|a192| Sechster Abschnitt.
System der Glückseligkeitslehre des Christenthums.

§. 80.

Nachdem in den vorhergehenden Abschnitten bereits ins Licht gesetzet worden ist, was eigentlich menschliche Glückseligkeit sey; was für Anlagen in unsrer Natur und Verhältnissen zu derselben angetroffen werden; durch welche Einschränkungen und Hindernisse eine äußere Hülfe unserm selbstthätigen Bestreben nach höhern Graden derselben nothwendig gemacht wird; und wie die Anweisungen der christlichen Lehre diese Hülfe einzelnen Menschen und ganzen Nationen auf das vollkommenste darbieten; und nachdem nun auch im letztern Abschnitt die dem Christenthum beygemischten Hypothesen älterer und neuerer Gelehrten davon abgesondert und die daraus entstehenden Mißverständnisse gehoben worden sind: so läßet sich nun der Grundriß zu einem vollständigen System der Glückseligkeitslehre Jesu, wie solche in den Schriften der unmittelbaren Schüler desselben vorgetragen ist, ohne Schwierigkeit entwerfen. Ich verstehe unter einem System der christlichen Glückseligkeitslehre weiter nichts als einen solchen deutlichen, bestimmten und bündigen Vortrag, der dazu gehörigen Hauptwarheiten, durch welchen jederman in den Stand gesetzt wird, die Zusammenstimmung derselben unter einander und zu einem gemeinschaftlichen Zweck klar zu übersehen, und sich vermittelst dieser Uebereinstimmung, als dem Hauptmerkmal der Wahrheit, durch seinen eignen Verstand eine zur Annehmung und Befolgung derselben hinlängliche Ueberzeugung davon |a193| zu verschaffen. Ein solches System muß nach den verschiednen Bedürfnissen der Menschen auf eine doppelte Art entworfen werden, wenn man einer ganzen Nation im Fortgang zu höherer Wohlfart dadurch förderlich seyn will. Denn es hat nicht nur zu den Zeiten der Apostel eine zwiefache Gattung der Menschen gegeben, sondern giebt dergleichen auch in unsern Tagen; nemlich einige fragen nach Weisheit, andre wollen Zeichen und Wunder sehen, wenn sie glauben sollen.
  • 1. Unter denen, die nach Weisheit fragen, verstehe ich diejenigen, welche ihre Geisteskräfte so geübt haben, daß sie das wahre und falsche aus innern Merkmalen, und aus der Uebereinstimmung mit allgemeinen Begriffen zu beurtheilen die Fertigkeit haben, und welche daher bey dem Erkentniß der Religion aus innern von Autorität unabhänglichen Gründen überzeugt seyn wollen. Für diese ist es nöthig, ein System der christlichen Philosophie zu entwerfen, welches keine Geschichtswahrheiten voraussetzt, sondern durchaus in sich selbst, und auf allgemeine Vernunftwahrheiten gegründet ist.
  • 2. Unter die Classe derer, welche Zeichen und Wunder sehen müssen, wenn sie glauben sollen, gehört der große Haufe der Menschen, ja selbst viele von denen, die sich Gelehrte nennen; welche überhaupt wenig abstrakt, sondern größtentheils nur konkret, wenig deutlich sondern sinnlich, mehr durch die Einbildungskraft, als durch den Verstand vorzustellen und zu denken aufgelegt sind: welche nicht aus dem Zusammenhange allgemeiner Begriffe, sondern auf Autorität ihre Ueberredungen und Meinungen gründen, und durch Vorstellung einzelner Fälle und durch Erzählungen leichter als durch allgemeine Lehren zu klaren Sachbegriffen gelangen; wenn sie gleich sonst viel tiefsinnig scheinende Wörtererkentnisse bisweilen memorirt haben. Für |a194| diese ist zum Erkentniß und zur Ueberzeugung von den höhern Verstandeswahrheiten der Religion eine Einkleidung derselben in Geschichte nothwendig, theils weil ihnen hierdurch die Vorstellung derselben konkreter dargeboten werden, und die Einbildungskraft etwas hat, woran sie sich halten kann: theils weil bey Leuten die auf Autorität mehr als auf eigne Vernunftschlüsse bauen, und also nur durch Glauben im logischen Verstande, ihre Einsichten aufsamlen; die Geschichte der natürlichste Gegenstand des Glaubens ist, als wobey alles auf der Autorität der Zeugnisse beruhet. Für diesen ungleich größern und daher respectabelen Theil jeder Nation muß daher die Glückseligkeitslehre des Christenthums in Geschichte eingekleidet und eine Art des historischen Systems davon aufgeführet werden.

§. 81.

