|a[8]| Erster Abschnitt.
Ueber den Begrif der Seligkeit.

§. 1.

So wenig deutliche Sacherklärungen man von dem Begrif der Seligkeit antrift, so leicht lassen sich doch aus den ohngefehren Beschreibungen und mancherley uneigentlichen Ausdrücken, welche in den Kirchen und theologischen Schriften häufig zur Bezeichnung derselben gebraucht werden, die Vorstellungen samlen, welche die mehresten sich von der Seligkeit bilden. Der allergemeinste Begrif ist wol dieser, daß die Seligkeit ein Zustand einer süssen Ruhe nach dem Tode sey, wo wir frey von allen physischen Uebeln im Zusammenfluß mannigfaltiger äußern, jetzt noch ungedenkbaren Annehmlichkeiten, Gott Ewigkeiten hindurch preisen würden. Uebrigens stellet man sich unter dem Namen des Himmels einen besondern Ort vor, wo diese Annehmlichkeiten uns vorbereitet sind, und schränkt die hier genießbare Seligkeit blos auf das Tröstliche, welches die Hofnung zur Seligkeit nach |a9| dem Tode darbietet, ein. Wer sich die Seligkeit auf diese Art denket, findet keine Schwierigkeit, ferner anzunehmen, daß Gott den Menschen allerley willkührliche Bedingungen, unter welchen er ihnen die Seligkeit schenken wolle, vorschreiben könne, und überredet sich leicht, daß in der Lehre Christi wirklich dergleichen angetroffen werden. Wie ausgebreitet aber der Einfluß dieser unrichtigen Begriffe auf die gesamte Anweisung zur Glückseligkeit sey; und wie weit der menschliche Witz, wenn er einmal etwas willkührliches in der Religion voraus setzt, in abergläubische Erfindungen sich Gott, so gar durch Selbstquälung, angenehmer zu machen, verfallen kann; verdienet in der Geschichte des Christenthums und der Kirche wohl bemerket, und zur Warnung beherziget zu werden.
Eine förmliche Widerlegung und Berichtigung des Irrigen in der angeführten herrschenden Vorstellung von der Seligkeit ist hier nicht möglich und auch nicht nöthig, da die folgende genauere Entwickelung des wahren Begrifs, Berichtigung und Widerlegung desselben zugleich ist. Allein dis bitte ich, theureste Amtsbrüder, lassen Sie uns die üblen Folgen der falschen Vorstellungen von der Seligkeit nicht in dem Lehrbegrif fremder Kirchen allein, sondern ein jeder von uns in seinem eignen Glaubenssystem sorgfältig aufsuchen: diese Folgen sind ausgebreiteter und erheblicher, als man es der ersten Hinsicht nach glaubt.

§. 2.

Die Seligkeit ist kein äußerer, sondern ein innrer Zustand der Seele. Sie ist der Zustand einer fortdaurenden Zufriedenheit und des herrschenden Vergnügtseyns unsres Gemüths. Bedarf es noch eines Beweises für diese Erklärung? Kann man wol selig seyn, wenn man unzufrieden und mißvergnügt ist? oder kann dem noch etwas zu seiner Seligkeit fehlen, in dessen Seele Heiter|a10|keit, Zufriedenheit und Vergnügen wohnet? Wird nicht alles, wornach wir uns bestreben, nur darum begehrt, weil wir durch Erlangung desselben zufriedner und vergnügter zu werden hoffen? Ich besorge demnach keine Einwendung gegen diese Erklärung, und es kommt also nur darauf an, weiter zu erforschen, wie Zufriedenheit und Vergnügen in menschlichen Seelen erzeuget, genährt und fortdaurend unterhalten werden kann.

§. 3.

