|d84| Fünfter Abschnitt.
Von den willkührlichen Hypothesen, welche den Einfluß des Christenthums auf die Glückseligkeit verhindern.

§. 41.

Die göttliche Kraft des Evangeliums alle diejenigen, welche es als einen von Gott bekant gemachten Unterricht annehmen, zu immer höherer moralischer Glückseligkeit zu erheben, kan sich nur in so fern äußern, als der Vortrag desselben nach seiner Bestimmung zur Erweckung Gott ähnlicher Gesinnungen gerichtet wird. Die Geschichte der Kirche und Völker lehret, daß solches nicht immer geschehen sey. Schon Paulus klaget 1 Tim. 1, 4 f. daß sich Lehrer in der Kirche einfänden, welche mehr auf Grübeleyen und ins unendliche gehende spekulative Fragen, als auf die wahre Erbauung der Gläubigen dächten, dabey aber den ganzen Endzweck der Lehre Christi, Liebe von reinem Herzen, von gutem Gewissen und ungeheuchelter Treue zu befördern, verfehlten, und bey ihrem gelehrt scheinenden Geschwätze doch selbst nicht wüßten, was sie sagten, oder behaupten wollten. Er warnet den Timotheus wiederhohlentlich 1 Br. 4, 7. K. 6, 4. 5. 20. so wie den Titus K. 3, 9. vor allem gelehrten Schulgezänke; und dennoch hat solches bald nachher unter den Lehrern der Kirche überhand genommen, so daß sie ganz des großen Gebotes der Liebe vergessen, und sich über Fragen, welche keiner zu beantworten verstand, über geständliche Geheimnisse, aufs äusserste gehasset und verfolget haben. Diese Zänkereyen über blos spekulative gelehrte Hypothesen hoben indeß noch nicht gerade zu die beseligenden Wirkungen der praktischen Lehren des Christenthums auf, sie änderten dieselben auch nicht |d85| merklich, sondern schwächten nur die Aufmerksamkeit auf dieselben, und den Eifer auf ihre Anwendung und Uebung zu dringen. Aber in der ersten Hälfte des 5ten Jahrhunderts gelang es einem afrikanischen Rhetor und Bischof, Augustin, sein aus Vermischung des Manichäismus und der Geschichte der heiligen Schrift entstandenes Privatsystem in der Kirche einzuführen, und mit Gewalt zur herrschenden Lehre der lateinischen Kirche zu machen. Durch dieses wurde nun geradezu alle Wirkung des Christenthums auf die Moralität der Menschen, und auf die Beförderung der daraus entstehenden höheren Glückseligkeit gehemmet. Da dieser Mann so wol in der römischen, als in beyden protestantischen Kirchen noch in einem solchen Ansehen stehet, daß obgleich der größere Theil der Theologen in allen Kirchen seinen Lehrbegrif verwirft, dennoch jeder sich scheuet, ihm geradezu zu widersprechen, und sich nur bemühet, seinen Worten einen gelindern Sinn beyzulegen; so will ich erst zeigen, wie wenig Augustin die geringste Autorität in der Kirche zu haben verdiene; und dann es beweisen, daß alle von ihm aufgebrachte Lehren den gesamten Einfluß des Christenthums auf die menschliche Glückseligkeit aufheben.
Bey allen theologischen Streitfragen muß man sich zuvörderst deutlich machen, was die Bejahung oder Verneinung derselben für einen Einfluß auf unsre Gesinnungen haben würde. Wird Gott uns nicht liebenswürdiger, unser Vertrauen zu ihm nicht größer, unsre Betriebsamkeit ihm wohlgefällig zu werden nicht verstärket, wenn wir die eine oder die andre Meinung annehmen; so können wir die ganze Frage unentschieden lassen, und kaltblütig oder vielmehr mitleidsvoll den Federkriegen zusehen, und uns glücklich schätzen, wenn man uns erlaubt, neutral zu bleiben. Hat aber die verschiedene Beantwortung einer Streitfrage einen unmittelbaren Einfluß auf die Gesinnungen, so muß man entscheiden, und dasjenige freymüthig und standhaft sagen und behaupten, was man als Wahrheit erkennet. Zur letztern Art gehören Augustins Lehrmeinungen.

§. 42.

Augustin hat uns selbst seine Lebensgeschichte in seinen libris confessionum aufgezeichnet. Ich übergehe, daß er |d86| nach seinem eigenen Geständnisse sehr heftige Leidenschaften gehabt, und in seiner Jugend sich den aller lüderlichsten Ausschweifungen überlassen, auch seine Aeltern, wo er nur gekont, bestohlen und betrogen hat; dieses hat nur einen entfernten Einfluß auf seine Lehren. Allein folgende von ihm erzählte Umstände, verdienen unsre größte Aufmerksamkeit:
  • a) Daß er einen beständigen Widerwillen gegen die griechische Sprache gehabt, und solche durchaus nicht erlernen gewolt hat. Daher ist es nun gekommen, daß er das neue Testament nur blos in der lateinischen Uebersetzung, die Schriften der griechischen Kirchenväter aber gar nicht gelesen hat, folglich sich auch keine gründliche Erkentniß von dem, was bisher in der ältern griechischen Kirche gelehret worden war, zu verschaffen im Stande gewesen ist.
  • b) Daß er die Gelegenheiten, welche seine Aeltern ihm zum studiren machten, gar nicht benutzet, sondern sich in allem auf sein eigenes Genie allein verlassen, und daher auch alle eigene Einfälle ohne lange Prüfung behauptet, und mit seinem lebhaften Witz wahrscheinlich zu machen gesucht hat: wie besonders seine elenden Kommentarien über die heilige Schrift zeigen.
  • c) Daß er eine geraume Zeit die Rhetorik zu Karthago, Rom und Milan gelehret hat, und daher in allen Klopffechterkünsten, eine Meinung durchzusetzen und andre davon zu überreden, geübt gewesen ist.
  • d) Daß er, ehe ihn Ambrosius bestimt hat, das Christenthum anzunehmen, sich zum manichäischen Lehrbegriffe bekant hat. Da dieser Umstand das meiste Licht über sein nachmaliges System vom Christenthum verbreitet, so muß hierüber folgendes bemerket werden. Manes war ein persischer Gelehrter, welcher das alte philosophische Lehrgebäude der Magier unter den Christen einzuführen suchte, und zu diesem Zwecke sich für den größten der Apostel, oder für den παρακλητος, welchen Chri|d87|stus an seiner Statt zu senden versprochen hatte, ausgab, und vermöge dieser höhern Gesandtschaft der übrigen Apostel Schriften verbessern wolte. Ob nun gleich nachher Augustin gegen die Manichäer geschriebenhat, in so fern sie die heiligen Bücher veränderten und allerley schwärmerische Lehren mit dem Christenthume vermischten, so behielt er doch im Grunde das philosophische System der Magier bey. Nach demselben war zwar nur ein Gott, als das principium des Guten, unter dem Bilde des Lichts, welches sich immerfort auszubreiten suchet; zugleich aber auch ein objektives principium der Materie unter dem Bilde der Finsterniß, welches die Ausbreitung des Lichtes hindere, und woraus alles Uebel in der Welt entstehe, angenommen. Da nun schon Tertullian und die meisten damaligen afrikanischen Kirchenlehrer die Seele für materiell hielten, und lehreten, daß sie per traducem aus Partikeln der Seele der Aeltern entstünde, so mußte nun Augustin nach seiner Philosophie ganz natürlich auf das System kommen, daß die Seele durchaus zu allem Guten unthätig sey, und Gott alles übernatürlich in ihr wirken müsse. Hieraus sind denn weiter alle übrige Lehren desselben von Prädestination und Verwerfung; von willkührlichen Handlungen Gottes; von unwiderstehlichen Wirkungen der Gnade u. s. w. geflossen, welche allen eigenen Fleiß in der Gemüthsbesserung und Tugend und alles kindliche Vertrauen zu Gott bey den Menschen vernichten.
Die Auflösung der Frage, woher das Böse in der Welt komme, wenn man nur ein höchstgütiges und unendlich mächtiges Wesen zum Urheber derselben annimt, hat von je her die scharfsinnigsten Weisen in Verlegenheit gesetzet. Man glaubt mehrentheils allgemein, daß die Magier, um den Ursprung des Bösen zu erklären, ein doppeltes effektives Principium oder einen guten und einen bösen Gott angenommen hätten, welche mit fast gleicher Kraft gegen einander wirkten, woraus die Mischung des Guten und Bösen in der Welt entstünde. Gewiß ist, daß die Juden ihre Theorie vom Teufel zu Babylon daraus erlernet haben. Man darf nur 2 Sam. 24, 1. mit 1 Chron. 22, (21,) 1. vergleichen, um sich davon zu überzeugen. Nach einer fast allge|d88|meinen Vermuthung sind die Bücher Samuels vor der babylonischen Gefangenschaft aufgesetzt oder doch aus vorher geschriebenen Nachrichten ausgezogen worden. Damals hatte das jüdische Volk noch zu wenige Kultur, es anstößig zu finden, daß der Jehovah willkührlich handeln, und auch zu moralisch bösen Handlungen jemand reizen könne. Es wird daher 2 Sam. 24, 1. gesagt: der Jehova wäre ergrimmet, und hätte den David gereizt das Volk zu zählen. Dagegen wird in den Büchern der Chronike, welche unläugbar nach der babylonischen Gefangenschaft geschrieben worden sind, 1 B. 22, 1. eben dieselbe Anreizung des Davids, das Volk zu zählen, dem Satan zugeschrieben, welchen nun die Juden, als das dem guten Gotte entgegen wirkende, jedoch etwas schwächere Wesen in Chaldäa kennen gelernet hatten. Mir scheinet es aber höchst wahrscheinlich, daß die alten persischen Weisen, so wol von den Juden, als von ihren spätern und minder scharfsinnigen Gegnern nicht recht verstanden worden sind, und daß sie in ihrer Bildersprache schon eben das zur Erklärung über den Ursprung des Bösen in der Welt gelehret haben, was in neuern Zeiten von Leibnitz und von andern christlichen Vernunftweisen deutlicher und bestimter behauptet worden ist. Nemlich es kan schlechthin kein endliches Ding unendlich vollkommen werden, denn sonst würde es Gott: folglich kan jedes endliche Ding nur einen gewissen Grad der Realität oder des Guten erhalten, und daher wird die Mittheilung des Guten an die Objekte durch derselben wesentliche Schranken begrenzt. Da nun aus den wesentlichen Schranken der Dinge ihre natürliche Mängel und Unvollkommenheiten, so wol die physischen, als moralischen entstehen; so erhellet, daß Gott zwar der Urheber aller Realitäten und alles Guten, nicht aber der Hervorbringer irgends eines Bösen sey, als welches blos etwas verneinendes oder mangelndes ist, welches aus der innern nothwendigen Beschaffenheit des Endlichen entstehet. Dieses scheinen mir die alten chaldäischen Weisen eingesehen zu haben, indem sie eigentlich nur ein höchst mächtiges und gutes Wesen zum wirkenden principio unter dem Bilde des Lichtes, was sich immer auszubreiten sucht, angenommen haben, welches aber durch das gleichfals ewige und von jenem nicht abhängende, an sich unthätige principium, der objektiven Beschaffenheit der Materie oder der endlichen Dinge, welches sie als eine das Licht begrenzende Finsterniß dachten, in seinen Wirkungen eingeschränket werde. Ich überlasse indes diese meine Vermuthung der weitern Prüfung der Gelehrten. Was nun des Augustins kirchliches System betrift, so kan man es als die Urquelle aller Unrichtigkeiten in demselben ansehen, daß er Natur und Gnade als ent|d89|gegengesetzte principia der Handlungen und Veränderungen im Menschen gedacht hat. Dieses war eine natürliche Folge der manichäischen Philosophie. Nirgends wird in der heiligen Schrift die Gnade der Natur entgegengesetzt, sondern überall heißt χαρις nach dem gemeinen Sprachgebrauche, so viel als Gunst oder Wohlwollen, und metonymice im Gegensatze eines verdienten Lohnes, was aus freier Güte oder umsonst gegeben wird; so erkläret es Paulus auf das bestimteste Röm. 11, 6. Das ganze Evangelium wird daher ein Gnadengeschenk genant, im Gegensatze der jüdischen Einbildungen, als ob sich die jüdische Nation ein Vorrecht durch vorhergegangne Verdienste zu demselben erworben hätte, und demnach die Heiden von dessen Genusse auszuschließen wären. Hiergegen lehret Paulus Röm. 3. daß die Juden eben so lasterhaft als die Heiden gelebet hätten, und ihnen also das Glück, selig oder Christen zu werden, von Gott allein aus freier Güte ganz umsonst ohne Rücksicht auf vorhergegangene Werke und Verdienste zugetheilet würde.

§. 43.

Die neuen bisher in der ältern Kirche unbekanten Lehren, welche Augustin aufbrachte und allgemein zu machen suchte, sind hauptsächlich folgende:
  • 1. Daß alle Menschen schon in Adam gesündiget hätten, und daher kleine Kinder, wenn sie, ohne die Gnade der Taufe erlangt zu haben, verstürben, ewig verdamt blieben, wenn sie gleich selbst noch keine Sünden begangen hätten.
  • 2. Daß die ganze Natur des Menschen durch Adams Fall durchaus verdorben und zu allem Guten völlig untüchtig sey, so daß der Mensch gar nichts Gutes denken, reden oder thun könne, sondern nur aufs Böse zu tichten durch seine Natur gedrungen werde: und überall keinen freien Willen habe.
  • 3. Daß daher die Gnade Gottes jeden einzelnen guten Gedanken und jede einzelne gute Bewegung des Willens selbst im Menschen wirken müsse, ohne daß der Mensch weder durch Vorbereitung noch durch Mitwirkung dabey förderlich seyn könne, sondern sich bloß leidentlich und unthätig verhalten müsse. |d90|
  • 4. Daß Gott eine gewisse Anzahl der Menschen ausgesondert habe, die er selig machen wolle. Nur für diese sey Christus gestorben, nur diese erhielten die Gnade, sie möchten sie haben wollen oder nicht; denn sie wirke unwiderstehlich. Alle andere Menschen blieben elend und verdamt und könten nicht gut werden, sie möchten sich darnach bestreben wie sie wolten. Gott habe diese nur erschaffen, um an ihnen zu zeigen, was der freie Wille des Menschen für eine ohnmächtige Sache sey, wenn ihm die Gnade versaget würde.
Solche harte Lehren konte indeß Augustin nicht so leicht in der Kirche einführen. Die ersten, welche ihm widersprachen, waren Pelagius und Cälestius, ein paar Privatchristen (monachi), die kein öffentliches Lehramt bekleideten, aber so wol wegen ihrer schon durch Schriften gezeigten Gelehrsamkeit, als wegen der strengen Untadelhaftigkeit ihres Lebens vom Augustin selbst bisher sehr gelobet worden waren. Diese behaupteten gegen jene Sätze desselben:
  • 1. Die Sünde sey ein Vergehen des Willens, was vermieden werden könne, nicht aber ein Naturfehler. Die Seelen der Kinder wären nicht aus Theilchen von den Seelen der Vorältern zusammengesetzt, sondern kämen unmittelbar von Gott. Es könten daher die Kinder nicht schon an Adams Sünde Theil genommen haben, und wenn sie ohne Taufe verstürben, deshalb nicht verdamt werden, weil das Getauftwerden von ihnen nicht abhange.
  • 2. Der Mensch habe zwar von Natur keine Erkentnisse von Gott und dem wahren Guten und bedürfe daher der Gnade des Unterrichts; er habe aber gute natürliche Vermögen des Verstandes, die ihm bekantwerdende Wahrheiten sich vorzustellen, sie zu fassen und zu benutzen.
  • 3. Es müsse daher der Mensch von seinem natürlichen Vermögen Gebrauch machen, und sich selbst bestreben, im Erkenntnisse und in der Ausübung der Religion immer vollkomner zu werden; wozu die Schrift ihn durch so viele Ermahnungen auffordere. |d91|
  • 4. Gott wolle alle Menschen selig haben und habe alle durch Christum erlösen lassen; biete auch allen hinlängliche Mittel zur Besserung dar: wer demnach unselig bleibe, sey selbst durch den Nichtgebrauch der von Gott ihm natürlich und durchs Evangelium noch außerordentlich verliehenen Kräfte, schuld an seinem Verderben.
Was nun die Geschichte der öffentlichen Streitigkeiten betrift, so entspannen sich solche zuerst dadurch, daß Pelagius gegen einen Bischof in Rom die vom Augustin in seinen Gebeten so oft gebrauchte Formel: Gieb, Herr, was du befielst, und dann befiel, was du willst! getadelt hatte. Er behauptete, es sey ganz widersinnig zu lehren, daß Gott etwas befehlen solte, was uns zu thun unmöglich wäre, da kein vernünftiger Vater von seinen Kindern etwas unmögliches verlange; und noch widersinniger, daß Gott, was er uns geben wolte, uns befehlen würde. Dieser Tadel eines Privatchristen ward vom Augustin für ein Verbrechen gegen die bischöfliche Würde angesehen; er suchte daher zuvörderst die hohe Geistlichkeit in Afrika gegen denselben aufzubringen, und nun wurden von diesen gemeinschaftlich Pelagius und dessen Freunde überall verfolget. Cälestius, welcher in Karthago Priester werden solte, ward im Jahre 412 vor einer dortigen Synode angeklagt und verdamt, appellirte aber an den Bischof zu Rom. Im Jahre 415 ward Pelagius vor dem Patriarchen Johannes zu Jerusalem auf Anklage der Afrikaner verhört, und für rechtgläubig erklärt: und noch einmal in demselben Jahre zu Diospolis (ehedem Lydda) von einer Versamlung von 14 Bischöfen, welche ihn auch für orthodox erkanten. Das Jahr darauf wurden zu Karthago und Mileve Synoden gehalten, welche die dem Pelagius schuld gegebenen Irrthümer verdamten, und dem Bischofe Innocentius nach Rom zur Bestätigung zuschickten. Aus dessen Antworten an beyde Synoden erhellet, daß dem Pelagius fälschlich aufgebürdet worden, er lehre: der Mensch bedürfe gar keiner Hülfe von Gott, weil er mit |d92| hinlänglicher Freiheit des Willens versehen sey. In dieser Voraussetzung ward er, ohne gehört zu seyn, vom Innocentius verurtheilt, wiewol dieser sehr weit von Augustins Lehrsätzen entfernet war. Da sich nun viele Bischöfe der griechischen Kirche, besonders in Palästina, des Pelagius und Cälestius annahmen, so verlangte der römische Bischof, daß sie sich zur nähern Untersuchung nach Rom stellen solten. Endlich ward unter dem folgenden Bischofe Zosimus zu Rom ein feyerliches Synodalverhör über den Pelagius und Cälestius, welche ihren Lehrbegrif schriftlich eingereichet hatten, öffentlich gehalten, und Zosimus erklärte hierauf durch ein im Namen der ganzen römischen Klerisey nach Afrika abgelassenes Schreiben: Pelagius und Cälestius sind vor dem apostolischen Stuhle erschienen. Freuet euch, diese Männer, welche von falschen Angebern verläumdet waren, nun für solche zu erkennen, welche sich nie von unsrer Kirche oder von der allgemeinen Rechtgläubigkeit entfernet haben. Uebrigens nennet Zosimus und die römische Klerisey mit Recht die Streitfragen über die Fortpflanzung der Seele, über die Erbsünde, und über die Art und Weise der Gnadenwirkungen, in diesem Schreiben, verfängliche Fragen und läppische Streitigkeiten, welche mehr Zerrüttung als Erbauung veranlassen. Hieraus ist nun historisch gewiß, daß Augustins Lehre nicht nur in der griechischen Kirche als etwas unerhörtes angesehen worden ist, und daß des Pelagius und seiner Freunde Behauptungen für den bisherigen altchristlichen Glauben von derselben erkläret worden sind; sondern daß auch die lateinische und besonders die römische Geistlichkeit, die vom Pelagius und Cälestius gegen des Augustins Neuerungen behaupteten Wahrheiten für rechtgläubig und katholisch erkläret habe. Man hat also blos Afrika als die Mutter und Pflegerin der sämtlichen damals aufgekommenen Lehren von der Natur und Gnade, der Prädestination, und allen übrigen damit zusammenhängenden Hypothesen anzusehen.

|d93| §. 44.

Die afrikanische Kirche beruhigte sich indeß nicht bey dem Ausspruch des römischen Bischofs Zosimus , sondern hielt in den Jahren 417 und 418. abermals Synoden auf welchen beschlossen ward, daß die erste von der römischen Kirche durch den Innocentius gegebene Erklärung, welche doch ohne Untersuchung, auf die bloße Angabe der Afrikaner erschlichen worden war, gültig seyn; die zweyte (des Zosimus) aber verworfen, und nun weiter nicht über das Meer appelliret werden solte. Sie setzten acht Anathematismen gegen alle Pelagianisch denkende auf, liessen 214 Geistliche unterschreiben, legten des Innocentius erschlichnes Gutachten bey, und schickten solches an den kaiserlichen Hof, als ob es das Urtheil der ganzen christlichen Kirche wäre. Hierauf ward auf Ansuchen der Afrikaner ein kaiserliches Edikt von den Prätoren bekant gemacht, nach welchem jeder berechtiget seyn sollte, Pelagianisch gesinnte gerichtlich anzugeben, und diese sollten mit Einziehung des Vermögens und unwiderruflicher Landesverweisung überall bestrafet werden. Hierüber frohlocket Augustin in seinen Briefen; und da Pelagius und dessen Freunde baten, man möchte sie doch durch gelehrte Männer ordentlich verhören lassen, ehe man sie verjagte, so widersetzte sich Augustin unter dem Vorwande, daß es den weltlichen Fürsten nicht zukäme, wo die Kirche schon entschieden hätte, zweifelhaft zu bleiben, sondern ihre Pflicht sey blos, ihre Gewalt zu Unterdrückung der von der Kirche Verurtheilten anzuwenden. Der Bischof Zosimus zu Rom mußte selbst nachgeben, um seine Autorität nicht auf immer in Afrika zu verlieren, und überließ alles dem Gewissen der afrikanischen Bischöfe. Noch nicht genug, man erschlich ferner einen kaiserlichen Befehl, darin allen afrikanischen Bischöfen, welche auf den Karthaginensischen Synoden nicht gegenwärtig gewesen waren, aufgegeben ward, bey Strafe der Absetzung und Verjagung das Verdammungsurtheil über die Pelagianer zu unterschreiben. Die meisten thaten es aus |d94| Furcht; doch achtzehn der rechtschaffensten und gelehrtesten Bischöfe faßten das Herz, sich zu widersetzen, und forderten in einem Schreiben an den Bischof zu Thessalonich die morgenländische Kirche auf, daß diese sich der Profanität der Manichäer widersetzen möchte, als welche lehreten: daß kein Mensch, wenn ihm nicht Gott wider seinen Willen, und gegen sein Widerstreben die Geneigtheit gut zu handeln aufdränge, nicht einmal irgends etwas unvollkommen Gutes verrichten oder wollen könne. Hieraus erhellet nun, daß diese Augustinische Lehre vermittelst willkührlicher Gewalt, die älteren christlichen Lehren, welche Pelagius und die Griechen ja selbst die Römische Geistlichkeit behaupteten, verdrungen hat. Es ist desto unverantwortlicher vom Augustin, daß er sich solcher unchristlichen Mittel zur Ausbreitung seiner Meinungen bediente, da nach seinem eigenen Begriffe die Pelagianer nicht dafür konten, daß die Gnade Gottes in ihnen nicht die angeblich bessern Einsichten des Augustins wirkte, und sie sich solche nicht selbst geben konnten. Allein man siehet hieraus, daß in praxi Augustin wohl gewußt hat, daß ein Mensch Freyheit habe, ob er es gleich in der Theorie läugnete.
Man kan hierüber des Herrn D. Semlers historische Einleitung vor dem 3ten Bande der Baumgartenschen Polemik §. 102. f. nachlesen, wo alles hier angeführte ausführlicher aus Originalquellen erwiesen wird. Um sich von der Gelehrsamkeit und Einsicht der Afrikanischen Bischöfe, welche auf den Koncilien die nachmals in der Kirche geglaubte Lehrmeinungen aufgebracht haben, einen Begrif zu machen, darf man nur den 6ten Kanon des 3ten Karthaginensischen Konciliums lesen. In demselben wird für gut befunden festzusetzen, daß man den Todten nicht ferner das Abendmahl reichen wolle, und beygefügt: cavendum quoque ne mortuos etiam baptizari posse fratrum (i. e. episcoporum) infirmitas credat, cum evcharistiam mortuis non dari animadvertit. Wie kan man nun solchen Leuten noch immer zutrauen, daß sie die reine Lehre Jesu aus der heil. Schrift richtig erkannt haben, und wie kann man solcher schwachen Bischöfe Aussprüche für heilig halten?

|d95| §. 45.

Ob nun gleich Augustin das Glück gehabt hat, sein Ansehen in der abendländischen Kirche dergestalt zu befestigen, daß man auch nach seinem Tode sich gescheuet hat, ihm geradezu zu widersprechen, so hat doch immer der grössere Theil der Kirche, und insonderheit die Schule der Skotisten seine Lehren von einer absoluten Prädestination und dem gänzlichen Mangel der Freiheit beym Menschen verworfen. Das Koncilium zu Trient hat auch, indem es Kalvins Lehren verdamte, bey aller äußern Ehrerbietigkeit gegen den Augustin im Grunde den Lehrbegrif desselben über die Gnade zugleich verdamt; und dieses ist von der römischen Kirche aufs neue durch Verwerfung des Jansenismus geschehen. Denn wer nicht auf Werke, sondern auf Begriffe sieht, kan nicht einen Augenblick zweifeln, daß Kalvin und Jansenius Augustins System und noch überdies mit einiger Milderung und grösserem Anscheine der Wahrheit vorgetragen haben. Selbst wo das Koncilium zu Trient den Worten nach mit dem Augustin übereinzustimmen scheinet, ist oft eine große Verschiedenheit der Begriffe, besonders in dem Worte Iustitia, und man kan es daher als den immer katholisch gebliebenen Glauben der Kirche ansehen, daß Gottes Gnade und hülfreiche Veranstaltungen allgemein sind, und es von der Freiheit der Menschen abhänge, wie sie solche gebrauchen wollen.
Mit Recht wird übrigens in dem Augsburgischen Bekentnisse der Satz: daß der Mensch blos durch eigne Kräfte ohne höhere Hülfe sich völlig bessern könne, verworfen, es ist aber historisch unrichtig, daß Pelagius diesen Satz gelehret habe.

§. 46.

Daß Lutherus, als ein ehemaliger Augustiner Mönch für desselben Lehre sehr eingenommen gewesen ist, beweiset desselben Schrift de servo arbitrio: es ist aber auch bekant, daß Melanchthon die allgemeine Gnade und die Freiheit des Willens behauptet, und selbst Luthern nach und nach dazu bestimt hat, wenigens von der eifrigen Behauptung |d96| der harten Prädestinationslehre nachzulassen, und die allgemeine Gnade Gottes zu lehren. Indeß ist dennoch von Augustins anderweitigen Begriffen noch vieles unausgemerzt geblieben, und wenn ich freimüthig sagen soll, wie es ist: wir haben noch alle Prämissen von Augustins Fato und läugnen nur die Folgerungen. Wir würden indeß hierüber bald mehr aufgeklärt geworden seyn, wenn nicht der sanfte Melanchthon und dessen sanfte Schüler von einigen Eiferern unter den ersten Schülern Luthers in den synergistischen Streitigkeiten unterdrückt worden wären. Es gehet aber gewöhnlich so, daß die kleine Anzahl der Männer, welche deutliche Einsichten in die Wahrheit haben und bey welchen daher das Gemüthe ohne Leidenschaften bleibt, von dem großen Haufen derer überschrieen werden, welche wegen Verworrenheit der Erkentnisse sich erboßen, daß sie die Wahrheit ihrer Lehrsätze nicht so deutlich darthun können, als sie solche zu fühlen glauben.
Wie richtig Melanchthon schon gedacht, erhellet unter andern aus der Stelle, welche in der lezten Wittenbergischen Ausgabe seiner Loc. theol. vom Jahre 1543 unter dem Artikel de humanis viribus seu de libero arbitrio, zu finden ist: Praeterea si nihil agit liberum arbitrium, interea donec sensero fieri illam regenerationem, de qua dicitis, indulgebo diffidentiae et aliis vitiosis affectibus. Haec Manichaea imaginatio horribile mendacium est, et ab hoc errore mentes abducendae sunt et docendae, agere omnino aliquid liberum arbitrium. – Nec admittendi sunt Manichaeorum furores, qui fingunt aliquem esse numerum hominum – qui converti non possint. – Si tantum expectanda esset illa infusio qualitatum sine ulla nostra actione sicut Enthusiastae et Manichaei finxerunt, nihil opus esset ministerio evangelii; – nulla etiam lucta in animis esset etc. Wie handgreiflich wahr ist dieses alles für jeden noch unbefangenen Verstand.