Als ein Grundriß zu einem vollständigen System über die Philosophie des Christenthums kann folgender kurzer Vortrag der Hauptwahrheiten der Lehre Jesu angesehen werden:
  • 1. Gott, der Urheber dieser ganzen vorhandnen Welt und aller darin befindlichen Dinge ist ein Geist von dem allerhöchsten und vollkommensten Verstande. In ihm wechseln nicht wie bey uns klare und dunkle Vorstellungen ab, sondern alles ist vor ihm beständig helle, das Gegenwärtige, das Vergangne und das Zukünftige nach allen seinen Theilen und Beziehungen derselben gegen einander. Sein Character ist die großmüthigste und uneigennützigste Güte; denn da er selbst die Quelle alles Guten ist und nichts bedarf, so findet er blos sein Vergnügen darin, außer sich empfindsame Wesen hervorzubringen und ihnen wohl zuthun. Da Gottes Güte durch den vollkommensten Verstand |a195| in ihren Erweisungen geleitet und durch eine allgewaltige Kraft, der nichts widerstehen kann, unterstützt wird; so ist sie die heiligste gerechteste Güte, deren Wirkung durchaus die besten und vollkommensten, so wol für das Ganze, als für jeden Theil desselben sind. Die scheinbaren Uebel in der Welt entstehen aus den nothwendigen Schranken alles endlichen, welches an sich keiner unendlichen Vollkommenheit empfänglich ist. Und wie in einem großen Hause nicht alle Gefäße zu einem gleich edlen Gebrauch bestimmt, oder am menschlichen Körper nicht alle Glieder Augen seyn können; aus dieser Mannigfaltigkeit der Theile aber die Vollkommenheit des Ganzen erwächst: so entsteht auch aus den verschiednen Arten und Graden der Realitäten, welche Gott einzelnen Naturen zugetheilt hat, eine weit größere Vollkommenheit und Glückseligkeit durch die allgemeine Zusammenstimmung der verschiedenen Wirkungen aller einzelnen kleinen und größern Kräfte der endlichen Dinge. Aber wir stehen nicht auf einem so erhabenen Standpunkt, aus welchem wir die ganze Stadt GOttes übersehen und die Folgen aller Veränderungen Jahrtausende hindurch in ihrem Zusammenhange durchschauen könnten. Jedes Kind findet an den weisesten und wohlthätigsten Maaßregeln seines Vaters vieles zu tadeln, es verehret sie aber dankbar, so bald es ein Mann wird, wir sind jetzt im Alter der Kindheit. Apostg. 17, 24 f. Joh. 4, 24. Jak. 1, 17. 1 Tim. 6, 15 f. 1 Cor. 12, 14 folgg. K. 13, 9 und 12.
  • 2.
    Da Gott alle Naturen der Dinge eingerichtet, die Grade ihrer Kräfte bestimmt, die Gesetze ihrer Thätigkeit festgestellt, und sie in diejenige Verhältnisse gegen einander gesetzt hat, nach welchen sie auf einander wirken, und die ganze Folge dieser gegenseitigen Wirkungen regelmäßig ununterbrochen fortgehet: so kann er mit ohnfehlbarer Gewißheit alle Veränderungen der Geister |a196| und Körperwelt voraus übersehen und daher geschieht nichts in der Welt ohne sein Vorherwissen und Genehmigung. Es giebt demnach eine göttliche Vorsehung, vermöge welcher nicht nur für alle Gattungen der Wesen, sondern für jedes einzelne Geschöpf und alle desselben kleinste Bestimmungen und Veränderungen dergestalt im voraus gesorgt ist, daß alles zu desselben möglichsten Besten in Absicht der ganzen Zeit seiner Dauer abzielt, und mitwirkt. Ueberall läßt sich auch keine Erhaltung, Ordnung und Regierung eines aus vielen einzelnen Theilen zusammengesetzten Ganzen ohne Aufsicht und Fürsorge für alle einzelne Theile, woraus das Ganze bestehet denken; indem wer zum Beyspiel für die Gebäude einer Stadt sorgen soll, unmöglich anders die Erhaltung der Stadt überhaupt bewirken kann, als in so fern er für jedes einzelne Haus und dessen einzelne Theile das nöthige veranstaltet. Die allgemeine Fürsorge eines Königes für eine Armee würde ohne allen Erfolg seyn, wenn nicht durch die Menge der untergeordneten Befehlshaber für jeden einzelnen Soldaten Sorge getragen würde, daß jeder seine Nahrung, Kleidung, Quartier und seinen täglich angewiesenen Posten erhielte. Matth. 6, 25. f. K. 10, 29 f.
    (Ob Gott bey Versorgung und Regierung der Welten sich erhabner Geister zu Geschäftsträgern bediene, so wie er zur Beförderung der äußern Wohlfart der Völker Fürsten, Unterobrigkeiten und Väter geordnet hat, läßt sich aus dem Unterricht Christi, der sich nach den Vorstellungen seiner Zuhörer zum öftern gerichtet hat, nicht mit Gewißheit entscheiden, indem die Juden bereits Schutzgeister glaubten, Matth. 18, 10. wenigstens wird es nirgends zu einem Lehrpunkte der christlichen Religion gemacht. Gewiß ist, daß Gott nicht aus Bedürfniß untergeordnete Mittelspersonen anzustellen nöthig hat, und es also an sich kei|a197|ner Obrigkeiten bedürfte, wenn Gott unmittelbar uns regieren wollte. Es hat ihm aber, wie die Erfahrung lehret, gefallen, daß Menschen von Menschen versorgt, unterrichtet und regieret werden sollen; und also ist es analogisch gedenkbar, daß er auch Unterregenten ganzer Weltkörper und Sonnensysteme angestellet hat. Gewiß ist, daß sich kein erhabneres und seligeres Geschäft und keine fruchtbarern Gelegenheiten Geisteskräfte und göttliche Tugenden zu üben für Geister höherer Ordnungen gedenken lassen, als wenn Gott ihnen vergönnte Werkzeuge seiner Regierung über ganze Menschengeschlechter und Geisterfamilien zu seyn. Hierdurch würde zugleich ein allgemeinerer Zusammenhang des Geisterreichs nach dem wahrscheinlichen Stufengefolge der vernünftigen Wesen ersichtlich, und für thätige zur Aehnlichkeit mit Gott hinanstrebende Menschenfreunde eine Aussicht zu dereinstigen sich immer erweiternden Umkreisen ihrer Wirksamkeit und Wohlthätigkeit eröfnet. Allein diese Hypothese ist nicht für Seelenmenschen, die allzu leicht auf abergläubische Einbildungen von Erscheinungen und Eingebungen der Schutzgeister und allerley Schwärmereyen verfallen würden, und daher soll dis nur hier für die Studierstube der Gelehrten hingeschrieben seyn.)
  • 3. Damit der Mensch alles von Gott ihm vorbereitete Gute im vollesten Maaß geniesse, und seines Lebens möglichst froh werde, ist nun nichts weiter nöthig, als daß er durch die Ueberzeugung, daß alle Verfügungen Gottes überhaupt, und in Absicht unsrer eignen Person insonderheit unverbesserlich gut sind, sich zuvörderst zu einer gänzlichen Zufriedenheit mit seinem gegenwärtigen Zustande und zum getrosten Muth in Absicht der Zukunft erwecke, und alle von ihm selbst nicht abhängende Veränderungen seiner Tage der Einrichtung einer höhern Weisheit mit völliger Beruhigung |a198| in ihren vortheilhaften Ausgang überlasse: hiernächst aber auch den Plan Gottes und alle Regeln der Ordnung desselben genehmige, und geneigt werde, dieselben ohne Ausnahme zu befolgen. Da nun der allgemeine Vater allen Menschen gleich wohl will, und es sein Plan ist, daß keiner sich selbst eine merkliche Wohlfart ohne Beyhülfe andrer Menschen verschaffen kann; so ist der wahre Weg seine dankbare Liebe gegen Gott an den Tag zu legen, und zugleich sich die größte gesellschaftliche Wohlfart zu verschaffen, daß man allen Menschen aufrichtig wohlwolle, mit ihren Fehlern Nachsicht habe, ihnen mit Achtung, Dienstbeflissenheit und Freundschaftsbezeugungen zuvorkomme, und also mit Gott zu einem Zweck wirke. Hiervon ist nun der nächste Erfolg, daß man in sich selbst von aller Unruhe und Erniedrigung, welche aus Falschheit, Verstellung, Neid und andern ungeselligen menschenfeindlichen Neigungen entstehet, frey bleibt, sich in sich selbst bey edlen wohlthätigen Gesinnungen groß und achtungswerth fühlt, und bey diesem heitern mit sich selbst zufriednen Herzen zu allen Freuden des Lebens weit aufgelegter, und selbst gegen sinnliche Eindrücke des angenehmen und schönen der Natur ungleich empfindsamer ist. Eben so belohnend sind die weitern natürlichen Folgen dieser göttlichen Denkart, indem alle mit uns in Verbindung stehende Menschen, vermöge der allgemeinen Begehrungsgesetze, denjenigen, welcher ihnen wohlwill und mit Achtung und Liebeserweisung zuvorkommt, gegenseitig wohlwollen und schätzen; dem, welcher ihre Fehler entschuldiget, gern wieder Schwachheiten übersehen, und ihn vertheidigen; und Diensterweisungen mit Gegendiensten erwiedern. So bald aber ein Mensch durch edle Menschenliebe alle Feinde, Neider und Spötter entwafnet, und sich eine allgemeine Achtung und Zutrauen durch Rechtschaffen|a199|heit, und warme Theilnehmung an dem Wohl andrer verdient hat, so ist er in derjenigen Lage, darin ihm die größte Summe des ihm nach seinem Standpunkt nur möglichen Guten in dem reichlichsten Maaß von allen Seiten zu theil wird. So entsteht aus religiösen Gesinnungen wahre allgemeine und feste Tugend, und aus dieser immer wachsende Wohlfart und Seligkeit Matth. 22, 37 f. K. 6, 12. K. 5, 44 f. Röm. 12, 10. 1 Joh. 4, 16. 20. 21. Matth. 5, 5 f.
