|z[1]|Wilhelm Abraham Tellers
Zusätze
zu seinem
Wörterbuch
des
Neuen Testaments.

Berlin,
bey August Mylius. 1773.
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|z[3]|Vorrede.

Um den Besitzern der ersten Auflage meines Wörterbuchs nicht beschwerlich zu fallen, habe ich die zweyte bis auf einige und meistens die Zahlen angehende Berichtigungen des Drucks unverändert gelassen und dafür die folgenden Zusätze besonders ausgearbeitet. Ich bedaure nur, daß ich der Unbequemlichkeit, die durch eine solche Trennung in dem Gebrauch entsteht, nicht eben so gut habe abhelfen können und sie zum Theil dadurch vermehrt worden ist, daß in der Correctur der ersten Bogen das Sternzeichen ausgelaßen worden, wodurch sich in den lezten die Beziehungen auf die Zusätze von den Zurückweisungen auf das Wörterbuch selbst unterscheiden.
Sonst enthalten diese Zusätze einigemal S. 49. f. 52. und 60. f. wirkliche Verbesserungen; zuweilen Nachholungen von Wör|z4|tern auf die ich schon im Wörterbuch hingewiesen hatte, wie Stachel ,Spiegel ; noch öfter Bestätigungen, wie bey Furcht Gottes , Fülleu. a. m. größtentheils aber freywillige Beyträge von Wörtern und Redarten, als, andächtig ,hochherfahren ,Griechen ,Handel u. d. durch deren Auslegung die Lesung des neuen Testaments jedem, der sich nicht selbst helfen kann, erleichtert wird. Bey diesen konnte ich um so kürzer seyn, da die Einsicht in das eigentliche Christenthum davon eben nicht abhängt und ich mich hierüber schon in der Vorrede zum Wörterbuch S. XI. f. erklärt habe. Nur die Bestätigungen erfoderten mehr Umständlichkeit,die sich freylich auch eher für einen Commentar als für ein Wörterbuch schickt, aber gleichwohl wegen der besondern Veranlassungen, die ich dazu gehabt, nicht zu vermeiden war.
Es kann nun dem Leser einerley seyn, welches dieselbengewesen: Mir kam es zu den besten Gebrauch für ihn und mich selbst davon zu machen und dies habe ich nicht nur gelegentlich gethan, was die Hauptsache anlangt, sondern will es auch noch izt wegen gewißer dabey vorgefallener Misverständnisse thun.
|z5|Ich bin völlig überzeugt, daß Religion und Theologie, das Christenthum nach der Schrift und das Christenthum nach dem System unendlich weit von einander unterschieden sind. Ich sehe dieses für ein Gebäude an, welches dem Scharfsinn des menschlichen Verstandes Ehre macht, an welchen viele Kunst verschwendet ist, und welches man also wohl ein und das andermal zur Bewunderung der Kunst besehen kann, aber gewiß nicht beziehen muß, wenn man gesund und ruhig wohnen will. Dies würde auch zuverläßig das Urtheil der meisten seyn, wenn sie nicht das System sich eher geläufig gemacht , ehe sie aus eignem Triebe und mit allen dazu gehörigen Hülfsmitteln die Schrift gelesen. Es würde dann schlechterdings unmöglich seyn daran einen Geschmack zu gewinnen, oder, wenn nicht noch nachher die Bekanntschaft mit demselben dazu käme, von selbst auf solche mühsame Zurüstungen zu verfallen. Diese Ueberzeugung nun war bey mir im ersten Aufkeimen, da ich vor zehn Jahren die Verfertigung meines Lehrbuchsunternahm: Und sie ist seitdem zu einer solchen Größe und Stärke gewachsen, daß ich vor einiger Zeit mich entschloß in einem Wör|z6|terbuch die Bearbeitung merklich zu machen, unter welcher sie bey mir zugenommen . Ich fürchtete zwar also keine augenblickliche Wegwerfungen oder ungeziemende Anschwärzungen von gesezten und billigen Männern; aber ich erwartete auch eben so wenig den Beyfall derer, die auf andern Wegen die gegenseitige Ueberzeugung sich schon längst in frühern Jahren zu eigen gemacht, und ich sehe klar ein, wie beynahe unmöglich es für solche seyn muß, wenn besonders Geschäfte oder andre Hindernisse einer ruhigen Prüfung dazukommen, den Rückweg zu nehmen und den Weg den ich gegangen bin einzuschlagen. Ich schrieb also für solche, die noch für kein System eingenommen sind, wie es billig am wenigsten Anfänger in der Erlernung theologischer Wissenschaften seyn sollten und ihnen vornehmlich widme ich auch diese Zusätze. Sie stehen noch am Scheidewege; bey ihnen steht es noch sich der Hülfsmittel aus der Kirchengeschichte und Kenntniß der alten Sprachen zu bemächtigen, durch welche man in den Stand geseztwird, das reine Metall des Christenthums von den Schlacken einer sectirischen Philosophie oder abergläubischen Schwärmerey zu scheiden: |z7| An sie will ich mich also noch mit folgenden Vorstellungen und Bitten wenden.