Die Zufriedenheit erwächset aus dem Bewußtseyn des Uebergewichts der Vollkommenheiten unsres gesamten Zustandes über die Unvollkommenheiten desselben, besonders in Beziehung auf die Zukunft. Diese Erklärung ist ausnehmend fruchtbar, und verdient die sorgfältigste Aufmerksamkeit, und weitre Entwickelung. Zuvörderst stimmet sie mit dem allgemeinen Sprachgebrauch überein. Man frage einen Mann, der ein Amt begleitet, ob er mit seiner Lage zufrieden sey? Er wird sogleich die Annehmlichkeiten und die Unannehmlichkeiten seiner Verhältniße zu berechnen anfangen, und z. B. uns sagen, ich habe zwar viele Arbeit, sie wird mir aber sehr reichlich belohnt; oder ich habe zwar viele Mühe und Verdruß, auch nur geringe Einnahmen bey meinem jetzigen Amt, dabey aber die sichre Erwartung, durch meinen Fleiß in denselben eine der ansehnlichsten Versorgungen in kurzem zu verdienen, und dis veranlasset mich, mit meiner Lage zufrieden zu seyn. Unzufriedenheit entstehet dagegen, wenn wir mehr auf die Unvollkommenheiten unsres Zustandes sehen, und insonderheit, wenn wir schlechte Hofnungen für die Zukunft darinnen wahrnehmen. Hieraus folget nun zunächst, daß es eine wahre gegründete, und eine eitle vorübergehende Zufriedenheit geben müsse. Unsre Zufriedenheit ist gegründet, wenn in unserm Zustande das Uebergewicht des Guten über das Böse wirklich so und in dem Grade vor|a11|handen ist, wie wir uns solches vorstellen, und sie ist dagegen vorübergehend, wenn wir uns übertriebne Begriffe von dem Uebergewicht der Vollkommenheiten unsres Zustandes bilden, und uns mit eiteln Erwartungen in Absicht der Zukunft schmeicheln. Ferner fliesset hieraus, daß je mehr die Vollkommenheiten unsres Zustandes die Unvollkommenheiten desselben überwiegen, desto grössere und reinere Zufriedenheit des Gemüths auf eine gegründete Art statt finden könne, daß sie aber erst alsdenn wirklich ins uns empfunden werde, wenn das Uebergewicht des vorhandenen Guten von uns gehörig bemerkt und anschauend vorgestellet wird. Daher kommt es, daß viele Menschen in den vortheilhaftesten Umständen, in welche sich tausend andre versetzt zu sehen wünschen, in fortdaurender Unzufriedenheit leben, weil sie entweder das Gute darin zu wenig beahnden und schätzen, oder die kleinern Uebel und Unbequemlichkeiten derselben sich durch Einbildung vergrößern, und dadurch ihre Aussichten in die Zukunft verdunkeln.
Noch weiter in der Zergliederung zu gehen, und zu entwickeln, was an sich und in Beziehung auf den Menschen gut oder böse in den Bestimmungen seines Zustandes sey, erlaubt und erfordert mein Zweck für jetzt nicht; doch rathe ich jungen Gottesgelehrten diese Untersuchung mit Hülfe der metaphysischen Lehrbücher bis zur Erlangung einer vollständigen Deutlichkeit über die verschiedenen Gattungen des Guten und Bösen fortzusetzen.

§. 4.

Aus diesen Betrachtungen folget nun auch, daß man auf eine dreyfache Art Zufriedenheit bey Menschen hervorbringen, unterhalten und verstärken könne.
Erstlich; wenn man thätig das Uebergewicht der Vollkommenheiten ihres Zustandes zu vermehren und zu erhalten, die Mängel und Uebel desselben aber zu verringern |a12| sucht, z. B. in Absicht des äußern Zustandes, wenn man Kranke heilet, dürftigen Brodt verschaft, so befördert man offenbar ihre Zufriedenheit.
Zweitens; wenn wir Menschen belehren, wie sie ihren innern und äußern Zustand verbessern können, ihnen dazu Gelegenheit und Veranlassung geben, und sie zur Benutzung derselben aufmuntern. So kann man z. B. einen Menschen, der sich in Verlegenheit befindet, seine verlorne Zufriedenheit durch blosse Rathgebung, wie er sich aus derselben helfen könne, wieder verschaffen.
Drittens; wenn man seine Zuhörer auf das in ihrem Zustande schon vorhandne Gute aufmerksam macht, den wahren Werth desselben ins Licht setzt, ihre Aussichten in die Zukunft daraus erheitert, und ihnen den Ungrund ihres Kummers und ihrer Besorgnisse darthut. Dieses ist für Lehrer das fruchtbarste Mittel Zufriedenheit zu befördern.
Die ganze Ausdehnung des Gebrauchs dieser Mittel werden wir nur alsdenn erst zu übersehen im Stande seyn, wenn wir die Empfänglichkeit und Anlagen des Menschen zur Seligkeit im folgenden Abschnitt entwickelt haben werden.