  • 4. Wenn der Mensch stirbt, so wird blos das Werkzeug seiner bisherigen äußern Empfindungen und seiner Wirksamkeit auf die Körperwelt abgeändert. Die gröbern fremden Theile, welche unsern ursprünglichen Schematismus angeschwängert und ausgedehnet haben, werden aufgelöst und wieder abgesondert, um in das Pflanzen und Thierreich zurück zu kehren, aus welchem wir sie zu unsrer Nahrung entlehnt hatten. So wie ein Samenkorn erstirbt, und verweset, und doch der darin enthaltene Keim eben hierdurch zu seiner neuen Entwickelung geschickt gemacht wird, so soll auch nach der Zerstörung unsers groben Körpers, der darin schon liegende Grundstof zu einem neuen Empfindungswerkzeuge eine weitere Ausbildung erhalten. Wie nun die Anschwängerung des Grundkeims zu dem gegenwärtigen Körper durch die Erzeugung von unsern Aeltern, denselben zu einem geschickten Werkzeuge gemacht hat, viele Erkentnisse, von außen einzusamlen und auf die uns umgebende gröbern Körper zu wirken; so wird die abermalige neue Entwickelung und Anschwängerung desselben uns in den Stand setzen auf eine leichtere und ausgebreitetere Art Erkentnisse einzusamlen und mit mehrerer Schnellkraft äußerlich thätig zu seyn. Die Beschaffenheit unsrer Empfindungen in einer andern Art des Körpers, läßt sich von uns schlechterdings noch nicht vor|a200|stellig machen. Ein Blindgeborner kann, wenn man ihm auch noch so viel Beschreibungen vom Licht und von der Empfindung des Sehens vortrüge, doch niemals einen Begrif von dieser Sinnesart bekommen: und es kann daher noch unzählig viele Sinnesarten geben, davon sich keine Idee formiren läßt, so lange man noch nichts dem ähnliches selbst empfunden hat. Wir müssen uns daher an das allgemeine halten, welches darin besteht, daß die unleugbare außerordentlich grosse Anlagen des Menschen zu einer mannigfaltigen Vollkommenheit, die sich im gegenwärtigen Zustande nur sehr wenig und bey den vorzüglichsten Menschen oft nur von einer Seite merklich ausgebildet haben, vermittelst der nächstkünftigen Organe sich schneller und ausgebreiteter entwickeln werden. Hieraus fließt nun, daß unser künftiger Schematismus theils unsre geistige Selbstthätigkeit weniger einschränken, sondern mehr unterstützen, und theils zu einer grössern Mannigfaltigkeit und höhern Intension der angenehmen Empfindungen aufgelegt seyn wird. 1 Cor. 15, 35 f. 2 Cor. 5, 1 f.
    Ich lese 2 Cor. 5, 3. mit dem Mill, welcher die Richtigkeit dieser Lesart erweiset, εκδυσαμενοι, anstatt in unsern gewöhnlichen Ausgaben ενδυσαμενοι gelesen wird, und übersetze diese Stelle: denn auch wenn wir von diesem groben Körper entkleidet sind, werden wir nicht ganz nackend erscheinen; so daß mir der Verstand zu seyn scheinet: unser Geist wird nicht ganz von allem körperlichen entblößt, wenn wir sterben, sondern bleibt noch von einem feinen organischen Schematismus umgeben, welcher nachher eine weitere Ausbildung überkommt.
  • 5. Die nächstkünftige Scene unsrer Thätigkeit ist eine ganz eigentliche Fortsetzung des gegenwärtigen Lebens. Wir behalten unsre Persönlichkeit und bleiben uns deutlich bewußt, was wir hier empfunden, gedacht und |a201| gethan haben. Es werden daher durch den Tod nur diejenigen Folgen unsrer Handlungen unterbrochen, die sich blos auf den groben Körper und dessen Lage gegen die äußern Dinge beziehen. Krankheiten, Kerker und Bande, äußeres Geld und Gut nimmt keiner in jenen Zustand mit sich hinüber. Aber die den innern Menschen selbst betreffende Bestimmungen der Denkart und der moralischen Fertigkeiten ändert das Sterben nicht ab. Wer hier sinnlichen Eindrücken nachgehangen und sich nicht mit Ueberlegung und nach allgemeinen Regeln der Ordnung zu handeln gewöhnt hat, der nimmt diese Schwäche des Geistes mit sich hinüber, und wird auch in jedem andern Körper zunächst von der Sinnlichkeit beherrscht werden. Wer mit habitueller Unzufriedenheit über die allgemeine Ordnung der Dinge, mit fürchterlichen Begriffen von Gott, mit neidischen, stolzen, unverträglichen, und überhaupt menschenfeindlichen Gesinnungen dieses Leben verläßt, kann unmöglich blos durch den natürlichen Tod zu einer bessern Denkart umgeschaffen werden, und wird in jedem andern Körper und Zustande in sich selbst unruhig und zu gesellschaftlicher Glückseligkeit ungeschickt seyn. Denket man sich nun ferner, daß im nächstkünftigen Zustande alle Menschen, nicht nur die mit uns zu gleicher Zeit gelebt haben, sondern auch die vor uns verstorben sind und nach uns folgen werden, sich mit uns wieder in einer allgemeinen gesellschaftlichen Verbindung befinden werden, in welcher nach der Analogie der gegenwärtigen Verbindung, ein gegenseitiger Einfluß, der Gesinnungen und Dienstbeflissenheit, wahrscheinlich auch eine mannigfaltige Subordination oder Verschiedenheit der Standpunkte und Beziehungen statt finden werden, so lässet sich aufs deutlichste einsehen, wie alle hier unterbrochne Folgen guter und böser Handlungen, oder alle natürliche Be|a202|lohnungen und Strafen der Tugend und des Lasters sich völlig äußern werden. Dort wird es sich aufklären, wer hier ein verkappter Bösewicht oder ein rechtschaffener Mann gewesen ist; dort werden so viel Geheimnisse der Bosheit entdeckt werden, die hier verborgen geblieben sind; dort wird so manche stille That der Rechtschaffenheit kund werden, die hier unbemerkt und unbelohnt geblieben ist; und eben die Folgen, welche mit dergleichen Entdeckungen hier verknüpft sind, müssen es der Natur der Dinge nach auch dort auf eine noch ausgebreitetere Art seyn. Gedemüthiget, tief erniedriget, wird der stolze entlarvte Heuchler dort sich vor der heitern in sich erhabenen Unschuld derer, die er hier verketzerte und unterdrückte, verkriechen: aber dankbare Hochachtung, Vertrauen, Lob und Dienstbeflissenheit aller vollendeten Edlen werden die unerkannten Verdienste der stillen und wohlthätigen Redlichkeit in dem vollesten Maaß belohnen. Und hiermit löst sich dann das sonst unerklärbare Räthsel auf, wie der Urheber der Natur, der durch alle übrige in uns gelegte Triebe sichtbarlich unser eignes Wohl befördert, in die besten und thätigsten Seelen den sonst betrüglich scheinenden Trieb zum Nachruhm, ohne Verletzung der väterlichen und heiligsten Güte gepflanzt haben könne. Ist kein andres Leben und ist dasselbe nicht eine Fortsetzung des gegenwärtigen, so ist der Trieb zum Nachruhm ein betrügerisches Gift, welches der Welt die edelsten nützlichsten Menschen frühzeitig entzieht und diesen Rechtschafnen selbst ihr verdienstvolles Leben ohne Ersatz und Belohnung verkürzt. 1 Cor. 15, 19. 30 f. Stehet uns aber ein weiteres Leben bevor, das sich zu dem gegenwärtigen, wie das männliche Leben zum Leben der Kindheit; wie die Erndte zur Saat verhält; so löset sich alles in Harmonie zum Preiße der Gottheit auf. Gesetzt, wir würden jetzt in die Versamlung |a203| der vor uns verstorbenen versetzt, nach wem würden wir zuerst fragen? Gewiß nach denen, die uns hier Wohlthaten erwiesen haben, und unter unsern Bekannten die Verdienstvollsten gewesen, und alsdann nach denen, welche uns aus der Geschichte als vorzügliche Männer und Wohlthäter des ganzen menschlichen Geschlechts oder des Vaterlandes angerühmt worden sind. Schon vorbereitet sie hochzuachten würden wir mit dankbarer Verehrung ihnen unsre ganze Freundschaft, ganze Dienstbeflissenheit entgegen tragen. Welche Glückseligkeit, die Folgen unsrer wohlthätigen verdienstvollen Handlungen sich Jahrhunderte hindurch nach unserm Tode über viele tausende zum Segen verbreitet zu wissen, und von allen Nachkommen Bewunderung, Dank und Ergebenheit einzuerndten! Welche Aufmunterung zur Rechtschaffenheit, zur uneigennützigen Wohlthätigkeit, zum Fleiß in unserm Beruf, bietet eine solche Aussicht dar! Endlich lässet sich schon nach der Analogie erwarten, daß so wie hier ein jeder, der in einem niedrigen Posten Fleiß und Treue beweiset, in jedem wohleingerichteten Staat zu höhern Bedienungen erhoben wird; eben so in der künftigen Gesellschaft ein jeder nach dem Maaß seiner hier durch Uebung erlangten Fertigkeiten im Guten, Vorzüge vor andern und einen größern Umkreiß seiner Thätigkeit erhalten müsse. Dies alles hat Christus und Paulus schon ganz eigentlich gelehret. Matth. 25, 21. 31 f. K. 5, 11. Röm. 1, 6 f. 1 Cor. 4, 5.