§. 47.

Die ersten Lehrer unter den Reformirten waren auch nicht einerley Meynung. Bullinger war für die Lehre der heiligen Schrift, Kalvin aber für die Augustinische, jedoch dabey ein besserer Logikus als die Lutheraner, indem er nicht |d97| blos die Prämissen, sondern auch ihre Folgerungen annahm und lehrete. So groß indes das Ansehen dieses verdienstvollen Mannes in der Schweitzerischen Kirche und den von dort aus unterrichteten englischen Presbyterianern gewesen ist, so hat dennoch Augustins Lehre auch in dieser Kirche niemals einen allgemeinen Beyfall gefunden. In Holland brach darüber zwischen dem Arminius und Gomarus ein öffentlicher Zwist aus, welcher die Synode zu Dortrecht veranlaßte, auf welcher abermals mit Hülfe der weltlichen Obrigkeit Augustins Lehre die Oberhand behielt, da man doch nicht hätte disputiren, sondern abwarten sollen, bis die Gnade in den Arminianern bessere Einsichten hervorgebracht hätte. Allein auch diese Synode ist nicht überall, und insonderheit auch nicht in den Brandenburgischen Landen in den reformirten Kirchen angenommen worden; und in England ist im Jahre 1662 der weise königliche Befehl ergangen: daß die Prediger ihre Zeit und Fleiß nicht in Untersuchung der tiefen und spekulativen Dinge, ins besondere solcher, welche die verborgenen Fragen von der ewigen Gnadenwahl und Verwerfung, die unbegreifliche Weise, wie Gottes freie Gnade, und des Menschen freier Wille bey einander bestehen u. d. g. betreffen, verschwenden sollen.
Man findet diesen königlichen Befehl aus dem Benthem gezogen in Alberti Briefen den neuesten Zustand der Religion in England betreffend Th. 3. Br. 39.

§. 48.

Aus dieser Geschichte von der Entstehung, Ausbreitung und Erhaltung der Augustinischen Hypothesen erhellet nun offenbar, daß sich kein Wahrheit suchender christlicher Theologe durch das noch immer, blos wegen mangelhafter Kentniß der Kirchengeschichte, bisher fortdaurende Ansehen Augustins abhalten lassen müsse, in der heiligen Schrift selbst zu forschen.
Man kan sicher behaupten, daß jezt der ungleich grössere Theil der Theologen in der römischen und in beyden protestantischen Kirchen die manichäischen Schwärmereyen von |d98| magischen und überwältigenden Einwirkungen Gottes in den Menschen verwirft: zumal denselben unser Selbstgefühl und die tägliche Erfahrung widerspricht. Ein jeder wird sich bewußt, wie viel er selbst zu seinen guten Entschließungen beyträgt, und keiner der frömsten Christen zeiget übermenschliche Tugenden, welche eine übernatürliche durch ihn wirkende Kraft erwiesen, und sich nicht aus der moralischen Wirkung der Religionswahrheiten auf unser Gemüth nach psychologischen Naturgesetzen völlig erklären ließen. Allein es ist von Augustins Systeme fast in alle Artikel der Dogmatik etwas übergegangen, und ehe dieses nicht alles weggeschaft und das lautre Christenthum wieder hergestellet wird, ist gar nicht daran zu dencken, daß die Lehre Jesu die volle Wirkung zur Verbesserung der Moralität und Glückseligkeit der Menschen äußern werde. Es ist daher nöthig, die vornehmsten Lehrsätze, welche diese wohlthätige Wirkungen noch gerade zu hindern, ins Licht zu setzen und den ganzen afrikanischen Brast der willkührlichen Lehrbestimmungen gänzlich aus der Philosophie des Christenthums oder dem dogmatischen Systeme herauszuwerfen. Hierdurch allein kan die Kirchenverbesserung vollendet werden.

§. 49.

Wenn man Augustins Lehrsätze nach der Ordnung, in welcher sie gewöhnlich in dogmatischen Lehrbüchern unter verschiedenen Artikeln aufgestellet werden, nach einander prüfen will, so würde der erste Satz seyn: daß alle Menschen schon in Adam gesündiget haben, und ihnen daher desselben erste Vergehung von Gott zur Schuld angerechnet wird. Die Afrikaner konten dieses lehren, da sie Röm. 5, 12 in ihrer lateinischen Bibel an statt: weil sie alle gesündiget haben, lasen: in welchem, nemlich Adam, sie alle gesündiget haben (statt ἐφ’ ὡ, in quo): und dieses stimte mit ihren Begriffen von der Materialität der Seele und deren Fortpflanzung überein. Denn sind unsere Seelen Partikeln Adams gewesen, so haben wir allerdings sämtlich zu seinen Vergehungen mitge|d99|wirkt. Nachmals, da man die Körperlichkeit und Erzeugung der Seele aus Bestandtheilen der Aeltern verwarf, mußte man zu einem neuen willkührlichen Satze seine Zuflucht nehmen, um das Forterben der Sünde begreiflich zu machen. Zu diesem Behufe nahm man an: Adam sey als Haupt des menschlichen Geschlechts unser aller Repräsentant oder Stellvertreter gewesen, und habe in aller seiner Abkömlinge Namen gehandelt, und also sey nichts unbilliges darin zu finden, daß uns seine Sünde mit angerechnet würde. Denn Gott habe einen Vergleich mit ihm errichtet gehabt, nach welchem, wenn er gehorsam bliebe, alle seine Nachkommen glücklich seyn; wenn er aber ungehorsam würde, auch seine sämtlichen Abkömlinge mit ihm dem Elende preiß gegeben werden solten. Diese Einkleidung ist aber eine bloße Erfindung des menschlichen Witzes, ohne biblischen Grund, voller Widersprüche gegen sich selbst, gegen die reinen Begriffe von Gott und gegen das Christenthum, auch nach ihren Folgen der Moralität der Menschen äußerst nachtheilig: denn
  • 1. jemand eine Handlung imputiren oder zurechnen, heißt, ihn für die freie wirkende Ursache oder den Miturheber derselben erkennen und erklären; es ist daher widersprechend von Gottes höchstem Verstande zu denken, daß in demselben alle Nachkommen Adams als Urheber seiner Vergehung vorgestellet werden könten, da sie es doch nicht sind.
  • 2. daß Adam in unsrer aller Natur gehandelt, wird nirgends von der Schrift behauptet, und da wir ihm keinen Auftrag deshalb gemacht haben, so würde es willkührlich und ungerecht von Gott gehandelt seyn, wenn er uns, die wir doch eigentlich seine eigene Kinder sind, darum hassen wollte, weil wir durch solche Mittelspersonen in die Welt gesetzet worden sind, an deren üblem Verhalten wir nicht schuld sind, ja die er selbst, nicht aber wir, zu Stammältern unsres Geschlechts erwählet hat. |d100|
  • 3. Es ist kein Grund vorhanden, warum Adam nur beym Sündigen, und nicht auch bey Erduldung der Strafe das ganze menschliche Geschlecht vorgestellet haben solle. Denn ist er wirklich unser Repräsentant oder Stellvertreter gewesen, so muß uns alles, nicht nur was er gethan, sondern auch was er davor gelitten hat, als in unsrem Namen erduldet, zugerechnet werden. Es würde also doppelte Ungerechtigkeit seyn, wenn uns nicht nur eine fremde Schuld zugerechnet würde, sondern wir auch dafür abermals, nachdem sie schon an unsrem Stellvertreter bestraft und abgethan worden, doch noch einmal büssen solten. Paulus sagt 1 Cor. 15, 22. auch: Gleichwie sie alle in Adam sterben, also werden sie in Christo alle lebendig gemacht werden. Niemand verstehet diese Worte so unrecht, daß er dabey an eine Zurechnung des Todes Adams denken solte, in welchem wir als schon Gestorbene von Gott angesehen würden; sondern man ist einig, daß hierdurch nur gesagt werde: so wie alle Menschen von ihrem Stammvater an, als Adamiten oder Menschen sterben müssen, so sollen alle als Christen zum Leben und zur Glückseligkeit gelangen. Eben so muß man Paulum Röm. 5. verstehen, wo er eigentlich lehret: lange vor Mose und Abraham wäre Sünde da gewesen, und habe sich schon von Adam an über alle Menschen verbreitet, und nun solte eben so allgemein ohne Rücksicht auf Abkunft von Abraham oder auf Mosis Gesetz durchs Christenthum Besserung und Seligkeit über alle Sünder verbreitet werden.
  • 4. Es würde sonst aus der gemeinen Erklärung von Pauli Worten folgen, daß eben so allgemein alle Menschen in Adam gesündiget hätten, eben so allgemein würden auch alle in Christo gerecht und selig, Röm. 5, 15–19. und so wie Gott allen Menschen durchgängig Adams Sünde, sie mögen nun davon etwas wissen oder nicht, selbige genehmigen oder nicht, dennoch zur Verdammung imputire, Gott auch auf gleiche Art allen Menschen ohne Unterschied, sie mögen darein willigen oder nicht, Christi |d101| Gerechtigkeit zur Seligmachung zurechnen müsse. Soll aber eine Ergreifung und Zueignung des Verdienstes Christi erst nöthig seyn, ehe es dem Menschen zu statten kommt, so kann auch niemand Adams Sünde eher imputiret werden, bis er diese ergreift, und sich zueignet. Dieses wird aber wol nicht leicht von jemand geschehen. Man siehet hieraus, was ein einziger willkührlicher Satz für Verwirrungen und Widersprüche im Systeme erzeuge, und wie blind die Schulgelehrsamkeit oft den natürlichen Verstand mache, daß die gröbsten Widersprüche nicht bemerket werden.
  • 5. Will man zur Vertheidigung der Billigkeit des Gott angedichteten Verfahrens, in Zurechnung der Sünde des Stammvaters an alle Nachkommen, sich auf gemeine Fälle des bürgerlichen Rechts berufen, nach welchem Kinder an den Belohnungen der Verdienste ihrer Vorfahren, eben so wie an den üblen Folgen ihrer Vergehen, überall Theil nehmen müssen; so ist doch kein Grund vorhanden, warum nur eine und nicht alle Sünden Adams; kein Grund, warum nur Adams und nicht aller unsrer Vorältern Sünden; kein Grund, warum nur die Sünden und nicht auch das Gute unsrer Vorältern uns imputiret werden sollte. Da nun die Schrift so wol ausdrücklich und ausführlich im alten Testamente Ezech. 18, 1. folg. und an vielen Orten im neuen Testamente, Röm. 2, 6. 2 Cor. 5, 10. Gal. 6, 4. 5. erkläret, daß jeder nur für seine eigene Handlungen Gott Rechenschaft geben solle: als auch alle Zurechnung einer fremden Gerechtigkeit, welche die Pharisäer lehrten, gänzlich verwirft, Matth. 3, 9. verglichen mit Joh. 8, 32 f. so folgt, daß überhaupt der Begrif einer willkührlichen Imputation fremder Handlungen und Gesinnungen ohne biblischen Grund sey; wie denn auch solche Vorstellungen die richtigen Empfindungen des Gewissens verwirren, die Aufmerksamkeit von uns selbst entfernen, und dem Fortgange wahrer moralischer Verbesserung eines Volkes höchst hinderlich sind. Es ist demnach im Ge|d102|gensatze gegen Augustins Behauptung und deren spätere Verkleidung zu lehren, daß Gott jeden Menschen ohne Rücksicht auf irgends einen andern sich so vorstellet, wie er wirklich in seinen eignen innern Gesinnungen und nach seinem Verhalten beschaffen ist, und ihm nach dieser innern Empfänglichkeit das möglichste Gute nach seiner allgemeinen Vaterliebe zutheilt.
Ueber die allegorische Erzählung vom Falle Adams ist Jakobi 1, 13. 14. 15. der authentische Kommentarius, aber nicht B. Weish. 2, 24.

§. 50.

Der zweite Satz des afrikanischen Systems ist, daß durch Adams Fall die Natur des Menschen verdorben worden sey, und diese Verderbniß dergestalt forterbe, daß die menschliche Seele bereits mit wirklicher Sünde behaftet, und mit einem positiven Hange zum Bösen zur Welt komme. Diese Lehren flossen ebenfalls natürlich aus den Vorstellungen einer materiellen Fortpflanzung der Seelen. Denn ist die Seele der Kinder aus Theilen von den Seelen der Aeltern zusammengesetzt, so kan eine innere Verderbniß derselben, so wie Gicht und Schwindsucht, ganz natürlich auf die Kinder forterben. Allein so bald man die Seele für eine unkörperliche einfache Substanz oder Kraft in engerer Bedeutung erkennet, so können die afrikanischen Lehrmeinungen ohne Widerspruch mit Schrift und Vernunft nicht angenommen werden. Man mag nun entweder die Hypothese, daß bey der Zeugung des Körpers die Seele erst von Gott geschaffen werde, welches die Pelagianer glaubten; oder die wahrscheinlichere Meinung, daß die einfache Substanz der Seele durch harmonische Verbindung mit körperlichen Organen zu Vorstellungen von außen allererst veranlasset werde, da sie solche aus sich selbst ohne solche Veranlassung von außen nicht erzeugen kan, annehmen; so erhellet, daß die Sünde auf sie nicht forterben könne, wenn man nicht die grobe Idee hat, daß sie in den Saamentheilchen oder dem Keime des Körpers schon wohne. In diesem Falle aber würde nicht die Seele, |d103| sondern blos der Körper der Erbsünde wegen strafbar seyn. Sehr richtig und stark hat daher schon Julianus mit Beyfall der altgriechischen Kirche gegen den Augustin geschrieben: Es ist keine aus den apostolischen Zeiten her überlieferte oder sonst gegründete Glaubenslehre, sondern in den Zusammenkünften der Bösewichter erdacht, vom Teufel eingeblasen, vom Manes vorgetragen, und vom Marcion ausgebreitet, was man in den Kirchen jetzt predigen will: daß die Sünde eine solche Macht habe, daß sie bereits vor Ausbildung der Gliedmaßen, vor dem Entstehen und der Ankunft der Seele, über den Saamentheilchen bey der Empfängniß herflattre, in das Innerste des mütterlichen Leibes eindringe, und die zu Verbrechern mache, welche noch erst geboren werden sollen: und auf diese Weise die Sünde früher als der Mensch vorhanden seyn und schon da sitzen soll, die Ankunft der Seele zu erwarten. – Es kann auch ein jeder es bey sich selbst fühlen, daß der Gedanke: meine Seele würde gut seyn, wenn Gott nicht durch die Einrichtung, daß sie durch sündliche Aeltern in sündliches Fleisch eingekerkert worden , sie hätte verdorben werden lassen, die Begriffe von der göttlichen heiligsten Güte sehr umwölket. Dergleichen Vorstellungen schwächen die Wirkungen des natürlichen Gewissens, indem der Mensch seine Vergehungen dann nicht sich selbst, sondern der Verdorbenheit seiner Natur, wofür er selbst nichts kan, zur Last leget, auch es für vergeblich hält, auf seine Verbesserung Mühe zu verwenden. Richtig sagt daher Cälestius: Man entfernt sich sehr weit von dem Sinne der allgemeinen christlichen Kirche, wenn man eine Erbsünde durch Fortpflanzung behauptet. Denn die Sünde wird nicht mit dem Menschen geboren, sondern von ihm erst nachmals begangen: indem man ja deutlich lehret, daß Sünden Vergehungen des Willens und nicht der Natur sind. Dieses muß man vorher wohl festsetzen, damit man nicht bey der Lehre von der Nothwendigkeit und dem Nutzen der Taufe, dem Schöpfer zum Vorwurf, auf die Meinung verfalle, die Sünde würde dem Menschen, ehe er sie begehe, schon durch die Natur |d104| überliefert. Longe a catholico sensu alienum est, peccatum ex traduce affirmare: quia peccatum non cum homine nascitur, quod postmodum exercetur ab homine, quia non naturae delictum sed voluntatis esse demonstratur; hoc praemunire necesse est, ne per mysterii (baptismi) occasionem ad creatoris iniuriam, malum antequam fiat ab homine tradi dicatur homini per naturam.

§. 51.

Da indes verschiedene Schriftstellen die Lehrmeinung von einer allgemeinen Verdorbenheit der menschlichen Natur zu begünstigen scheinen, so ist hierüber noch folgendes zu merken:
Erstlich kan Paulus Brief an die Römer als die eigentliche Hauptquelle der herrschenden Lehrmeinungen angesehen werden. Hier komt es nur blos auf eine aufrichtige Untersuchung der Frage an: ob der Zweck des Apostels sey, von einer Verderbniß der Natur auch bey Kindern; oder nicht vielmehr von einer Verderbniß der damaligen Nationen in Absicht der unter ihnen herrschenden Grundsätze, Gottesdienstlichkeiten und Laster zu reden? Es ist offenbar das letzte sein Zweck, denn er beweiset in den zwey ersten Kapiteln die unter den Heiden herrschende Verderbniß nicht aus der Abkunft von Adam, sondern aus den unter ihnen im Schwange gehenden Lastern. Noch mehr, er erkläret ausdrücklich die Natur für gut, und behauptet, daß die Heiden durch ihre Vernunft Gott hätten erkennen, und nach ihrem natürlichen Gewissen auf den Weg wahrer Wohlfart geleitet werden können; da sie aber die in ihnen vorhandene Wahrheit in Lügen selbst verwandelt hätten, so wären die traurigen Folgen ihrer Lasterhaftigkeit als Strafen des Mißbrauchs ihrer gehabten hinlänglichen Naturkräfte anzusehen, Kap. 1, 18. 25. Ja Kap. 2, 13–15. behauptet Paulus ganz bestimt, daß die Heiden, ohne ein geoffenbartes Gesetz zu haben, doch bey dem Gebrauche ihrer Vernunft zu richtigen moralischen Einsichten gelangten und einen Ge|d105|wissenstrieb von Natur empfänden, sich darnach in ihrem Verhalten zu bestimmen; ja daß viele derselben dem göttlichen Willen gemäßer lebten, als die Juden, welche sich eines vom Himmel geoffenbarten und ihnen schriftlich überlieferten Gesetzes rühmten. Nachher beweiset er ausführlicher, daß die Juden, ob sie gleich mehrere äußere Erweckungen und Hülfsmittel gehabt, doch der ganzen Nation nach, nichts besser als die Heiden wären. Die ganze Stelle Röm. 3, 10. f. handelt daher nicht von einer Bösartigkeit, womit die Juden geboren worden sind, sondern von der Lasterhaftigkeit und Verdorbenheit der Nationaldenkungsart, die unter den Erwachsenen geherrschet hat. Kap. 3, 19. Es ist daher auf ähnliche Art die Stelle Eph. 2, 3. wo Paulus nach Luthers Uebersetzung sagt: wir führten unsern Wandel in Lüsten des Fleisches, und thaten den Willen des Fleisches und der Vernunft, und waren auch Kinder des Zorns von Natur gleichwie die andern; dem Zusammenhange und Zwecke nach dahin zu erklären: So wie die Heiden nach dem unter ihnen herrschenden Geiste der Unsittlichkeit sich allerley Ausschweifungen ergeben haben, so haben wir Juden ebenfalls uns durch sinnliche Lüste und thörichte Einfälle leiten lassen, und sind der Nation nach nicht minder strafwürdige Leute als andre Völker. Es ist also die Lehre der Schriften neuen Testaments, und der ältesten Kirche: daß die Natur, womit wir geboren werden, gut ist, daß aber der unterlassene Gebrauch der Vernunft, des natürlichen Gewissens, und der übrigen äußeren Gelegenheiten zur bessern Erkentniß, bey Heiden und Juden ein herrschendes Nationalverderben hervorgebracht habe: folglich solches nicht aus Adams Falle herzuleiten sey: obgleich mit Adams erster Sünde die Sünde in die Welt gekommen ist, und alle erwachsene Nachkommen desselben ihm nachgeahmt haben.
Daß τα θεληματα των διανοιων nicht den Willen der Vernunft, sondern der Einbildungen, Einfälle und mit της σαρκος zusammen, das was unsren sinnlichen unter einander laufenden Einbildungen nach uns beliebte, zu erklären sey, bedarf für Sprachkundige keines Beweises. Daß aber φυσις in Paulus Sprache die |d106| Herkunft oder die Nation bedeute, erhellet aus Gal. 2, 15. Röm. 2, 14 u. 27. und daß es solches hier bedeute aus dem Zusammenhange; indem Paulus nicht von angebornen, sondern von wirklich begangenen Sünden, welche unter den Juden, wie unter andern Völkern, Mode geworden waren, redet.
Daß die ältere Kirche schriftmäßig gelehret habe, dafür will ich blos eine Stelle anführen. Clemens Alex. στρωματεων Libr. 7. sagt: Die Quelle aller Sünden sind Unwissenheit und Schwachheit, an beiden sind wir schuld in so fern wir uns nicht bemühen zu lernen, und die Begierden zu besiegen.

§. 52.

Der dritte Augustinische Hauptsatz ist, daß der Mensch schlechterdings ganz unvermögend sey, etwas zu seiner Besserung beyzutragen, und Gott daher jeden einzelnen guten Gedanken, jede gute Handlung allein in uns wirken müsse; daher niemand durch alles sein aufrichtiges Bestreben sich forthelfen könne, sondern nur derjenige, den Gottes Gnade ergreife, gebessert würde, er möge wollen oder nicht. Diese Sätze waren natürliche Folgen der zum Grunde liegenden philosophischen Principien. Man hat in der Kirche solche zu mildern gesucht, weil es in die Augen fiel, daß sie geradezu allen eigenen Fleiß in der Heiligung, wozu wir so oft in der heiligen Schrift aufgefordert werden, ersticken. In der lutherischen Kirche hat man den Satz: Gott müsse alles und der Mensch könne nichts zu seiner Besserung thun, beybehalten, jedoch, um den natürlichen harten Folgerungen zu entgehen, dabey angenommen, daß die Gnade Gottes den Menschen nicht wider seinen Willen bekehre, sondern der Mensch widerstehen könne. Aber auch diese menschliche Hypothese, von welcher die Schrift nichts enthält, löset sich von selbst aus einander, so bald man fräget, was denn der Nichtwiderstand des Menschen sey? ob nicht ein Entschluß des Menschen erfordert werde, nicht widerstehen zu wollen? ob der Mensch sich durch eigne Ueberlegung zu diesem Entschlusse bestimmen könne? ob der Mensch die Bestimmungsgründe zu dem Entschlusse, nicht zu widerstehen, durch eigne Kräfte in sich hervorbringen könne? ob |d107| nicht ein natürliches Vermögen, das Gute, was uns zum Entschlusse bestimmen soll, als etwas Gutes einzusehen, und eine freiwillige Aufmerksamkeit und Nachdenken darüber erfordert werde? ob also der Mensch nicht viele Handlungen vornehmen müsse, die durchaus sein eigenes Werk sind? denn wenn sie es nicht sind, so hänget auch der Nichtwiderstand von ihm selbst nicht ab. Sehet da, Freunde der Wahrheit, wie viele Verwirrung menschliche Hypothesen in der Religion hervorgebracht haben, und wie der übertriebne Scharfsinn der Gelehrten, wenn einmal falsche Principien zum Grunde liegen, die leichte Einsicht in die Wahrheit erschweren kann.

§. 53.

Ehe wir vergleichen, was aus der heiligen Schrift für oder wider die gemeine Hypothese vom gänzlichen Unvermögen der Menschen, etwas zur Förderung ihrer Glückseligkeit beyzutragen, angeführet zu werden pflegt, müssen wir erst das Vorurtheil entkräften, als ob Gott oder desselben Gnade in Christo desto mehr verherrlichet würde, je verdorbner und unvermögender die menschliche Natur vorgestellet wird. Hierher gehört:
  • 1. Alle Realität und alles Gute komt von Gott. Von ihm erhalten wir die Kraft zu denken, Wahrheit und Irrthum, Gutes und Böses, Recht und Unrecht zu erkennen, und zu unterscheiden. Er bleibet der eigentliche Vater unsres Geistes, wenn wir gleich durch unsre Aeltern den organischen Körper, durch welchen Begriffe in uns erweckt werden, überkommen: ja auch dieses ist seine Einrichtung; er bildet uns ohne unsrer Mutter Bewußtseyn, ja ohne daß diese weiß, was dazu gehöret, zu unsrer Bestimmung. Die Gesetze, nach welchen sich unsre Begriffe formen, nach welchen diese auf unsre Begierden wirken, nach welchen wir uns zu vernünftigen moralischen Wesen entwickeln, sind ebenfalls von Gott, und nur nach diesen Gesetzen können wir denken und wollen. Auch die äußern Objekte, und die Wirkung, wel|d108|che sie auf uns machen, wodurch die Reihen unsrer Vorstellungen und Begierden bestimt werden, sind von Gott hergebracht und in das Verhältniß gegen uns gestellet, nach welchem sie auf uns wirken. Und in dieser Beziehung ist es unläugbar allgemein wahr, daß ursprünglich alles Gute von Gott komme, und daß der Mensch nicht die geringste reelle Bestimmung in sich erschaffen könne, wozu ihm nicht die Kraft so wol als der Stof von Gott dargeboten werde. Wenn man nun annimt, daß die Kräfte und die Veränderungsgesetze der Entwickelung unsrer Talente von Natur schlecht sind, und nichts zu unsrer Bestimmung beytragen können, sondern Gott unmittelbar andre Kräfte darreichen, oder den natürlichen Gang der Gedanken, wider die ursprünglichen selbst gemachten psychologischen Gesetze, alle Augenblicke abändern müsse, so umwölket man seine Weisheit, und beschuldiget sie offenbar einer großen Unrichtigkeit oder Mangelhaftigkeit in ihrem ersten Plane. Es ist wenigstens klar, daß man Gottes Ehre auf dieser Seite allemal so viel entziehet, als man ihr auf der andern beylegen will.
  • 2. Auch verdunkelt man Christi Verdienste um uns und die durch die Sendung desselben geoffenbarte Güte und Weisheit Gottes ungemein, wenn man annimt, daß Gott auch bey denen Menschen, welchen die Lehre Jesu vorgetragen wird, alle Erkentnisse, alles Wollen, und alles Vollbringen des Guten noch durch unmittelbare Wirkung hervorbringen oder ergänzen müsse. Aber alsdann wird die Weisheit Gottes in Christo verherrlichet, wenn die Anweisungen desselben unsrem schwachen Erkentnißvermögen genau angemessen, und die Beweggründe der Lehre Jesu nach den natürlichen Veränderungsgesetzen unserer Seele gute Gesinnungen und Thätigkeiten hervor zu bringen, hinlänglich sind; wenn Gottes Liebe auch unsren schwachen Augen in Christi Leben und Lehre so reizend erscheinet, daß wir ihn wieder zu lieben und uns ihm ganz zu widmen bestimmet werden. Dann harmoniret Gott in der Natur, in seiner Vorsehung und in sei|d109|nen Offenbarungen durch Christum mit sich selbst, und sein Plan ist vollkommen, ohne daß er denselben immerfort nachzubessern, nöthig hat.
  • 3. Der Mensch wird auch durch die Lehre, daß seine natürliche Kräfte zu seiner Glückseligkeit mitwirken müssen, gar nicht stolz werden. So bald man nur den manichäischen Irrthum, als ob Natur und Gnade entgegenstehende Principien wären, fahren lässet, so zielet alles zu Verherrlichung Gottes und Christi weit sichtbarer ab. Die ganze Natur des Menschen ist ja auch ein Gnadengeschenk Gottes, da unsre ganze Existenz solches ist. Gott kan also unmöglich mit sich selbst streiten, und durch unsre Natur uns von demjenigen Ziele abziehen, zu welchem er uns durch unmittelbare Wirkungen hinzuziehen sucht. Ist aber alles, was ich auch natürlich Gutes vermag, Gottes Gabe, wie könte ich darauf stolz werden? Und überdieß, was heißet denn tugendhaft seyn anders, als in vollem Maaße das Gute genießen, was Gott von allen Seiten der thierischen, geistigen und moralischen Natur des Menschen aus freier Güte darbietet? So bald man also die Menschen von den Begriffen, als ob wir Gott dienen könten, und als ob es willkührliche göttliche Vorschriften gäbe, durch deren Beobachtung wir selbst nicht glücklicher würden, entwöhnet hat, so wird ein Mensch sich so wenig auf seinen Fleiß in der Tugend etwas einbilden, als es je einen Menschen einfallen wird, darauf stolz zu werden, daß er selbst Speise und Trank durch seine Naturkräfte genießen kan, ohne daß erst eine unmittelbare Einwirkung Gottes ihn zum jedesmaligen Essen und Trinken geschickt machen muß.
Es verhält sich mit den Augen des Verstandes, wie mit den Augen des Körpers. Wer nicht blind geboren wird, hat das Vermögen, alle sichtbare Objekte zu erkennen: allein wirklich siehet er wegen dieses bloßen Vermögens noch nichts. Es müssen die Objekte von außen sich dem Auge in der Nähe und in gerader Linie darbieten, und es muß ein äußeres Licht darüber verbreitet seyn, wenn das Auge sie wahrnehmen soll. Eben so hat jeder |d110| nicht blödsinnig geborne Mensch das Vermögen, alle gedenkbare Wahrheiten einzusehen; wir sehen aber durch das bloße Vermögen des Verstandes noch nichts wirklich ein, sondern es müssen uns erst objective Begriffe von außen dargeboten werden. Was uns aber näher vorgeleget wird und mit hinlänglicher Klarheit erscheint, das sehen wir wirklich ein, ohne weitere Hülfe. Durch die Lehre Jesu sind die zu unsrem Wohle zu erkennen nöthigen Objekte erhellet, und nahe vor die Augen geleget worden. Sollten wir nun doch noch nichts verstehen und einsehen können, so müßte Gott die Augen des Verstandes nicht so gut als die Augen des Körpers gebildet haben. Nach Augustins Vorstellung ist aller Menschen Vernunft mit dem Staare behaftet, und Gott muß zu jedem einzelnen Blicke, wenn dem Menschen eine Wahrheit einleuchten soll, den Staar durch unmittelbare Wirkung zurückeziehen, und sobald Gott damit nachlässet, ist der Staar wieder vor den Augen. Ob diese Vorstellung Gott verherrliche, mag jeder selbst beurtheilen.