Zuerst werden sie hoffentlich es der Mühe werth achten zu untersuchen, wieviel Zeit man eigentlich in beynahe siebzehnJahrhunderten oder nur, um nicht soweit zurückzugehen, seit der Reformation, auf die Auslegung der Schriftstellen verwendet hat, aus denen die Lehrsätze des Christenthums herauszuziehen sind; unter welchen äußerlichen Umständen man dabey zu Werke gegangen ist; und welche Hülfsmittel man dazu angewendet. Ich will um ihren Urtheil nicht vorzugreifen nicht sagen, wie günstig oder ungünstig das Resultat dieser Untersuchung für die herrschend gewordnen Erklärungen ausfallen muß, wenn sie gehörig angestellt wird:Aber ich bitte darum so sehr, so lieb es ihnen seyn wird, und zum mannigfaltigsten Gebrauch nüzlich, sie mit Fleiß geendiget zu haben.
Hiernächst ist es nöthig, daß sie aus eigner Lesung und Vergleichung bey sich entscheiden, ob die Sprachart des neuen Testaments wirklich hebräisch-griechisch oder rein-griechisch sey. Seit ohngefehrdreyßig Jahren hat zwar |z8| jene Meinung ein merkliches Uebergewicht gewonnen und sie wird wohl itzt in Deutschland von den angesehensten Schriftauslegern durchgängig behauptet. Allein ich wünschte doch, daß es immermehr in der Folge keine bloße Ueberlieferung aus dem Verstand des einen in das Gedächtniß des andern würde, sondern eine durch eigne Versuche gewirkte Ueberzeugung. Mir ist dazu sehr nüzlich gewesen, wenn ich in meinen academischen Jahren am Morgen einen Abschnitt ohne mich nach Kapiteln zu richten, aus dem a. T. den Grundtext und die alexandrinische Uebersetzung verglichen gelesen und nachher Abends einige Absätze aus dem n. T. Da war der Eindruck von den früh gefaßten hebräisch-griechischen Redformen der Alexandriner noch so lebhaft in mir, daß ich von selbst merkte es sey einerley Sprachart und mir in Gedanken manche Erklärung machte, die ich nachher angenommen. So hatte ich z. E. in den Psalmen gelesen dieErde und ihre ganze Fülle mit demselben griechischen Wort, das Paulusin den Briefen an die Epheser und Colosser braucht, gerieth kurz nachher über die Stelle Col. 1, 19. und machte also die Anwendung davon.