§. 82.

Der vorhergehende Paragraph enthält eine ausführlichere Vorstellung des Ausspruchs Christi: Gott über alles und seinen Nächsten als sich selbst zu lieben, macht Menschen hier und in alle Ewigkeit vollkommen, glücklicher, seliger: und dis ist der ganze Inhalt aller göttlichen Offenbarungen oder Anweisungen zur Glückseligkeit; |a204| die ganze praktische Philosophie des Christenthums Matth. 22, 37–40. Luc. 12, 25 f. Nun ist noch die Philosophie der heiligen Schrift über die Hülfsmittel durch deren Gebrauch der Mensch zu dieser beseligenden Gemüthfassung und Denkart gelangen, und solche in sich unterhalten und befestigen kann, kürzlich vorzutragen. Hieher gehört:
  • 1. Der Mensch kommt ohne Erkentnisse zur Welt und samlet seine Begriffe durch die Sinne ein: er würde daher ganz sinnlich zu denken und zu handeln fortfahren, wenn er nicht durch Unterricht zu geistigeren und allgemeinen Einsichten, und dadurch zu höheren moralischen Gesinnungen erweckt würde. Die göttliche Vorsehung hat in Absicht einzelner Menschen durch die Erzeugung derselben von Aeltern, die schon im Gebrauch der Vernunft stehen, für die ersten Erweckungen der Verstandskräfte und Moralität gesorgt, und in Absicht ganzer Nationen veranstaltet, daß von Zeit zu Zeit Männer von vorzüglichen Talenten, von einem edlen Enthusiasmus, von einem göttlichen Geist angetrieben werden, ihre Zeitverwandten nach Maaßgabe der schon durch die Geschäfte des Lebens vergrößerten Empfänglichkeit mit hellern Einsichten und edlern Gesinnungen zu beglücken. Damit aber dergleichen höhere Erleuchtungen nicht wieder verschwinden, sondern eine fortdaurende und allgemeine wohlthätige Aufklärung einer Nation dadurch befördert werde, ist nöthig, theils daß einige Personen dazu ausgesondert und bestellet werden, welche die Lehren der Weisheit aufbewahren und sich üben dieselbe jederman verständlich und überzeugend vorzutragen; theils daß schickliche Oerter und Zeiten, zu allgemeinen Versamlungen festgesetzt werden, damit das Volk unterrichtet und zur Besserung der Gesinnungen und jeder Tugend ermuntert werden könne. Apostelg. 17, 26 f. |a205| Ebr. 1, 1. (Tit. 1, 12.) Col. 3, 16. 2 Cor. 5, 18. 20. Ebr. 10, 23. 25.
  • 2. Da unser Körper einen immerwährenden Einfluß auf die Vorstellungen unserer Seele hat und dieselbe theils schwächet theils verstärket, nachdem die sinnlichen Bewegungen in demselben mit dem, was wir denken harmoniren oder disharmoniren: so sind bezeichnende Handlungen, welche die Sinne beschäftigen, ungemein wirksame Hülfsmittel der Zerstreuung vorzubeugen und in ernsthafte höhere Betrachtungen des Verstandes eine größere Intension und Leben zu bringen. Es ist daher sehr nützlich in Versamlungen des Volks feierliche Handlungen und Gebräuche zu veranstalten, welche zu eben dem Zweck durch die Sinne zu wirken geschickt sind, zu welchem der Unterricht selbst abzielt. So ist es zum Beyspiel eine ungemein schickliche und wirksame Feierlichkeit, wenn ein erwachsener Mensch bey der Aufnahme in die Gemeine der Christen ganz unter das Wasser getaucht und nachher mit neuen Kleidern angethan ward, um es ihm und den Zuschauern eindrücklich zu machen, daß um ein wahrer Christ zu werden, ein Mensch allen vorigen abergläubischen und lasterhaften Grundsätzen absterben, und zu einem neuen Leben, welches sich durch Reinigkeit der Gesinnungen und des Wandels vom vorigen unterschiede, hervorgehen müsse. Die blosse Benetzung des Haupts mit Wasser, welche in den kältern Abendländern jetzt üblich ist, soll ebenfals die Reinigkeit und Rechtschaffenheit, zu welcher der Christ berufen wird, characterisiren. Eben so ist der gemeinschaftliche Genuß von einem in der Gemeine ausgetheilten Brodt eine sehr zweckmäßige Feierlichkeit, um die Gemeinschaft der Christen unter einander zu bezeichnen, vermöge deren sich jeder als ein Glied eines Ganzen durch einen Geist, (den christlichen Geist der Recht|a206|schaffenheit und Liebe) beseelten Körpers betrachten, und sich zu der aufrichtigsten Theilnehmung an seiner Mitglieder Wohl, zur thätigsten Beförderung des gemeinsamen Besten, erweckt finden soll. Auf gleiche Art war das Herumgeben eines mit Wein angefüllten Bechers in den Versamlungen der Christen, den Gebräuchen der Juden und Heiden bey ihren Gedächtniß- und Opfermahlzeiten entgegen gesetzt. Wer aus diesem Becher trank, bekannte dadurch feyerlich seine Ueberzeugung, daß kein Blutvergiessen und eigne Büssung um Gott zu versöhnen, nöthig sey, sondern daß jedem sich aufrichtig bessernden Sünder alle Strafen ohne Genugthuung erlassen würden; und die feyerliche Handlung geschahe zugleich zum dankbaren Andenken an den Stifter dieser erfreulichen Lehre und an den freywilligen blutigen Tod, womit er dieselbe und seine eigene Ueberzeugung davon, so wie die Hoffnung eines künftigen glückseligen Lebens versiegelt hatte: Röm. 6, 3 f. Gal. 3, 27. 1 Cor. 12, 12. f. K. 10, 15–21.
  • 3. Eine feyerliche Ueberdenkung unsers gesamten Zustandes in Beziehung auf Gott und das Ganze ist überhaupt das unter dem Namen des Gebets so oft in der Schrift empfohlne natürliche Mittel, uns weise, ruhig und getrost zu machen. Das Dankgebet ist die umständliche und lebhafte Vorstellung des mannigfaltigen Guten in unsern Bestimmungen, Verhältnissen und Erwartungen, wodurch Zufriedenheit mit unsrer Lage und Genehmigung des ganzen Plans der Vorsicht, und standhafter Muth für die Zukunft natürlich hervorgebracht wird. Das Gebet in engerer Bedeutung begreift die Selbstprüfung unsrer Gesinnungen nach den allgemeinen Regeln der Ordnung und die Fassung edler Vorsätze dem Vater der Welt wohlgefällig und ähnlich zu denken und zu handeln. Die Bitte ist das |a207| aus Erkentniß der gegenwärtigen und bevorstehenden Bedürfnisse entstehende Verlangen nach allerley Guten vom Vater der Welt, wodurch der Gedanke, alles was mir begegnet, ist Schickung höherer väterlicher Weisheit, habituell gemacht und hierdurch das Gemüth zur weisen Benutzung der angenehmen Tage, und zu geduldiger und standhafter Ertragung unvermeidlicher Uebel geneigt gemacht und dazu gestärket wird. Die Fürbitte für alle Menschen, besonders für Obrigkeiten, und für Feinde ist das natürliche Mittel sich durch höhere Beweggründe zur willigen Erfüllung aller Pflichten des gesellschaftlichen Lebens aufzumuntern. Gute Andachtsbücher sind nützlich, wenn sie als Vorbereitungen zu Selbstbetrachtungen in Absicht auf Gott oder zum eigentlichen Gebet, mit Nachdenken gelesen werden. Formulare sind bey gemeinschaftlichen Gebeten nöthig um eine Uebereinstimmung der Anbetenden in ihren Gesinnungen und Ausdrücken zu veranlassen. Ph. 4, 6. 1 Thess. 5, 17. 18. Matth. 6, 5. f. Matth. 7, 7. f. 1 Tim. 2, 1 f.

§. 83.

Die mehresten erwachsenen Menschen benutzen ihr Leben nur immer als Mittel, niemals als Zweck. Sie arbeiten fortgesetzt für die Zukunft um dereinst sich glücklich zu wissen, aber niemals kommt der Zeitpunkt, darin sie nun recht mit Bewußtseyn die Früchte ihres Fleißes genößen und sich glücklich fühlten. Das Leben wird meistens in Hoffnungen verträumet. Es ist daher eine sehr wohlthätige Veranstaltung für ein Volk, wenn zwischen mehreren Arbeitstagen ein Feyertag angeordnet ist, welcher den gewöhnlichen Kreißlauf der mühsamen Geschäfte hemmt, und die arbeitsamen Menschen zur Erholung und Genuß der Früchte ihres Fleißes einladet. Gott einen Tag heiligen heißt aus mehreren Tagen, an |a208| welchen man die Mittel, den Bedürfnissen dieses Lebens abzuhelfen, herbeyzuschaffen bemühet ist, einen aussondern und dazu widmen, sich deutlich, umständlich und anschauend des ganzen Werths seines Daseyns, des ganzen Umfangs der Wohlthätigkeit Gottes bewußt zu werden. Die Ruhe von beschwerlicher Arbeit, der Genuß besserer Speisen und Getränke und der mehrere Kleiderputz reizen zur Geselligkeit und Fröhlichkeit; und schon hierdurch wird bey Leuten, welche ihre tägliche grobe Arbeiten ganz unempfindsam machen würden, die Menschlichkeit unterhalten, und ein stärker Gefühl für Sitten erweckt. Marc. 2, 27. Zur höhern Feyer eines Tages, an welchem es uns erlaubt ist mehr uns selbst als andern zu leben, gehört nun vornemlich die ruhige Ueberdenkung unsers gesamten Zustandes. Bey den täglich fortgehenden Geschäften kommen wir selten völlig zu uns selbst; selten werden wir veranlaßt, den ganzen Umfang des Guten was wir besitzen, schon verarbeitet haben und noch hoffen, uns ausführlich klar zu machen, und daher sind wir auch so selten recht zufrieden, weil blos die äußern kleinen Veränderungen unsre Aufmerksamkeit beschäftigen und das immer vorhandne Gute gar nicht beahndet wird. Indes sind auch wenig Menschen dazu aufgelegt, dergleichen Betrachtungen von selbst in sich zu veranlassen, und gehörig fortzusetzen. Wenn aber an solchen Tagen zugleich öffentliche Vorträge gehalten werden, welche uns auf den Werth dieses Lebens aufmerksam machen, das viele sich uns darbietende mannigfaltige Gute ins Licht setzen, Gründe zu den schönsten und erhabensten Hoffnungen darbieten und vergewissern; alle gesellige edle Triebe und Gesinnungen beleben, und uns neue Aussichten in eine fruchtbarere Benutzung unsers Lebens eröfnen, ja denn werden diese Tage wahre Feste für uns, an welchen wir uns zu höheren Staffeln |a209| der Glückseligkeit empor gehoben fühlen. Personen von tiefen und ausgebreiteten Einsichten können freylich von den meisten öffentlichen Lehrern wenig neue Aufschlüsse oder größeres Licht als sie selbst schon besitzen erwarten: allein da die Erfahrung lehret, daß viele gute Erkentnisse bey uns lange Zeit hindurch in der Seele gleichsam schlafen, so dienet doch sicherlich jeder öffentliche Religionsvortrag dazu, uns an allgemeine praktische Wahrheiten zu erinnern und Betrachtungen, auf die wir sonst wenigstens vorjezt nicht gekommen seyn würden, in uns zu veranlassen. Redet der Lehrer des Volks aus warmen Herzen, so trägt dis oft viel zur Belebung edler Gesinnungen bey. Hiernächst aber ist die Beywohnung einer öffentlichen Versamlung mit dem unausbleiblichen Vortheil verknüpft, daß es uns bey der gemeinschaftlichen Anbetung der Gottheit sinnlich klärer und eindrücklicher wird, wie alle Menschen bey aller Verschiedenheit der Talente, der Neigungen, der Stände, der Geschäfte des Lebens, und andrer Bestimmungen, doch sämtlich als Kinder Gottes von gleicher innern Würde und gleich erhabener Bestimmung sind; und wie die Mannigfaltigkeit ihres äußern Berufs sie sämtlich zu nutzbaren Gliedern eines großen Körpers macht, welche daher auch als unsre Mitglieder unser ganzes Wohlwollen und alle thätige Hülfsleistungen von uns verdienen. Wie viele Beförderung wahrer Glückseligkeit könnten unsre öffentliche Religionsübungen bewirken, wenn alles bey denselben zweckmäßig nach Maaßgabe der Cultur der Einwohner jeglichen Orts eingerichtet würde! Ebr. 10, 25. 1 Cor. 14 besonders v. 26. K. 12, 4 f.