§. 54.

Alle Schriftstellen, welche man zum Behufe der Augustinischen Lehre vom gänzlichen Unvermögen der Menschen etwas Gutes zu erkennen, zu wollen, und zu vollbringen anführet, beweisen blos: daß kein einzelner seinen Naturtrieben überlassener Mensch, so wenig als eine ganze in Aberglauben und Lasterhaftigkeit versunkene Nation sich selbst zu richtigen Einsichten in der Religion, und zu wahrer Tugend ohne äußere Hülfe erheben könne. In dieser Beziehung wird daher das Evangelium als eine göttliche Kraft, welche die Menschen umschaffe, einen neuen Geist in ihnen hervorbringe und sie zu guten Werken tüchtig mache, beschrieben. Nirgends aber wird gelehret, daß nun die Christen, welche diesen Geist oder diese neue Einsichten und eine dadurch verbesserte Denkungsart überkommen haben, noch zu jedem einzelnen guten Gedanken, Entschlusse oder Vollbringen der Vorsätze eine anderweitige Einwirkung der Kraft Gottes erwarten sollen. In eben den Stellen, welche den Worten nach Augustins Lehre am meisten begünstigen, werden die Menschen aufgefordert ihre Kräfte zu brauchen. Das müssen nothwendig |d111| Kräfte seyn, deren Gebrauch von ihnen abhänget, indem Gottes Kraft nicht unter der Disposition der Menschen stehen kan; folglich eigne zur Natur des Menschen gehörende Kräfte. Gott ists, sagt Paulus Phil. 2, 13. der in euch wirket, so wol das Wollen als das Ausüben; darum arbeitet recht stark (κατεργαζεσθε), mit größter Sorgfalt und Vorsichtigkeit dahin, um glücklich zu werden; wie ihr denn auch bisher schon (der Lehre) folgsam gewesen seyd. Könte die Schrift so reden, wenn blos der Nichtwiderstand vom Menschen gefordert würde? Könte sie den Christen wohl befehlen: 2 Petr. 1, 6 f. 10. Wendet allen euren Fleiß, die möglichste Anstrengung (σπουδην πασαν) dazu an, vermittelst der bessern Religionseinsichten nun alle Tugenden zu üben: oder Phil. 4, 8. denket selbst nach, ihr Christen, was ruhmwürdig, anständig etc. ist, und das thut? Müssen nicht alle unzählige Aufforderungen, Ermahnungen und Befehle, welche die heilige Schrift an die Menschen richtet, wenn Augustin richtig lehrete, an die Gnade Gottes und nicht an die Menschen gerichtet werden, und Petrus und Paulus sagen: verhaltet euch nur ganz ruhig und leidentlich, ihr Christen, suchet nicht selbst zu denken oder etwas zu wirken, denn Gott hat seiner Gnade befohlen, in euch alle Gedanken, Entschließungen und Handlungen ohne euer Zuthun oder Mitwirken hervorzubringen?
Paulus lehret 1 Cor. 2, 14. nicht daß, wie Luther übersetzt, ein natürlicher Menschenverstand die höhere Religionserkentnisse nicht fassen könne, sondern nur, daß ein seelischer oder Seelenmensch (ψυχικος) das ist, ein an blos sinnliche Vorstellungen besonders in der Religion gewöhnter Mensch es nicht könne, sondern daß ein Geistesmensch (πνευματικος), das ist, ein gesetzter, im vernünftigen Nachdenken geübter Verstand dazu gehöre: wie der unläugbare Sprachgebrauch der Worte Seelenmensch und Geistesmensch (ψυχικος und πνευματικος) unter den jüdischen Gelehrten es mit sich bringt. Und Eph. 5, 8. 9. heißet es: ihr (Heiden) waret ehedem Finsterniß, d. i. in der Religion unwissende und unsittliche Leute, nun aber seyd ihr ein Licht in dem Herrn, d. i. als unterrichtete Christen aufgeklärte Leute, von eigenen hellen Einsichten, und diesen höhern Einsichten handelt nun gemäß.

|d112| §. 55.

Der vierte den praktischen Glückseligkeitslehren des Christenthums sehr nachtheilige Lehrsatz ist: daß Gott uns Christi Gerechtigkeit zurechne, wenn wir sie im Glauben ergreifen, oder daß uns Gott sodann in Christo, als eben so gerechte Leute, wie Christum selbst ansehe. Ob man nun wohl (nach Chyträus Geständnisse) Luthern für den ersten Urheber des Satzes: daß der seligmachende Glaube sich eigentlich mit Ergreifung der Gerechtigkeit Christi beschäftige, zu halten hat; so ist er doch eine ganz natürliche Folge aus den afrikanischen Auslegungsregeln und Grundsätzen. Denn nach eben den Principien, nach welchen aus Röm. 5. eine Zurechnung der Sünde Adams herausgebracht wird, ist auch die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi darin gegründet: und nach eben den Rechtsgründen, nach welchen eine fremde Schuld uns imputiret wird, soll uns auch eine fremde Gerechtigkeit zugeeignet werden. Diese Sätze, von Zurechnung fremder Verdienste, werden in der römischen Kirche noch weiter ausgedehnt, so daß jemand auch andrer Menschen überflüßige gute Werke sich erhandeln und vor Gottes Gericht gegen seine eigne Sünden verrechnen, oder durch Einkleidung in die Ordenskutte eines frommen Mönches im sterben, vor Gott sich angenehmer machen kann. Da nun bey diesem Lehrsatze, von der gläubigen Ueberkleidung mit einer fremden Gerechtigkeit auf einer Seite so ausnehmend viele verworrene Begriffe zum Grunde liegen, und so viele verführerische Mißdeutungen gewöhnlich sind; auf der andern Seite aber ein großer Theil der Geistlichen denselben als den rechten Kern des gesamten Christenthums betrachtet, ob er gleich niemals in der ältern Kirche geglaubt, noch selbst in unsrer Kirche symbolisch geworden ist, so ist, wenn nicht der ganze Zweck der Religion Jesu verfehlet werden soll, eine deutliche Entwickelung des wahren und des irrigen in demselben nothwendig.
Die Urquelle der Verwirrung in der ganzen Lehre von der Zurechnung der Gerechtigkeit Christi lieget in der fal|d113|schen oder doch verworrenen Vorstellung von dem Grunde und der Absicht der göttlichen Anforderungen an die Menschen, und in der damit verknüpften Vermischung allgemeiner göttlicher Gesetze mit den mosaischen Satzungen. Diese Verwirrung zu heben müssen wir erst die wahre Beschaffenheit der göttlichen Gesetze untersuchen. Alle Vorschriften, welche Gott den Menschen und jeder Vater seinen Kindern ertheilen kan, sind entweder blos väterliche Rathgebungen, durch deren Befolgung die Kinder selbst vollkomner und glücklicher werden, oder es sind Dienstforderungen, deren Erfüllung den Kindern selbst zu keinem Vortheile gereicht.
1. Die Gesetze der ersten Klasse, welche die Kinder blos belehren, wie sie sich vor Schaden hüten und sich Vortheile und Vergnügen verschaffen können, müssen nothwendig von den Kindern selbst befolget werden, und es kan ihnen durchaus nichts helfen, wenn sie ein Dritter für sie erfüllen solte. So kan zum Beyspiel der älteste Sohn nicht für seine unartigen Geschwister Arzney einnehmen oder studieren, weil, wenn auch der Vater dessen gute Handlungen den jüngern Söhnen zu gute rechnen wolte, diese doch offenbar dabey krank und ungeschickt bleiben würden. Gleiche Bewandniß hat es nun mit allen göttlichen Anweisungen über unser rechtes Verhalten zur Glückseligkeit, indem ihre Befolgung uns selbst vollkomner und glücklicher macht. Es kan uns gar nichts helfen, wenn es auch möglich wäre, daß Gott uns Christi Mäßigkeit, Vertrauen zu ihm, Geduld unter den Leiden, u. s. w. zurechnen wollte; weil so lange wir selbst noch von Unmäßigkeit, Mißtrauen zur göttlichen Vorsicht, und ungestümer Ungeduld geplaget werden, unser moralisches Elend immer fortdauret. Es ist aber auch nicht gedenkbar, daß Gott sich uns einen Augenblick anders als wir wirklich sind vorstellen solte, indem solches theils an sich ein Irrthum in Gottes Erkentniß wäre, theils uns selbst zum Schaden gereichen würde. Denn wenn Gott sich uns in Christo als moralisch vollkommen denken solte, so würde er sich uns in demselbigen als selige Leute vorstel|d114|len, und doch blieben wir die kranken und mit uns selbst im Widerspruche lebenden Geschöpfe. Ueberdies schwächet diese Art der Einbildungen nach ihren natürlichen Folgen alle reelle Hofnungen. Ist es an sich möglich, daß Gott sich mich anders vorstellet, als ich wirklich bin, so wird er mich vielleicht im Grabe lassen, und sich vorstellen, als wäre ich in Christo auferstanden und lebte in demselben höchst glückselig. Um diesen falschen Begriffen vorzubeugen, lehret daher die Schrift in eben den Stellen, darin sie saget, daß wir in und mit Christo gestorben sind, Röm. 5, 6. daß wir, um mit ihm zu leben, nun selbst der Sünde absterben und uns der Rechtschaffenheit und der Tugenden Christi befleißigen sollen, weil eben das wahre Leben hier und in alle Ewigkeiten nur aus den moralisch guten Gesinnungen, wodurch wir Christo und Gott ähnlich werden, erwächst. Es ist also unläugbar, daß jeder Christ nicht nach dem Maaße, nach welchem er sich Christi Gerechtigkeit zurechnet, oder sich versichert hält, daß Gott sie ihm zurechne; sondern nur nach dem Maaße, als er selbst Christi Sinn und Denkungsart annimt und demselben in seinem ganzen Verhalten nachahmet, glückselig werde. Nur hierdurch werden wir selbst vollkomner. Ja da auch moralische Vorschriften, und das ist göttliche Gesetze beobachten, nichts anders ist, als mit sich selbst in Harmonie kommen und alles von Gott dargebotene Gute in vollerem Maaße genießen, wie §. 19. gezeiget worden, so folget unmittelbar, daß weil wir nicht einen andern für uns genießen lassen können, auch kein andrer für uns Gottes väterliche Anweisungen befolgen könne.
2. Die Gesetze der zweiten Klasse sind eigentliche Dienstforderungen, deren Leistung demjenigen, welcher sie erfüllet, mehr nachtheilig als vortheilhaft ist: als wenn zum Beyspiel ein Vater von seinem Sohne verlanget, daß er einen Brief bey ungestümen Wetter an einen entfernten Ort überbringen soll. Dergleichen befohlne Handlungen können von einem dritten übernommen werden, und da gilt die Rechtsregel: was jemand durch einen andern leisten läs|d115|set, wird so angesehen als ob er es selbst gethan habe; insonderheit wenn die Genehmigung des Gesetzgebers dazu komt. Es kan also in dem angeführten Falle ein Fremder den Brief an den bestimten Ort überbringen. Nun fräget es sich, ob es dergleichen Dienstforderungen Gottes an die Menschen gegeben hat und noch giebt? Hier ist nun Mose und Christus wohl zu unterscheiden. Mosis Gesetz enthält unstreitig eine Menge solcher Dienstforderungen. Allein Mose hat eigentlich ein Gesetzbuch für die bürgerliche Staatsverfassung der Juden in Palästina liefern wollen: und da Gott unter dem Namen Jehova als das bürgerliche Oberhaupt des israelitischen Staates, oder als der Landesherr derselben in den mosaischen Gesetzbüchern erscheinet, dessen Residenz die Stiftshütte und nachmals der Tempel war, so kommen im Mose viele zur Religion gar nicht, sondern blos zur Aufrechterhaltung des jüdischen Staates erforderliche Gesetze von Abgaben, Lieferungen und Dienstleistungen beym Hoflager des Jehova vor. Da nun aber die Juden das, was zur Staatsverfassung und zur eigentlichen Religion gehörte, nicht unterschieden, so ward nun von Christo und den Aposteln dieser Unterschied, so viel es nach den geringen Fähigkeiten der Juden geschehen konte, ihnen deutlich gemacht, wie ich dieses im 6ten Abschnitte §. 87 bis 90. ausführlicher darthue. In dieser Beziehung lehrete daher Paulus: daß durch die Beobachtung des mosaischen Gesetzes, weil es selbst an Sinnlichkeit gekränkelt habe, keine höhere Glückseligkeit befördert werden könne, und kein Mensch durch dergleichen Werke willkührlicher Verordnungen zu wahrer moralischer Güte der Gesinnungen gelange: daß aber Christus nun alle, welche unter diesem Gesetze seufzeten, erlöset; alle solche den Menschen nicht beseligende Vorschriften abgeschaffet, und eine völlige Freiheit von allen Dienstforderungen der Gottheit seiner Kirche versichert habe. Folglich hat auch von dieser Seite Christus nichts für uns, welche Mosis Gesetz nichts angegangen ist, leisten dürfen, was uns zugerechnet werden könte; aber befreiet hat er uns auf immer von dem Aberglauben, |d116| als ob Gott von uns Dienste geleistet haben wolle. Röm. 8. Gal. 5.
Daß es weder von der ganzen lutherischen Kirche, noch in einem symbolischen Buche derselben, noch in der heiligen Schrift gelehret worden sey, daß Christus durch Erfüllung des Gesetzes uns erlöset habe, oder daß sein thuender Gehorsam uns statt eigener Gerechtigkeit angerechnet werde, hat schon mein verehrungswerther Lehrer und Amtsvorgänger D. Töllner mit seiner bekanten scharfsinnigen Genauigkeit in einem eigenen Buche, der thätige Gehorsam Christi betitelt, sehr ausführlich dargethan.

§. 56.

Es frägt sich nun zweitens: In wie ferne Christi Leiden uns von Gott zur Strafe für unsre Sünden angerechnet werden, oder was für Strafen Christus an unserer Statt habe übernehmen und erdulden können? Um hierüber helle Einsichten zu erhalten, muß man sich vor allen Dingen recht deutlich auseinander setzen, was eigentlich Strafen sind. Man kan gewissermaßen sagen, daß alle Verwirrungen in der gesamten praktischen Religion aus der Verworrenheit des Begrifs der göttlichen Strafen entstehen, und daß daher durch eine richtige Entwickelung dieses Begrifs auf einmal die meisten Mißverständnisse in der Lehre von Christo und der von ihm gestifteten Versöhnung ihre Auflösung erhalten; und hiermit zugleich die Hindernisse, welche den praktischen Einfluß des Christenthums auf das natürliche Gewissen der Menschen hemmen, weggeräumet werden. Ich will also versuchen, ob ich nicht auch für solche Leser, die keine geübte Metaphysiker sind, einen Weg bahnen könne, auf welchem sie sich aus dem Labyrinthe der hierüber vorhandenen in einander laufenden gelehrten Meinungen heraus helfen können. Man bemerke also hierüber zuvörderst folgendes:
  • 1. Bey allen freien Handlungen muß man das physische (materiale) der Handlung von dem moralischen (formali) derselben unterscheiden. Das physische bestehet in der bloßen Anwendung der Kraft, eine Veränderung |d117| hervorzubringen, oder in der bloßen Handlung selbst. Das moralische ist die Beziehung, welche die Handlung auf ein bekantes Gesetz hat. Z. B. Zwey Kinder gehen eine Meile; das eine Kind thut es auf Befehl seines Vaters, das andre wider ein ausdrückliches Verbot seiner Aeltern. Hier ist die physische Handlung bey beyden einerley; sie gehen einen Weg und gleich weit: aber die verschiedene Beziehung ihrer Handlung auf ihnen bekante Gesetze macht den moralischen Unterschied aus; das eine Kind leistet eine Pflicht, das andre begehet einen Ungehorsam.
  • 2. Das physische so wol, als das moralische der Handlung hat jedes seine eigene besondre Folgen, welche wohl von einander unterschieden werden müssen.
    • a) Die Folgen des physischen in der Handlung sind diejenigen, welche die Handlung haben würde, wenn auch kein Gesetz darüber vorhanden wäre, und welche daher so wol bey denen statt finden, die durch die Handlung eine Pflicht zu leisten suchen, als bey denen, welche dadurch einen Ungehorsam begehen. In dem gegebenen Beyspiele von den mit einander einerley Weg wandernden Knaben sind die Folgen der physischen Handlung gleich, so wol die natürlichen als die zufälligen. Beyde werden ermüdet; dieses ist die natürliche Folge. Beyde werden, wenn sie ein Ungewitter überfället, gleich naß; beyde bekommen, wenn sie schwächlich sind, ein Fieber davon; dieses sind zufällige Folgen der blos physischen Handlung, welche keine Beziehung auf den Gehorsam oder Ungehorsam haben, welche die Kinder dadurch beweisen.
    • b) Die Folgen des moralischen der Handlung entstehen aus der Beziehung derselben auf ein bekantes Gesetz. Man theilet solche in natürliche und willkührliche ein.
      • 1) Die natürlichen Folgen der Moralität einer Handlung sind blos innerliche, welche aus dem Bewußtseyn recht oder unrecht gehandelt zu haben er|d118|wachsen. In unsrem Exempel sind die natürlichen Folgen der Moralität bey dem ungehorsamen Kinde, daß es über sich selbst verdrüßlich wird, sich ohne Noth Ermüdung, Verderbung der Kleider und Krankheit zugezogen zu haben, daß es sich schämet und ängstiget vor dem Vater zu erscheinen, und die Ausbrüche seines Unwillens fürchtet: bey dem gehorsamen Kinde dagegen, daß es innerlich ruhig ist, sich freuet, dem Vater gefällig geworden zu seyn, und neue desto größere Liebeserweisungen zur Vergütigungen der überstandenen Unbequemlichkeiten frölich erwartet.
      • 2) Die willkührlichen Folgen der Moralität der Handlung sind die, welche der Gesetzgeber über den Thäter verhänget: als wenn in unsrem Falle das ungehorsame Kind vom Vater mit der Ruthe gezüchtiget wird, und die verdorbenen Kleider zu seiner Beschämung öffentlich tragen muß; das gehorsame dagegen geliebkoset und gelobt, und noch schöner als vorher neu gekleidet wird.
      • 3) Nur diejenigen Folgen, welche das moralische einer Handlung hat, sind Belohnungen und Strafen, und niemals müssen die Folgen der physischen Handlung darunter gerechnet werden. Dieses wird im gemeinen Sprachgebrauche nicht beobachtet, und eben dieß, daß man die Folgen der physischen Handlung auch als Belohnungen und Strafen ansiehet, ist eine Hauptquelle der Verwirrung in der Lehre von den göttlichen Strafen und von der Genungthuung Christi. Man wird im gemeinen Leben zu einem ungehorsamen Kinde, welches wider den Willen seines Vaters eine Meile gelaufen und davon krank geworden ist, sagen: siehe, das ist die Strafe der Sünde und deines Ungehorsams. Daß aber dieses offenbar unrichtig sey, erhellet daraus, daß eben dieses Kind, wenn es denselben Weg auf Befehl des Vaters gegangen wäre, und also einen Gehorsam geleistet hätte, unläugbar eben so krank geworden seyn würde. Aber |d119| das ist seine natürliche Strafe, daß es sich als den Urheber seines Uebelbefindens selbst ansehen muß.

§. 57.

Da die Folgen des physischen in unsren Handlungen nicht zu den Strafen gehören, so kan auch Christus dieselbe nicht für uns übernommen haben. Dieses beweiset nun auch die Erfahrung. Ein Mensch, der sich durch Unmäßigkeit Armuth und Krankheit zugezogen, oder durch Betrug und Thorheiten die Achtung seiner Mitbürger verscherzet hat, erhält durch den Glauben an die Gnade Gottes in Christo, Vermögen, Gesundheit und Ehre nicht wieder; sondern nur wenn und in so ferne er durch die Regelmäßigkeit seines Verhaltens sich solche aufs neue erwirbt. Mit dem Tode hören auch nur diejenigen üblen physischen Folgen unsrer Handlung auf, welche den Körper und den äußern Zustand betreffen, und dieses ist bey allen Menschen, bekehrten und lasterhaft sterbenden gleich. Der, welcher seine Gesundheit oder Vermögen seinen Pflichten aufgeopfert hat, und der, welcher beides durch lasterhafte Ausschweifungen verlor, werden durch den natürlichen Tod auf gleiche Art von Schmerzen und vom Drucke des Mangels befreiet. Aber die inneren oder mehr geistigen Folgen bleiben dieselben. Wer hier verabsäumet hat Erkentnisse einzusamlen, und gute Fertigkeiten durch Uebung zu erhalten, der bleibt in alle Ewigkeit unvollkomner, als wenn er zeitiger angefangen hätte, sich gut zu verhalten: und in alle Ewigkeit muß jede Rückerinnerung an begangene Thorheiten uns unangenehm bleiben, und das Andenken an edle Handlungen unsre Zufriedenheit vermehren. Hieraus folget, daß die Zueignung des Verdienstes Christi die natürlichen üblen Folgen unsrer Handlungen nicht abändere, und in dieser Beziehung sich unser innerer und äußerer Zustand nur in so ferne verbessere, als wir selbst so handeln, daß die physischen Folgen uns vortheilhaft werden. Die größte Wohlthat, welche Christus dem menschlichen Geschlechte gewähret hat, ist also darin zu setzen, daß wir durch |d120| seine Lehre die Weisheit überkommen, alle Handlungen zu vermeiden, deren physische Folgen uns elend und unglücklich machen: das ist, daß er von der Sünde selbst eine Erlösung oder Befreiung gestiftet hat. Denn die Sünde ist, ohne willkührliche Strafen der Gottheit, schon an sich der Leute Verderben. Sprw. 14, 34.Jak. 1, 15. 1 Joh. 3, 4–10. Kap. 1, 7.

§. 58.