|z9| Aber die hebräisch-griechische Sprachart recht kennen zu lernen, ist es, dünkt mich, noch Kleinigkeit sie bloß in einzelnen WortenRedarten und Redverbindungenaufzusuchen: Hier ist auch beynahe von einem Vorstius und andern nichts mehr zu thun übrig gelaßen. Darinn, Freunde, liegt ein fast noch unentwikkelter Keim der Erklärungsart des n. T. die ins Großegeht, daß es auch eine ganz hebräisch-griechische Denkungsart in demselben giebt, die Nationalphilosophie, Nationalsitten, und Nationalgebräuche zum Grunde hat. Z. E.Seite 49. habe ich für ein Wörterbuch zureichend die Redart in Sünden gebohren seyn erklärt; ich hätte aber noch hinzusetzen können, daß es, wie man auch aus der Frage der Jünger und der Antwort JesuJoh. 9, 2. 3. wahrnehmen kann, eine herrschende Meinung unter den Juden war, nur sündhafte Eltern brächten gebrechlich Gebohrne zur Welt. So ist S.84. die Beschreibung eines gottgefälligen Almosens als eines angenehmen Opfers Gott zumsüßenGeruch, nicht bloß hebräisch geredet, sondern gedacht. Und so denke ich, verhält es sich mit allen den Vorstellungen von Himmel und Erde ,Ge|z10|setz und Werke ,Hoherpriester ,Versöhnung u. s. w. Ich wünschte also, daß diejenigen, für die ich dies schreibe, auch hierauf ihre unpartheyische Untersuchung verwenden möchten. –
Diese Erklärungsart, sagte ich, geht mehr ins Große. Aber auch die Schrifterklärung selbst, auf die sich der künftige Lehrer der Religion vorzubereiten hat, um die er sich ohnstreitig am meisten bekümmern sollte, muß mehr aufs Große gerichtet seyn; auf die Aussprüche Jesu und seiner Boten, die jedem Hauptstück der christlichen Wahrheit, wie sie im systematischen Vortrag gelehrt wird, zur Grundlage dienen. Ich beziehe mich hier auf das, was ich schon zum Theil hierüber S. XIV. XV. der Vorrede zum Wörterbuch erinnert habe und setze nur noch folgendes hinzu: Es ist einerley, mit wechem Hauptstück der christlichen Lehre man diese Vorbereitung anstellen will und zur Vorbereitung ist auch ein einziges zureichend. Jeder neue Aufschluß in den einen enthält die Anlagen zur Aufklärung des andern. Wenn man einmal weiß, das ist Gesetz ohne Zusatz und das ist Gesetz mit |z11| dem Zusatz Gottes, so ist man schon auf der Spur Werke und guteWerke richtiger von einander zu unterscheiden, genauer zu bestimmen, was Evangelium ist, was GlaubeanChristum ist, wie Er der Herrist, und wie Luther schon im Catechismus gesagt, man darauf bestehen, darauf hauptsächlich sein eigenes Wissen von ihm einschränken müße. Und so etwas sollte nicht die ernsthafteste Angelegenheit für einen jeden seyn, der andre dereinst lehren soll, was Christenthum ist? Er sollte sich eher oder wohl ganz allein darum bekümmert haben, weches in der Apostelgeschichte die Ausländer von Rom sind, ob man beym Lucas Schatzung oder Zählung übersetzen müße; ehe er bey sich ausgemacht hat, was das heiße anJesumglauben und wohl diese Untersuchung gantz liegen lassen? Wenn es hierauf ankommt, sollte der gantze gewissenhafte Ernst der seyn, daß man mit einen Seitenblick auf die Gegend in der man lehren soll, auf den Gönner durch den man sein Glück machen will, die in jener und bey diesen geltende Erklärung nimmt und sie mit allen polemischen Gepränge aufstuzt? Nun wer das für recht und billig hält, der thue es auf seine |z12| Gefahr; bilde sich aber ja nicht ein, daß andre die Lücken und Schwächen in seinem Unterricht nicht merken werden.