§. 84.

Aus diesem mit wenig Grundstrichen entworfenen Plan der christlichen Philosophie ist nun die Wahrheit und Göttlichkeit der Lehre Jesu auch unabhängig von der |a210| Geschichte seines Lebens ersichtlich. Das eigentliche innre Merkmal der Wahrheit für denkende Leute ist die Uebereinstimmung einer Lehre in allen ihren Theilen untereinander, mit allen ohnstreitigen Vernunftwahrheiten und mit den unverwerflichsten Erfahrungen. Diese allgemeine Zusammenstimmung findet bey dem System der christlichen Glückseligkeitslehre so augenscheinlich statt, daß jeder aufgeklärte Menschenverstand ohne Hülfe einiger Schulgelehrsamkeit dieselbe deutlich ersehen kann.
1. Es ist nichts unnatürliches, nichts überspanntes, nichts was mich nöthigte mir unnatürlichen Zwang anzuthun oder meine Selbstliebe zu verleugnen, in der christlichen Weisheitslehre. Ich soll Gott erkennen, verehren, lieben nicht um seinetwillen, sondern damit ich selbst ruhiger, zufriedner, getroster werde und in mir die Geneigtheit alle Regeln der Ordnung gern zu beobachten aus der Ueberlegung entstehe, daß diese Ordnung auch in Absicht auf mich unverbesserlich gut und die vortheilhafteste sey. Ich soll alle Menschen wie mich selbst lieben, auch Feinden gutes thun; auch da großmüthige Wohlthätigkeit zeigen, wo ich nicht absehen kann, daß es mir von Menschen vergolten werden möchte; ja selbst mein Leben soll ich für Brüder und Mitbürger lassen, wenn dadurch die allgemeine Wohlfart befördert werden kann: aber nicht mit Kränkung meiner Selbstliebe; nicht aus Schwärmerey, sondern mit voller Vernunft und deutlicher Einsicht, daß ich dabey nichts verliere, mich nicht um andrer Willen gänzlich auf immer aufopfere, sondern daß dis mich unausbleiblich höherer Glückseligkeit empfänglich macht; aus Ueberzeugung von dem heiligsten und vollkommensten Plan der moralischen Regierung Gottes, nach welchem ich von den uneigennützigsten Handlungen den allergrößten und dauerhaftesten Nutzen sicherlich erwarten kann. Wie sehr erhebt dis die christliche Philosophie über die stoische, wie viel mehr Vernunft ist |a211| hierin, wie viel sichtbarer stimmt dieses mit den Grundtrieben unsrer Natur überein! Ich soll nach Preiß und Ehre und unsterblichem Ruhm trachten, nicht als nach einem leeren nach meinem Tode mich schlechthin nicht mehr beglückenden Schall meines Namens bey der Nachwelt, sondern aus der Ueberzeugung, daß in einem noch bevorstehenden vollkommnern gesellschaftlichen Leben alle natürliche Folgen der größern Hochachtung, Dankbarkeit und Dienstbeflissenheit meiner gewesenen Zeitverwandten und der Nachwelt mich reell beglücken werden. Daher soll ich nicht nach eitler Ehre geitzen, nicht blos scheinen wollen gut zu seyn und zu handeln, sondern zuvörderst nach der Ehre bey Gott streben; das ist, ich soll in meinen innern Gesinnungen, in meinen geheimsten Gedanken, die nur der Allwissende siehet, rechtschaffen edel, wohlthätig und also wahrhaftig ehrwürdig zu seyn trachten, weil ich nur dadurch allein überall so handeln werde, daß ewige Ehre mein Lohn seyn kann, dagegen alle Gleisnerey bey den weitern Aufklärungen dieses Lebens, in jenem andern Leben Schimpf und Verachtung erzeugen wird. Ich soll hier von den Gütern dieser Erde, die ich besitze, den Dürftigen reichlich mittheilen, nicht um es mir zu entziehen; sondern weil dieses das einzige Mittel ist, diese Güter, die im Tode zurückbleiben, in ein besseres Leben hinüber zu retten: indem ich nicht nur hier die Verehrung und Liebe derer, welchen ich wohlthue, geniesse, sondern in ihren dankbaren Gesinnungen einen Schatz in jener neuen Verbindung der Menschen wieder finde, wo sie mir sehr reichlich durch Gegendienste und Freundschaftsbezeugungen alles zu vergelten im Stande seyn werden, was ich hier zu ihrem Besten gethan habe.
Wer von meinen Lesern fühlet nicht, wie sehr diese Vorstellungen und Motiven das menschliche Herz zu jeder edeln und liebreichen Gesinnung beleben können? wer siehet nicht, wie Christen bey Befolgung solcher Grundsätze |a212| nothwendig überall sich einen Himmel bereiten werden, wo sie sich in einer Gesellschaft vereint befinden, und wer kann noch zweifeln, daß jedem Staat daran gelegen seyn müsse, die christliche Philosophie und Denkart durch alle Stände und Familien zu verbreiten?
2. Die wahre Vorbereitung zum künftigen Leben nach dem Tode bestehet in der weisesten und fruchtbarsten Benutzung des gegenwärtigen. Der Christ darf hier nichts um Gottes oder der Ewigkeit willen thun, nichts aufopfern oder sich entziehen, was er nicht schon nach gesunder Vernunft zu seiner gegenwärtigen gesellschaftlichen Wohlfart zu thun für nützlich erkennet. Er unterscheidet sich demnach von Unchristen blos durch die größere Allgemeinheit und Erhabenheit der Beweggründe und die erfreulichen Aussichten in vortheilhafte Folgen seiner Verdienste ins unendliche. Hier ist also abermals der vollkommenste Zusammenhang und Zusammenstimmung, das Merkmal der Göttlichkeit des Plans: die Aussichten in jenes Leben ermuntern zur bessern Benutzung des gegenwärtigen, und der vollste Genuß dieses Lebens vergrößert unsre Empfänglichkeit zu höhern Graden der Glückseligkeit des künftigen. So erhellet demnach, daß christliche Tugend nichts anders als die Fertigkeit sey, seines Daseyns in allen Lagen, darin man sich immer befinden mag, möglichst froh zu werden; denn sie erwächst aus deutlicher Einsicht in den gesamten Plan der moralischen Regierung des allervollkommensten Wesens.
3. Da die menschliche Glückseligkeit, wie im ersten Abschnitt erwiesen worden, im herrschenden Bewußtseyn des wachsenden Uebergewichts der Vollkommenheiten unsers gesamten Zustandes über die Unvollkommenheiten desselben bestehet, so ist nun zugleich offenbar, wie das System der christlichen Philosophie die vollkommenste Glückseligkeitslehre sey: denn |a213|
  • a) da alle von uns nicht abhängende Bestimmungen unsres Zustandes von der vollkommensten Güte und Weisheit eingerichtet werden, so sind sie im Zusammenhang und in Beziehung auf unsre ganze Dauer unfehlbare Mittel unsre höhere Wohlfart zu befördern. Dem Verstande erscheint daher keine äußere Bestimmung bey Ueberdenkung des gesamten Zustandes als wahres bleibendes Uebel, und die bald vorübergehende unangenehme Empfindungen durch die Sinne, sind uns allemal erträglich und werden freywillig übernommen, so bald unsre Vernunft sie als Mittel der dauerhaftern Verbesserung unsres Zustandes erkennet. Folglich ist eine herrschende Vorstellung von dem großen Uebergewicht des Guten in unserm Zustande über das Böse dem Christen möglich und leicht, und er kann daher eine beständige Zufriedenheit geniessen.
  • b) Da uns eine ganz unbegränzte Aussicht in einen fortgehenden Wachsthum von Wohlfart und höherer Glückseligkeit eröfnet wird, so fällt alles was bey Ueberdenkung unsrer ganzen Bestimmung in Absicht der Zukunft uns nothwendig kleinmüthig und niedergeschlagen machen muß, gänzlich hinweg, und der König der Schrecken, der so furchtbare Tod, ist für uns ein göttlicher Bote, der uns in seligere Scenen hinüberführt. Der Christ kann also bey Ueberdenkung der ganzen Zukunft seine Zufriedenheit behalten; ja sie wird eben durch dieselbe aufs stärkste erhöhet.
  • c) Da der Christ eine ganz vollkommne moralische Regierung Gottes erkennet, vermöge welcher jede gute Handlung ihn nicht nur innerlich vollkommner macht, sondern auch dereinst äußere vortheilhafte Folgen für ihn haben muß, wenn solche gleich zunächst in diesem Leben gehemmet, und unterbrochen werden; so hängt ein beständiger Wachsthum seiner Vollkommenheiten von ihm selbst ab. Da nun überdis gute Hand|a214|lungen auch schon hier in den meisten Fällen den äußern Zustand verbessern, so erhellet wie bey einer wahrhaftig christlichen Denkungsart ein immer fortgehender täglicher Wachsthum des Uebergewichts des guten in unsern gesamten Bestimmungen folglich immer höhere moralische Glückseligkeit erfolgen müsse.
  • d) Das System des Christenthums ist so vollkommen, daß alle einzelne Theile sich in ihrer Wirksamkeit zum Zweck durchaus unterstützen. Je mehr sich dem Menschen die Vollkommenheit der göttlichen Güte und Weisheit aufklärt, desto ruhiger wird er unmittelbar und desto geneigter sich in den Plan Gottes zu schicken; bey der hieraus entstehenden Heiterkeit des Gemüths ist er aufgelegt das viele Gute in seinem Zustande zu bemerken, und es frölich zu geniessen. Dieser vollere Genuß des Guten verstärket rückwärts die lebhaftere Vorstellung der wohlthätigen Gesinnungen Gottes gegen uns und diese belebt aufs neue die dankbare Liebe und Betriebsamkeit ihm wohlgefällig zu denken und zu handeln. Durch das Bewußtseyn solcher Gesinnungen und durch jede Handlung der Rechtschaffenheit wird in ihm das Vertrauen zu Gott und der getroste Muth vermehret: und indem die meisten Handlungen der aufrichtigen Menschenliebe auch den äußern Zustand verbessern, so vermehren diese Erfahrungen die Geneigtheit unser Glück lediglich durch die Bemühungen Gott in allen ähnlich zu denken und zu handeln, das ist durch die thätigste rechtschaffenste Menschenliebe und Beobachtung aller Regeln der Ordnung zu bauen. So multipliciren sich alle religiöse Bestrebungen des Christen in sich selbst zu einem immerfort wachsenden Resultat höherer Glückseligkeit.
Und nun will ich diese Entwickelung des wesentlichen in der Philosophie des Christenthums noch durch eine sehr wichtige Bemerkung beschliessen. Es sind unleugbar nun |a215| schon beynahe volle 18 Jahrhunderte verflossen, seitdem Christus zuerst diese Glückseligkeitslehre, im Gegensatz der abergläubischen, unmoralischen und ängstlichen Gottesdienstlichkeiten der Juden und Heiden, und auch im Gegensatz der überspannten und doch sehr unvollständigen Tugendlehren der alten Philosophen vorgetragen hat. In dieser geraumen Zeit ist bis auf den heutigen Tag aller mehreren Cultur der menschlichen Vernunft und alles tiefsinnigen Nachdenkens so vieler Gelehrten ohnerachtet, doch noch nicht ein einziger Satz gefunden worden, welcher uns mehr Zufriedenheit, mehr Geneigtheit zur Tugend, mehr Muth und Hoffnungen einflößen könnte, als die Wahrheiten, die Christus schon versichert hat. Alle so hoch berühmte Entdeckungen in der Metaphysik und natürlichen Religion sind doch genau betrachtet nichts anders als endlich nach langen Suchen, in der Natur der Dinge entdeckte Gründe und Prämissen zu den Wahrheiten, welche Christus so viele Jahrhunderte vorher schon deutlich ohne alle Schulgelehrsamkeit mit der erhabensten Simplicität vorgetragen hat. Sollte diese unleugbare Geschichtswahrheit nicht die Aufmerksamkeit aller denkenden Männer verdienen? Sollte sie nicht jedem das Geständniß abnöthigen, daß der Unterricht Christi, und die Ausbreitung seiner Lehre in der Welt nicht nur unter die größten, sondern auch unter die außerordentlichsten Wohlthaten gehöre, womit Gott je das menschliche Geschlecht gesegnet hat!