Nun ist weiter zu untersuchen, von was für üblen Folgen der Moralität oder des formalis unsrer Handlungen, als welche nur eigentlich Strafen sind, uns Christus befreiet habe? Hierbey müssen wir uns nun deutlich entwickeln, theils was für natürliche, theils was für willkührliche Strafen die Sünden gegen Gott in Absicht ihrer Moralität nach sich ziehen. Was nun erstlich die natürlichen Folgen der Thorheiten und Bosheiten betrift, welche unmittelbar aus dem Bewußtseyn schlecht gehandelt zu haben erwachsen, so sind solche von einer doppelten Art:
  • 1. Ohne Rücksicht auf den Gesetzgeber, bringet schon die Bemerkung, daß wir selbst Urheber der Verschlimmerung unsres Zustandes sind, in uns Verdruß gegen uns selbst hervor. Dieser innere Verdruß ist allezeit genau der Moralität der Handlung proportionirt. Je wichtiger die üblen physischen Folgen einer Handlung sind, je mehr daher die Handlung unsre vorläufige Ueberlegung verdienet hätte; je mehr wir Zeit und Veranlassung hatten, solche vor der Verrichtung derselben anzustellen; und je leichter wir die begangene Thorheit hätten vermeiden können; desto heftiger ist der innre Unwille und Verdruß gegen uns selbst. Diese üble Folge jeder Handlung gegen unsre Vernunft und gegen uns mögliche bessere Einsichten findet ohne Ausnahme bey allen Menschen statt, auch wenn sie von keinem Gott, oder von keinen göttlichen Vorschriften etwas wissen. Je verständiger und klüger indeß ein Mensch ist, desto empfindlicher ist das innere Mißvergnügen über sich selbst bey ihm, wenn er |d121| sich eine Thorheit begangen zu haben bewußt wird. Es ist aber diese natürliche Strafe etwas wohlthätiges, indem jeder dadurch zu größerer Vorsichtigkeit, und besserem Gebrauche der Vernunft erwecket wird. Christus hat uns auch daher von dieser Strafe nicht befreien können, und auch der gutdenkende Mensch empfindet dieselbe noch bey jeder Uebereilung zur Besserung. Die tägliche Reue oder Buße bey der Gewissensprüfung erfordert sogar, dieses moralische Mißvergnügen über sich selbst möglichst zu erwecken und zu unterhalten.
  • 2. In Absicht auf den Gesetzgeber, entstehen mit dem Bewußtseyn, denselben beleidiget zu haben, sehr unangenehme Vorstellungen, welche aber von sehr verschiedener Art seyn können, nachdem wir uns desselben Charakter mehr oder weniger fürchterlich oder liebenswürdig denken.
    • a) Wenn wir uns den Gesetzgeber als einen Tyrannen vorstellen, der harte Dienste fordert, und jedes Versehen, jede geringe Verabsäumung mit unbarmherziger Strenge ahndet, so wird eine sklavische Furcht mit dem Bewußtseyn ihn beleidiget zu haben entstehen, welche mit ängstlicher Bemühung, ihm zu entfliehen, oder uns doch möglichst lange vor ihm zu verbergen, verbunden seyn wird. Einen solchen Despoten werden wir von ganzem Herzen hassen, uns gegen seine Peinigungen verhärten, oder in Verzweifelung gerathen, wenn wir kein Mittel ihm zu entrinnen und kein Ende der Quaalen absehen können. Das ist die Traurigkeit des Judenthums, die den Tod wirket, 2 Cor. 7, 10.Ebr. 2, 14. 15.
    • b) Wenn wir uns aber den Gesetzgeber als einen gütigen und einsichtsvollen Vater denken, welcher bey seinen Befehlen nur zur Absicht hat, daß wir durch ihre Befolgung glücklicher werden sollen, und der es weit besser als wir verstehet, was zu unsrem wahren Besten gereicht, so werden ganz andre Empfindungen in uns erreget werden. Zwar werden wir uns bis in das innerste der Seele vor ihm schämen, wenn wir uns ei|d122|ner Vergehung gegen seine Vorschriften bewußt werden; aber ihn dennoch lieben, uns nicht fürchten, daß er uns noch elender machen werde, als unsre Thorheit uns schon gemacht hat: wir werden zu ihm eilen, uns demüthigen, von ganzem Herzen Besserung angeloben, und uns bestreben, durch vermehrten Eifer in Befolgung seiner Vorschriften ihm wohlgefällig zu werden. Dieses ist die Traurigkeit, die zu Gott führet, 2 Cor. 7, 10.Luc. 15, 18–24.
      Nun können wir das große Werk der Erlösung Christi erklären:
      • I. In Absicht der Juden. Dieser Nation erschien in der mosaischen Gesetzgebung der Jehova nicht als ihr Schöpfer und Vater, sondern als ein strenger Gesetzgeber, welcher sein Recht, daß Israel ihm dienen mußte, auf die Eroberung dieser Nation von den Egyptern oder auf die Loskaufung derselben aus ihrer egyptischen Sklaverey zu einem ihm nun eigenthümlich zugehörigen Volke gründete, 2 Mos. 20, 2. 5. 5 Mos. 5, 6. Ebr. 8, 9. der seine Dienstforderungen mit den schrecklichsten Verfluchungen gegen die Uebertreter unwiderruflich verpönt hatte, 5 Mos. 28, 15 f. K. 29. Gal. 3, 10. und welcher nach den zu Christi Zeiten herrschenden Lehrmeinungen der Pharisäer, die Strafen derjenigen Sünden, für welche geopfert wurde, nur aufschob, solche aber im Tode durch den Satan oder Asmothi, der im Sterben dem Menschen leibhaftig erschien, vollziehen ließ: daher der Jude lebenslang eine sklavische Furcht und Angst vor dem Tode hatte, indem sterben und ins Reich des Satans überliefert werden, ihm gleichbedeutend waren. Diese Nation der Juden erkaufte und erlösete nun Christus,
        • 1) Von dem gesamten mosaischen Frohndienste und von allen willkührlichen Anforderungen Gottes an sie, daß sie sich nicht mehr als Knechte des Jehova, sondern als Kinder des Vaters im Himmel betrachten |d123| durften, Gal. 4, 24. Kap. 5, 1. Mose selbst war nur ein Knecht im Hause Gottes gewesen, und ihm waren die Juden während der Kindheitsjahre als einem Zuchtmeister überlassen worden, dagegen versetzte sie nun Christus als der Sohn Gottes in die völlige Freiheit, und in den völligen Genuß des ihnen bestimten Guten, und erklärte sie für volljährig, so daß sie nun nach ihren eigenen Einsichten zu handeln berechtiget wurden, ohne sich an ihres ehemaligen Hofmeisters Vorschriften weiter kehren zu dürfen, Ebr. 3, 5. 6. Joh. 8, 36. Gal. 3, 23. K. 4, 1–7. K. 5, 1 f. denn der ganze Gottesdienst nach Mosis Einrichtung war ein unfruchtbarer Dienst, der nichts dazu beytrug, höhere Glückseligkeit zu befördern, 1 Petr. 1, 18. 2 Cor. 3, 6. indem durch denselben die Juden nur an sinnliche Begriffe in der Religion gewöhnt wurden, Röm. 8, 3. (ησθενει) und daher zu keinen höhern Einsichten, welche die Anwendung der obern Seelenkräfte erfordern, gelangen konten, 1 Cor. 2, 14. (ψυχικος.) Die mosaischen Dienstforderungen waren eine Last, welche die Juden nie hatten ertragen können, Apostg. 15, 10. wodurch sie in lauter Angst und Elend versetzt wurden, 2 Cor. 3, 6. 7. ja welche in ihnen Widrigkeit und feindselige Gesinnungen gegen Gott erregten, Röm. 14, 15. K. 8, 3. 15. hiervon erlösete und erkaufte Christus sie auf immer. Ebr. 9, 12 f. 1 Petr. 1, 18. und wer sich nun abermals durch Annehmung der Beschneidung in dieses sklavische Joch der mosaischen Dienstforderungen gefangen nehmen ließ, dem half alles, was Christus gethan und gelehret hatte, nichts, Gal. 5, 1 f. weil eben darin die durch Christum geoffenbarte göttliche Gnade und desselben Verdienst um die Menschen zu setzen ist, daß er allen Aberglauben, als ob Gott etwas anderes, als vernünftige Bestrebung nach Glückseligkeit von |d124| uns fordere, aufgehoben hat, so daß nur ein einziges göttliches allgemeines Gebot für uns gültig bleibt; unsre Mitmenschen als uns selbst zu lieben, Gal. 6, 4. 7. 9. Joh. 13, 34.
        • 2)
          Von der sklavischen Furcht, daß die Vergehungen wider Mosis Gesetz an ihnen im Sterben gerochen, und sie durch den Tod dem Satan zur Vollziehung aller Verfluchungen überliefert werden würden. Christi Tod ist erfolgt zur Erlösung von allen Uebertretungen des alten mosaischen Bundes, Ebr. 9, 15. zur Versicherung der Vergebung für alle Sünden, für welche bis dahin die Strafen von Gott aufgeschoben waren, Röm. 3, 25. nicht für Sünden der Christen, Ebr. 10, 26. und er hat also alle von dem Zorne, welchen man als noch bevorstehend dachte, erlöset 1 Thess. 1, 10. Er hat durch seinen Tod die Idee von einem Gewalthaber des Todes (עזמות, κρατος εχων του θανατου) vernichtet, so daß alle von der sklavischen Furcht vor einem Todesengel oder Fürsten der Finsterniß befreiet worden sind, Ebr. 2, 14. 15. verglichen mit Tob. 3, 8. 1 Tim. 1, 10. Col. 1, 13. 14. ja indem er sein Leben durch einen gewaltsamen Tod am Holze beschlossen, so hat er alle Verfluchungen des Gesetzes vereitelt, Gal. 3, 13.
          Dieses ist also die Lehre der Schrift. Jeglicher Jude ward, sobald er glaubte, Jesus sey der Christ, der Sohn des lebendigen Gottes, sogleich hierdurch selig, oder errettet von der niederdrückenden Last der Zwangsdienste, und den Verfluchungen des mosaischen Gesetzes, und zu einer lebendigen Hofnung wiedergeboren, 1 Petr. 1, 3 f. 2 Tim. 1, 10. er bekam einen kindlichen Geist, Röm. 8, 15 f. und konte sich nun, ohne weiter der Vermittelung eines Hohenpriesters zu bedürfen, und ohne Gaben und Opfer zu bringen, überall zu Gott, seinem Vater unmittelbar nahen. Röm. 5, 1. 2. Eph. 2, 18. 3, 12. Ebr. 10, 14–24. Frägt man weiter, wie denn eigentlich |d125| der Tod Jesu die Erlösung der Juden bewirket habe, so erkläret die Schrift uns dieses ganz anders, als unsre kirchlichen Lehrbücher. Der Jude, sagt Paulus, ist ans Gesetz gebunden so lange er lebet, durch die Taufe wird er in Christi Tod getauft, und ist also mit ihm den Satzungen abgestorben, er lebt nun nicht mehr als ein Mitbürger der Judenwelt, sondern indem er aus dem Taufwasser heraufsteiget, wird er zu einem neuen Leben mit Christo auferwecket, Röm. 7, 1 f. K. 6, 3 f. Col. 2, 11 f. 14, 15. 20 f. K. 3, 1 f. Das Sterben höret nun auf als eine Ueberlieferung in Satans Reich zu erscheinen, da Christus gestorben ist, Ebr. 2, 14. 15. 2 Tim. 1, 10. 1 Cor. 15, 55. 57. Alle Verfluchungen des Gesetzes sind vereitelt, da Christus sein Leben an einem Pfahle beschlossen, denn sonst würde der Sohn Gottes auch ein Verfluchter seyn , wenn man Mosen noch hören wollte; Gal. 3, 13. so hat also Christus die Handschrift, welche gegen die Juden war, mit sich ans Kreuz geheftet und vertilget. Col. 2, 14. 15. 20.
      • II. In Absicht der Heiden erwähnt die heilige Schrift keiner Erlösung von Strafen; denn unter diesen herrschten die fürchterlichen Vorstellungen nicht, welche Mosis Gesetz, oder vielmehr die pharisäische Auslegung desselben zu Christi Zeiten, von bevorstehenden willkührlichen göttlichen Strafen im Reiche des Satans bey den Juden erweckte. Gott hat die Zeit der Unwissenheit übersehen, sagt Paulus, in Absicht der Heiden, Apostg. 17, 30. 31. nun aber bietet er durch Christum einen höheren Unterricht dar, und verlanget, daß alle ihre moralische Gesinnungen bessern sollen; denn durch Christum sind die menschenfreundlichen Gesinnungen Gottes bekant gemacht worden, daß alle Völker von den sie elend machenden Thorheiten, Aberglauben und Lastern befreiet, und durch göttliche Gesinnungen und durch Thätigkeit im Guten ganz neue glückselige Menschen werden können. |d126| Tit. 2, 11–14. Eph. 1, 13. 14. K. 2. Col. 1, 21. 22. 28. Apostelg. 16, 18.
      • III. In Absicht der Juden und Heiden im Verhältnisse gegen einander und gegen Gott, wird gelehret, 1 Cor. 1, 30. daß alle Nationen im Christenthume das fänden, was sie auf verschiedenen Wegen vergeblich gesuchet hätten, nemlich die Griechen, die nach Weisheit geforschet hätten, göttliche Weisheit, einen wahren göttlichen Unterricht, wie man zur Glückseligkeit gelangen könne, so daß man mit Recht fragen kan, v. 20. wo sind die Weisen? was sind gegen Christum alle heidnische Götter- und Tugendlehrer? Die Juden, welche durch Beobachtung ihrer Gottesdienstlichkeiten und Gebräuche gerecht werden wollten, viel mit Reinigungen und Abwaschungen zu thun hatten, und auf eine wunderthätige Erlösung aus den Händen ihrer Feinde, wie ehemals aus Egyptens Sklaverey warteten; wahre Gerechtigkeit oder Rechtschaffenheit, wodurch man Gott wohlgefällig wird; wahre Reinigung von Sünden durch Verbesserung der Gesinnungen; und die herrlichste Erlösung von sklavischen Frohndiensten und eitlen Befürchtungen, zur Freiheit und Freudigkeit, welche erwachsenen Söhnen gegen den gütigsten Vater zukomt, so daß man mit Recht fragen kan, v. 20. wo sind die Schriftgelehrten? was ist hiergegen alle jüdische Rechtsgelehrsamkeit? Beide Juden und Heiden, welche so wol um der mosaischen Gesetze willen in Feindschaft unter einander, als auch wegen schlechter Erkentnisse von den gütigen Gesinnungen Gottes, in beständiger Furcht und ängstlicher Erwartung göttlicher Verhängnisse und Strafen ohne Hofnung, ohne Vertrauen zu Gott, und daher in Feindschaft gegen denselben lebten, sind durch Christi Tod nun unter einander und mit Gott ausgesöhnet worden, und werden durch Christum und desselben Gesandten nun aufgefordert, sich aussöhnen zu lassen, d. i. alle fürchterliche Begriffe von willkührlichen Behandlungen Gottes aufzugeben, und Vertrauen und Freudigkeit zu ihm zu fassen, |d127| und nunmehro gern seinen väterlichen Rathgebungen zu folgen. 2 Cor. 5, 18–21. Eph. 2, 12–18 f. (Col. 1, 15 f.) Röm. 8, 15.

§. 59.

Da die heilige Schrift nirgends lehret, daß Gott habe versöhnet, oder zu bessern Gesinnungen gegen uns gebracht werden müssen, sondern überall saget, daß er durch Christum die Welt mit sich, und die Nationen unter einander ausgesöhnet, das ist, gegen sich geneigter gemacht habe; ja da auf allen Blättern des neuen Bundes die ganze Sendung Christi als der größte Beweis der ewig unveränderlichen Liebe Gottes zu den Menschen, ob sie gleich feindselig gegen ihn gesinnet waren, vorgestellet wird; Röm. 5, 8. Joh. 3, 16. so ist es fast unbegreiflich, wie dem ohngeachtet unter den Theologen die ganz widerchristliche Theorie von einer satisfactione vicaria oder vertretenden Genungthuung Christi habe aufkommen können, als ob Gott durch Christum sich selbst erst habe besänftigen müssen. Kläglich ist es zu bemerken, daß so gar in unsren mit so vielen Hülfsmitteln der Auslegung versehenen Zeiten, eine so sehr widersinnige Hypothese noch immer als eine Lehre der Schrift, oder doch als eine altchristliche Meinung der ersten Kirche eifrigst vertheidiget, und alle Liebenswürdigkeit Gottes in Christo dadurch verdunkelt wird. Dennoch sind alle Begriffe von einer vertretenden Genugthuung, welche um Gottes willen nöthig gewesen wäre, ein sehr später Auswuchs der Augustinischen privat Meinungen. Erst gegen das Ende des elften Jahrhunderts brachte Anselmus, Bischof von Canterbury, ein eifriger Anhänger Augustins, diese Hypothese auf, und gründete solche nicht auf Schriftstellen; denn dergleichen finden sich nirgends; sondern auf einen Beweis a priori. Seine Schlußfolgen waren diese: in Gott ist alles nothwendig, dessen Gegentheil etwas unschickliches (inconveniens) ist; nun ist nichts unschicklicher und weniger in der Ordnung der Dinge zu dulden, als wenn ein Geschöpf dem Schöpfer die Ehre raubt; Gott kan |d128| also ohne Genugthuung solches nicht vergeben; und da das Geschöpf nicht selbst für die Größe seines Verbrechens hinlänglich genugthun kan, so ist nothwendig gewesen, daß ein göttlicher Erlöser eine volle Satisfaktion leistete, sonst hätte Gott keinen Menschen begnadigen oder selig machen können.
Diesem unphilosophischen Geschwätze widersetzten sich damals und in den folgenden Jahrhunderten die größten Theologen, und vornemlich selbst der Gelehrteste unter Anselms Schülern, Petrus Abälard, welcher behauptete: es sey keine Satisfaktion für die Sünden der Menschen nöthig gewesen, sondern Christus sey nur darum im Fleische erschienen, um uns zu unterrichten, und uns durch seinen Tod die Größe seiner Liebe gegen uns zu bezeigen. (Centur. Magdeburgicae saec. XII. Cap. 5.) Seit dem sind bis zu den Zeiten der Reformation die Meinungen darüber getheilt geblieben, doch hat nach und nach mit Augustins Lehrbegriffe auch diese dazu passende Anselmische Theorie die Oberhand über die Schrift gewonnen. Es liegen nun bey dieser ganzen Hypothese sehr verworrene Begriffe von willkührlichen Strafen, welche Gott über Sünder verhängen müsse, zum Grunde; so bald man sich daher deutlich aus einander setzet, was Strafen sind, und was solche für verschiedene Absichten haben können, so fället auch das ganze unschriftmäßige Anselmische Lehrgebäude über den Haufen. Ich will versuchen, dieses zu bewirken.

§. 60.

Es ist schon §. 56 f. gezeiget worden, daß die üblen natürlichen Folgen des physischen unsrer Handlungen nicht zu den göttlichen Strafen gehören, und also von Christo nicht haben übernommen werden können, daher sie auch bey den Bekehrten fortdauren; daß ferner die natürlichen Folgen des moralischen, welche in den Vorwürfen des Gewissens bestehen, in so fern sie auf richtigen Erkentnissen von der Güte der Gesetze beruhen, Verbesserungsmittel sind, und demnach durch Christi Vermittelung auch nicht haben |d129| aufgehoben werden können; daß aber die Angst und Furcht, welche aus der Vorstellung einer tyrannischen Härte des Gesetzgebers, und der von ihm zu besorgenden grausamen Strafen entstehet, durch Christum aufgehoben, und wir durch ihn hiervon erlöset worden sind. Nun fraget es sich also, ob diese Erlösung dadurch geschehen sey, daß er uns blos von den gütigen, nachsichtsvollen, väterlichen Gesinnungen Gottes durch Lehre, Leben, Leiden, Tod und Auferstehung vergewissert habe, oder dadurch, daß er solche grausame willkührliche Strafen, dergleichen Mose, nach der pharisäischen Auslegung, als noch im Tode bevorstehend angedrohet, und Anselmus a priori ausfindig machen wollen, selbst übernommen und ausgestanden habe. Um dieses einzusehen, muß man sich nun die verschiedenen Absichten, welche bey willkührlichen Strafen statt finden können, recht deutlich machen. Willkührliche Strafen überhaupt sind Uebel, welche der Gesetzgeber mit dem Ungehorsame gegen seine Befehle verknüpfet, oder über die Verbrecher blos wegen ihres Ungehorsams verhänget, und welche sonst an sich keine natürlichen Folgen der Handlung seyn würden. Z. B. Ein König lässet einen, welcher verbotene Waaren heimlich eingebracht hat, auf die Festung setzen; dieses ist eine blos willkührliche Strafe, die nur vom Belieben des Gesetzgebers abhängt. Dergleichen willkührliche Strafen haben entweder eine wohlthätige Absicht oder nicht. Haben sie eine wohlthätige Absicht, so ist diese entweder Güte gegen den Verbrecher selbst, um denselben zu bessern und von größeren Vergehungen gegen sein Wohl abzuhalten, wie alle väterliche Strafen, und dann heißen sie Züchtigungen; oder sie haben weise Güte gegen das Ganze oder die Gesellschaft zum Grunde, um andre von ähnlichen Vergehungen abzuschrecken und die Bewegursachen zum Gehorsam zu vermehren, alsdann heißen sie Strafen zum Exempel für andere. Haben sie aber keine wohlthätige Absicht, sondern |d130| zielen blos zum Verderben der Verbrecher ab, so ist es selbstsüchtige Rache, welche gewöhnlich aus Schwäche und Furcht des Gesetzgebers vor dem Verbrecher entsteht. Nun wollen wir untersuchen, welche Art dieser Strafen Gott zieme, und Christus für uns habe erdulden können.

§. 61.

Zuvörderst müssen wir die Frage untersuchen, ob ein gütiger und weiser Vater über seine Kinder, welche er angelegentlichst wünscht nach und nach zu immer höherer Glückseligkeit zu leiten, jemals Uebel oder Verderben verhängen könne, ohne die Absicht dabey zu haben, sie zu bessern und vor größerer Verschlimmerung zu bewahren? Diese Frage wird jeder Theologe außer dem Systeme ohne Bedenken verneinen: denn jeder menschliche Vater, der seine Kinder durch Strafen unglücklicher macht und nicht zur Besserung züchtiget, wird von jedermann für einen Barbaren oder wenigstens für einen sehr unverständigen Mann erkläret werden. Aber diese richtige Begriffe werden uns durch die Künste einer transcendenten Sophisterey wegpraktisiret, wenn wir uns nicht an die heilige Schrift und an unser Selbstgefühl halten, und uns durch menschliche Hypothesen auch nur einen Schritt weit davon abführen lassen. Die neueren Augustinianer und Anselmianer haben uns einen Lehrbegrif überliefert, welcher unglücklicher Weise als eine göttliche höhere Weisheit zum Nachtheile der einfachen leicht verständlichen Lehre Jesu in der Kirche angenommen, jedoch niemals darin für allgemeine Christenthumslehre erkläret worden ist. Sie haben es erfunden, daß in Gott Eigenschaften sind, welche seiner Güte gerade zu entgegen wirken; daß in ihm Gerechtigkeit und Heiligkeit ganz etwas anderes sey, als die weiseste Güte; und daß eben die Handlungsart, welche bey menschlichen Vätern leidenschaftliche Unvernunft und grausame Härte seyn würde, bey Gott die vollkommenste Gerechtigkeit und Heiligkeit sey. Sie lehren, Gott wolle nach seiner unendlichen Güte zwar alle Menschen glückselig machen, ihnen bey ihren Fehltritten gern aufhelfen, die |d131| Uebel, welche sie sich durch Thorheiten zuziehen, gern verringern; aber seine eben so unendliche Heiligkeit und Gerechtigkeit erlaube dieses nicht, sondern fordere, daß er jedes Vergehen gegen seine Gesetze, weil seine unendliche Majestät dadurch verunehret werde, auch unendlich strafen, folglich seine Kinder unendlich verderben müsse. Da haben wir nun das gute und böse Principium der Manichäer in unsrem Gotte vereint: zwey mit gleicher Unendlichkeit wider einander strebende Eigenschaften, nach welchen Gott seine strauchelnde Kinder vermöge der einen zu verbessern und vollkomner zu machen, vermöge der andern ins Elend und Verderben zu stürzen gleich stark gedrungen wird. Also ist in Gott selbst ein ewiger Widerspruch! Um diesen innern Widerspruch in sich selbst zu heben, hat nun Gott, wenn wir die menschliche Vernünfteley weiter hören, eine menschliche Natur in die Gottheit aufnehmen müssen, um vermittelst derselben zwischen seiner Gerechtigkeit und Güte Frieden zu stiften: diese menschliche Natur hat dadurch die Empfänglichkeit zu unendlichen Quaalen überkommen, welche die Gerechtigkeit über sie ausgeschüttet hat, und dadurch hat die Güte erst freie Hand erhalten, die Menschen ohne verderbende Strafen zu begnadigen und glücklich zu machen. Ja man gehet in den metaphysischen Grübeleyen noch weiter, und lässet Gott, zum Behufe dieser menschlichen Theorie, in der Bemühung sich selbst zu beruhigen, verschiedene Personen vorstellen, so daß Gott, in so fern er ungezeuget ist, von sich, in so fern er von sich selbst gezeuget worden , und in seine Persönlichkeit einen Menschen aufgenommen und in demselben unendlich gelitten hat, in Christi Martern und Tode besänftiget worden sey.
Saget mir, Freunde Jesu, wo dieses unser Herr und Meister oder seine Schüler jemals gelehret haben, und wie es möglich ist, daß eine so ungesunde Philosophie statt der göttlichen mit der edelsten Simplicität vorgetragenen Anweisung Christi zur Glückseligkeit, welche sich an den natürlichen Menschenverstand sogleich als Wahrheit rechtfertiget, bey euch die mindeste Autorität haben kan? Warlich, |d132| die Theologen sind es, welche die Göttlichkeit des Christenthums durch dergleichen metaphysische Geschwätze in den Augen aller Vernünftigen verächtlich machen; sie sind es, welche Liebe und Vertrauen zu Gott, die Grundlage aller Glückseligkeit hindern, indem sie Gott nur halb als gut und halb als grausam vorstellen, daß die Christen ungewiß bleiben müssen, ob sie ihn mehr lieben oder mehr fürchten sollen. Lasset uns zurückkehren und aufs neue aus der Schrift lernen, so werden wir die durch Luthern und andre Reformatoren unter so vielen Gefahren erstrittene Freiheit, selbst aus Gottes Wort unsre Einsichten zu schöpfen, ihrer Absicht gemäß dankbar benutzen. Diese Männer thaten, was sie bey ihren exegetischen Hülfsmitteln und ihrer Philosophie thun konten; wir treten auf ihre Schultern und haben mehr Hülfsmittel, es ist Pflicht für uns, weiter zu sehen; Pflicht, das Christenthum immer mehr von aller in finstern Zeiten angestaunten menschlichen Philosophie zu reinigen, da unsre Nation nunmehro klare Begriffe und nicht geheimnißvolle Kunstwörter in religiösen Anweisungen zur Glückseligkeit von uns zu erhalten verlangt.
Ueberdieses haben auch schon die Stifter der protestantischen Kirchen alle diese gelehrte spekulative Untersuchungen über die Art und Weise der durch Christum gestifteten Versöhnung der Menschen mit Gott, als müßige Gelehrsamkeit von den eigentlichen, allen Christen zu wissen nöthigen, Seligkeitslehren abgesondert. Im zweiten Artikel und der Erklärung Luthers darüber geschiehet keine Erwähnung von einer zur Besänftigung der Strafgerechtigkeit Gottes nothwendigen Erduldung der Strafen, oder von einer vertretenden Genugthuung. Es wird darin blos gesagt: Christus habe uns verlorne und verdamte Menschen erlöset, erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels, damit wir sein eigen seyn, und in seinem Reiche unter ihm leben und ihm dienen solten in Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit. Und so viel gehöret auch nur zum beruhigenden und bessernden Glauben, daß |d133| Christus uns durch Lehre, Leben, Leiden und Tod von allen sündlichen Grundsätzen, allen daraus entstehenden Uebeln, aller Furcht vorm Tode, und aller Angst vor bösen Geistern befreiet, und es allgemein möglich gemacht habe, bessere religiöse Gesinnungen und hiermit Seligkeit zu überkommen. Was in andern öffentlichen Schriften der ersten protestantischen Lehrer, welche noch eine Wiedervereinigung mit den Katholiken hoften, aus damaliger Theologie beybehalten worden, ist von ihnen selbst nicht zur christlichen Glückseligkeitslehre gerechnet worden.
Nur das ist richtiger Verstand der Vorträge Jesu und seiner Gesandten, was die ersten Zuhörer dabey haben denken sollen und können. Unmöglich haben sie die Begriffe unsres kirchlichen dogmatischen Systems, worin die philosophischen Hypothesen so vieler Nationen und Jahrhunderte in einander gewebet sind, schon zur Erklärung der Worte Jesu und der Apostel denken können, und da die meisten Zuhörer und Leser meist unstudirte Leute waren, so ist der einfachste Sinn der Schriftstellen, zu dessen Einsicht damals keine Gelehrsamkeit und Scharfsinn gehöret hat, allezeit der hermeneutisch wahreste.

§. 62.

Hören wir die Schrift, so versichern schon die Schriftsteller des alten Bundes, welchen Gott doch bey weitem nicht in seiner ganzen Liebenswürdigkeit und Gnade erschien: Barmherzig und gnädig sey Gott, geduldig und von großer Gnade: er vergebe gern Missethat und Sünde: er wolle den Tod des Sünders nicht, sondern daß er sich bekehre, (nicht Satisfaktion leiste) und lebe: er sey feind allen Opfern und äußeren Versöhnmitteln, sondern wolle wahre Verbesserung der Gesinnungen, und wer diese zeige, dem freue er sich zu vergeben, Ezech. 18, 21–23. K. 33, 10–19. Jes. 1, 11–18. Ps. 103, 8–18. Ps. 145, 8. 9. Nirgends aber wird behauptet, die Heiligkeit und Gerechtigkeit hindere seine Güte, den sich bessernden Sünder ohne Genugthuung zu begnadigen. Alle Opfer waren nur für äußere Unreinigkeit und Unordnungen, nicht für böse Gesinnungen verordnet. Unter den unzähligen Versicherungen |d134| des N. T. von der allgemeinen Gnade und Barmherzigkeit Gottes gegen die Sünder, welche durch keine andre Eigenschaft eingeschränket wird, will ich nur diejenigen wählen, welche am wenigsten bisher beahndet worden. Jesus stellet uns seinen Vater ohne Einschränkung zur Nachahmung vor. Luc. 6, 35. 36. Er versichert, Gott sey gütig über die undankbaren und boshaften, daher solten wir nicht blos lieben, die uns liebten, v. 32. sondern auch unsren Feinden gutes thun, und eben so barmherzig seyn, eben so gelinde richten, eben so großmüthig ohne Genungthuung verzeihen, wie unser Vater, wenn wir seine Kinder seyn wolten. Solte es nun Heiligkeit und Gerechtigkeit in Gott seyn, nichts ohne volle Satisfaktion zu vergeben, so müssten auch wir weder unsren Kindern und Untergebenen, noch unsren Feinden ohne völlige Genungthuung je etwas übersehen, um dem Vater im Himmel ähnlich zu werden; oder es müsse derselbe kein volkommenes Muster für uns seyn, und Christus, der aus des Vaters Schooß kam, ihn weniger gekannt haben, als Anselmus von Canterbury, Matth. 5, 44 f. K. 6, 12. Ja Christus versichert, daß der ganze Himmel über jeden zurückkehrenden Sünder sich freue, und Gott sich gegen uns verhalte, wie der Vater gegen den ungerathenen Sohn bey seiner Rückkehr, der an keine Satisfaktion dachte, Luc. 15. Endlich stellet die heilige Schrift auf allen Blättern die gesamte Sendung Jesu, und alles, was er gethan hat, nicht als die Ursache, sondern als die Wirkung und den Beweis der allgemeinen Gnade und Menschenliebe Gottes gegen alle Völker vor, und lehret nicht mit einer Sylbe, daß Gott habe besänftiget oder versöhnet werden müssen. Sie saget nicht: also hat Gott die Welt gehasset, daß erst sein Sohn dieselbe vom Zorne erkaufen mußte; sondern: so hat er sie geliebet, daß er seinen Sohn sandte, um alle, welche nicht in Finsterniß und Unwissenheit bleiben wollen, zu höherer Einsicht und Glückseligkeit durch ihn zu leiten. Sie saget nirgends, Gott hat uns eben so nach seiner Heiligkeit gehasset, als nach seiner Güte geliebet, daß Christus zwischen |d135| beiden Eigenschaften Frieden stiften müssen. Sie saget vielmehr: ein Mittler könne nicht gedacht werden, wo nicht zwey Partheien vorhanden wären, Gott aber wäre einig, Gal. 3, 20. verglichen mit Ebr. 6, 6. K. 9, 15 f. K. 10, 16 f. folglich durfte Gott nicht als eine doppelte Person bey der Erlösung handeln, nicht mit sich selbst ausgesöhnet werden, sondern wir Menschen mussten von seinen guten Gesinnungen und seiner Gnade gegen die Sünder besser unterrichtet und stärker vergewissert werden. Darum fordern nun die Apostel jedermann auf, sich mit Gott zu versöhnen, das ist, erfreulichere Begriffe von ihm zu fassen, 2 Cor. 5, 18 f. In Christo ist die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes im vollen Glanze erschienen, und Gott preiset daher seine Liebe zu uns, daß Christus für uns gestorben ist, da wir noch feindselig gegen ihn gesinnet waren. Wäre die philosophische Theorie des Anselmus gegründet, so müßte es heißen: Gott preiset seine Heiligkeit, daß er alle Strafen der Sünden volkommen an Christo volzogen hat; aber davon weiß die ganze heilige Schrift nichts.