§. 5.

Das Vergnügen ist nicht so wol der Gattung als dem Grade nach von der Zufriedenheit unterschieden. Beides sind angenehme Empfindungen der Seele; das Vergnügen aber ist lebhafter und mit merklichern Bewegungen der Lebensgeister im Körper begleitet. Es entstehet aus der anschauenden Vorstellung des Anwachses unsrer Vollkommenheiten. So sind selbst die Vergnügungen, welche wir durch sinnliche Empfindungen erhalten, nichts anders als klare Vorstellungen von angenehmen Veränderungen des Zustandes unsers Körpers z. B. wenn wir den Hunger stillen, den Durst löschen, unser Ohr durch die Har|a13|monie der Töne angenehm gerührt wird. Eben so verhält es sich mit dem geistigen Vergnügen. Nur die Neuheit der Gegenstände unsrer Vorstellungen bringt die Lebhaftigkeit des angenehmen Zustandes unsres Gemüths hervor, den wir Vergnügen nennen. Ein neuer Anwachs von Erkentnissen; eine eben verrichtete gute Handlung, die den Keim neuer Hofnungen von guten Folgen enthält; eine neue Entdeckung von der Achtung oder Liebe, die andre für uns haben; macht uns in hohem Grade vergnügt. Man gebe nur auf sich selbst acht, wenn man vergnügt wird, ob es nicht allemal aus der Bemerkung irgends einer vortheilhaften Veränderung unsres Zustandes und also des Anwachses der Vollkommenheit desselben entspringt, und ob nicht gegenseitig in allen Fällen, wo wir merkliches Mißvergnügen oder Verdruß empfinden, die Entdeckung einer schon vorgegangenen oder noch bevorstehenden Verschlimmerung unsres Zustandes die Quelle davon ist. Es kann daher kein Vergnügen bey dem Menschen in einerley Grade der Lebhaftigkeit fortdauren, und was uns anfänglich die gröste Freude verursachet hat, rühret uns in einiger Zeit nur wenig, obgleich der fernere Besitz desselben zu unsrer Zufriedenheit mitwirken wird.
Man prüfe diesen Begrif vom positiven Vergnügen und Mißvergnügen, aus welchem wir nachher sehr praktische Folgerungen ziehen werden, durch Anwendung auf allerley Fälle. Es ist z. B. ein lebhaft Vergnügen den Hunger zu stillen, so bald wir aber gesättiget sind, höret das Vergnügen auf, und verwandelt sich in blosse Zufriedenheit. Man freuet sich lebhaft, wenn man unerwartet ein ansehnliches Geschenk erhält, oder von einer schmerzhaften Krankheit genest, aber bald lässet die Intension der angenehmen Gemüthsbewegungen nach, und wir besitzen nachher das geschenkte Gute, und die wieder erlangte Gesundheit Jahre lang, ohne ein positives Vergnügen darüber zu empfinden; bis wir eins oder das andere verlieren, da |a14| sogleich das Mißvergnügen sich unsrer bemächtiget durch die hervorgebrachte lebhafte Vorstellung, daß unser Zustand verschlimmert worden ist.

§. 6.