§. 85.

Die Einkleidung der Glückseligkeitslehre in Geschichte ist das schicklichste Mittel den ungleich größern Theil der Menschen, der nur sinnlich zu denken gewohnt ist, von transcendenten Begriffen und allgemeinen Vernunftwahrheiten klare gewisse und praktische Erkentnisse beyzubringen. Die ersten Schüler Jesu hatten zu ihren Le|a216|sern ein Volk zu dessen Denkart sie sich herablassen mußten, wenn sie es bessern wollten; und es war nothwendig, daß sie alle schon habende Erkentnisse desselben möglichst benutzten, um eine größere Aufklärung nach und nach zu bewirken. Der gewöhnlichste Fehler, welchen die Gottesgelehrten bey den Auslegungen der apostolischen Schriften begehen, ist, daß sie solche als allgemeine Abhandlungen oder Tractate betrachten, welche zum Unterricht des menschlichen Geschlechts überhaupt aufgesetzt wären; da solche doch offenbar zunächst nur für besondre zum Theil namentlich bemerkte Oerter und einzelne Personen und in Beziehung auf Lokalumstände und herrschenden Sitten und Vorurtheile abgefaßt worden sind. Alles wird verständlich und klar, so bald man die einzige allgemeine Regel der Auslegungskunst beobachtet, daß man sich ganz in die Situation und Erkentnisse der ersten Leser hineindenken und alsdenn das, was diese bey den apostolischen Vorträgen natürlich haben denken können und sollen, als den einzigen hermeneutisch richtigen Sinn annehmen muß. Um nun meine Leser in den Stand zu setzen, die gesamte Lehrart der Neutestamentischen Schriften richtig zu beurtheilen und zu unterscheiden, was aus der historischen Einkleidung nur für Juden, und was davon noch für unser Volk nützlich ist, will ich so viel von der Geschichte der Religion unter den Menschen und Israeliten vortragen, als zu solchen Zweck hinreichend seyn wird.

§. 86.

|a220| §. 87.