Beynahe möchte ich nun auch Anfängern rathen lieber gar keine Regeln der Auslegungskunst sich bekannt zu machen, nur mit ihrengesunden Verstand ihre Sprachkenntniße auf einzelne Stellen anzuwenden; als jene Regeln kunstmäßig zu erlernen und sie doch nicht am rechten Orte gebrauchen wollen. Es ist ein altes Sprüchelgen und von allen für wahr angenommen: „Man muß genau beobachtenwer etwas sagt, zu wemer es sagt, unter welchen Umständen und in welchen Zeitener es sagt.“ Aber wie stehts mit der Anwendung? Nun das sehe man! Jesussagt zu seinen Aposteln, sie sollten in seinenNamenbeten: Er sagt es zu einer Zeit da er mit ihnen von seinen Abschied redet, sie in ihren öffentlichen Lehramt bestätiget, ihnen noch Muth und Freudigkeit dazu einsprechen will: Ersezt hinzu, daß sie es bisher noch nicht gethan hätten, ungeachtet sie ihm so treu und ergeben gewesen waren; er verweiset ihnen das auch nicht; und er versichert endlich, |z13| daß ihnen dergleichen Bitten allezeit würden gewähret werden. Hier wäre also ja wohl der Ort die gedachte Regel in Ausübung zu bringen, und zu sagen, es sey das apostolische Amtsgebetgemeint! Aber nein! sagt man, dies ist nicht der rechte Ort. Nun wo ist er denn? Ich will mich weisen laßen: Etwa wo Paulus ein jüdischer Gelehrter, mit Christen aus dem Judenthum, die nicht von ihren Gebräuchen ablaßen wollten, von der Beschneidung am Geist, dem Opfer Jesu, dem Hohenpriesteramt desselben, dem Sabbath des N. T. redet? Nein da auch nicht! Nun so ist jene Vorschrift zwar sehr gegründet, in der Natur aller Sprachen und in dem Gebrauch aller guten Schriftsteller gegründet aber sie ist in der Anwendung zu nichts nütze. Man gebe mir also eine andre, die ich besser brauchen kann! „Frage zunächst den Schriftsteller selbst, den du erklären willst, in welchem Sinn er ein Wort, eine Redart genommen hat; dieses Zeugniß, welches er durch Selbsterklärungen seines Sprachgebrauchs ablegt, ist von großem Gewichte.“ Nun ja, das sollte ich auch meinen; und also wird wohl FülleCol. 2, 9. die Gemeine bedeuten, weil PaulusEph. 1, 23 sagt, |z14| daß er sie darunter verstehe? Es wird wohl einerley seyn,Fülle des, der alles in allen erfüllet, die ganze Fülle der Gottheit, die Fülle Gottes, die FülleChristi, der auszweyen gemachte neue Mensch, der ganze Bau, die ganze Familie im Himmel und auf Erden? einerley;inChristowohnet dieganze Fülle der Gottheit, und, er ist das Haupt der Gemeine? einerley;sie wohnet in ihm leibhaftig, oder, Er hatbeydeJudenundHeidenversöhnt zu einem Leibe? – Nein, das folgt nicht; so ungewöhnlich und unbestimmt und willkührlich konnte der Apostel nicht reden, wenn er vernünftig schreiben wollte: Wie würde ihn der ungelehrte Haufe verstanden haben? Aber was ists ungewöhnliches, unbestimmtes, wenn er sich erklärt, so will ich verstanden seyn? was schadet dann das willkührliche, und wie konnte er anders schreiben, wenn er kein andres eben so ausdrückendes einzelnes Wort in seiner Sprache hatte? Nun genug es folgt nicht; Col. 2. ist ChristusEph. 1. die Kirche zu verstehen. Erlaube mir denn also einen andern Versuch an dieser Regel zu machen, ob er dir besser gefallen möchte. Ich denke nemlich |z15| nach derselben, anJesum Christumglauben, sey soviel als seine Lehre annehmen und befolgen: Er sagt doch selbst, ihr seyd meine Freunde, wenn ihr thut, was ich euch gebiete;so ihr bleiben werdet in meinerLehre[(]Rede) so seyd ihr meinerechtenSchüler (Jünger); er sagt das einemal,wer daglaubetder wird selig werden, und ein anderesmal, die den Willen thun meines Vaters im Himmel, indem sie mich Herr, Herr nennen, d. i. ihren Meister und Lehrer, werden in das Himmelreichkommen: Hier habe ich also, wies nach jener Regel seyn soll, seine eignen Erklärungen. – Wieder falsch geschlossen! Wo hat dir Jesus gesagt, daß du dabey einerley denken sollst? Er legt mirs doch so nahe, indem er mit diesen Ausdrücken und Redarten abwechselt! Auch Paulus erklärt das Wort Glaube dahin; es ist seine eigene ausdrückliche Definition:Röm. 10, 8.Das Wort ist dir nahe in deinem Munde und in deinemHertzen; dein Gewissensgefühl sagt dirs, was recht und unrecht ist und Gott gefällt:und dies ist das Wort vomGlauben, das wir predigen; er sagt das einemal, Gal.5, 6. |z16|inChristo Jesugilt weder Beschneidung noch Vorhaut etwas, sondern der Glaube, der durch die Liebe thätig ist; und ein zweytesmal1 Cor. 7, 19.DieBeschneidung ist nichts, und die Vorhaut ist nichts, sondernGottes Gebothalten: Hier ist also, denke ich, seine eigne Erklärung, daß glauben und rechtthun ihm gleichviel gelten. Aber hat er ausdrücklich gesagt, daß es ihm gleichviel gelte? – Ich sehe denn wohl, daß auch diese Regel sehr gegründet ist, aber durchaus nicht für den Gebrauch. Oder vielmehr, theuerste Jünglinge an jedem Ort, wo euch dieses zu Gesicht kommt, sehet ich habe euch mehr denn eine wahre Geschichte erzählt, lernet daraus festere Tritte thun und wenn ihr einmal sicheren Regeln bey Erklärung der Schriften des N. T. ihren Werth in der Betrachtung zugestehen müßet, so bringet sie auch treu und standhaft in Ausübung.