Es giebt auch ein falsches und ein wahres Vergnügen, so wie ein gegründetes und ungegründetes Mißvergnügen, nachdem nemlich unsre Vorstellungen von den guten und übeln Veränderungen unsres Zustandes mit der wahren Beschaffenheit derselben übereinkommen oder nicht. Hiernächst finden unzählige Grade der Größe so wol in Absicht der Lebhaftigkeit, als der Dauer des Vergnügens und Mißvergnügens statt. Die körperlichen oder sinnlichen sind von der kürzesten Dauer, können aber ausnehmend lebhaft werden, so daß sie die Selbstthätigkeit der Seele eine Zeitlang gänzlich einschränken. Die geistigen sind um so dauerhafter, je mehr Mannigfaltigkeit guter Erwartung daraus entwickelt werden kann, und je länger daher die Seele mit Entwickelung derselben sich beschäftigen, und neue Aussichten daraus eröfnen kann; und sie sind um so lebhafter, je anschauender die guten Folgen derselben und je mehrere auf einmal sich dem Gemüth darbieten.
Da alle Schmerzen des Körpers zu dem positiven Mißvergnügen gehören, so bedarf es keines Beweises, daß sinnliche Veränderungen des Körpers, einen solchen Grad der Wirksamkeit oder Lebhaftigkeit erhalten können, daß die Seele gezwungen wird, nur diese Veränderungen des Körpers allein zu denken. Es kann, wie die Erfahrung lehret, ein Mensch durch heftige Schmerzen ganz verstandlos und ohnmächtig werden. Angenehme Veränderungen des Körpers sind zwar ihrer Natur nach gemäßigter, doch benimmt auch die Empfindung derselben zuweilen der Seele das Bewußtseyn aller übrigen Bestimmungen ihres Zustandes.

|a15| §. 7.

Vergnügen kann nun ebenfals, wie die Zufriedenheit, auf eine dreyfache Art in einem Menschen erwecket werden:
Erstlich, durch jede thätige Mittheilung eines neuen Guten oder merkliche Verbesserung des innern oder äußern Zustandes eines Menschen, insonderheit, wenn sie ihm unerwartet ist, desgleichen durch Versprechungen, die ganz neue Aussichten in eine angenehme Zukunft eröfnen.
Zweitens, durch Anweisung und guten Rath, wie jemand sich einen neuen Zuwachs der Vollkommenheit verschaffen könne. Z. B. Man entdecke einem arbeitsamen Manne, der mit vieler Mühe wenig erwirbt, wie er mit weniger Mühe viel erwerben könne; wie vergnügt wird er darüber seyn, und wie oft wird dis Vergnügen sich bey jedem merklichern Anwachs seines Wohlstandes erneuern!
Drittens, durch Erweckung der Aufmerksamkeit auf den von jemand nicht beahndeten Anwachs des Guten in seinem Zustande, und durch Aufklärung der guten Folgen, die er davon zu erwarten berechtiget ist. Es hat z. B. jemand eine edle und großmüthige Handlung verrichtet; ich eröfne ihm, wie sehr er sich dadurch die Achtung und Liebe derer, von welchen sein Glück abhängt, erworben habe, oder wie vortheilhaft überall davon geurtheilet worden sey; so wird ohnfehlbar ein inniges Vergnügen ihn beleben, und eine Menge angenehmer neuer Hofnungen werden sein Gemüth auf das angenehmste mehrere Tage hindurch beschäftigen.
Die Zufriedenheit beruhet mehr auf der Vorstellung von den fortdauernden guten Bestimmungen unsers Zustandes, in so fern wir sie als Gründe guter Folgen betrachten; das Vergnügen entspringt dagegen aus der Vorstellung eines neuen Guten oder eines Anwachses der Vollkommenheit, folglich aus den Veränderungen des Zustandes. Hieraus |a16| erhellet nun, wie die Mittel Zufriedenheit zu befördern und die Mittel Vergnügen zu erwecken, theils mit einander übereinkommen, theils von einander verschieden sind. Jedes neue Gute, was dem Menschen zu Theil wird, erweckt bey der ersten Wahrnehmung Vergnügen. Ist nun dis Gute etwas fortdaurendes, wie z. B. wenn jemand ein Amt bekomt, davon er mit Bequemlichkeit leben kann; so wird dis auch nachher, wenn die erste lebhafte Freude über die Erlangung desselben vorüber ist, ein Grund der Zufriedenheit bleiben, weil es das Uebergewicht der bleibenden Vollkommenheiten seines Zustandes vermehrt; ist aber das Gute blos vorübergehend, so daß es im ersten Genuß selbst verschwindet, so trägt es nichts zur fortdaurenden Zufriedenheit bey. Z. B. Wenn ein Armer nicht mehr erhält, als sich nur einmal zu sättigen , so verliert sich das Vergnügen mit dem Genuß, und das wiederkehrende Bedürfniß verstattet keine lange Fortdauer der Zufriedenheit.

§. 8.