Unter die ältesten authentischen Urkunden der Gelehrsamkeit, und der Religionskentnisse der Vorwelt gehöret das Gesetzbuch der Ebräer, oder die Schriften Mosis. Dieser Mose war wie aus seiner eignen Erzählung bekannt ist, von einer Israelitin geboren in einem Kästchen ausgesetzt, und von einer egyptischen Prinzessin gefunden worden. Diese ließ ihn zuvörderst von seiner eignen Mutter säugen und pflegen, nachher aber in aller Weisheit und geheimen Gelehrsamkeit der Egypter unterrichten. Apostelg. 7, 22. Nachdem er eines Mords wegen Landflüchtig werden müssen, hielt er sich einige Jahre bey einem Midianitischen Oberpriester und Fürsten auf, der als ein sehr kluger Mann geschildert wird, 2 Mos. 18, 14–24. kehrte darauf nach Egypten zurück, ward das Oberhaupt der Ebräer, welche von den Egyptiern damals sehr hart behandelt wurden, führte sie aus der Sclaverey zu Eroberung eines andern Landes aus, und gab denselben nun ganz neue Gesetze.
Diese Gesetze sind ein Meisterstück der Staatskunst, wenn man sich die rohen Horden der Ebräer, welche menschlicher gemacht werden solten, als den persönlichen Gegenstand derselben denkt. Der über alle andre Götter erhabne höchste Gott hat durch Mosen die Israeliten aus der Knechtschaft befreyet, um sie unter allen Völkern zu seinem eigenthümlichen Volk zu machen, das ihm allein dienen soll. Er will selbst unter dem Namen Jehova ihr Landsherr und Monarch seyn, und sie durch seine Ministers die Priester regieren lassen. Dieses ist die Grundlage der Staatsverfassung und Gesetzgebung. Die jüdische Regierungsform war also theokratisch; Abgötterey war Rebellion und Hochverrath, wodurch auch die Nachkommen bis ins vierte Glied aller bürgerlichen Vorrechte verlustig wurden. Die Stiftshütte und nachmals der Tempel war das Hoflager des Jehova als Lan|a221|desherrn; der Hohepriester der erste Minister der allein unmittelbaren Zutritt ins Cabinet des Monarchen hatte, die Priester und Leviten machten die Hofstaat und die Schloßwache aus. Die Entrichtung des Zehenten, der Erstlinge und vielen Opfer waren Landesabgaben, Schutz und Strafgelder zur Unterhaltung des Hoflagers bestimmt. Alle zur Gesundheit eines höchst unreinlichen Volks nöthige öftere Waschungen, alle Verbote der nach damaliger medicinischen Kentnisse dieser Nation schädigenden Speisen, alle zur bürgerlichen Wohlfart in Kriegs und Friedenszeiten abzielende Gesetze, erscheinen daher in dem mosaischen Gesetzbuche gleich durch als Religionsvorschriften, weil ihr Landesherr Gott war. Die strenge Feyer von aller Arbeit am Sabath war zur Hervorbringung einiger Menschlichkeit und Sitten unter diesem rohen Volke anfänglich höchst nothwendig, und daher stehet dieses Gesetz unter den Criminalverordnungen der so genannten zehn Gebote. – Mosis Gesetze waren vollkommen in ihrer Art zweckmäßig zu ihrer Bestimmung, aber aller Gehorsam ward durch Furcht erzwungen, und der Geist derselben konnte keine höhere moralische Edelmüthigkeit und Glückseligkeit hervorbringen. Nachdem aber die Juden etwas cultivirt worden waren, und die Priester und deren Familien sie allzu sehr drückten, zwangen sie einen der vornehmsten derselben, ihn aus einen andern Stamm einen bürgerlichen König zu wählen, der sie vor den Ausschweifungen der Diener des Jehova schützen könnte. Die Könige traten mit den Höfen schon gesitteter Staaten in nähere Verbindungen, heuratheten deren Töchter, schlossen Handlungstractaten und Vertheidigungsbündnisse und führten mit großen Mächten Krieg. Dis alles trug das seinige zur mehreren Aufklärung der jüdischen Nation bey. Nun traten schon einsichtsvollere rechtschaffene Männer auf, welche die Nation von dem ganz sinnlichen Gottesdienst auf höhere vernünftigere |a222| Begriffe der Religion und Moralität führten, wie zum Beyspiel Jesaias, ein Mann vom königlichen Geblüte. Diese Propheten äußern in ihren Schriften an vielen Orten die sichere Erwartung, welche sie hatten, daß eine Zeit der allgemeinen Erleuchtung und Befreyung des Volks von ihren ängstlichen unmoralischen Frohendiensten, die sie dem Jehova leisteten bevorstehe, und Gott einen Mann der diese Erlösung ausführen könnte erwecken würde. Jes. 1, 10 folgg. K. 2.

§. 88.

Zu den Zeiten da Christus auftrat waren zwar noch die Juden, bey den gesitteten Völkern in dem Ruf der Dummheit, und des gröbsten Aberglaubens, indes fehlte es den vornehmern und besonders den Oberpriestern nicht an politischen Einsichten. Diese machten die klügere Parthey der Sadducäer aus, welche sich von der größern schwärmerischen Secte der Pharisäer dadurch unterschied, daß sie theils nur dem mosaischen Gesetzbuch eine höhere Autorität beylegten, den übrigen Schriften, deren Samlung wir das alte Testament nennen, dargegen nur einen solchen Werth zugestunden, als den Postillen, Gesangbüchern und Legenden der Heiligen in der Christenheit beygelegt wird, theils die Begriffe vom Teufel, vom Todesengel, von der Auferstehung sämtlicher Juden zur Eroberung aller Länder des Erdbodens, von einem tausendjährigen Reich des Meßias u. s. w. welche die Pharisäer dem gemeinen Volk beygebracht verwarfen. Die Secte der Pharisäer unterschied sich außer der schon erwähnten Lehrmeinung, durch eine mikrologische Auslegung des Gesetzes, und derselben gemäße strenge Beobachtung der äußern Gottesdienstlichkeit, wodurch sie beym Volk das Ansehn der Frömmigkeit erhielten: sonst aber ließ ihre Moral die Gesinnungen des Herzens völlig ungebessert. Gegen die prophetischen |a223| Schriften hatten sie mehr Ehrerbietung als die Sadducäer, auch legten sie denselben einen höhern Grad der Göttlichkeit zu, als den historischen Schriften, jedoch eine geringere als dem Gesetzbuch. Ueberhaupt haben diese jüdische Schriften unter den Juden selbst niemals das große Ansehn gehabt, was ihnen nachher von vielen christlichen Theologen beygelegt worden ist, welche die Begriffe von einer unmittelbaren göttlichen Eingebung aus Mißverstand orientalischer Redensarten übertrieben haben. Christus erkläret uns ausdrücklich Math. 15, 24. daß er sich für seine Person blos mit den Verbesserungen der Denkart seiner Landsleute der Israeliten beschäftigen, und auf diese die Absicht seines Lehramts einschränken wolle. Nun hatte er ein Volk vor sich, welches die Göttlichkeit seiner bisherigen Religion auf die Geschichte vieler Wunder gründete, die nach ihren historischen Schriften zur Bestätigung des mosaischen Gesetzes geschehen waren, und womit alle ältere Gesandten des Jehova ihre Bevollmächtigung erwiesen hatten. Wollte Christus dieses Volk von der Anhängigkeit an den unfruchtbaren Gottesdienst ihrer Väter befreyen, so mußte er sich nach ihrer Denkungsart bequemen, und sich als einen höheren Gesandten Gottes denn Moses und die Propheten gewesen waren durch Zeichen und Wunder legitimiren Joh. 4, 48. K. 2, 2. Die Lehrer des alten Bundes waren als Diener und Knechte des Jehova an das Volk geschicket worden, und hatten selbst knechtische Gesinnungen gehabt, und solche in der Nation unterhalten, Christus wollte eine kindliche Denkart gegen Gott erwecken, erschien daher als der Sohn Gottes, und als der Meßias von welchen schon im voraus Mose und alle Propheten geweissaget hatten. Diese Bemerkungen werden für selbstdenkende Leser der apostolischen Schriften hinlänglich seyn, die ganze Einkleidung der Glückseligkeitslehre, und solche Juden an|a224|nehmlich und faßlich zumachen, aus dem rechten Gesichtspunkte zu beurtheilen. Denn für Juden sind zunächst die Schriften, welche wir von den Schülern Jesu haben, aufgesetzt worden, daher wird die Lebensgeschichte desselben darin so erzählet, daß diese Nation dadurch bestimmt werden könnte, ihm die größte Autorität unter den Gesandten der Gottheit zu zugestehen, und ihn für den Herrn und Christ zu erkennen, in welchen Gott stets gewohnet habe, anstatt andre Boten des Jehova nur dann und wann begeistert worden sind; und welcher als das Leben und Licht hervorbringende Wort des Weltschöpfers als die in menschlicher Gestalt herumgehende Stimme angesehen werden könnte, und in dessen Person und Lehre sie alles in höheren Maaß vereiniget finden, was in der mosaischen Religion ihnen ehrwürdig und tröstlich gewesen sey. In so fern nun der weit größere Theil der Menschen unfähig ist, höhere Religionswahrheiten aus innern Gründen zu erkennen, und die Untersuchung darüber bis zu den ersten Quellen richtiger Erkentniß fortzusetzen, selbst die meisten Gottesgelehrten sich lieber auf Autoritäten verlassen, als selbst prüfen, so bleibt die historische Einkleidung das vortreflichste Hülfsmittel die Glückseligkeitslehren praktisch klar zu machen, und durch höhere Autorität sie zu vergewissern. Ich will daher das Christenthum mit Absonderung des, was blos für Juden war, in der historischen Gestalt noch vortragen, wie es in der evangelischen Geschichte erscheint, und noch in den öffentlichen Unterricht an das Volk vorgestellet werden muß.
Um den morgenländischen Sprachgebrauch von den Redensarten, der Geist Gottes kam über jemand oder war in einem Menschen, Gott hauchte jemanden an, oder inspirirte ihn, nach seiner ganzen Ausdehnung zu übersehen, vergleiche man nur folgende Stelle 1 Mos. 41, 38. 2 Mos. |a225| 31, 2. 1 Sam. 16, 23. und insonderheit Hiob 32, 8. in der griechischen Uebersetzung mit 2 Tim. 3, 16.

§. 89.