§. 63.

Seit Grotius Zeiten hat nun schon ein großer Theil der Gottesgelehrten diese unchristliche und widersinnige Theorie verlassen. Man sahe ein, daß man nicht zwey einander entgegen wirkende Eigenschaften in Gott annehmen könne, nach welchen er seine fehlende Kinder zu begnadigen, und auch zu verderben gleich stark gedrungen würde; da bey diesem inneren Widerspruche Gott selbst höchst unselig seyn müßte: und man nahm also ganz richtig an, daß Gott allerdings ohne Strafen begnadigen könne, und keine Genugthuung nöthig sey; daß wenn er strafe, solches nicht um seinetwillen, sondern nur zur Verhütung eines größeren Verderbens und also in wohlthätiger Absicht geschehen müsse. Nun aber brachte Grotius die neue Hypothese auf, daß die Leiden und der Tod Jesu nothwendig gewesen wären, um das Ansehen der göttlichen Gesetze aufrecht zu erhalten, welches, wenn alle Strafen erlassen worden wären, sehr |d136| gelitten haben würde. Diese Hypothese verdunkelt allerdings bey weitem die Liebenswürdigkeit Gottes nicht so sehr, als die erste: allein genauer betrachtet, ist sie eben so wohl wie jene gegen Schrift und Vernunft. Alles komt hierbey darauf an, sich deutliche und bestimte Begriffe von der Heiligkeit und Gerechtigkeit in Gott zu verschaffen.
Die Heiligkeit in Gott ist keine besondere wirkende Vollkommenheit, sondern vielmehr die Abwesenheit aller Mängel und Fehler seines Verstandes und seiner Güte, und wenn die Schrift uns auffordert, heilig zu werden, wie Gott heilig ist, so wird von uns gefordert, daß wir Thorheiten und schlechte Gesinnungen ablegen sollen, 1 Petr. 1, 13. 14. 15. Col. 1, 22. Ephes. 5, 26. 27. Es ist also eine Erklärung der Heiligkeit Gottes, wenn Jakobus sagt, es können keine andere als gute und vollkommene Gaben von dem Vater aller richtigen Einsichten herkommen, denn in ihm ist kein Wechsel des Lichts und der Finsterniß; er kan nicht in der Wahl der besten Mittel zu den besten Zwecken fehlen, und in ihm können niemals leidenschaftliche Anwandlungen des Unwillens und Zornes die gütigsten Entwürfe der Wohlthätigkeit stören.
Gerechtigkeit ist ebenfalls keine die Güte einschränkende Eigenschaft, sondern eine der Empfänglichkeit der Personen proportionirte oder weise Güte. Der Sprachgebrauch und die allen Menschen bekante Begriffe können uns hier aus der Verwirrung der gelehrten Hypothesen, so bald wir ihnen nur nachgehen, ohne Schwierigkeit heraus führen. Man muß nur dabey nicht an die Gerechtigkeit solcher untergeordneten Richter denken, welche an willkührliche Gesetze höherer Obrigkeiten gebunden sind, und die nach denselben, theils wegen Mängel dieser Gesetze selbst, theils aus Mißverstand bey Anwendung derselben auf einzelne Fälle zum öftern sehr harte, ungültige, und unweise Urtheile fällen. Die Gerechtigkeit eines höchsten Gesetzgebers oder eines Vaters ist das, wovon wir analogisch den Begrif von der Gerechtigkeit des allgemeinen Monarchen und Vaters der Welt bilden müssen. Nun |d137| können wir zeigen, daß alle Gerechtigkeit weise, proportionirte Güte sey.
1) Bey der Austheilung des Guten handelt ein Vater gerecht gegen seine Kinder, nicht wenn er jedem einerley und gleichvieles Gute zutheilet, sondern wenn er jedem das schicklichste ihm brauchbarste Gute giebt. Er lässet mehreren Söhnen von verschiedener Größe Kleider nach Proportion ihres Körpers verfertigen, so daß sie ihnen gerecht oder anpassend sind; es würde unweise Güte, und daher keine Gerechtigkeit seyn, wenn er den kleinen eben so große Kleider machen ließe, als den erwachsenen. Also ist Güte hier der Grundbegrif, und durch Weisheit geleitet wird sie Gerechtigkeit.
2) Bey der Gesetzgebung ist ein Vater und Monarch gerecht, wenn er seine Vorschriften so einrichtet, daß dadurch das Wohl aller Kinder und Unterthanen möglichst befördert wird. So bald einiger Wohl ganz gestöret wird, und sie ohne anderweitigen Ersatz leiden, so sind die Gesetze ungerecht: und dann ist entweder Mangel allgemeiner Liebe, oder Mangel der Klugheit, Kollisionen zu verhüten, der Grund davon. Also beruhet die Vollkommenheit der Gerechtigkeit auf der Gleichheit der Liebe gegen alle, und auf der Weisheit, das Wohl aller einzelnen ohne Nachtheil der andern möglichst zu befördern.
3) Auch die Gerechtigkeit beym Strafen ist weise Güte; so bald mehr gestrafet wird, als zur Besserung oder zur Verhütung größerer Uebel nöthig ist, so schreiet man über Härte und Ungerechtigkeit. Alle Strafen müssen daher gütige Absichten haben, wenn sie gerecht seyn sollen, und sie müssen wahre proportionirte Mittel zur Erreichung des Zweckes seyn. Folglich ist durchaus Gerechtigkeit allgemeine durch Weisheit geleitete Güte. Bey allen Uebertretungen der Gesetze bestehet die Beleidigung gegen den Gesetzgeber blos in dem Ungehorsame, folglich ist die Beleidigung des Gesetzgebers gleich groß, es mag die Handlung wider das Gesetz wichtige oder geringe Folgen haben, Jak. 2, 10. 11. Solten nun die Strafen sich lediglich auf |d138| die dem Gesetzgeber widerfahrende Beleidigung beziehen, oder zur Aufrechthaltung der Autorität der Gesetzgebung nothwendig seyn, so würde folgen, daß alle wissentliche Vergehungen gegen alle Gesetze ohne Unterschied gleich hart bestrafet werden müßten: denn durch jede Uebertretung wird der Gesetzgeber auf einerley Art, nemlich blos durch Ungehorsam, beleidiget, und die Autorität der Gesetze auf einerley Art gehöhnt. Wer würde aber nicht über Ungerechtigkeit schreien, wenn ein Monarch auf alle Vergehen gleiche Strafen setzte, und zum Beyspiel den, welcher ein Pfund Kaffee unveracciset eingebracht hätte, eben so hart als einen Mordbrenner bestrafen wolte? wer würde einen Vater nicht der Grausamkeit beschuldigen, der sein Kind, wenn es wider sein Verbot in den Garten gegangen wäre, eben so strenge bestrafen wolte, als wenn es eine ansehnliche Summe Geldes gestohlen hätte? Hieraus erhellet also, daß alle Strafen sich auf das Beste derer, welchen Gesetze ertheilet worden sind, beziehen, und proportionirte Beförderungsmittel der Besserung seyn müssen; und daß alle Uebel, welche ohne diese Absicht verhangen und dazu nicht nothwendig erfordert werden, von Ungerechtigkeit zeugen, welche Mangel der Güte, oder der Klugheit, oder der Macht zu ihrer Quelle hat.

§. 64.

Nun können wir den wesentlichen Unterschied, welcher zwischen der menschlichen und zwischen der göttlichen heiligsten Gerechtigkeit statt findet, deutlich aus einander setzen. Es beruhet derselbe auf der unendlich höheren Vollkommenheit der göttlichen Güte, Macht und Weisheit, in Vergleichung mit der Güte, dem Vermögen und der Klugheit der Menschen.
1. Die Güte und das Wohlwollen der Menschen ist eingeschränket und vielen Abwechselungen unterworfen. Die besten Väter werden oft ungeduldig, und verfahren nach leidenschaftlichem Unwillen. Selten ist ihre Liebe ganz unpartheiisch, und |d139| sehr oft ziehet eins der Kinder, durch seine glücklichere Bildung oder durch schmeichelhafteres äußeres Betragen, das Herz der Aeltern zum Nachtheile der übrigen Geschwister an sich. Und welche obrigkeitliche Personen haben nicht ihre Günstlinge, für welche sie zum Nachtheile anderer übermäßige Güte beweisen. Aber Gottes Güte ist die heiligste, allgemeinste, unwandelbarste. Gott wird durch keine partheiische Vorliebe geleitet, und kan nie zu leidenschaftlichem Zorne gereizet werden, sondern bleibt immer gleich stark geneigt, jedem seiner Kinder nach dem Grade seiner innern Empfänglichkeit das größte ihm zuträglichste Gute mitzutheilen, Matth. 7, 11. Röm. 2, 11. Jac. 1, 17.
2. Das Vermögen der Menschen, Gutes zu thun und zu belohnen, ist eben so wie ihre Macht, Vergehungen gegen Gesetze zu hindern, und die Uebertreter zu bestrafen, eingeschränkt. Dieses veranlasset, daß sie nicht immer so milde und gerecht seyn können, als sie es wünschen. – Ein Vater hat 5 Söhne, welche alle gleiche Talente und Begierde haben zu studiren: sein Vermögen reichet aber nur dazu hin, einen derselben studiren zu lassen: er kan also nicht gegen alle gleich gütig seyn. – Gern möchte der König allen für das Vaterland blessirten Officieren und Soldaten einen gemächlichen Unterhalt zur Belohnung anweisen, allein die Einkünfte des Staats reichen nicht hin: er muß aus Unvermögen partheiisch seyn, weil er nicht allen, sondern nur einigen helfen kan. – Aber Gottes Vermögen wird durch Austheilung des Guten nicht verringert, er kan also jedem einzelnen Geschöpfe ohne Nachtheil der übrigen im vollesten Maaße das schicklichste Gute zutheilen. – Oft muß der gütigste Monarch einen Ausreißer bey der Armee, welchen er gern begnadigte, am Leben strafen, weil es ihm an Macht fehlet, auf andere Art der fernern Desertion vorzubeugen. Gott befindet sich niemals in der Verlegenheit, aus Schwachheit grausamer und |d140| härter zu strafen, als der Verbrecher es zu seiner eigenen Besserung bedarf; weil es ihm nicht an Mitteln fehlen kan, seine Absichten an allen ohne Verletzung der heiligsten Güte gegen irgend eines seiner Kinder zu erreichen.
3. Die Einsichten der Menschen sind eingeschränkt: sie können nur nach dem äußeren Anscheine urtheilen, selten die Moralität der Handlungen erforschen, und die Zukunft nicht übersehen. Hieraus entstehen die Mängel der Gerechtigkeit der gütigsten Fürsten und Väter.
  • a) Bey der Vertheilung des Guten und den Belohnungen werden zum öftern verdienstlose Heuchler den würdigern und verdientern Personen aus Irrthum vorgezogen; oft denen, welche vorzüglich begünstiget werden sollen, solche Wohlthaten erwiesen, wodurch sie unglücklich werden. Jener Sohn, von welchem der Vater hoffet, er werde die Stütze der Familie werden, auf welchen er daher den größten Theil seines Vermögens verwendet, wird durch diese vorzügliche Güte zu Ausschweifungen veranlasset und verdirbt: der Vater hat also gegen die übrigen Kinder ungerecht gehandelt, nicht aus Mangel der Güte, sondern aus Mangel der Einsicht in die Zukunft. Dieser Mann, welchem der König große Talente, Rechtschaffenheit und Diensteifer zutrauet, wird vielen andern, die sich bereits verdient gemacht haben, vorgezogen; aber diese Begünstigung ist sein Unglück. Er bekomt Gelegenheit zu Betrügereien von Erheblichkeit, seine schwache Tugend kan nicht widerstehen, er wird ein Verräther des Vaterlandes, und stirbt als Missethäter. Gottes Güte kan niemals ungerecht handeln, weil sein Verstand nicht irren kan. Er wird nicht durch das Aeußere hintergangen, er kennet die Gedanken und innersten Gesinnungen der Menschen, und übersiehet im voraus alle Folgen seiner Wohlthätigkeit bey jedem Subjekte. Alles, was er zutheilet, ist daher dem Empfänger in Beziehung |d141| auf seine ganze Dauer wahrhaftig gut. So erhellet, wie seine Güte durch die vollkommenste Weisheit geleitet, die heiligste und gerechteste Güte sey.
  • b) Bey der Gesetzgebung veranlasset die eingeschränkte Weisheit der Menschen, daß bey der gütigsten Gesinnung des Gesetzgebers doch oft das Wohl einzelner Personen dem Wohle des Ganzen ohne Ersatz aufgeopfert werden muß, und es giebet fast kein positives menschliches Gesetz, worunter nicht einzelne Personen bisweilen leiden solten. So wohlthätig z. B. die Unterhaltung einer stehenden Armee für die Sicherheit und Ruhe eines ganzen Staates ist, so leiden doch offenbar viele einzelne Personen, welche zu dieser Art der Dienste fürs Vaterland gezwungen werden, darunter. Viele derselben verlieren ein größeres ihnen mögliches Glück, oft auch Gesundheit und Leben, ohne dafür eine Vergütigung vom Vaterlande erhalten zu können. Gottes Gesetze sind dagegen, vermöge seiner uneingeschränkten Weisheit, so vollkommen, und seine moralische Regierung so mängelfrey, daß niemals ein Theil um der übrigen willen ohne Ersatz leiden darf, und die anscheinenden Leiden zum besten anderer nur die Empfänglichkeit zu höherer Glückseligkeit bey den Leidenden selbst vermehren.
  • c)
    Bey den Bestrafungen handeln oft die besten Väter und Fürsten, wegen ihrer eingeschränkten Erkentniß ungerecht , weil sie theils die Moralität der Vergehen nicht immer genau durchschauen, theils nicht vorher wissen können, wie die Strafen zur Besserung und Verhütung fernerer Ausschweifungen einzurichten sind; daher sie oft den Zweck verfehlen. Nicht selten lügt sich der Bösewicht und Verführer von der Strafe los, und der einfältige Verführte wird hingerichtet. Nicht selten wird das durch sanfte Mittel leicht zu bessernde Kind durch eine unweise Züchtigung, welche für sein Nervengebäude zu heftig war, ungesund, oder zur Rachgier erboßt. Aber Gott erkennet die Moralität aller Handlungen nach ihrer kleinsten |d142| Abstufung; er kennet die Mittel genau, welche zur Züchtigung und Besserung eines jeden Einzelnen die wirksamsten sind: und es ist also unmöglich, daß er den Zweck der Besserung bey seinen Bestrafungen verfehlen könte.
    Nur derjenige Gesetzgeber muß einige zum Schrecken anderer härter, als es zu ihrer Besserung nöthig ist, strafen, welchem es an Mitteln fehlet, einen jeden einzelnen zu bessern. Daher muß ein Monarch, der Millionen regieren soll, aus Mangel des Vermögens auf alle gleiche Aufmerksamkeit zu beweisen, oft gegen einzelne grausam handeln, und sie zum Besten des Ganzen aufopfern; aber ein Vater wird solches niemals thun, weil er seine Kinder übersehen kan; niemals wird er ein Kind, um den übrigen seine Autorität und seinen Ernst sichtbarer zu machen, auf immer verderben und tödten. Hieraus folget demnach, daß Gott niemals ein einziges Geschöpf stärker strafen könne, als es zu desselben eigenen Besserung nöthig ist, und daß alle Strafen zum Exempel für andere, in so fern sie aufhören Wohlthat für den, welcher sie erduldet, zu seyn, nur aus der Schwäche menschlicher Regenten, welche nicht alle Untergebene beobachten können, herrühren. Folglich giebt es keine andere göttliche Strafen als Züchtigungen zur Besserung derer, welche sie erleiden; und diese müssen, weil Gott in der Wahl der Mittel nicht irren kan, allemal dadurch gebessert werden.

§. 65.

Hier bitte ich nun meine Leser, den noch wenig ins Licht gesetzten unterscheidenden Charakter der heiligsten Gerechtigkeit Gottes, welchen wir derselben vermöge der unendlichen Weisheit des höchsten Wesens zuschreiben müssen, im Gegensatze aller eingeschränkten Gerechtigkeit wohl zu bemerken. Er bestehet darin: daß Gott sich niemals in der Verlegenheit befinden kan, das Wohl irgend eines einzigen seiner Kinder oder vernünftigen Geschöpfe zum größern |d143| Wohle des Ganzen oder der übrigen Geister auf immer und ohne vollen Ersatz aufzuopfern. Denn wenn unmittelbar aus dem Begriffe der heiligsten oder uneingeschränktesten Güte folget, daß Gott sich aller seiner Werke erbarme, sie alle zu dem größten Grade, der nach ihrer wesentlichen Empfänglichkeit bey ihnen möglichen Glückseligkeit, führen wolle, so folget auch nothwendig, daß seine Weisheit begränzet seyn müßte, wenn er keine Mittel ausfinden könte, die Absichten seiner Güte an allen zu erreichen. Offenbar würde sonst Gott in Absicht derer, welche er dem Wohle der übrigen aufopferte, nicht die heiligste Güte zeigen; indem diese Ausnahme Schranken und Partheilichkeit in derselben beweisen würde. Und hier ist nun der Ort, wo wir den richtigen Begrif von der göttlichen Ehre, welcher gewöhnlich in fürchterliche Dunkelheit eingehüllet wird, ins Licht setzen können. Nur dann wird das ganze Geisterreich aus voller innerer Empfindung ausrufen: heilig, heilig, heilig ist Gott, alle Lande sind seiner Ehre voll, ihm gebühret ewiger Dank und Preiß! wenn von allen anerkant wird:
  • 1. Daß Gott alle seine vernünftige Geschöpfe gleich durch ohne alle Ausnahme mit gleicher Liebe umfasse, und alle zur größten ihnen möglichen Glückseligkeit führen wolle.
  • 2. Daß es der göttlichen Weisheit nicht an Mitteln fehle, diese gütige Absichten aufs vollkommenste, mithin bey allen, ohne die mindeste Kollision und Ausnahme zu erreichen.
  • 3.
    Daß die göttliche Macht niemals anders, als nach der weisesten Güte handle, und den Plan derselben wirklich ohnfehlbar ausführe, so daß jeder Geist zu der ihm möglichen größten Glückseligkeit wirklich gelange.
    Ein jeder frage sein Selbstgefühl, ob nicht alsdann Gott ihm am anbetungswürdigsten und in dem erfreulichsten Glanze erscheine, wenn alles glückselig ist, und ob nicht dagegen der Gedanke, daß auch nur ein einziges Geschöpf unglücklich und ewig elend bleibt, allen weichgeschaffenen Seelen die ganze Selig|d144|keit des Himmels verderben, und dem Geisterreiche den Vater der Welt weit minder liebens- und ehrwürdig darstellen müsse. Ueberdies hilft alles übrige erfreuliche der Religion mir nichts, so lange ich glaube, daß es zur Ehre Gottes oder zur Beförderung des allgemeinen Bestens nöthig sey, daß einige Geister ewig gequälet werden müssen; denn da keine Offenbarung diese Unglücklichen namentlich bekant macht, so kan ich niemals gewiß werden, ob ich nicht vielleicht selbst unter diese Schlachtopfer einer eben so unendlich grausamen, als gütigen Gerechtigkeit gehöre.

§. 66.

Aus allen diesen Betrachtungen, welche der ungesunden Philosophie der Afrikaner und Anselmianer entgegen gesetzet worden sind, fließet nun, daß Christus keine vertretende Genugthuung zur Besänftigung der Strafgerechtigkeit, Heiligkeit, oder verletzten Ehre Gottes habe leisten dürfen, sondern daß er uns nur durch seinen Tod auf immer von aller Furcht einiges Zornes oder bevorstehender willkührlicher Strafen Gottes erlöset, und eine allgemeine Menschenliebe und Bereitwilligkeit des Vaters aller Geister, uns unsere Fehltritte ohne einige Genugthuung oder Büßungen gern zu verzeihen, so bald wir nur erkennen, daß wir uns selbst dadurch seiner Wohlthaten unempfänglich machen und aufrichtig uns zu bessern suchen, versichert habe. Da nun die Menschen durchgängig geneigt sind, von ihrer eigenen Denkungsart, auf andre und auf den Charakter Gottes zu schließen, und daher alle Völker, wie die Geschichte der Religionen unter denselben lehret, darauf gekommen sind, Gott durch Geschenke, Opfer und äußere Demuthsbezeugungen und Peinigungen zu besänftigen; weil sie sich selbst von ihren Beleidigungen nicht anders begütigen lassen: so bleibet es ein höchst beruhigender Satz für jedermann und zu allen Zeiten: daß durch Christi Tod alle dergleichen selbstgewählte Besänftigungsmittel der Gottheit für |d145| überflüßig erkläret worden sind, und daß Gott, der seines eigenen Sohnes nicht verschonet, sondern ihn für uns alle dahin gegeben hat, uns gewiß mit ihm alles zu schenken geneigt sey, und nichts von uns fordere, als daß wir das von ihm dargebotene Gute annehmen und mit freudigem Herzen genießen sollen. Und so hat Christus daher nicht nur die Juden, sondern alle Menschen, welche an ihn gläuben, von der größten moralischen Unglückseligkeit, die aus den peinigenden Vorstellungen einer über uns zürnenden Gottheit entstehet, durch seinen Tod auf immer befreiet und errettet, daß wir nichts weiter zu fürchten haben, als die natürlichen Folgen unsrer Thorheiten, wodurch wir uns wider Gottes Plan selbst elend und höherer Segnungen unfähig machen: so wie er uns zugleich durch seine Lehren den Weg zu immer höheren Staffeln der Glückseligkeit bezeichnet, und auf demselben durch seinen eigenen Wandel vorgeleuchtet hat.
*) Meine Hauptabsicht, in welcher ich hier so ausführlich darzuthun gesuchet habe, daß eine vertretende Genugthuung Christi, oder die Erduldung unendlicher Leiden an unsrer Statt, zur Befriedigung der Strafgerechtigkeit Gottes, nicht in der heiligen Schrift gelehret werde, gehet eigentlich dahin, den einsichtsvollen denkenden Menschen das größte Hinderniß, Christi Lehre als göttlich zu erkennen, wegzuräumen. Denn wer reine Begriffe von einer höchstvollkommenen Gerechtigkeit hat, kan unmöglich beredet werden, daß der Vater der Welt andre Strafübel, als welche zur Besserung nothwendig sind, über jemand verhängen könne. Es ist aber deshalb weder nöthig noch rathsam, auf den Kanzeln die gemeine Theorie zu bestreiten. Man bleibe in öffentlichen Vorträgen bey der einfachen Lehre der Schriften des neuen Testaments: daß Jesus alle erlöset und ihnen die Gnade Gottes, Vergebung der Sünden, wenn sie sich bessern, zu erlangen, durch seinen Tod vergewissert habe. Man lasse sich aber gar nicht über die in der heiligen Schrift unentschiedenen Fragen ein: warum Christus so vieles habe leiden und warum er habe sterben müssen? ob dieses um Gottes oder der Menschen willen nöthig gewesen sey wie eigentlich Christus der Welt Sünden getragen habe? in wie ferne seine Leiden eigentlich vertretend gewesen sind? Gehörte eine vollständige Erkentniß hiervon zur Seligkeit, so würde es in der heiligen Schrift so deutlich erkläret worden seyn, daß keine Streitigkeiten darüber entstehen könten.

|d146| §. 67.

Die Streitfrage zwischen der römischen und den protestantischen Kirchen, ob die Seligkeit aus dem Glauben allein entstehe, oder ob auch gute Werke dazu nothwendig erfordert werden, lässet sich bey Voraussetzung der bisher entwickelten Begriffe nun leicht entscheiden. Der Vortrag der heiligen Schrift selbst ist hierüber ganz deutlich, so bald man nur die Ausdrücke Glaube, Werke, Gerechtigkeit, Seligkeit so verstehet, wie sie von den ersten Lesern der apostolischen Briefe, dem damaligen Sprachgebrauche und dem Zwecke der heiligen Schriftsteller gemäß, im Zusammenhange verstanden werden müssen. Paulus und Jakobus widersprechen sich nur, in so ferne man die Begriffe des Systems von Werken, Glaube und Seligkeit den Ausdrücken der Apostel unterschiebet.
  • 1. Paulus hat im Briefe an die Römer und Galater augenscheinlich zur Absicht, die pharisäisch gesinnten Irrlehrer, welche nach Apostelg. 15, 5. das Gesetz Mosis ausserhalb Palästina von allen Christen, auch den ehemaligen Heiden, beobachtet wissen wolten, zu widerlegen. Es war so leicht nicht, den Juden, wenn sie auch Jesum für den verheißenen Christ erkanten, den so fest eingewurzelten Nationalstolz zu benehmen, nach welchem sie sich große Vorrechte vor andern Völkern in Absicht auf Gott zueigneten; die höhere Verheißungen der Lehre Jesu, als Belohnungen ihrer durch Beobachtung des mosaischen Gesetzes erlangten Verdienste ansahen; und daher die Heiden nicht anders daran Theil nehmen lassen wolten, als in so fern sie sich auch beschneiden und dadurch zur Befolgung des jüdischen Gesetzes verpflichten liessen. Hierwider lehret nun Paulus, daß die Juden durch ihre Werke des Gesetzes, das ist, durch die mosaische Gottesdienstlichkeiten, nicht eine wahre Gerechtigkeit oder wahrhaftig religiöse Gesinnungen, wodurch man Gott allein angenehm würde, hätten erhalten können, sondern daß das sittliche Nationalverderben unter ihnen eben so groß |d147| als unter den Heiden gewesen sey, und sie daher eben so wol Sünder, und eben so sehr einer Vergebung derselben aus Gnaden bedürftig wären als andre Völker, Röm. 2, 3. Ferner daß nicht blos das Ceremonialgesetz, sondern das ganze durch Mosen bekant gemachte Gesetz die Juden nur mit einem Geiste der Furcht vor Gott erfüllet habe, wobey keine wahre Freudigkeit zu Gott, und kein freiwilliges Bestreben ihm wohlgefällig zu werden, in ihnen hätte entstehen können; um so mehr, da es die Menschen zu sehr ans sinnliche beym Gottesdienste, und nicht an höhere geistigere Vorstellungen gewöhnet hätte; daher es ein Gesetz, welches nur Zorn anrichtet; ein Buchstabe, der da tödtet, genannt wird Röm. 7. und 8. K. 4, 15. Gal. 2, 5. 2 Cor. 3, 6 f. Dagegen wird nun das Christenthum unter den synonimischen Benennungen, Glaube, Geist, Gesetz des Glaubens, Christus; dem Gesetze schlechthin, oder dem Gesetze der Werke, des Fleisches, der Sünde, des Todes entgegen gesetzet und behauptet, daß das Christenthum oder die innere Religion ohne Beymischung der äußern mosaischen Religion beselige, mit Freudigkeit zu Gott und einem kindlichen Geiste erfülle, und zu allen guten Werken geschickt mache. Röm. 1, 16. 17. K. 3, 22 f. K. 7, 6. K. 8. Gal. 3, 23. K. 8. K. 5, 24. Joh. 1, 17. Selig werden, heißet nun oft nur so viel als ein Christ werden, und hiermit aus dem bißherigen Aberglauben und der ängstlichen Gottesdienstlichkeit errettet und zu lebendigen Hofnungen wiedergeboren werden. Und in dieser Absicht wird die Seligkeit oder das Glück ein Christ zu werden, für ein freies Gnadengeschenk Gottes, welches Juden und Heiden ohne Rücksicht auf ehemalige Verdienste zu theil werde, beschrieben, Eph. 2, 8. 9. Phil. 2, 13. verglichen mit Röm. 10, 12. 15. K. 11, 5 f.
  • 2. Nun darf man nur in Pauli Schriften auf den von ihm überall beobachteten Unterschied zwischen Werken schlechthin oder Werken des Gesetzes (Mosis), und zwischen guten Werken oder Erweisungen wahrer Tugend aufmerk|d148|sam seyn, so siehet man sogleich, wie er mit Jakobo, Petro und Christo selbst aufs genaueste übereinstimmet; so sagt er: Eph. 2, 7. 10. Tit. 3, 5. 8. nicht aus vorhergegangenen Werken, sondern aus Gnaden gelanget jeder zu dem Glücke ein Christ zu werden, aber durchs Christenthum wird er zu guten Werken zubereitet und verpflichtet. Gott wird einem jeden nach seinen Werken geben, und nur denen, die in guten Werken standhaft beharren, das ewige Leben, Röm. 2, 6. 7. Ueberall dringet Paulus auf Fleiß in guten Werken, 2 Cor. 9, 8. Gal. 6, 4. Col. 1, 10. 2 Thess. 2, 17. 2 Tim. 2, 21. Tit. 2, 14. und also lehret er eben das, was Jakobus lehrt, daß ein bloßes Erkentniß und ein müßiger Beyfall gegen die Lehre Christi den Menschen nicht glückseliger mache, sondern nur wahre Thätigkeit im Guten, Jak. 2, 14–26. K. 1, 22 f. Jakobi Brief ist daher nicht strohern, wie Luther als Augustiner glaubte, denn eben das hat Jesus selbst gelehret, Matth. 7. 22 f. und das künftige entscheidende Urtheil für die Ewigkeit soll nach den Werken erfolgen, Matth. 25, 35. 36. 40. 42. 43. 45. jeder wird ein desto größeres Maaß der Kräfte und Seligkeit erhalten, je mehr und je treuer er hier mit den anvertraueten Talenten gewuchert, und desto reichlicher erndten, je reichlicher er hier gesäet hat, Luc. 19, 23 f. 2 Cor. 9, 6 f. Man lese auch 1 Joh. 1, 7. K. 2, 4 f. v. 29. K. 3, 3 f. K. 4, 7 f.