Nachdem wir aus einander gesetzt haben, worin eigentlich die Zufriedenheit und das Vergnügen im Menschen bestehe, wie sich solche erzeugen, und wie viele Grade bey denselben statt finden können, so wird sich nun der Begrif der Seligkeit selbst mit wenigen deutlicher und bestimter angeben lassen. Niemand wird denjenigen für selig erklären, in dessen Gemüth Zufriedenheit und Vergnügen seltener, oder nur eben so oft als Unmuth und Mißvergnügen angetroffen werden. Wollten wir aber die Seligkeit blos nach dem höchsten Grade derselben erklären, und darauf einschränken, daß nur blos derjenige selig zu nennen sey, in dessen Seele eine ganz unvermischte reine Zufriedenheit und eine ununterbrochne Reihe der mannigfaltigsten Vergnügungen ohne die geringsten Anwandlungen des Unmuths fortwalteten, so würde die Seligkeit über|a17|all kein Loos der Sterblichen seyn. Da aber die heiligen Schriften versichern, daß wahre Christen schon hier selig sind, ob sie gleich eine noch größere Seligkeit erwarten, so müssen wir unsre Erklärung ihrem Sprachgebrauch gemäßer einzurichten versuchen. Es giebt, wie wir schon gezeigt haben, ungemein viele Grade der Zufriedenheit und des Vergnügtseyns, so wol der innern Empfindung als der Fortdauer nach, und daher wird es schwer, genau zu bestimmen, bey welchem Grade man anfangen soll, die niedrigste Staffel der Seligkeit anzusetzen. Wir können aber nun schon so viel sicher behaupten, daß ein Mensch um so seliger sey, je mehr, oder je fortdaurender und lebhafter er sich des wachsenden Uebergewichts der Vollkommenheiten seines gesamten Zustandes über die Unvollkommenheiten desselben bewußt ist.
Je mehr der Mensch sich des Uebergewichts des Guten seines Zustandes bewußt ist, desto zufriedner, und je mehr des Anwachses desselben er sich bewußt ist, desto vergnügter ist er.

§. 9.

Diese Erklärung von der Seligkeit ist auf alle endliche Geister, von deren Existenz eine unaufhörliche Folge von Veränderungen des innern und äußern Zustandes nicht abgesondert werden kann, in jeder gedenkbaren Scene ihres Daseyns ohne Ausnahme anzuwenden. Wir lehren nemlich hierdurch vollständig:
  • 1. Daß keine wahre Seligkeit in einem endlichen Geiste angetroffen werden könne, in dessen gesamten Zustande nicht wirklich
    • a) ein Uebergewicht des Guten über das Böse,
    • b) insonderheit mehr Gründe zu guten als übeln bevorstehenden Veränderungen,
    • c) ein Wachsthum der Vollkommenheiten, wodurch die Gründe zu neuen guten Erwartungen zugleich vermehret werden, vorhanden sind. |a18|
  • 2. Daß aber wahre Seligkeit nur alsdenn erst wirklich entstehe, wenn wir uns dieser vortheilhaften Beschaffenheit unsres Zustandes bewußt werden: folglich wenn wir
    • a) das Uebergewicht der guten Bestimmung unsres Zustandes anschauend erkennen,
    • b) aus den vorhandnen Gründen erfreuliche Hofnungen wirklich herleiten, und klar uns vorstellen,
    • c) den Wachsthum unsrer Vollkommenheiten, und die sich uns eröfnende neue Aussichten in eine noch bessere Zukunft wirklich bemerken.
  • 3. Daß demnach die Grade der Seligkeit bestimt werden
    • a) materialiter oder objectiue durch die Größe, theils des Uebergewichts der fortdaurenden Vollkommenheiten unsres Zustandes über die Unvollkommenheiten desselben, theils des öftern wirklichen Zuwachses neuer Vollkommenheiten oder des angenehmen und vortheilhaften in unsern Veränderungen.
    • b) formaliter oder subjectiue theils durch den Grad der Lebhaftigkeit, womit wir uns das Gute unsres Zustandes vorstellen; theils durch die Fortdauer unsres Bewußtseyns von dem Uebergewicht und Anwachs unsrer Vollkommenheiten: indem unsre Seligkeit jedesmal unterbrochen wird, so oft wir unsre Aufmerksamkeit mehr auf die Schranken und Mängel oder kleinere Verschlimmerungen unsrer Lage, als auf das überwiegende Gute unsres Zustandes und unsrer Hofnungen richten.