Von solchen lehrbegierigen Schülern der Wahrheit müße nun auch nach meines HerzensWunsch es ewig ferne seyn, eine Erklä|z17|rung bloß deswegen sogleich zu verwerfen, weil sie ihnen neu, oder unerwiesen, oder ungewöhnlich, oder gekünstelt, oder endlich fremdgläubig vorkömmt. Sich aus irgend einer von diesen Ursachen von einer Erklärung wegscheuchen lassen und dafür gleichsam zurückprallen, ist dem Sucher des Wahren, der noch Zeit und Kräfte und Gelegenheit hat, nicht anständig. Aber sie werden auch dafür genug gesichert seyn, wenn sie sich gewöhnen in jedem Fall die Ursache ihrer Abneigung sich deutlich zu machen und den Nebel ihrer dunkeln Vorstellung zu zerstreuen.
Was nennst du neu? müßen sie sich fragen: Was dir neu ist, was du noch nicht gelesen oder gehört hast! So laß es denn seyn; vielleicht ist es andern nicht so neu, die länger gedacht, mehr gelesen haben.
Eben so: Was nennst du unerwiesen? Vermengst du es etwa mit dem was unerweislich ist und hältst das dafür, was nur dir noch nicht genug erwiesen ist, oder nach |z18| den Einschränkungen und Abänderungen deiner Vorstellungskraft vielleicht auch nur dir und denen, die dir gleichen, nicht erweislich gemacht werden kann? Ja! so ists: Rede also wie es die Sache mit sich bringt bestimmter: Das ist mirneu: Das ist für mich unerwiesen. – –
So habe ich in den Zusätzen bewiesen, daß die Erklärung des Worts Fülle nicht neu ist und sogar schon bey Col. 1, 19, von einen der größten ältesten Ausleger ohne allen Anstoß gemacht worden ; nicht neu die Erklärung von unterste Oerter derErden und Engel desSatans und sogar kein älterer Ausleger an eine wirkliche leibliche Besitzung hierbey gedacht hat: Und so hoffe ich auch bey Fülle die in einer solchen Sache möglichsten Beweise für die angenommene Erklärung gegeben und die Richtigkeit derselben in ein solches Licht gestellt zu haben, daß es geflissentlicher Eigensinn, oder wohl gar noch etwas ärgeres in jedem seyn müßte, der noch ferner sagen wollte, sie sey unerweislich.