1. Gott hat sein unsichtbares Wesen und seine preißwürdige Vollkommenheiten in seinen Werken den Augen der Vernunft allen Menschen geoffenbaret; und durch so viele Wohlthaten in der Natur, die sich von allen Seiten ihnen darbieten seine Güte allen ihren Samen empfindbar gemacht: auch hat er den Menschen das Vermögen mitgetheilt, gutes und böses, recht und unrecht, das anständige und unanständige zu unterscheiden, ja die äußere Verbindung darin Gott die Menschen gesetzt hat veranlasset diese Erkentnisse so gleich in ihnen, wenn sie zum Gebrauch der Vernunft kommen, weil ihr Selbstgefühl ihnen in jedem Fall sagt, was für eine Begegnung sie von andern zu erhalten wünschen: diese von selbst entstehende richtige Empfindungen von Sittlichkeit sind das natürliche Gewissen, was bey allen Völkern nach dem Maaß des Anbaues ihres Verstandes angetroffen wird. In so fern wäre es daher allen Menschen möglich gewesen, die liebreichen Gesinnungen Gottes gegen uns zu erkennen und aus Dankbarkeit dagegen allen Regeln der Ordnung und Gerechtigkeit nachzuleben. Röm. 1, 20. Apg. 14, 17. K. 17, 26 f. Röm. 2, 14.
2. Allein die Menschen hatten wenig Aufmerksamkeit auf die Erweisung der göttlichen Wohlthätigkeit bewiesen, und waren auf allerley fürchterliche Begriffe von der Gottheit gerathen: auch hatten sie verabsäumet den Vorschriften ihres natürlichen Gewissens zu folgen, und daher hatte sich unter allen Völkern ängstlicher Aberglaube und Lasterhaftigkeit ausgebreitet, so daß keine Nation den wahren Weg zur Gemüthsruhe und Glückseligkeit zu gelangen erkannte. Röm. 1, 21. f. K. 3, 9–19.
3. Gott hatte nun zwar unter allen Nationen besonders unter den Juden von Zeit zu Zeit rechtschafne Männer begeistert, die sich dem überhandnehmenden |a226| Verderben der Sitten widersetzten, allein alle diese Männer hatten mehr durch Androhungen göttlicher Strafen, als durch Vorstellungen der gütigen Gesinnungen Gottes gegen die Menschen, eine Verbesserung der Denkart hervorzubringen gesucht, und daher waren überall nur knechtische Befürchtungen, hiermit mehr feindselige und widrige Gesinnungen, als kindliches Vertrauen und Folgsamkeit gegen Gott in den Menschen erweckt und unterhalten worden. Die Menschen quälten sich daher durch allerley Demüthigungen, durch Enthaltung von vielen Vergnügen des Lebens, durch Geschenke und Opfer und andre Büßungen die Gottheit zu besänftigen, und zitterten bey dem Gedanken, an den bevorstehenden Tod, weil sie sich einbildeten, daß Gott sie alsdenn einem grausamen Geist zur Marter übergeben werde. Ebr. 1, 1. Röm. 4, 15. Luc. 1, 79. Ebr. 2, 15.
4. Um die Nationen aus diesem allgemeinen Verderben der Moralität und des Aberglaubens zu erlösen und sie mit sich auszusöhnen, veranstaltete Gott unter dem jüdischen Volk zuerst die Geburt eines ganz vorzüglichen Mannes, welchen er mit allen Talenten des Geistes ausrüstete, und mit welchem er so vereint war, daß man an diesem Jesu sehen konnte, wie Gott gegen die Menschen handeln würde, wenn er als Mensch uns erschiene. Er war das Ebenbild und die unter den Menschen wandelnde Stimme Gottes; seine Worte waren Licht und Leben ertheilende Gottesworte, seine Handlungen göttlich wohlthätige Thaten. Er zeigte blos kindliche Gesinnungen gegen Gott und theilte als Sohn Gottes, denen die ihn hörten ähnliche Gesinnungen und die Berichtigung mit, sich als Kinder Gottes zu betrachten. Aus allem was er redte und that leuchtete der göttliche Character seiner Sendung hervor und an ihm konnte man sehen, wie göttliche Tugenden in der Menschheit geübt, und wie Menschen göttlicher Natur theilhaftig werden können. Apostelg. 10, 38. Joh. 1, 1–8. vergli|a227|chen mit 1 Joh. 1, 1. und Joh. 6, 63. Joh. 17, 7–11. K. 10, 34–38. 2 Petr. 1, 3. 4. f.
5. Er ward von der jüdischen Geistlichkeit verfolgt. Die Sadducäer und vornehmen Priester besorgten eine Zerrüttung des Staats und den Verlust ihrer Einkünfte beym Tempel, wenn das Volk über die Religion weiter aufgekläret würde. Die Pharisäer aber waren theils als Heuchler, theils als Schwärmer gegen eine Lehre aufgebracht, die ihre bisherige äußere Heiligkeit und Eifer fürs Gesetz der Väter erniedrigte. Man beschloß also Jesum zu tödten. Er wußte dieses voraus, aber er entfernte sich nicht, weil sonst der ganze Nutzen seines mehrjährigen Amts vereitelt worden seyn würde. Er kündigte seinen Schülern und beständigen Begleitern den Abend vor seiner Gefangennehmung seine bevorstehende Hinrichtung im voraus an, und stiftete eine Feyerlichkeit zum Andenken dieser freywilligen Aufopferung zum Besten der Menschen. Durch ein Concilium der Geistlichen verdammt besiegelte er durch seinen Tod seine Lehren und stiftete dadurch so wol das stärkste Denkmal seiner Menschenliebe als seinen eignen Uebergang von den bevorstehenden belohnenden Leben nach dem Tode. Joh. 11, 47. f. K. 15, 13. 14. f. K. 10. 8–18. 1 Joh. 3, 16.
6. Gott erweckte ihn wieder. Am dritten Tage suchte er seine Schüler auf, unterrichtete sie einige Wochen hindurch vollständiger, und bevollmächtigte sie hierauf Boten des Friedens in der ganzen Welt zu seyn, daß nun Gott nur als Vater geliebet werden wolle, keine Opfer, keine Büßung, keine Dienste mehr von Menschen verlange, sondern blos rechtschaffene Menschenliebe und vernünftige Bestrebung nach Glückseligkeit, wodurch ein jeder zu höherer Wohlfart nach dem Tode sich hier geschickt machen könne. Hierauf begleiteten seine Jünger ihn auf einen Berg, wo er sich in einer Wolke ihren Augen entzog. Math[.] 28, 19. 20. Eph. 4, 1. bis K. 5, 17.
7. Wer sich nun zur Gemeine Christi bekennt ist ein Mit|a228|glied seines Körpers, wovon er das Haupt ist; wer aufrichtige Liebe gegen Gott und Menschen übt, hat den Geist Christi und kann daran bemerken, daß er mit Christo und Gott vereinigt ist, und hiermit kann er zugleich gewiß seyn, daß er nicht im Grabe bleiben, sondern sein Haupt ihn nach sich ziehen wird: denn diese Macht hat Gott Christo gegeben, dereinst alle die an ihn geglaubt haben zu höhern Freuden einzuführen. 1 Joh. 4, 6. 21. 1 Cor. 12, 12–27.
Man siehet leicht, daß die Geschichte des Lebens Christi blos aus dem einigen Gesichtspunkte betrachtet, daß Christus uns sichtbar gemacht hat wie Gott denkt und handelt, und wie wir also gesinnet seyn und uns verhalten müssen, wenn wir mit Gott vereiniget werden, oder seinem Plan gemäß denken und handeln wollen, ungemeine reiche Materien zum praktischen Unterricht für jederman darbietet. Ich habe schon von einer andern Seite eben diese Geschichtseinkleidung §. 39. betrachtet und muß hier überhaupt mehr bloße Winke geben, wenn ich nicht sehr weitläuftig werden will. Diese historische Einkleidung wird nach Pauli Urtheil so lange Menschen hier leben nöthig bleiben, aber nach dem Tode werden alle ohne Glauben durch deutliches Erkennen gerade zu Gott geführet werden: so verstehe ich die Stelle 1 Cor. 15, 24–28. verglichen mit K. 13, 8–12.

§. 90.

Ich beschließe diese gesamte Untersuchungen mit der Bemerkung, daß es weit leichter ist nieder zu reißen als zu bauen; leichter Wahrheiten zweifelhaft zu machen, als zu erweisen: daß aber jeder Philosoph, wenn er ein wahrer Weiser, ein Patriot oder gemeinnütziger Menschenfreund seyn will, sichs zur ersten Pflicht machen müsse, keine ihm morsch scheinende Stütze der Tugend oder der Hoffnungen eines Volks wegzureißen, sondern nur darauf denken müsse, mehrere und sicherere Säulen derselben unter zu stellen; und daß man niemals seine Zweifel gegen trostvolle und gemeinnützige Wahrheiten in Gegenwart solcher Personen, die dergleichen nicht haben äußern müsse, weil man hierdurch unleugbar eine der größten Feindseligkeit gegen die Gemüthsruhe der Mitmenschen und die gemeinsame Wohlfart ausübt. Röm. 15, 1. 2.