§. 68.

Wer die Streitschriften der Theologen und Philosophen mit einer ganz unbefangenen Vernunft, das ist, ohne im voraus zu glauben oder zu wünschen, daß diese oder jene Parthey Recht haben möchte, und mit Nachdenken, durchlieset, der wird finden, daß fast immer beyde streitende Partheien gewisser maßen Recht haben, oder daß die Wahrheit zwischen ihnen getheilet ist. Ich nehme diejenigen spekulativen und transcendenten Fragen aus, die ganz über den Gesichtskreiß unsres Verstandes hinausgehen, und worüber |d149| daher keiner etwas gegründetes hat behaupten können; sonst mache ich mich anheischig, von allen übrigen, besonders den kirchlichen Zwistigkeiten darzuthun, daß die Wahrheit niemals ganz auf einer Seite allein gewesen sey. Nirgends aber fället diese mehr in die Augen, als bey den Streitigkeiten über die Lehre vom Glauben und von guten Werken, wo offenbar jede Kirche aus einem besondern Gesichtspunkte einen Theil des Ganzen richtiger als die andre erkant hat, und bloß Mißverständnisse der Worte die vollständigere Einsicht in den Zusammenhang des gesamten Planes der christlichen Religion erschweret haben. Ich will in Beziehung auf diese noch obwaltende Streitfragen hier die wahre Theorie liefern, worüber im Grunde und den Sachen nach alle Kirchen einig seyn werden, so bald die gewöhnliche Lehrformeln, welche die Mißverständnisse veranlassen, an die Seite geleget werden.

§. 69.

Die Ordnung, in welcher ein Mensch durchs Christenthum zu höherer Glückseligkeit gelanget, ist folgende:
Erstlich: Die Wahrheit, daß Jesus der Christ, der höchste Gesandte und Sohn Gottes sey, und daß also seine Anweisungen einen göttlichen Unterricht über den Weg zur Glückseligkeit enthalten, ist die Grundlage des gesamten Glaubens eines Christen, 1 Joh. 5, 1. K. 4, 16. Joh. 17, 3. 16. 36. Apostelg. 2, 36–38, K. 4, 12. K. 16, 30. 31. Auf diesen Satz wurden die Juden, welche den einigen Gott schon erkanten, bey ihrem Eintritte in die Gemeine der Christen getauft, Apostelg. 8, 16. K. 10, 48. K. 19, 4. 5. und hiermit selig gemacht oder errettet, Röm. 10, 9. 10 f. Dieses ist der Glaube an Christum; und in so fern hat die lutherische Kirche recht, daß sie das Vertrauen in den Begrif des Glaubens aufnimt. Wer an den Namen Christi glaubet, der eignet ihm die höchste Autorität in der Religion zu, und hat also ein völliges Vertrauen zu desselben Anweisungen. So bald nun der Jude oder Heide dieses Vertrauen zu Christo faßte, |d150| so gieng eine μετανοια oder Veränderung der Denkungsart in der Religion in ihnen vor. Ihre bisherige abergläubische Vorurtheile verloren alle Gewalt über sie; die Heiden thaten den ersten Schritt aus der Finsterniß zum Lichte, aus der Gewalt des Satans zu Gott, das ist, von der Abgötterey zu richtiger Erkentniß und Verehrung des wahren Gottes, und von der Lasterhaftigkeit zu bessern Gesinnungen: die Juden aus der Sklaverey beschwerlicher Gottesdienstlichkeiten und beständiger Todesfurcht zur Freiheit der Kinder Gottes und zu den erfreulichsten Aussichten. So wurden beyde errettet oder selig, ob sie gleich von dem ganzen Inhalte des Unterrichts Jesu noch gar keine vollständige Einsichten hatten, und solche erst nachher durch fernere Belehrungen erhalten mußten, Röm. 12, 1. 2 f. Eph. 4, 15–32. und andern Orten. Allein mit diesem Glauben, daß Jesus ein göttlicher Wegweiser zu höherer Glückseligkeit sey, entstand unmittelbar die Begierde, seine Anweisungen nun anzuhören, und eine Bereitwilligkeit, solche zu befolgen. So wie nun ein Kind schon alsdann gutartig ist, und sich auf dem Wege zu seiner Wohlfart befindet, wenn es geneigt ist, sich in allem nach seines Vaters Willen zu erkundigen und denselben zu befolgen, ob es gleich noch nicht den ganzen Plan des Vaters übersiehet, und erst nach und nach solchen verstehen lernen muß; so kan auch ein Christ bey dem bloßen Vertrauen zu Christo und bey der allgemeinen Geneigtheit seinen Unterricht in allem zu befolgen, Gott wohlgefällig auf dem Wege zum Leben seyn, wenn er gleich noch sehr mangelhafte Erkentnisse von den Anweisungen Jesu hat. Hieraus erhellet in wie fern die Katholiken Recht haben, wenn sie ein ausführliches Erkentniß der gesamten Religion nicht zum seligmachenden Glauben für nothwendig halten, sondern behaupten, daß schon fides implicita bey denen hinlänglich sey, deren geringe Verstandskräfte und äußere Umstände ein deutliches und vollständiges Erkentniß der Lehre Christi nicht verstatten.

|d151| §. 70.

Zweytens: Aus dem Glauben an den Nahmen Christi, das ist, aus der Ueberzeugung, daß Jesus ein göttlicher Lehrer sey, entstehet nun unmittelbar die Begierde von ihm zu lernen, und seine wohlthätige Vorschriften zu befolgen. Der Inhalt der Lehre Jesu ist theils theoretisch, theils praktisch. Hier ist die Frage entstanden, ob nur die erstere oder beyde Arten der Wahrheiten den eigentlichen Gegenstand des Glaubens ausmachen. Aus Mißverstand einiger paulinischen Stellen, in welchen das Gesetz und der Glaube einander entgegen gesetzet werden, hat man die christliche Religion in Evangelium und Gesetz eingetheilet, und nur die Gnadenversicherungen unter dem Namen des Evangeliums mit Ausschließung der Anweisungen über unser Verhalten, für den Gegenstand des Glaubens erkläret. Allein Paulus setzet offenbar Gal. 3, 23 f. und in allen ähnlichen Stellen nicht zwey Theile der Lehre Jesu unter dem Namen des Gesetzes und des Glaubens einander entgegen, sondern er verstehet unter dem Gesetze die ganze mosaische Religion, und unter dem Glauben die ganze christliche Lehre; daher auch Mose und Christus als synonymische Ausdrücke statt Gesetz und Glaube gebrauchet werden, und das Christenthum als ein Gesetz des Glaubens ausdrücklich von dem Gesetze der Gottesdienstlichkeiten oder der Werke unterschieden wird, Röm. 3, 27. Joh. 1, 17. Ebr. 8, 9. 10. Die Lehre Jesu ist demnach ein unzertrennbares Ganzes und durchaus Evangelium. In ihr erscheinen die göttlichen Vorschriften über unser Verhalten nicht als Anforderungen eines Gebieters, sondern als Rathgebungen eines Vaters. Wie nun ein Vater seine Kinder nur halb glücklich machen würde, wenn er ihnen blos seine Liebe versicherte, und vieles Gute verspräche und schenkte, sie aber nicht zugleich unterrichtete, wie sie solches gebrauchen und aufs beste benutzen und genießen solten: so würde auch die Lehre Jesu uns durch alle Versicherungen von der Gnade Gottes nicht wirklich zu seligen Leuten machen, wenn sie uns nicht |d152| auch durch ihre moralische Anweisungen belehrte, wie wir aufs weiseste alles von Gott kommende Gute anwenden und auf das fruchtbareste benutzen sollen. Der Christ muß demnach eben so vieles Vertrauen zu den praktischen Anweisungen Jesu, als zu desselben Gnadenversicherungen beweisen und jene sowohl wie diese erkennen und glauben.

§. 71.

Drittens: Je mehr nun der an Christum glaubende Mensch den Unterricht desselben verstehen lernet, und je mehr sich seine Einsichten in die Gesinnungen und den Entwurf Gottes über uns erweitern und aufklären, jemehr Seligkeit entstehet auch hiermit in seiner Seele. Da die Kirche sich hierüber fast in lauter allegorischen und mystischen Ausdrücken erkläret, und diese große Veränderung der Denkungsart der Menschen, welche der lebendige Glaube bewirket, Wiedergeburt, Geburt aus Gott, neue Schöpfung, Vereinigung mit Gott und Christo, Hervorbringung eines neuen Geistes und Herzens, Rechtfertigung und Heiligung u. s. w. zu benennen pfleget, wodurch blos schwankende und verworrene Begriffe, zum Theil auch nur Worterkentnisse selbst bey Theologen veranlasset und unterhalten werden, so will ich mich bemühen anschauendere Sacherkentnisse von dem, was in dem Gemüthe des Menschen in seiner Bekehrung vorgehet, hier zu erwecken.
  • a) Der natürliche durch höheren Unterricht über die Religion noch nicht erleuchtete Seelenmensch beurtheilet die Dinge nach dem sinnlichen Eindrucke, welchen sie auf ihn machen. Ihm erscheinet daher sehr vieles als Unvollkommenheit und Uebel in der Welt, wie die unaufhörlichen Klagen der Menschen über das Elend dieses Lebens solches beweisen. Ueberall findet er Hindernisse und Schranken bey dem Bestreben seine Begierden zu befriedigen, und seine klügsten Entwürfe werden bald durch Unglücksfälle, bald durch die Hinterlist böser Menschen vereitelt. Hierbey kan nun keine wahre Zufriedenheit in seiner Seele wohnen; denn ihm scheinet in seiner Lage |d153| das Böse ein großes Uebergewicht über das Gute zu haben. Richtet er seine Blicke in die Zukunft, so ist sie in fürchterliches Dunkel vor ihm verhüllet. Sorgen, Kummer, ängstliche Befürchtungen bemächtigen sich nothwendig von Zeit zu Zeit eines Geistes, der seine Ruhe und sein Glück in Dingen suchet, die ihrer Natur nach unaufhörlichen Abwechselungen unterworfen sind, so wie es unser Körper selbst ist, welcher schon im männlichen Alter zur endlichen Zerstörung sich aufzulösen beginnt. Vermischen sich mit diesen trüben Vorstellungen noch einige Begriffe von einem allgewaltigen Wesen, welches die Welt beherrscht, so wird das moralische Elend noch größer. Der sinnliche Mensch kan eine Gottheit nicht lieben, von welcher er glaubt, schon hier verwahrloset und in ein Jammerthal gesetzet zu seyn. Daher tadeln und lästern rohe Menschen die Einrichtung der Dinge, und die Wege der Vorsicht. Aber der Gedanke, daß man sich der Obermacht dieses furchtbaren Wesens nicht entziehen könne, daß man es beleidiget habe, daß es zürne, und vielleicht im Tode seine Rache noch über uns ausschütten werde, fället in den Stunden des Tiefsinns und der Kränklichkeit schwehr auf das Gemüth des hofnungslosen Sünders, daß Zittern und Zagen ihn ergreift und in seinem Busen eine wahre Hölle entbrennt. Dann hascht der sinnliche Mensch nach abergläubischen Rettungsmitteln, und quälet sich durch willkührliche Büßungen, oder vergräbt sich lebendig in Einöden schwermüthiger Gottesdienstlichkeit, und entsaget dem gesellschaftlichen geschäftigen Leben, welches dagegen für uns ein Paradies Gottes wird, so bald das Licht des Evangeliums seinen himmlischen Glanz darüber verbreitet. Denn bey den Erleuchtungen der Lehre Jesu verschwindet das furchtbare Dunkel, welches die Liebenswürdigkeit Gottes den Augen blos sinnlicher Menschen verbirgt. Wir erblicken auf dem Throne der Welt einen Vater, der nur wohlthätig und nachsichtsvoll gegen uns denket und handelt: der uns auf dieser Erde im ersten Kind|d154|heitsalter unsres Daseyns zu höherer Glückseligkeit vorbereitet und mannigfaltige Freuden für die Sinne darbietet; nicht um uns daran zu sättigen, und in ihrem Genusse unsere höchste Wohlfart zu suchen, sondern nur einen Vorschmack daran zu haben, was für erhabnere Freuden uns, wenn wir Gott lieben, in einem männlichen Alter des zukünftigen Lebens erwarten. So betrachtet nun der glaubende Christ alle von ihm nicht abhängende Veränderungen auf seiner Wallfart hienieden, alle glückliche und unglückliche Ereignisse seiner Tage, als Führungen eines gütigen weisen Vaters, welcher ihn auf unbekanten Wegen zu Scenen höherer und dauerhafterer Seligkeit hinüber führet. Und hierbey nehmen Ruhe, Heiterkeit, Zufriedenheit und getroster Muth in dem Herzen des Christen ihre beständige Wohnung. Der lebendige Glaube an die Lehre Jesu hat demnach die Kraft selig zu machen; indem er alle fürchterliche Vorstellungen von Gott, von willkührlichen Forderungen, oder willkührlichen nicht zur Besserung abzielenden Strafen desselben, und von der Nothwendigkeit eigener Büßungen und beschwerlicher Gottesdienstlichkeiten verscheucht, und die Ueberzeugung hervorbringet, daß alle von uns nicht abhängende Bestimmungen und Veränderungen unsres Zustandes uns gut sind, und ein immer fortgehender Wachsthum unserer Vollkommenheiten von Gott veranstaltet wird. Daß aber dieses herrschende Bewußtseyn des wachsenden Uebergewichtes des Guten in unserem Zustande ganz eigentlich die menschliche Glückseligkeit bestimme, ist bereits im ersten Abschnitte ins Licht gesetzet und dargethan worden.
  • b) Der sinnliche sich selbst überlassene Mensch setzet sein größtes Glück in dem Besitze der äußern Vortheile dieses Lebens. Indem er demselben nachjaget, wählet er zum öftern Wege, die zum Verderben führen. List und Gewaltthätigkeit scheinen ihn näher zum Ziele seiner Wünsche zu führen, als Redlichkeit und mühsame Verdienste; indem aber andere eben so denkende Menschen, |d155| oft mit mehrerem Glücke ihm entgegen arbeiten, so entstehet in seinem Gemüthe Eifersucht, Neid, Rachsucht und Menschenhaß. Bey diesen Gesinnungen und Maaßregeln ist der Mensch stets mit sich selbst uneins, verdrüßlich, ängstlich und in beständiger Unruhe, weil seine Denkungsart nicht mit der allgemeinen Ordnung und dem göttlichen Plane über die menschliche Glückseligkeit harmoniret. So bald nun aber der Mensch es Christo glaubt, daß das einzige wahre Mittel, sich dauerhaft glücklich zu machen, die redlichste und thätigste Menschenliebe sey, nach welcher man einem jeden mit einer solchen Begegnung zuvor komt, als man in ähnlichen Fällen von ihm zu erhalten wünschet; so wird er mit sich selbst und mit dem Plane Gottes in Uebereinstimmung gebracht. Die menschenfeindlichen Gesinnungen der Mißgunst, der Rangsucht und des niedrigen Eigennutzes, an welchen er bisher gekranket hat, fliehen das durch Liebe zu Gott zur Menschenliebe erwärmte und veredelte Herz, und hiermit werden zugleich alle natürliche Triebe nicht unterdrückt oder geschwächt, sondern geheiliget, das ist, auf das erhabene Ziel unserer Bestimmung zu höherer gesellschaftlichen Glückseligkeit übereinstimmig gerichtet. Nun suchet der Mensch seine Ehrliebe nicht mehr dadurch zu befriedigen, daß er besser scheinen will, als er ist; er denket nun wirklich so gegen andre, daß auch seine innere Gesinnungen ihm Ehre machen, und er der ängstlichen Bemühung überhoben ist, sich zu verstellen. Der Trieb, das Eigenthum und die damit verknüpfte Unabhängigkeit zu vergrößern, bestimmt ihn nicht mehr zu niedrigen Handlungen des Betruges, wodurch die Ehrliebe gekränket wird; er erwecket ihn vielmehr zur Arbeitsamkeit und zum Fleiße in seinem Berufe und zur Ordnung und Wirthlichkeit im Haushalten. Die Neigung zu sinnlichen Ergötzlichkeiten, welche ihm vielleicht öfters zum Nachtheile seiner Gesundheit, seines Vermögens, und seines Rufes zu Ausschweifungen hingerissen hatte, wird nun durch dank|d156|bares Andenken an Gott beym Genusse der sinnlichen Annehmlichkeiten, veredelt: und der entgegen gesetzte tyrannische, den Menschen selbst quälende und entehrende Trieb zum Gesetze, wird durch den großen Gedanken, daß wir Gott nur durch wohlthätige Gesinnungen ähnlich werden, und durch Almosen die irdischen Güter, welche sonst im Tode zurück bleiben, ins künftige Leben hinüber retten können, entkräftet und zur weisen Sparsamkeit gemildert. So bringet also der Glaube an Christum eine innere Harmonie aller unserer natürlichen Triebe unter einander und mit dem Plane Gottes hervor, und nun wird einem jeden die Sache selbst deutlich seyn, was die Theologen durch die Ausdrücke sagen wollen: der Glaube heiliget, er schaffet ein neues Herz; er erfüllet mit dem Geiste Gottes, oder mit dem Sinne Christi; er vereiniget den Menschen mit Gott; er macht uns göttlicher Natur theilhaftig; denn nun will der Mensch, was Gott will, und wirket mit Gott zu einerley Zwecke, zur allgemeinen Wohlfart und Glückseligkeit, wie Christus dazu auf die verdienstvollste Art gewirket hat.

§. 72.

Viertens: So bald die Denkungsart eines Menschen gottesgeistig geworden ist, so bald er den Sinn Christi, das ist, wahrhaftig christliche Gesinnungen, wie sie das Vorbild und die Lehre Jesu erfordern, angenommen hat, so befindet er sich in dem Zustande der höhern moralischen Glückseligkeit oder der Gnade bey Gott. Denn nun hat er ein völliges Vertrauen zu Gott, und ist über alle Veränderungen seines Lebens ruhig und voll der erfreulichsten Hofnungen für die Zukunft: und da Gott wohlgefällig zu denken und zu handeln, das Ziel seiner Wünsche und Bestrebungen ist, so findet in ihm schon die allgemeine Geneigtheit und der Grundtrieb zu allen göttlichen und gesellschaftlichen Tugenden statt. 1 Joh. 3, 21–24.
Nun lässet sich die berühmte Streitfrage zwischen der römischen und der protestantischen Kirche, ob nur der |d157| Glaube allein oder auch die Werke zur Seligkeit nothwendig sind? ohne Schwierigkeit auflösen.
Unter guten Werken verstehet man entweder selbstgewählte und willkührliche Gottesdienstlichkeiten und Büßungen, als fasten, sich geißeln, wallfahrten, Formulargebete hersagen u. dergl. oder die äußere Erweisungen der innern christlichen Gesinnungen gegen Gott und den Nächsten. Die sogenanten guten Werke der ersten Gattung sind ein Ueberbleibsel des Judenthums, wogegen Paulus so oft im Briefe an die Römer und Galater eifert, und Col. 2, 16. ausdrücklich einschärfet, lasset euch niemand Gewissen machen über Speise, oder Trank, oder bestimten Feyertagen u. s. w. und diese werden daher mit Recht von den Protestanten für unnöthig, ja unter gewissen Umständen für Hindernisse der Seligkeit erklärt. Was aber die guten Werke nach dem biblischen Begriffe anlanget, so ist davon zu bemerken:
  • a) Man kan beständig gut gesinnet seyn und eine herrschende Geneigtheit haben, alle Tugenden auszuüben, ohne jedoch solches immerfort werkthätig äußern zu können. Jede Art der guten Werke, als äußere in die Sinne fallende Handlungen betrachtet, erfordern äußere Gelegenheiten, sie verrichten zu können. Ich kan zum Beyspiel so gut gesinnet seyn, daß ich der Vorschrift Jesu gemäß meinen Feind gern speisen und bekleiden würde; allein um dieses gute Werk thätig zu verrichten, wird voraus gesetzt, theils daß ich einen Feind habe; theils daß dieser meiner Unterstützung bedarf; theils daß ich das Vermögen dazu habe, ihm zu helfen; theils daß mir seine Dürftigkeit bekant wird; theils daß ich mich mit ihm in einer solchen Lage befinde, daß meine Wohlthaten bis zu ihm gelangen können; alles dieses hänget aber nicht von mir selbst ab. Gleiche Bewandniß hat es mit allen andern einzelnen Arten der guten Werke. Nun würden wir in der That sehr übel daran seyn, wenn die Verrichtung einer jeden oder doch gewisser bestimter Arten guter |d158| Werke zur Seligkeit schlechterdings nothwendig wären, da es nicht von uns abhänget, uns die Gelegenheiten dazu zu verschaffen. In dieser Beziehung kan also der Satzder Concordienformel: gute Werke sind zur Seligkeit nicht nothwendig, allerdings mit Grunde behauptet werden, in so fern keine einzelne Gattung derselben zu nennen ist, deren werkthätige Leistung schlechterdings zum Glückseligseyn erfordert würde.
  • b) Da aber die Seligkeit nicht ein augenblicklich vorübergehender, sondern fortdaurender Zustand ist, darin der Mensch immerfort denket, wünscht und handelt, und alle diese Entschließungen und Handlungen nothwendig entweder gut oder böse sind, folglich uns vollkomner oder unvollkomner, Gott wohlgefälliger oder mißfälliger machen, so erhellet, wie in diesem Betrachte der Fleiß in guten Werken zur Seligkeit nothwendig sey. Es muß nemlich der Mensch nothwendig alle christliche Tugenden werkthätig ausüben, so bald sich zu derselben Verrichtung Gelegenheit darbeut, denn der aus Gott Geborne kan, wie Johannes 1 Br. 3, 9. sagt, nicht sündigen, er kann nicht wider sein Gewissen handeln, noch unterlassen, was dieses von ihm fordert. Christus selbst erkläret das bloße Unterlassen guter Handlungen für den Grund der Unseligkeit. Matth. 25, 42 f.
  • c) Gute Werke sind nun eigentlich in einer dreifachen Beziehung nothwendig,
    • 1) als natürliche und unausbleibliche Folgen guter Gesinnungen, Matth. 7, 18. an welchen der Mensch erkennen muß, ob er den Sinn Christi wirklich habe, 1 Joh. 3, 10. 14.
    • 2) als Befestigungsmittel in guten Gesinnungen; indem nur durch Uebung in der Geduld, im Vertrauen auf Gott, im Nachgeben, in großmüthiger Wohlthätigkeit, in der Arbeitsamkeit, diese beseligende Tugenden zu Fertigkeiten werden können.
    • 3) als Beförderungsmittel der Wohlfart, indem jede Ausübung einer Pflicht unsren Zustand verbessert. |d159| So oft ich andern mit Ehrerbietung und Dienstbeflissenheit zuvorkomme, erwerbe oder vermehre ich ihre Achtung und Freundschaft gegen mich: so oft ich eine Versuchung zu Thorheiten überwinde, entgehe ich üblen Folgen, die mich beunruhiget haben würden, und befestige die Herrschaft des Geistes über die Sinnlichkeit.

§. 73.

Fünftens: Da das Wort Glaube, durch die so sehr von einander abweichenden willkührlichen Definitionen der Theologen so vieldeutig geworden ist, und selbst in der heiligen Schrift eine sehr verschiedene Ausdehnung hat; es aber bey dem Erkentnisse der Religion nicht auf Töne, sondern auf Begriffe ankomt: so ist der sicherste Weg, aus der Verwirrung der Wortstreitigkeiten, und den daraus entstehenden Mißverständnissen sich heraus zu finden, daß man statt dieses Wortes, andre Ausdrücke von bestimterer Bedeutung wähle, welche eben die Begriffe einzeln und begrenzt darbieten, welche sonst unter dem Worte Glauben zusammengefasset werden. Solten nicht alle einsichtsvolle Theologen in allen Kirchenpartheien darüber einig seyn, daß der Mensch alsdann selig wird, wenn er den Sinn Christi überkomt, oder gegen Gott und Menschen solche Gesinnungen annimt, wie Christus gegen seinen Vater und gegen uns gezeiget hat? Denn worinn, meine protestantischen Brüder, wollen wir das Leben des Glaubens suchen, als in der Wirksamkeit, welche er auf die Gesinnungen äußert? Kan wol ein Glaube rechter Art seyn, oder selig machen, der das Herz ungeändert läßt? Was fehlet aber, meine katholischen Mitbrüder, demjenigen noch zur Seligkeit, dessen Denkungsart dem Sinne Christi ähnlich ist? Wird nicht der, welchen dieser Geist des Christenthums beseelet, alle Gelegenheiten gutes zu thun freywillig aufsuchen und mit Emsigkeit benutzen? Ich empfehle daher statt der ewigen Wortanalysen über den rechten Begrif des Glaubens und des lebendigen Glaubens, wodurch man einfältigen |d160| Christen niemals bestimte und nutzbare Erkentnisse beybringen wird, auf den Kanzeln lieber zu sagen: Die Seligkeit beruhet auf guten oder christlichen Gesinnungen. Dieses wird von jederman so gleich verstanden, und nun kan man das aus der Lehre Jesu vortragen, was diese Gesinnungen der dankbaren Liebe, des Vertrauens, der Folgsamkeit gegen Gott, und der aufrichtigen und wohlthätigen Menschenliebe in den Zuhörern zu erwecken am geschicktesten ist, und sie dann weiter anweisen, wie Christen diese Gesinnungen in ihrem ganzen Verhalten äußern und an den Tag legen müssen. So bestehet denn das ganze Werk der Seligmachung des Menschen durch die christliche Religion darin, daß der Mensch
  • 1. Vertrauen zu Christo als einem göttlichen Lehrer fasse.
  • 2. Den Unterricht desselben sich bekant mache.
  • 3. Die daraus erkanten Wahrheiten in der Zueignung auf sich selbst überdenke, und hierdurch seine ganze Gemüthsart umbilde.
  • 4. Durch den Geist der Religion Jesu sich nun weiter in alle Wahrheit und Tugend leiten lasse, und hiermit seinen innern und äußeren Zustand immerfort vollkomner mache, nach allen Gelegenheiten, welche sich ihm gutes zu thun, darbieten.

§. 74.

