die man noch erst erdenken und ausüben wollte, göttliche Vergebung im voraus erkaufen konnte. So weit können gelehrte Speculationen uns in die Irre führen, wenn wir nicht das Ziel und den eigentlichen Endzweck der Religion vorher |a3| feststellen, und bey allen theologischen Untersuchungen vor Augen behalten.
Ewig gesegnet sey das Andenken dieser grossen Männer, daß sie den wahren Grundsatz einer völligen Berichtung des christlichen Lehrbegrifs festgesetzet und behauptet haben: daß nur die heilige Schrift durch sich selbst erkläret, die einzige Erkentnißquelle und Schiedsrichterin für die geoffenbarte Religion seyn müsse. Allein so viel auch immer diese würdigen Reformatoren arbeiteten, so konnten sie sich doch mit ihren Untersuchungen nicht zugleich auf alles verbreiten, und es war ihnen daher unmöglich in den wenigen unruhvollen Jahren ihres Lebens die Verbesserung des Lehrbegrifs zu vollenden. Ueberdis fehlete es ihnen an einer genugsamen Kentniß der Kirchengeschichte und an exegetischen Hülfsmitteln, da man sich bis zu ihren Zeiten um die Geschichte der Lehrmeinungen um Philologie und Critik, ja überhaupt um die ganze heilige Schrift wenig bekümmert hatte. Die Reformatoren gingen daher in ihren Prüfungen der kirchlichen Lehren nur bis auf die Zeiten des entstandenen Pabstthums zurück, und liessen dagegen alle Lehrbestimmungen, die in den ersten fünf bis sechs Jahrhunderten von der herrschend gebliebenen Parthey angenommen waren, ohne Untersuchungen auf das Ansehn der ältern Concilien noch als ächtes Christenthum stehen.
Nach ihrem Tode wurde alle fernere Berichtigung des Kirchensystems unterbrochen. Man schränkte aus Furcht vor etwannigen Schwärmereyen, wodurch Bauernkriege aufs neue erregt werden könnten, die protestantischen Lehrer auf den von den Reformatoren vor der Hand genungsam verbesserten Lehrbegrif ein, und versymbolisirte alle weitere Aufklärung noch zuletzt durch das Concordi|a4|enbuch. Wir haben daher noch in dem herrschenden Kirchensysteme den ganzen Wust menschlicher Hypothesen, welche schon in den ersten sechs Jahrhunderten, zum Theil aber auch noch später, aus mißverstandenen Theorien der Egyptischen, Chaldäischen, Jüdischen, Platonischen, Gnostischen, Manichäischen und Aristotelischen Philosophie mit dem Christenthum vermischt worden sind.
Da nun viele protestantische Gottesgelehrte dieses Mischmasch von speculativen Träumereyen, in welchem wenig oder gar keine ersichtliche Abzweckung auf Glückseligkeit anzutreffen ist, noch immer für die reine beseligende Lehre Jesu ausgeben, so ist es kein Wunder, daß mit jeder mehrern Aufklärung der Nation, auch der Zweifel gegen die Göttlichkeit des Christenthums immer mehrere werden, und alle selbstdenkende Köpfe und Wahrheitsforscher nach und nach unsre Kirchen verlassen.
Wer nun unter meinen theologischen Lesern von dem Geist der ersten Reformatoren beseelt, Muth genung hat, sich von den sclavischen Fesseln menschlicher Autoritäten und verjährter Lehrformeln frey zu machen, doch aber noch in Verlegenheit ist, wie er sich aus dem Labyrinth der willkührlichen in einander laufenden Hypothesen hinaus retten soll, dem biete ich durch diese Schrift einen Leitfaden an, vermittelst dessen er aus allen Irrgängen des Kirchensystems sich heraus finden, und auf den geraden von Christo gebahnten Weg gelangen könne, auf welchem das Ziel unsrer großen Bestimmung mit solcher Klarheit uns entgegen leuchtet, daß auch der ungelehrte Christ an der Hand seines Lehrers, ohne erst nach Arabiens Wüsten zu reisen und Hor und Sinai zu beklettern, zu immer höherer Glückseligkeit mit gesicherten Schritten hinansteigen kann.
Zweytens müssen wir die Kräfte, Fähigkeiten und Empfänglichkeiten des Menschen, oder alle in unsrer Natur und Verhältnissen vorhandne Anlagen zu höhrer Glückseligkeit uns bekannt machen, weil nur hieraus deutlich eingesehen werden kann, was für Seligkeit und welche Grade derselben uns zu erreichen möglich sind. Dis wird den Inhalt des zweyten Abschnitts dieser Abhandlung ausmachen.
Im dritten Abschnitt werde ich die Schranken der menschlichen Kräfte und die mannigfaltige Hindernisse, welche den Fortgang unsrer Bestrebung nach Glückseligkeit hemmen, ins Licht setzen, weil eben hieraus so wol die Nothwendigkeit, als auch die zweckmäßige Beschaffenheit der Hülfe, die wir von der Religion zur Seligkeit bedürfen, deutlich und bestimmt erkannt werden muß.
Alsdenn wird es uns im vierten Abschnitt leicht werden, augenscheinlich darzuthun, wie die Lehre Jesu |a7| in Beziehung auf unsre Anlagen zur Glückseligkeit und auf unser natürliches Unvermögen, uns von selbst zu höhern Graden derselben zu erheben, die allerangemessenste Hülfe und Unterstützung gewährt, bey deren rechten Gebrauch wir unfehlbar immer seliger werden müssen.
Im fünften Abschnitt will ich auf die menschliche ungegründete Hypothesen, wodurch die Wirksamkeit der Glückseligkeitslehre Jesu zeitig geschwächt worden , aufmerksam machen und die Autorität ihrer Erfinder nebst dem Blendwerk der scheinbaren Beweise für dieselben schwächen, ohne mich jedoch auf blos speculative Träumereyen, die keinen praktischen Einfluß auf unsre Zufriedenheit und Hofnungen haben, dabey einzulassen.
Im sechsten Abschnitt wird alsdenn das unvermischte reine System der Anweisung Christi zur Seligkeit ohne Schwierigkeit dargestellet werden können, welches jedem Wahrheitsforscher durch seine innre Uebereinstimmung und durch die genaue Angemessenheit zu unsern Bedürfnissen und Wünschen ohne transcendente Beweise durchaus als göttliche Wahrheit einleuchten wird.