|z19| Weiter: Man frage sich, was nennst du ungewöhnlich? Eine ungewöhnliche Erklärung was heißt das? Doch wohl nur eine solche, die in die Reyhe deiner gewohnten Vorstellungen nicht einpaßt und die du noch zur Zeit in deinenGedankenregister nicht unterbringen kannst. Wenn denn auch das ist, wie es ist, so wird man leicht sehen, daß man dies Ungewöhnliche nicht dem andern zum Vorwurf machen sollte, bey dem es aus dem Keim andrer Ideen entsproßen ist; man wird sich bescheiden, daß wo andre vorläufige Vorstellungen aus andern Auslegungsgründen Platz genommen, die uns so ungewöhnlich scheinende Erklärung mit denselben in der genausten Harmonie stehen könne. Man nehme das Wort Gottesfurcht : Ich verwerfe es von christlichen Gesinnungen gebraucht und sage es seyunbiblisch, und finde darinn gar nichts fremdes. Das macht alle diese Ideen sind bey mir vorhergegangen;Furcht und Ehrfurcht, oder Ehrerbietung, werden in jeder Sprache unterschieden; die Religion der Christen mit allen ihren Erweisungen und Uebungen soll Kindesartig |z20| seyn, zum Unterschied der jüdischen; daher soll man sich Gott immer als Vater der Menschen, den höchsten und besten Vater, denken, ihn lieben, ihm ergeben seyn, ihn mit aller Freudigkeit des Herzens verehren. Nun nehme man aber einen dem es an allen diesen Vorstellungen und Wahrnehmungen bisher gefehlt hat; der in allen öffentlichen Vorträgen nur immer das Wort Gottesfurcht gehört, der es selbst bey solchen Gelegenheiten sich geläufig gemacht hat; er wird jene Erklärung ungewöhnlich schelten, und am Ende ist sie es doch nur in seiner Denkungsart.
Ganz so ist es mit dem Gekünstelten in Erklärungen, worüber ich mich schon einmal in der Vorrede zurUebersetzung desSegenJacobsu. s. w. erklärt habe. Hielte man auch hier Rücksprache mit sich, was verstehst du darunter? Verwirrst du nicht etwa die ganz verschiedenen Begriffe einer kunstmäßigen (artificiosae) und einer gekünstelten (coactae), oder einer nicht gleich offen lie|z21|genden (minus obuiae, exquisitae) und erzwungenen (nimis quaesitae) Erklärung miteinander? Scheint dir das nicht etwa gezwungen, so daß der damalige Leser das unmöglich dabey habe denken können, weil du dir ihn mit deinen ganzen System vorstellst, welches er doch nicht hatte? Ist es dir nicht vielleicht so, weil dir das Sehrohr mit welchener die Rede betrachtete verrückt, oder durch die Staubwolken so vieler Fragen und Streitigkeiten verdunkelt worden ? Gienge man, sage ich, so bis auf den Grund einer als gekünstelt empfundnen Erklärung, wie oft würde man sich eines andern besinnen? Es ist vortreflich gesagt, wenn man verlangt der Ausleger solle sich in die Situationen derer setzen, zu welchen ein Schriftsteller zunächst geredet: Es kann wohl niemand diese Regel so hoch schätzen als ich, und ich sollte meinen, daß ich bey den Artikeln, bekehren , Ebenbild , Christus , Gesetz , Glaube , heilig , Hoherpriester u. a. m. sie deutlich genug zum Grunde gelegt hätte. Aber das ist eben die verzweifelte Illusion, daß man bey die|z22|ser Gedankenversetzung doch sein ganzes Ich wieder mit nimmt, die Gegend verändert, aber seine Denkungsart, Sitten und Gebräuche beybehält.
Endlich; was heißt es die Erklärung ist fremdgläubig? Sie ist falsch? Und hast sie noch nicht geprüft! Also etwa; sie kann nicht wahr seyn, weil sie von der Kirchengesellschaft, in der ich mich befinde, nicht angenommen wird? Aber sollte denn auch kein Funke von Wahrheit bey andern seyn? Oder soll es gar sovielheißen, ich werde kein Amt darauf kriegen? Schäme dich und habe mehr Vertrauen zu Gott! –
Habt, will ich also noch überhaupt bitten, habt, die ihr dereinst andre lehren wollt, eine unwandelbahre große Ehrerbietung für euer Gewißen und damit für den Gott, von dessen Willen und Wohlgefallen es ein beständiger Wiederhall ist. Ehret es in Untersuchung, Annehmung und steter Befolgung der Wahrheit, daß ihr |z23| nichts dafür haltet, was ihr nicht geprüft habt; jeder Ueberzeugung euer Hertz offenstehen und dann nichts in der Welt euch davon abbringen lasset. Kaufe die Wahrheit, nach dem Rath des Weisen, wenn du auf die Universität gehst, und verkaufe sie nicht, wenn du ein Amt suchst und so lange du es begleitest! GeschriebenBerlin, am 5ten October 1773.
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