§. 10.

Um sich von der Richtigkeit und allgemeinen Anwendbarkeit dieser Erklärung: daß die Seligkeit oder Glück|a19|seligkeit endlicher Geister in dem Bewußtseyn des wachsenden Uebergewichts der Vollkommenheiten ihres Zustandes über die Unvollkommenheiten bestehe, noch mehr zu überzeugen; darf man sich nur zuvörderst deutlich machen, daß kein endlicher Geist jemals in einen Zustand, darin gar keine Uebel oder Mängel statt fänden, versetzt werden kann. So wol jede einzelne Vollkommenheit eines endlichen Dinges, als auch die Summe des mannigfaltigen Guten, welche es zugleich besitzen kann, ist nothwendig eingeschränkt und endlich. Diese Schranken und Mängel eines höhern Grades der Vollkommenheit sind aber wahre Uebel; und die meisten Uebel, worüber sich Menschen beklagen, sind nichts anders als Mängel höherer Grade des Guten, wovon sie zu wenig zu besitzen glauben. Hieraus erhellet die Wahrheit des ersten Theils unsrer Erklärung, daß zur Seligkeit nicht die Vorstellung von lauter Vollkommenheiten, sondern nur vom Uebergewicht derselben über die Unvollkommenheiten erfordert werde, und daß man um zufrieden zu seyn, sich nur das Gute seines Zustandes klärer und lebhafter als die Mängel und Uebel desselben vorstellen müsse. Hiernächst versuche man selbst, den allerglückseligsten Zustand, in welchen man sich versetzt zu sehen wünschet, völlig auszumalen, und man wird bemerken, daß so bald man denselben als unveränderlich fortdaurend denket, oder auch nur eine gewisse Gleichförmigkeit und Einerleyheit in irgends einer Beziehung annimmt, aller Reitz sich verliert. Wir müssen Gelegenheit haben uns und unsern Zustand vollkommner zu machen, wenn wir vergnügt seyn sollen. Dis erfordert der Grundtrieb aller selbstthätigen Geschöpfe, deren Existenz durch eine Reihe auf einander folgender Abänderungen ihres innern und äußern Zustandes bestimmt wird. Denn selbstthätig leben heißt nichts anders, als zur Verbesserung seines Zustandes wirken. Hierdurch wird die Wahrheit des zweiten Theils unsrer Erklärung, |a20| daß ein Bewußtseyn des Anwachses unsrer Vollkommenheiten zur Seligkeit nöthig sey, bestätigt, und daraus folgt zugleich, daß es auch in den allerglückseligsten Zustande eines endlichen Geistes noch immer Bedürfnisse geben müsse, die unsre Wirksamkeit unterhalten, und dem Grundtriebe aller Selbstthätigkeit, sich vollkommner zu machen, immerfort Nahrung und süsse Befriedigung verschaffen. Es ist nun zu zeigen, theils in wie weit überhaupt der Mensch Empfänglichkeit und Anlagen Seligkeit zu erhalten habe, theils in welchem Grade dieselbe im gegenwärtigen Zustande bey uns statt finden können.
Auch Hindernisse unsrer Bestrebungen nach Vollkommenheit sind dem Wachsthum der Kräfte förderlich, weil ohne solche der volle Gebrauch und die Anstrengung der Kräfte, wodurch sie sich verstärken müssen, nicht gedacht werden kann. In dem glückseligsten Zustande jedes endlichen Geistes sind daher innre und äußre Hindernisse und Widrigkeiten, der Seligkeit unbeschadet, und selbst zur Beförderung derselben anzunehmen: wie solche denn auch aus den physischen Einschränkungen endlicher Geister in jedem Zustande nothwendig folgen. Wenn nur die Aussicht und Hofnung vorhanden ist, sie nach und nach zu besiegen, so schwächen sie die Zufriedenheit nicht, und jeder Triumph über dieselbe bringt das lebhafteste Vergnügen hervor.