Die Bekehrung des Menschen durchs Christenthum ist vermöge der bisherigen Entwickelung eine durchaus erfreuliche Sache. In der ganzen Lehre Jesu findet sich kein Satz, der den Menschen, welcher sich bessern will, betrübt oder niedergeschlagen machen könte. Wir werden sogleich, wenn wir diese Lehre annehmen, zu lebendigen Hofnungen wiedergebohren, indem wir die Größe der Liebe Gottes, der Mildthätigkeit seines Planes über uns, und einen sichern und angenehmen Weg, unsre Wohlfart immerfort Ewigkeiten hindurch zu vergrößern, aus dem Unterrichte der heiligen Schrift kennen lernen; das kan bey keinem Traurigkeit erwecken. Es muß daher jedem Freunde der Lehre Je|d161|su nahe gehen, wenn er gewahr wird, wie blos die unglückliche Uebersetzung des Worts μετανοια durch poenitentia und durch Buße in der abendländischen Kirche so viele finstere Lehrsätze erzeuget hat, welche die Liebenswürdigkeit der Einladungen Christi so sehr verdunkeln. Der ganze Artikel von der Buße in unsrer Dogmatik und Moral, besonders was von einer Beängstigung des Gewissens, Zerknirschung, Bußkampf und dergleichen, darin vorkomt, ist aus dem alten Testamente entlehnt, hat nicht den allermindesten neutestamentischen Grund, und kan auch schlechthin mit dem Geiste des Evangeliums nicht bestehen. Ich will dieses etwas umständlicher erweisen.
1. Ueberall wo Luther in der Verdeutschung des N. T. Buße und Reue gesetzet hat, stehen im Grundtexte zwey Worte, welche blos eine aus reiflicher Ueberlegung und Nachdenkung entstehende Veränderung und Verbesserung der Entschließungen und Gesinnungen anzeigen. Eben diese Worte brauchen die alexandrinischen Uebersetzer selbst von Gott und von der Veränderung seiner Verfügungen, folglich lieget darin gar nicht der Begrif des Betrübtseyns oder der Zerknirschung. Dagegen bedeutet nun Buße und büßen so viel, als Genungthuung für begangene Vergehungen leisten, es sey durch Geldbuße, oder durch Erduldung schmerzhafter Empfindungen. Esr. 7, 26.
Im hebräischen bezeichnet נחם auch ganz allgemein jede Veränderung des Gemüthszustandes und der Gesinnungen, so wie μετανοεω, und daher nicht nur reuen, sondern auch sich trösten und neuen Muth fassen; dagegen büßen ein ganz anderer Begrif ist, der durch ענש und ζημιοω ausgedruckt wird.
2. Alle Stellen und Beyspiele, welche aus dem alten Testamente in diesem Artikel als Erklärungen und Beweise dessen, was bey der Bekehrung durchs Christenthum im Menschen vorgehen soll, angeführet werden, sind schlechterdings unbrauchbar. Denn der Geist des alten Testamentes war der Geist der Furcht und Knechtschaft; der Geist des neuen Bundes ist der kindliche freudige Geist zu Gott. Röm. 8, 15. Die jüdischen Schriftsteller waren |d162| unter dem Gesetze, welches nur Zorn anrichtet, unter dem Buchstaben, der da tödtet: wir sind unter der Gnade und einem lebendigmachenden geistigen Evangelium. Röm. 4, 15. K. 6, 14. 2 Cor. 3, 6 f. Nur erst durch Christum Jesum ist Gnade und Wahrheit und lebendige Hofnung ans Licht gebracht worden. Joh. 1, 17. Wäre jener erste Bund untadelich gewesen, so hätte es keines neuen Bundes bedurft, Ebr. 8, 7 f. Ich betrübe mich allemal, so oft ich in christlichen Versamlungen die Psalmen Davids lesen höre, als ob es vom Geiste des Christenthums eingegebene Gebete wären. Was sind sie? es sind jüdische National-Gebete, worin Gott nicht als der allgemeine Vater der Menschen, sondern als der Schutzgott des jüdischen Volkes, der die benachbarten Nationen hasset, angerufen, und die Ehrliebe desselben aufgefordert wird, sich seines Volkes um seines Namens willen, weil er sich den Gott Israels nenne, anzunehmen und andre Völker zu verderben; zum Beyspiel Ps. 79. 44. 46. worin David bey dem Anblicke der Zerrüttung und der Meuthereien, welche seine Vielweiberey, schlechte Kinderzucht, und andre Vergehungen in seiner Familie und in dem Staate veranlasset hatten, sich in dem größten äußeren Bedrängniß befindet, und Gott mit Gelobung der Besserung um Rettung gegen seine Feinde, und um Hülfe zu ihrer Untertretung anflehet, Ps. 6. 7. 13. 22. 27. 43. 51. und in vielen andern. Wie ist es möglich, daß solche Gebete, darin so gar nichts von dem christlichen göttlichen Geiste der Liebe zu spüren ist, noch von Christen nachgebetet werden können?
Ich muß hierbey von dem Verhältnisse der Schriften des alten Testaments zum Christenthume eine allgemeine Bemerkung einschalten. Die jüdische Nation war durch Mosen und die Propheten, als durch Knechte Gottes in ihrem Kindheitsalter oder in der Zeit ihrer rohen unkultivirten Sinnlichkeit gehofmeistert und in strenger Zucht durch eine Menge einzelner Gesetze und willkührlicher Strafen gehalten worden, Ebr. 3, 5. 6. Gal. 3, 23. K. 4, 1 f. nun erschien Christus als der Sohn Gottes, und hob alle Ver|d163|ordnungen der Vormünder auf, verbesserte die ganze moralische Denkungsart der Juden und erklärte sie für freie und volljährige Söhne, die keines Gesetzes mehr bedürften, Gal. 3, 23. 24. K. 4, 1 f. Ebr. 8, 6. 17. Nun mußten die Apostel allerdings die Juden, welche an ihre bisherige Pfleger, Mosen und die Propheten gewöhnet waren, überführen, daß diese Lehrer ihrer Kindheit nicht das Gegentheil von dem Inhalte des Christenthums vorgetragen hätten, sondern daß ihre Anweisungen auch schon zu eben dem Zwecke abgezielet, aber nur wegen der kindischen Denkungsart des Volkes sehr sinnlich, und daher unvollkommenes Schattenwerk gewesen wären, und daß jene vorzügliche Männer auch selbst eine noch bevorstehende größere Aufklärung der Religionseinsichten vorher verkündiget hätten, Col. 2, 16. 17. Ebr. 8, 5 f. K. 9, 9 f. Daher saget nun Christus selbst Matth. 11, 9. 11. Luc. 7, 26 f. Johannes sey bereits größer denn alle Propheten, welche vor ihm gewesen wären, und nur auf die Zeiten des neuen Bundes gedeutet hätten, aber der geringste Lehrer des Christenthums sey größer denn Johannes, das ist, übertreffe bey weitem alle Propheten des alten Testamentes an Richtigkeit, Deutlichkeit und Vollständigkeit der Einsichten in den Plan Gottes über die Glückseligkeit der Menschen. Wie undankbar handeln wir demnach gegen Christum, welcher unser einziger Meister seyn soll, daß wir in die Kinderschule der Juden zurückkehren, und in derselben die Begriffe, was zur christlichen Bekehrung gehöre, erlernen wollen; aber wir werden auch dafür bestraft, indem wir aus derselben Aengstlichkeit, Hammerschläge des Gesetzes, Zerknirschung, Bußkampf, heilsam seyn sollende Verzweifelung, und andre den Geist einer kindischknechtischen Furcht einhauchende Begriffe unausbleiblich zurück bringen. Matth. 23, 8 f. Gal. 5, 1. Joh. 1, 17. 18. Matth. 11, 11. 1 Joh. 4, 18.
3. Im ganzen neuen Testamente findet sich nicht eine einzige Stelle, in welcher gelehret werde, daß zur Verbesserung des menschlichen Gemüthes durchs Christenthum eine vorläufige Beängstigung des Gewissens, oder wehmuths|d164|volle mit Thränen begleitete tiefe Betrübniß vorgängig erfordert werde. Die Stellen, welche man hierher zu ziehen pfleget, handeln offenbar nicht von der christlichen Umbildung zu Gott ähnlichen Gesinnungen. Der Zöllner, welcher im Tempel betet, betet unläugbar als Jude, Luc. 18, 13 f. und Christus stellet ihn gar nicht in der Lage vor, wie er durchs Evangelium wiedergeboren wird, sondern setzet nur die demüthige Aufrichtigkeit eines Zöllners, welche Leute von den Juden schlechthin als verworfene Sünder angesehen wurden, der stolzen Heucheley eines Pharisäers, welche das Volk für Heilige hielt, entgegen. Wenn Ebr. 12, 17. nach Luthers Verdeutschung gesaget wird: Esau fand keinen Raum zur Buße, wiewol er sie mit Thränen suchte, so wird doch wol niemand behaupten, daß hier von einer Bekehrung des Esau durchs Christenthum zu Gott die Rede sey; überdieses aber ist der eigentliche Sinn dieser Stelle: Esau konnte seinen Vater selbst durch Thränen nicht bewegen, seine Gesinnungen zu ändern, daß er den vorzüglichen dem Jakob ertheilten Segen zurückgenommen, und auf ihn übertragen hätte. Die scheinbarste Stelle ist 2 Cor. 7, 8 f. worin von einer Traurigkeit, welche religiöse Besserung wirket, geredet wird. Allein der Zusammenhang beweiset, daß hier nicht von einer Bekehrung der Corinther zu Christo, und von einer Traurigkeit über ihren vorigen lasterhaften Zustand die Rede sey; sondern daß ihre Betrübniß daher entstanden war, weil Paulus der ganzen Gemeine harte Vorwürfe gemacht hatte, daß sie einen Menschen in ihrer kirchlichen Gesellschaft duldeten, der seine Stiefmutter geheirathet hatte. Die Wirkungen, welche dieser Betrübniß zugeschrieben werden, sind nach Vers 11. Verantwortung, Furcht, Verlangen, Eifer, Rache. Diese Wirkungen aber passen gar nicht zu der dogmatischen Theorie von der Buße; indem die Corinther nur, um sich gegen Paulum zu rechtfertigen, ihren Zorn, Eifer und Rache gegen den Verbrecher und dessen etwannige Beschützer ausgelassen hatten.
|d165| 4. Will jemand über den Begrif der Sinnesänderung mit mir philosophiren, und daraus a priori es etwa herleiten, daß doch nothwendig, so oft man seine Gesinnungen ändert und sich zu einem neuen Plane des Lebens entschließet, eine Mißbilligung der bisherigen Maaßregeln vorhergehen müsse, so gebe ich dieses überhaupt zu; läugne aber die Folge, daß aus dieser Mißbilligung des vorhergehenden Verhaltens ein praedominium oder Uebergewicht des Affektes der Traurigkeit über das Vergnügen, welches durch die Aussicht in die glücklichen Folgen der neuen Entschließung veranlasset wird, in einem sich bessernden Gemüth entstehen müsse. Wir können hierbey drey Fälle unterscheiden.
  • a) Wenn ein Mensch gewissenhaft, aber aus Mangel richtiger Erkentnisse fehlerhaft gedacht und gehandelt hat, und nun zu bessern Einsichten in sein wahres Wohl gelanget, so findet bey dem Entschlusse zu einem neuen Plane des Lebens blos Freude und keine Betrübniß statt. In diesem Falle befanden sich fromme Juden und gutherzige Heiden bey der ersten Einladung zum Christenthume. Ihr Uebergang aus der Finsterniß zum Lichte; aus einer knechtischen Gottesdienstlichkeit zur Freiheit; aus dem Schatten des Todes zu den Hofnungen ewiger Glückseligkeit; war eine durchaus angenehme Umwandlung ihrer Gemüthsfassung.
  • b) Wenn ein Mensch wider bessere Einsichten und wider sein Gewissen ausgeschweifet hat, und dann in ein Elend hineingeräth, aus welchem er noch keinen Ausgang gewahr werden kan; so bemächtiget sich allerdings seines Gemüthes Schwermuth, bittre Reue und Verdruß gegen sich selbst, welche so lange fortdauren, als es ihm noch ungewiß scheinet, ob er errettet werden könne. So war die Angst Davids nach dem begangenen Verbrechen des Ehebruchs und Mordes beschaffen: und von dieser Art ist die Buße der meisten Christen auf dem Sterbebette und der verurtheilten Missethäter, daher man solche gewöhnlich und mit Recht eine Galgenbuße, welche nur |d166| aus Furcht vor noch bevorstehenden Strafen erzeuget wird, zu nennen pflegt.
  • c)
    Wenn ein Mensch zwar überhaupt Gelegenheit zu guten Erkentnissen und einige allgemeine Begriffe von dem Wege zur Glückseligkeit gehabt, solche aber theils aus Leichtsinn, theils wegen mancher Zweifel dagegen unbenutzt gelassen, und nach bloßem Gutdünken gelebet hat; alsdann durch irgend etwas veranlasset wird, mehr Aufmerksamkeit und Nachdenken darauf zu wenden, und etwa so glücklich ist, eine Predigt voll Salbung zu hören, und dadurch mit dem wahren Geiste der Religion Jesu bekannt zu werden: so wird der Entschluß, den ganzen Plan des Lebens zu ändern, mit einem doppelten Affekte begleitet seyn. Auf einer Seite wird er bedauren, nicht früher zu solchen beseligenden Gesinnungen gelanget zu seyn; auf der andern Seite aber wird die erfreuliche Vorstellung, nun endlich zu der längst vergeblich gesuchten Ruhe des Gemüths und zur wahren Zufriedenheit des Lebens zu gelangen, ihn frölich machen, und gewiß wird dieser angenehme Affekt das Uebergewicht in der Seele sogleich erhalten. Dieses ist der gemeinste Fall, in welchem unsre von Jugend auf in der Religion unterrichtete Christen sich befinden, wenn sie in männlichen Jahren zu der lebhaften Ueberzeugung gelangen, daß nur allein das gewissenhafte Bestreben, Gott wohl zu gefallen, uns ruhig, weise und glücklich machen könne.
    Es ist demnach gewiß, daß alle durchs Christenthum bewirkte Besserung der Gesinnungen, von den angenehmen Aussichten in wahre Glückseligkeit, welche durch dasselbe uns eröfnet werden, anfange, und nicht von Gewissensangst und Zerknirschung. Luther fühlte auch die Uebereinstimmung dieser Begriffe mit dem wahren Geiste des Christenthums, und ward nur durch den Mangel genungsamer Sprachkentnisse abgehalten, es deutlicher aus der Schrift herzuleiten: denn er schreibt in einem seiner Briefe an Staupitz: Es war mir, als wenn ich eine Stimme vom Himmel hörete, da du lehrtest: |d167| es sey keine Buße (oder Bekehrung) rechter Art, wenn sie nicht aus innerer Liebe zu Gott und dem Guten ihren Ursprung hätte. Möchte man doch, da jetzt allgemein anerkant wird, daß μετανοια nicht Buße, sondern Besserung der Gesinnungen heißt, einen solchen Hauptbegrif in der gemeinen Uebersetzung ändern, und nicht aus Anhängigkeit an Menschen so gleichgültig gegen das richtige Erkentniß der Anweisungen Jesu seyn!

§. 75.

Ich will diese ganze Lehre noch durch ein Gleichniß erläutern, welches auf die gewöhnliche Bekehrungsgeschichte unsrer Christen genau passet. Gesetzt, der König ließe öffentlich von den Kanzeln bekant machen, daß alle, welche sich und die ihrigen nicht ehrlich zu nähren wüssten, sich in einer gewissen Gegend einfinden solten, wo ihnen Gelegenheit zu reichlichem Erwerbe angewiesen werden solte: gesetzt, daß viele, die bisher höchst kümmerlich gelebet hatten, sogleich auf die erste Bekantmachung sich entschlössen, die Einladung anzunehmen, so ist offenbar, daß von diesen die Entschließung zur Veränderung des ganzen Plans ihres Lebens durchaus mit froher Hofnung gefaßt werden würde, weil sich ihnen die Aussicht in bessere Tage eröfnet; und daß sie über ihr bisheriges Verhalten keine Betrübniß oder Reue empfinden würden, weil sie vorher nicht gewußt haben, wie sie sich besser helfen solten. In diesem Falle befanden sich Juden und Heiden, da ihnen das Evangelium zuerst verkündiget ward: und darin befinden sich in unsern Tagen noch alle diejenigen gebornen Christen, welchen lauter unverständlicher Wörterkram statt Christenthum von Jugend auf vorgetragen ist, wenn sie das erstemal einen wirklich christlichen Vortrag hörenoder lesen. Gesetzt aber, daß andre Einwohner, welche eben so sehr der gnädigen Hülfe des Landesvaters bedürfen, die erste Einladung nicht benutzten, weil sie überhaupt nicht recht darauf acht gehabt und sie nicht völlig verstanden hätten, oder weil sie ein Mißtrauen gegen die Bekantmachung hegten, ob sie auch wirk|d168|lich vom Könige sey; ob sie auch ihre Person angehe; ob ihnen auch alle gute Versprechungen würden gehalten werden; oder endlich weil sie die Reise für allzu beschwerlich hielten, zu sehr an den Ort ihres bisherigen Aufenthalts gewöhnet wären, und sich an demselben bessere Zeiten für die Zukunft versprächen. Gesetzt ferner, daß dann einer dieser nachgebliebenen in immer dürftigere Umstände geriethe, durch die mühseligsten Arbeiten nicht mehr genungsames Brodt für die Seinigen erwerben könte, schon zum Stehlen seine Zuflucht genommen hätte, dabey aber ergriffen und ins Gefängniß geworfen worden wäre, so daß er keinen Ausgang des Elendes mehr vor sich erblicken könte. Gesetzt endlich, daß unter diesen Umständen ein königlicher Kommissar diesem Manne nochmals die Gnade des Königes anböte, ihm völlige Verzeihung wegen seines bisherigen Außenbleibens und seiner Vergehung wider die Gesetze versicherte, die angenehmste Beschreibung von der blühenden Wohlfart derer machte, welche der Einladung des Monarchen sogleich gefolget wären, ihm alle etwannige Zweifel benehme und endlich ihm sogar königlichen Vorspann und alle Erleichterung bey der Reise verspräche: was, fraget euch selbst meine Leser, was werden wol für Gemüthsbewegungen in diesem Manne vorgehen, so bald er dem königlichen Boten glaubt? wird nicht der Gedanke: was bin ich für ein Thor gewesen, daß ich mich so lange gequälet und nicht sogleich den gnädigen Einladungen des Königes gefolget bin, die Seele gleichsam nur obenhin berühren, und von der freudigen Vorstellung, nun Ketten und Kerker verlassen zu können, und sich künftig im Wohlstande zu befinden, völlig verdrungen werden? Genau so gehet es mit der Bekehrung derjenigen Christen, welche von Kindheit an unsere Kirchen besuchet haben; wenn sie zu klaren und praktischen Einsichten in die wohlthätige Beschaffenheit der himlischen Berufung des Evangeliums gelangen. So bald ihre Zweifel gehoben sind, aus denen allein Schwermuth und Traurigkeit entstehen kan, bemächtiget sich ihrer ein freudiger und kindlicher Geist, und die Liebe Gottes wird in ihre Herzen |d169| ausgegossen, bey welcher keine Pein, keine Aengstlichkeit, keine andre Thränen als Thränen der dankbaren Freude statt finden können. Eph. 1, 3–19. K. 2, 1–18. 1 Petr. 1, 3 f.

§. 76.

Ueber die Frage: ob ein Christ den Tag und die Stunde seiner Bekehrung wissen könne und müsse? will ich meine Meinung noch mit wenigen Worten eröfnen. Wenn man unter der Bekehrung die Umbildung der Denkungsart und der Gesinnungen eines Menschen verstehet, wobey in demselben der allgemeine feste Entschluß gefasset wird, durchaus rechtschaffen und gewissenhaft zu denken und zu handeln, und das Wohlgefallen Gottes zum höchsten Ziele aller Bestrebungen zu setzen, so sind zwey Fälle zu unterscheiden.
  • 1.
    Wenn ein Mensch, der im Christenthume von Jugend auf unterrichtet ist, (denn von einem solchen ist hier nur die Frage,) eine geraume Zeit hindurch gänzlich gewissenlos und in offenbaren Ausschweifungen der Ungerechtigkeit, Völlerey, Unzucht u. dergl. gelebet hat, und dann auf einmal in ihm die Vorstellung lebhaft wird, wie dieser Weg ihn zum Verderben führe und er dagegen durch Befolgung der Vorschriften der Religion zu wahrer Glückseligkeit gelangen könne, so wird allerdings auf eine so auffallende und feierliche Art seine ganze Gemüthsart umgeschaffen, daß nicht nur er selbst, sondern auch andre, welche sein Betragen beobachten, die Zeit seiner Bekehrung wissen können.
    Indeß ist auch hierbey zu bemerken, daß wenn gleich bey einem Christen die Besserung schnell und auf einmal zu erfolgen scheinet, solche dennoch lange vorher und allmählig vorbereitet worden ist. Die Sache verhält sich folgendergestalt: Der Mensch samlet nach und nach Einsichten und Beweggründe zum rechtmäßigen Verhalten ein: bald wird ihm diese, bald jene Wahrheit theils durch Unterricht, theils aus der Erfahrung klärer und gewisser. Es entstehen daher von Zeit zu Zeit Beun|d170|ruhigungen über sein regelloses Verhalten und einige Wünsche und schwache Vorsätze sich zu bessern. Dieses ist das, was die Mystiker in ihrer Sprache gute Rührungen oder das Anklopfen der Gnade an das Herz der Menschen zu nennen pflegen. So lange indeß die Beweggründe zur Besserung sich nur einzeln darbieten, und das Gemüth noch durch sinnliche Zerstreuungen im ernsthaften Nachdenken gestöret wird, so kommen die Vorsätze nicht zur Kraft. Wenn nun aber das Herz eines solchen Menschen durch irgend eine äußere Veranlassung, zum Beyspiel durch Unglücksfälle, merkwürdige Errettungen, Krankheit, schreckensvolles Ende eines geliebten Gefährten der Ausschweifungen, oder durch einen andern begünstigenden Vorgang in die Lage gebracht wird, daß es stillen Selbstbetrachtungen nachzuhängen sich schon bestimt findet, und dann ein Buch oder eine Predigt oder das Zureden eines redlichen Freundes alle in der Seele schon vorhandene Triebfedern zum Guten in Bewegung setzt, daß die einzeln eingesamleten Begriffe und Motiven zur Besserung insgesamt belebet werden, sich herzudrängen, und mit vereinter Kraft auf das Gemüth wirken, so erfolget auf eine auffallende Art die große Revolution auf einmal. Hierin ist demnach nichts magisches, wunderthätiges oder übernatürliches anzutreffen, sondern alles entwickelt sich den Veränderungsgesetzen der Seele ganz gemäß.
  • 2. Wenn ein Mensch von Jugend auf ehrbar, nach den durch die Erziehung in ihn gebrachten Fertigkeiten und nach natürlicher Ehrlichkeit und Gutherzigkeit gehandelt hat, so erfolget die höhere Verbesserung seiner moralischen Denkungsart nur allmählig und nach dem Maaße, nach welchem seine Einsichten in die wahre Rechtschaffenheit sich aufklären und vervollkomnen, und ein solcher Mensch kan also keinen besondern Zeitpunkt seiner Bekehrung angeben. In diesem Falle befinden sich die meisten unsrer Christen, deren Gewissen durch das Fehlerhafte in ihren Gesinnungen aus Mangel genungsamer |d171| Sachbegriffe von der Religion nicht beunruhiget wird, und die sich immer für gut genung halten, ob sie gleich sich mancherley Ausnahmen von den Regeln der Ordnung und Rechtschaffenheit erlauben, bis sich nach und nach ihre Einsichten verbessern, wenn sie so glücklich sind, gesunde moralische Predigten öfters zu hören.

§. 77.

Die Mißdeutung des Lehrsatzes, daß allein der Glaube und die Ergreifung des Verdienstes Christi auch ohne Werke gerecht und selig mache, hat nun in der lutherischen Kirche den Fleiß im gutes thun ungemein geschwächt, und die beseligenden Wirkungen des Geistes der christlichen Religion auf vielerley Art eingeschränkt und verhindert. Lutherus eiferte zwar sehr wider die guten Werke der römischen Kirche, aber wo er nicht polemisiret, dringt er überall auf wahre Geschäftigkeit im Guten; und es scheinet, als ob er die unglücklichen Mißdeutungen seiner Nachsprecher vorher besorget hätte und ihnen zuvorkommen wollen, indem er mehr denn hundertmal die Nothwendigkeit der guten Werke in seinen Schriften behauptet hat. Man lese darüber nur seinen Kommentar über den Brief an die Galater. Im 4ten Tom. der lateinischen jenensischen Ausgabe seiner Werke, Blat 109 schreibt er: Man muß von den guten Werken nur nicht sagen, daß man durch sie die Vergebung der Sünden bey Gott verdiene, sonst kann man nicht groß und rühmlich genung von guten Werken sprechen und sie nicht angelegentlich genung empfehlen. Desgleichen Blatt 165. Es ist nothwendig, daß rechtschaffene Prediger die Lehre von den guten Werken eben so sorgfältig einschärfen, als die Lehre vom Glauben. Dem ohnerachtet ist bald nachher die Religion als ein bloßer Gegenstand des Glaubens oder vielmehr der Spekulation behandelt, und auf allen Kanzeln über theoretische gelehrte Streitfragen polemisiret worden. Als hierauf der ehrwürdige Spener und seine Gehülfen die Lehre Jesu wiederum als eine Sache fürs Herz vorstelleten, und nach und nach alle gute Leute auf ih|d172|re Seite traten, verfielen ihre minder gelehrte und minder redliche Nachtreter auf eine mystische Sprache und auf Tändeleyen mit dem Körper Jesu, wodurch sinnliche Gefühle erreget, aber der Geist des Menschen wenig erleuchtet und gebessert ward. Nachher hat man sich in den Predigten in einem engen Zirkel von Worterklärungen über die theologischen Begriffe von Buße, Glauben und guten Werken, Rechtfertigung, Wiedergeburt, Natur und Gnade u. d. g. herumgedreht, so daß im ganzen Jahrgange oft nicht eine einzige umständliche und deutliche Anweisung zu irgends einer christlichen Tugend anzutreffen gewesen ist, wie so viele gedruckte Postillen und Andachtsbücher beweisen. Seit etwa 30 Jahren hat man hier und da angefangen, sich über mehrere Religionswahrheiten in den öffentlichen Reden zu verbreiten, auch moralische Vorschriften ausführlicher vorzutragen. Allein noch finden sich viele zum Theil es recht gut meinende Männer, welche moralische Predigten für unchristliche auch wol gar für heidnische Reden erklären. Sollten einige dieser Männer diese Schrift gewürdiget haben, sie bis hierher zu lesen, so hoffe ich, daß wir uns hierüber mit einander verständigen wolten. Zuvörderst bin ich mit euch, gutdenkende fromme Männer, vollkommen darüber einig, daß aller Vortrag einzelner Pflichten dem Menschen keine Kraft darbieten könne, solche vollständig auszuüben, und daß also die bloße Vorschriften der Moral keine Seligkeit hervorbringen, sondern daß vorher die ganze Gemüthsart eines Menschen umgeändert oder der Sinn Christi in ihm hervorgebracht seyn muß, wenn er christliche gute Werke verrichten soll. Ich gestehe ferner zu, daß der Geist des Christenthums oder wahre Liebe zu Gott nur eigentlich durch die theoretischen Wahrheiten von den durch Christum uns bekant gemachten guten Gesinnungen Gottes gegen uns, und von der Wohlthätigkeit aller seiner Vorschriften überhaupt, in den Menschen erwecket werden könne: denn es lässet sich nicht die Liebe zu Gott durch einen Befehl erzwingen, sondern sie muß aus anschauender Erkentniß der Liebenswürdigkeit Gottes entstehen. |d173| Allein solte dann nicht, wann wir mehrere Jahre hindurch diese erfreuliche Wahrheiten geprediget haben, endlich ein oder der andere unter unsren beständigen Zuhörern sich finden, der wirklich von der Liebe Gottes überzeuget worden wäre, selbst dankbare Liebe gegen Gott empfände, und nun von ganzem Herzen wünschte, Gott durch sein gesamtes Verhalten wohl zu gefallen, und Christo ähnlich zu werden? Und wenn ohnstreitig dergleichen Personen in allen christlichen Gemeinen anzutreffen sind, ist es denn nun nicht nöthig, daß wir sie ausführlicher unterrichten, wie sie in jeder Beziehung handeln müssen, um Gott zu gefallen? Wird denn ein Kind schon dadurch weise und glücklich, wenn es Vertrauen zu seinem Vater hat und geneigt ist, ihm in allen zu folgen? Was hilft alle seine Bereitwilligkeit zum Gehorsame, so lange es nicht weiß, was es von Stunde zu Stunde zum Wohlgefallen des Vaters thun und wie es sich in allen Beziehungen verhalten soll? Sehet da, meine Freunde, darum sind moralische Predigten nothwendig, um den Kindern Gottes, welche durch die Rathgebungen ihres Vaters gern weiser und vollkommner werden möchten, solche nun umständlicher bekannt zu machen, damit sie in allen besondern Verhältnissen ihres Lebens ihm wohlgefälliger werden, und sich seiner höhern Wohlthaten immer empfänglicher machen können, Röm. 12, 2. Eben dahin zielen die vielen praktischen Anweisungen und einzelnen Lebensregeln in den Reden Jesu, und in den Briefen seiner Apostel ab; und nach Gal. 1, 8. ist es doch unmöglich, daß Amsdorf und Muskulus ein anderes Evangelium zu verkündigen, von Gott bevollmächtiget gewesen seyn solten.
Bey dieser Gelegenheit fühle ich mich gedrungen, die Wunden unsrer Kirche aufzudecken, nicht um ihrer zu spotten, sondern meine Mitbrüder aufzufordern, sich zur Heilung derselben zu ermannen. Die Verächtlichkeit, womit man über moralische Predigten hergefahren ist, hat es veranlasset, daß selbst von den Predigern das Studium der christlichen Moral unglaublich vernachlässiget worden |d174| ist: obgleich in neuern Zeiten verschiedene große Männer in unsrer Kirche vortrefliche Systeme darüber geschrieben haben. Niemand kan dieses so sehr gewahr werden, als wer ein Theologe von Profession ist, was für unbestimte, verworrene, und zum Theil ganz falsche Begriffe über viele der wichtigsten Pflichten des Christenthums in den öffentlichen Lehrvorträgen angetroffen werden. Soll zum Beyspiel die Demuth empfohlen werden, so wird sie als eine Geneigtheit beschrieben, sich für den größten unter den Sündern, und für ganz nichtswürdig zu halten. Man beruft sich auch wol dabey auf Pauli Urtheil über sich selbst, 1 Tim. 1, 15. wo er sich den vornehmsten unter den Sündern nennet. Wenn man aber diese Stelle nur mit dem vorhergehenden im Zusammenhange, und mit 1 Cor. 15, 10. vergleichen wolte, so würde man erkennen lernen, daß die Demuth nicht darinnen bestehet, sich für schlechter zu halten, als man ist; sondern daß die Demuth eine Geneigtheit sey, sich seiner Unvollkommenheiten bewußt zu seyn, ohne die Vollkommenheiten, die man hat, zu verkennen. Denn Paulus, welcher sich darum den größten Sünder und den geringsten unter den Aposteln nennet, weil er vorher den Namen Christi verlästert und die Apostel verfolget hatte, verringert theils selbst die anscheinende Größe seiner Vergehung dadurch, daß er bemerkt, er habe es aus Unwissenheit gethan; theils erwähnet er auch seiner Talente und des treuen Gebrauches derselben, daß er mehr gearbeitet habe als alle übrige Apostel. In was für Aengstlichkeit versetzet man aber nicht den Christen, wenn man es ihm zur Pflicht macht, sich für den nichtswürdigsten unter den Menschen zu halten, und dieses Demuth nennet: da es doch der Fehler der Niederträchtigkeit ist, wenn man seinen eigenen Werth verkennet. So gehet es nun fast mit allen Pflichten; theils werden sie zum Nachtheile andrer Pflichten übertrieben, theils aus ganz falschen Gesichtspunkten vorgestellet, überall aber solche schwankende Begriffe davon dargeboten, daß bey dem anscheinenden Streite der Pflichten, der Christ mit aller Gewissenhaftigkeit oft thöricht und wider seine Wohlfart zu han|d175|deln veranlasset wird. Unbeschreiblich groß ist der hieraus täglich entstehende Nachtheil für die Christen. Man stelle sich nur eine Anzahl Kinder vor, welchen man täglich vorpredigte, wie gütig ihr Vater gegen sie gesinnet sey, wie sehr sie aus Dankbarkeit ihm in allem zu folgen verpflichtet wären, und wie glücklich sie dabey werden würden; denen man aber, wenn sie nun begierig wären zu wissen, wie und wodurch sie ihrem Vater wohlgefällig werden könnten, die väterlichen Vorschriften entweder gar nicht bekannt machte, oder falsche und mangelhafte Erklärungen darüber ertheilte: würden diese Kinder wol täglich weiser und vollkommner werden können? Wären unsre gemeine Christen selbst die Weisheitslehre Jesu zu erfinden geschickt, wozu bedürfte es einer Offenbarung? wozu wären so viele Ermahnungen zu einzelnen Pflichten in jeder Beziehung des Lebens in den apostolischen Schriften verzeichnet.

§. 78.

Ein anderer sehr großer Fehler der öffentlichen Lehrvorträge, welcher dem Zwecke unsres Amtes überaus nachtheilig wird, ist die fast allgemeine Gewohnheit auf den Kanzeln immer zu tadlen und niemals zu loben. Da, so viel ich weiß, diese üble Gewohnheit und ihr verderblicher Einfluß noch nicht öffentlich gerüget worden ist, so will ich ausführlicher zeigen, wie solches theils auf ganz falschen Gründen beruhe, theils wider das Beyspiel Jesu und der Apostel sey; theils dem Christen die großen innern Belohnungen, welche Gott mit dem Bewustseyn guter Gesinnungen zur Aufmunterung in der Tugend verknüpfet hat, beraube; theils auf mehr denn eine Art die volle Wirkung des Evangeliums und unserer Amtsbemühungen hindre.
1. Es liegen ganz verworrene und falsche Begriffe bey der üblichen Tadelsucht zum Grunde. Alle unsre guten Werke sind unvollkommen, das ist wahr; aber Gott fordert auch so wenig, als irgends ein menschlicher Vater, von schwachen unmündigen Kindern, mehr als aufrichtigen |d176| Willen und treuen Gebrauch der vorhandenen Kräfte, Einsichten und Gelegenheiten. Selbst fehlerhafte und verunglückende Versuche eines Kindes, gut zu handeln, sind väterlichen Augen bereits angenehm, und werden von vernünftigen Aeltern mit Beyfall bemerket und belohnt. Ja man mag in Absicht der natürlichen Kräfte des Menschen die Lehre des Augustins oder die Lehre der heiligen Schrift in seinem Systeme annehmen, so folget aus beiden, daß wir alle, auch noch so mangelhafte Aeußerungen des guten Willens unsrer Zuhörer, loben müssen.
  • a) Glaubt man mit Augustin, daß Gott alles Gute in dem Menschen in Absicht jeder Handlung wirken müsse: so ist es ja die größte Undankbarkeit gegen Gott, wenn man das Gute, was er im Menschen hervorbringet, verkennet oder für geringschätzig hält; und man ehret und preiset dagegen Gott und seine Gnade selbst, wenn man alle gute Gesinnungen, Vorsätze, Versuche und Handlungen der Christen in ihrem wahren Werthe vorstellet und rühmt. Doch vielleicht wird der Mensch nur getadelt, weil er den Wirkungen Gottes nicht gnugsamen Raum giebt, weil er widerstehet? Allein, meine Freunde, wisset ihr denn gewiß, daß alle eure Zuhörer immer widerstehen, und solten nicht wenigstens alle, in so fern sie nicht widerstanden und daher Gutes gethan haben, gelobet werden? Ich will mich einmal ganz in Augustins Theorie hineindenken, und die Sache durch ein passendes Gleichniß ins Licht setzen. Man nehme an, daß ein Kind schreiben lernen soll; der Vater verlanget nun, es soll ihm nur seine Hand lediglich überlassen und nicht widerstehen. Er fasset also die Hand des Kindes und führet sie: allein das Kind macht mit seiner Hand widerwärtige Bewegungen und daher geräth kein Buchstabe. Nach öfterm Erinnern und fehlgeschlagenen Versuchen überlässet endlich das Kind seine Hand so ziemlich der Regierung des Vaters, und nun komt ein zierlicher Buchstabe zum Vorschein. Sagt mir nun, Freunde, was würdet ihr in diesem Fall zu eurem Kinde sagen? |d177| Etwa: mein Sohn sey ja nicht stolz darauf, daß der Buchstabe so schön gerathen ist, du hast gar nichts dazu beygetragen, du kanst nichts, dein Vater hat ihn ganz allein durch seine Geschicklichkeit hervorgebracht; blos das Fehlerhafte daran ist deine Schuld, weil du hast mit schreiben wollen. Oder würde nicht jeder vernünftige Vater sagen: Siehe, mein Sohn, wie schön der Buchstabe aussiehet, diesmal hast du es recht gemacht; so schön wirst du bald selbst schreiben lernen, wenn du nur aufmerksam bist und mit deiner Hand immer meiner Führung folgest, es wird jedesmal immer noch schöner gerathen. Wolan, so redet denn auch eben so zweckmäßig auf den Kanzeln und saget wenigstens: Ich danke Gott allezeit, lieben Brüder, eurentwegen, so oft ich euer gedenke in meinem Gebet, daß ihr seine Gnade nicht vergeblich empfahet. Ich bemerke unter euch rechtschaffene Väter und Mütter, redliche Kaufleute, gutgesinnte, treue und fleißige Dienstboten etc. es geschiehet täglich in allen Häusern so vieles Gute, so viele unter euch geben die unverdächtigsten Beweise, daß sie sich vom Geiste Christi regieren, und Gottes Gnade in sich wirken lassen. Seyd dankbar gegen diese innere göttliche Wirkungen auf euch, und überlasset euch immer mehr denenselben. Sollte dieses nicht mehr Aufmunterung veranlassen, als das ewige Tadeln? und kan man fehlen, wenn man dem Apostel nachspricht? 1 Teßl. 1, 2 f. 2 Teßl. 1, 3 f.
  • b) Doch, meine Brüder, warum wolt ihr euch vom Augustin länger die Augen verbinden lassen, wenn ihr die Kanzel besteiget? denn in der That sehet ihr, so bald ihr die Augen eures Verstandes nur öfnet, mit völliger Gewißheit ein, daß der Mensch zu seinen guten Handlungen sich selbst bestimmen kan und muß, und daß er das Lob darüber so wol verdienet, als über seine Vergehungen den Tadel. Ich habe Predigten gehöret, in welchen auf das strengste und ausführlichste erwiesen ward, der Mensch könne gar nichts zu seinen guten Entschlie|d178|ßungen beytragen, alles was wir selbst wirkten sey verwerflich, und daher müßten wir alles Gute, was wir etwa thäten, Gott allein zuschreiben, und uns von allem Selbstruhm und Mitwirken ausleeren. Allein gleich nach vollendetem Beweise dieser Sätze und noch am Schluße derselben Predigt offenbarete es sich, daß der Redner von allem, was er erwiesen hatte, im Grunde nicht überzeugt war; so sehr er sich überredet haben mochte, es selbst zu glauben. Er dankte seiner Gemeine für einige freywillige Geschenke, womit sie ihre Liebe und Erkentlichkeit gegen seine Bemühungen in der verflossenen Woche an den Tag geleget hatten. Hierbey ward nun aber gar nicht gesagt, daß Gott allein das Gute gethan, und die Zuhörer nichts dazu beygetragen hätten: es wurde nichts davon erwähnt, daß alle ihre eigene Entschließungen verwerflich wären; auch keine Warnungen gegen den geistlichen Stolz und die Selbstgenügsamkeit beygefüget; sondern aller Dank und Ehre ward den gutgesinneten Leuten lediglich und allein zugeeignet, und ihnen noch überdies eine gewisse Belohnung dafür von Gott versprochen. Warum veränderte sich hier die Sprache des Predigers so sehr? Gewiß nicht aus Mangel der Redlichkeit, denn es war ein sehr gewissenhafter Mann, sondern weil er nun nicht mehr ans System dachte, sondern seine eigene Vernunft gebrauchte, die ihm sehr richtig sagte: um die Menschen im Guten aufzumuntern, muß man jede Aeußerung des guten Willens, jeden auch unvollkommnen Versuch gut zu seyn, loben. So lasset euch denn, meine Brüder, nicht mehr durch menschliche Lehrformeln verblenden, sondern brauchet euren gesunden Verstand und eure eigene natürliche Vernunft so ganz und völlig im Dienste eures Gottes, wie ihr sie mit Nutzen in den Angelegenheiten eures eignen Interesse anwendet.
2. Christus und die Apostel haben jede gute Gesinnung und jede Aeußerung derselben gelobt. Christus rüh|d179|met viele wegen ihres Vertrauens gegen ihn, Matth. 8, 10. K. 15, 28. K. 9, 22. Marc. 10, 52. Luc. 7, 50. K. 8, 48. K. 17, 19. K. 18, 42. den Nathanael wegen seiner Rechtschaffenheit, Joh. 1, 47. die Maria wegen Erweisung ihrer Liebe gegen ihn, Marc. 14, 6. den Simon wegen seiner Freimüthigkeit und Standhaftigkeit, Matth. 16, 17. 18. wenn die Jünger sich wegen ihrer guten Gesinnungen und deren Erweisungen rühmten, tadelt er sie deswegen nicht, sondern versichert ihnen Belohnung, Matth. 19, 27. und wenn auch das Vollbringen der guten Vorsätze fehlte, lobet er doch den guten Willen und entschuldiget, anstatt zu schelten, Matth. 26, 41. Marc. 10, 17 f. K. 12, 34. Paulus lobt durchaus die Gemeinen zu Philippen und zu Thessalonich, wie auch den Timotheus, Titus und Philemon, in den an sie gerichteten Briefen; und in allen seinen Schriften rühmet er das vorzügliche Verhalten einiger Glieder der Gemeine namentlich, ohne eine Warnung gegen den geistlichen Stolz dabey für nöthig zu halten. Eben dieses thut der Verfasser des 2ten und 3ten der Briefe, die dem Johannes zugeeignet worden.
3. Man raubet dem Christen die unmittelbare eigenthümliche Belohnung, welche Gott mit dem Bewußtseyn guter Gesinnungen zur Aufmunterung in der Tugend verknüpfet hat, wenn man statt das Gute zu loben, nur auf die Mängel desselben siehet und diese immerfort tadelt. Was ist denn das Zeugniß des Geistes Gottes im Herzen? ist es nicht die aus dem Bewußtseyn Gott wohlgefälliger Gesinnungen entstehende Zuversicht zu ihm? Der Beyfall unsres Gewissens und die daraus erwachsende Werthschätzung unsrer selbst ist die eigenthümliche natürliche Belohnung, welche Gott der Tugend bestimt hat. Wie soll aber der Christ diese genießen? Wie soll in ihm die Versicherung, daß er ein Kind Gottes sey, entstehen, wenn wir immerfort alles für schlecht, für nichtswürdig erklären, was er thut? Aus den Früchten, sagt Christus, soll die Güte des Baums erkannt werden, und aus den Erweisungen der |d180| Menschenliebe sollen, nach Johannis Ausspruch, Christen von sich selbst wahrnehmen, ob sie mit Gott vereiniget sind. 1 Joh. 3, 21. 24. K. 2, 3 f. Tadeln wir unaufhörlich die Früchte, finden wir das Betragen unserer Kirchkinder immer verwerflich, so rauben wir ihnen alle wahre Gründe der Freudigkeit zu Gott und allen Muth zur Tugend. Lobten wir dagegen jeden Versuch im Guten; erweckten wir sie zur Aufmerksamkeit auf die erhabene Freude, welche der Beyfall unsres Gewissens gewährt; sprächen wir ihnen mehr Muth durch Billigung ihrer Bestrebungen ein, warlich wir würden bald bessere und seligere Christen haben.
4. Der tadelnde mürrische Ton in Predigten hindert den Zweck unsres Amtes auf mehr denn eine Art. Dahin gehöret:
  • a) So oft der Prediger seinen Vortrag mit allgemeinen Beweisen anfängt, und zum Beyspiel saget: Es ist traurig, wenn man das Betragen unsrer heutigen Christen beobachtet, so wenig Redlichkeit und thätige Menschenliebe wahrzunehmen etc. so denket gewiß keiner der Zuhörer an sich, sondern an irgends einen seiner Nachbarn, der nach seiner Meinung der falsche und lieblose Mensch ist, welcher diesen Verweis verdienet. So bald aber der Prediger sagt: ich freue mich, geliebte Zuhörer, daß ich täglich Beweise von Redlichkeit und christlichen mildthätigen Gesinnungen bey vielen unter euch wahrnehme; und ich zweifle nicht, daß auch manches Gute im Verborgenen von euch ausgeübet wird, was ich nicht erfahre: so wird jeder aufmerksam und begierig sich so vieles von dem Vortrage selbst zuzueignen, als er nur kan; und dann ist es leicht in das sich uns entgegen öfnende Herz den Samen der Tugend zu streuen, und wo er vorhanden ist, ihn zu befruchten. Gesetzt auch wir äußerten größeres Vertrauen zu unserer Gemeine, als die wenigsten Mitglieder verdienten; so lehret doch die Erfahrung, daß kein wirksamers Mittel ist, Leute, die noch unschlüssig sind, wie sie sich bestimmen wollen, zu guten Entschließungen aufzumuntern und da|d181|rin zu befestigen, als wenn man recht vieles Zutrauen zu ihnen äußert.
  • b) So oft wir allgemein oder zu unbestimmt die Denkungsart und das Verhalten unsrer Zuhörer tadeln, machen wir die besten Gemüther muthlos und schwächen allen eigenen Fleiß in der Heiligung. Denn wer sich bewußt ist, mit aller Redlichkeit zu handeln, und dann doch immer Vorwürfe hören muß, verlieret nothwendig alle Lust sich weiter Mühe zu geben. Bey einem andern Theile der Zuhörer, welche noch gleichgültig gegen ihr Gewissen sind, schwächen wir dagegen die Beweggründe sich zu bessern: indem dergleichen Leute auf die Gedanken kommen, es müsse doch wol nicht möglich seyn, so gut werden zu können als der Prediger es verlange; weil doch noch keiner in der Gemeine so geworden sey: und nun denket jeder derselben, er habe nicht eben nöthig der erste zu seyn, welcher den mühseligen Versuch wagen solte. Wenn wir dagegen loben, so beweisen wir dadurch zugleich die Möglichkeit und Wirklichkeit wahrer Christen, welche sich der Lehre Jesu gemäß verhalten; und dieses ermuntert andre zu ähnlichen Versuchen. Diejenigen aber, welchen ihr Gewissen erlaubet, sich das Lob des Predigers zuzueignen, werden aufs neue ermuntert, sich immer mehr Christo ähnlich zu bilden; und überhaupt wird das Vertrauen und die Zuneigung einer Gemeine gegen ihren Lehrer ausnehmend vermehrt, wenn sie bemerket, daß er als ein liebreicher Vater Vertrauen zu ihren Gesinnungen und Aufmerksamkeit auf das Gute, was sie zu thun suchen, beweiset.
  • c) Wenn wir uns an einen mürrischen tadelnden Ton in unsern Vorträgen gewöhnen, so verstärken wir bey unsern Zuhörern die menschenfeindliche Geneigtheit nur immer auf die Fehler des Nächsten zu sehen, und das Gute desselben zu verkennen. Hiedurch vermehren wir auch insonderheit bey heuchlerischen Leuten den geistlichen Stolz, die Verachtung anderer und den Hang zum Splitterrichten, wovon wir leicht selbst, so bald wir ihre |d182| Fehler berühren, der Gegenstand werden. Die Tadelsucht ist unter den Christen weit stärker als unter allen andern Religionsverwandten; unter den Protestanten gemeiner und spitzfindiger, als unter den Katholiken, und nirgends übertriebener als unter den Pietisten. Denn jemehr in den öffentlichen Lehrvorträgen theils die Anforderungen und Vorschriften der Religion überspannet, theils alle menschliche Handlungen von ihrer fehlerhaften Seite vorgestellet und deren Unvollkommenheiten gerüget werden; desto größere und allgemeinere Geneigtheit zum Splitterrichten und unbilligen übertriebenen Tadeln muß sich in der Gemeine verbreiten. Wenn wir dagegen das Gute, so viel wir dessen gewahr werden, (und warlich es ist dessen unglaublich viel mehr als man gewöhnlich bemerkt,) an unsern Zuhörern loben, und solches ins Licht setzen, so gewöhnen wir unsere Gemeine zur Fertigkeit auf das Gute mehr, als auf die Fehler des Nächsten zu merken; und eben dieses ist die Grundlage der Menschenliebe und aller göttlichen Tugenden, welche das Christenthum als das wahre Mittel, zu gesellschaftlicher Glückseligkeit zu gelangen, empfiehlt.
  • d) Wenn wir ewig über unsre Gemeine Unzufriedenheit äußern, was sollen, sagt mir theureste Amtsbrüder! die Feinde der christlichen Religion von ihrer Göttlichkeit und Wirksamkeit denken? Wenn ein Ungläubiger in die Predigt eines Mannes komt, der 20, 30, 40 Jahre an einer Gemeine gestanden hat, und der seine beständigen Zuhörer doch noch durchaus für schlechte ungebesserte Menschen erklärt, welche noch keine einzige Tugend in einigem Grade besitzen, was soll er für Vertrauen zur seligmachenden Kraft des Evangeliums fassen? Aber lasset ihn einer Predigt beywohnen, darin wir nach der Wahrheit eine Anzahl rühmlicher Handlungen unsrer Christen erzehlen; nicht eben heroische, welche die Posaune des Gerüchts füllen, sondern die weniger bemerkbaren edlen sanften Bestrebungen der häuslichen Frömmigkeit, die in den Familien und Nachbarschaften stille Glückse|d183|ligkeit des gesellschaftlichen Lebens verbreiten; wird er alsdann sich nicht weit eher gereizt finden, ein Mitglied einer solchen Gemeine zu werden, worin es so gute und ehrwürdige Personen giebt? Ich glaube, daß hierwider niemand etwas einwenden kan, als etwa ein solcher, welcher von Kindheit an nicht eher sich entschlossen hat, etwas Gutes zu thun, als bis er hart darüber angeredet worden ist; denn bey allen andern muß das Selbstgefühl für die Wahrheit meiner Behauptungen sprechen.
Ich kenne durchaus keine stolzere und selbstsüchtigere Leute, als die, welche sich einbilden, sie hätten sich von aller Eigenheit und Selbstwirken ausgeleert. Sie halten ihre eigene Träumereien bis zu den offenbarsten Eigensinnigkeiten für Wirkungen des Geistes Gottes und sich selbst voll Eigendünkel, bey dem Scheine der größten Demuth, für unverbesserlich klug und heilig. – Unmöglich ists, den natürlichen Trieb zur Selbstschätzung und zur Ehre auszurotten, und er ist höchst wohlthätig, so bald er geheiliget wird, das ist, die Richtung bekomt, daß man seine Ehre in wahrhaftig ehrwürdigen Gesinnungen und Handlungen setzet. Dann ist es erlaubt und pflichtmäßig von sich groß zu denken. Nach Röm. 2, 7. wird Gott eben denen, die nach Preis, Ehre und Unsterblichkeit getrachtet haben, ewige Glückseligkeit zutheilen.

§. 79.

Ueber die fehlerhafte Vorstellung der Aussichten in die Ewigkeit würde ich hier gar nichts erwähnen, weil es meine Absicht nicht ist, spekulative Irrlehren in dieser Schrift zu rügen: wenn nicht die gewöhnliche, Grausen und Entsetzen erregende Hypothese von ewigen Höllenstrafen, so gerade zu dem Zwecke und Geiste der Religion Jesu entgegen wäre, und dadurch alle reine Liebe zum Vater der Geisterwelt verhindert würde. Es ist hier unnöthig alle Schriftstellen, welche dahin gezogen werden, richtiger zu erklären, da schon für Leute, die nur sehen wollen, genungsames Licht darüber verbreitet ist. Ich beziehe mich also hier bloß auf meine weitläuftige Entwickelung der Begriffe von göttlichen Strafen und deren Absicht, und von der göttlichen Ehre, |d184| welche §. 56. bis 65. in diesem Abschnitte vorgekommen ist, und bemerke nur noch:
1. Wenn man annehmen wolte, Gott würde einige Menschen alle Ewigkeiten hindurch, ohne einige wohlthätige Absicht, blos aus innerem Abscheue und Grolle gegen die Sünde strafen, weil er durchaus das moralische Böse vor seinen Augen nicht leiden könte; so würde nach der gemeinen Theorie das moralische Uebel nicht verringert sondern vermehret werden, weil man dabey zugleich annimt, daß sich die Verdamten niemals bessern werden; folglich würde Gott sich immer mehr über sie ärgern und erzürnen, und die physischen Kräfte der Verdamten immerfort vermehren müssen, damit sie immer größere Quaalen aushalten könten: und so würde sich die Bosheit der Leute und der Grimm Gottes in Ewigkeit in einander multipliciren, und Gott, anstatt das Böse und die Gründe seiner innern Beunruhigung wegzuschaffen, sich immer mehr Verdruß zuziehen. Wer es nicht fühlen oder nicht einsehen kan, wie sehr diese Vorstellung die Majestät Gottes verunehre, dem ist es zu verzeihen, wenn er sie blindlings für wahr hält.
2. Solte Gott um des Beyspiels willen ewig einige Menschen quälen müssen, so ist nach der gemeinen Theorie abermals nicht abzusehen, wer durch diese exemplarische Strafen gebessert werden solle: denn nach der kirchlichen Meinung soll kein Gottlosverstorbener sich dort mehr bekehren können, sondern die Gnadenzeit mit diesem Leben verlaufen seyn: die vollendeten Gerechten aber bedürfen solcher Schreckmittel zur Beharrung in guten Gesinnungen, bey welchen sie sich höchst glückselig fühlen, nicht, und sind auch, wie die Kirche glaubt, vor aller Gefahr des Rückfalles in Sünden gesichert. Also können ewige exemplarische Höllenstrafen keinen mehr bessern und keine wohlthätige Absichten dabey ferner statt finden. Aber sie können auch nicht die Tugend und Seligkeit der vollendeten Gerechten vergrößern; denn Beyspiele des Zorns und der Rache, welche Gott an unsern Mitbrüdern und seinen eigenen Kindern ausübt und uns zur Schau stellet, können nur Schrek|d185|ken und Schwermuth, niemals aber Liebe, Ehrfurcht und Freudigkeit gegen den allgemeinen Vater der Geister hervorbringen, und müssen nothwendig allen gefühlvollen sanften Gemüthern ihre Seligkeit ausnehmend vermindern.
3. Wenn Gott einer Seele gänzlich alles Wohlwollen entziehen solte, so müßte sie schlechterdings nicht zu verbessern seyn. Es müßte also die unendliche Weisheit entweder schon hier alle mögliche wirksame Verbesserungsmittel bey jedem verloren gehenden Menschen erschöpfet haben, welches wider die Erfahrung ist, oder Gott müßte voraus sehen, daß ein solcher Mensch in keiner einzigen Verbindung und in keiner möglichen Reihe der Veränderungen moralisch besser werden könne, noch geworden seyn würde, er möchte ihn in welchem Zeitalter, unter welchen Nationen, und unter was für Umständen man auch immer wolle, haben gebohren werden lassen. Hieraus aber würde folgen, daß also in der Natur eines solchen Menschen, welcher unter gar keinerley Bedingung und in keinem Zusammenhange gebessert werden kan, oder in der ursprünglichen Beschaffenheit und dem Verhältnisse seiner Kräfte gegen einander, der Grund der Unmöglichkeit einer Ausbesserung anzutreffen wäre; welches abermals, da Gott der Urheber der Natur ist, nicht gedacht werden kan. Man wende sich also, wohin man will, so wird man Widersprüche mit den reinen Begriffen von den väterlichen Gesinnungen Gottes antreffen. Nur denenjenigen, welche an dergleichen Widersprüche in ihrem Systeme gewöhnet sind, und dadurch gar nicht beunruhiget werden, wenn sie sich Gott eben so unendlich grausam als gütig denken, können dergleichen Lehrsätze mit dem Geiste Christi überein zu stimmen scheinen.
4. Die reine Lehre der Schrift, wie sie sich mir nach aufrichtiger Untersuchung vorgestellet hat, ist hierüber diese: Nicht nur in dem gegenwärtigen Leben, sondern auch in jeder andern gedenkbaren Scene des Daseyns, kan kein endlicher Geist zu höherer Glückseligkeit gelangen, wenn er nicht Gott über alles liebt, das ist, von der Wohlthätigkeit der |d186| göttlichen Gesinnungen, Absichten und Verfügungen überzeuget ist, und daher auch die Regeln der Ordnung in dem Plane Gottes genehmiget und befolgt: denn so lange dieses nicht ist, bleibt Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen, und Furcht wegen des zukünftigen der herrschende Affekt des Gemüths, und der Mensch handelt seiner Wohlfart zuwider. Eben so kan kein gesellschaftliches Wesen ohne Rechtschaffenheit und allgemeines Wohlwollen gegen seines gleichen zu höherer Wohlfart hinaufsteigen, weil gesellige Geister nur durch gegenseitige liebreiche Begegnung und wohlthätige Dienstbeflissenheit jeden Ort des Aufenthalts sich zum Himmel anbauen können und müssen. Daher ist für Menschen, welche durch habituelle Hartherzigkeit und menschenfeindliche Neigungen zu allen gesellschaftlichen Freuden unfähig sind, nirgends ein Himmel, und diese Wahrheiten ändert keine Ewigkeit ab.
5. Uebrigens kan ganz rohen Leuten die moralische Unseligkeit, welche aus Lieblosigkeit und Falschheit entspringt, freylich nicht anders als unter allerley Bildern eines Feuers, das nicht verlischt, eines Thal Hinnoms und dergleichen, anschauend gemacht werden; welches aber so wenig in der heiligen Schrift nach dem Buchstaben zu verstehen ist, als wenn gesagt wird, daß wir ewig in Abrahams Schoß sitzen, oder mit den Altvätern zu Tische liegen werden.