{versbc3 23. 24.} Seelig sind die Augen die da sehen was ihr sehet! Denn ich sage euch, viele Propheten und Könige begehreten zu sehen was ihr sehet, und habens nicht gesehen; und zu hören was ihr höret, und habens nicht gehöret. Seelig, nicht weil sie den Welt-Heiland und seine Wunder mit ihren Augen sahen. {Siehe Lucä 11, 27. 28.} Sondern weil sie seinen Unterricht, die Religionbc4 die er die Menschen lehrete, zu kennen das Glück hatten. – Und in der That, welches Volk, welches Menschen-Alter hat so viel richtige und heilsahmebc5 Kentnisse, so viel Kräfte zur Tugend, so viel Trost im Leiden, so viel Aufrichtung gegen den Todt gehabt, als wir Christen! Unsre Kinder wissen mehr als die grösten Weltweisen des Alterthums; und die grösten Propheten des A. T. {Matth.bc6 11, 9–11bc7 } Der kleinste im Himmelreich, ist grösser als der gröste Prophet: „der gemeine Christ weiß mehr als Johannes der Täufer, der gröste unter den alten Propheten!“ – – Aber eben dies vorzügliche Glück der Christen vermehret auch die Strafbarkeit ihres unheiligen Lebens. {Römerbc8 2, 4. 5.} Solche Reichtümer der Güte Gottesc9 nicht recht brauchen, das häufet unsre Strafe: {2 Petri 2, 20. 21c10 } für |b172| |c187| einen unheiligen Christen wäre es besser, daß er die christliche Religion nie erkant. Hier ist also kein Mittel. Ein Christ, ist entweder ausserordentlich glücklich, oder ausserordentlich Elend.
{versbc11 25.} Und siehe! da stundc12 ein Gesezgelehrter auf und versuchte Jesum. Es scheint dieser Gelehrte verstand jenen Ausspruch Jesu sehr wohl. Nun machte er sich auf, um ihn in diesem Lobspruche zu Schanden zu machen. Schon ergözte er sich im Geist daran, wie Jesus durch die vorge|a182|legte Frage in Verlegenheit gerathen, zum Stillschweigen gebracht, oder sonst etwa in eine Falle stürzen, und damit auf einmahl als ein Prahler verachtet: er hingegen von der ganzen Versamlung als ein wahrer Gesezgelehrter mit Beifall aufgenommen würdec13! – So gar etwas anders ist es, Religion haben, und, über die Religion gelehrt und feurig disputiren! Viele Christen, gleich diesem Gesezgelehrten, lesen die Bibel um schriftgelehrtc14 zu werden. Sie können über jeden Punctc15 der Religion mit einem grossen Fluß biblischer Ausdrücke disputiren; ja beinahe die ganze Bibel auswendig hersagen. Aber! Disputirt auch noch so fein und mit noch so viel Eifer über die Religion. In dem allen thut ihr nichts, als was dieser Gesezgelehrte that; welcher darum noch kein Religiöser, kein Mann von Religion war!
{versbc16 25–28.} Meister, dies war die allerdings wichtige Frage, womit er das ganze Ansehen Jesu zu Boden disputiren wolte, was muß ich thun, |b173| |c188| daß ich das ewige Leben (Glück) ererbe? (erlange.) Jesus aber sprach zu ihm, wie stehet im Gesez geschrieben? Was liesest du da? – Der Gelehrte antwortete, du solst lieben Gott deinen Herren von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von allen Kräften, und von ganzem Gemüte.bc17 (das ist, überc18 alles, als Gottc19, lieben: aufrichtig, inbrünstig, ungetheilt, und unaufhörlich)bc20 Und deinen Nächsten, als (eben so wohl als) dich selbst. – – Thue das, erwiederte Jesus, sobc22 wirst du glücklich seyn. – Dankbare Liebe zu Gottc23, und herzliche Liebe zu Seinenc24 Menschen ist alsoc25 der Inbegrif der wahren Religion!
{/bcvers 29bc\ ∥bc26 } Er aber, dieser Gesezgelehrte, wolte sich selbst rechtfertigen; genauer, sich zeigen. Die Pharisäer hatten einen Geist der Spizfin|a183|digkeit eingefürt, welcher aus Weiß, Schwarzbc27 und aus Licht, Finsterniß machtebc28 und die klärsten Geseze Gottesc29 so lange drehete und torquirtebc30 bis sie ein Werkzeug ihres Eigennuzes und schimpflicher Neigungen wurden. Von diesem getriebenbc31 wolte der Gesezgelehrte seine Gelehrsamkeit und Ueberlegenheit über Jesum zeigen. – Ein Hauptzug in dem gemeinen Characterc32 der Menschen! Sie fragen nicht, um sich zu belehren, sondern um sich zu zeigen; um ihre Kentnisse, Geschicklichkeiten zur Schau auszulegen, und sich den Weg zu glänzenden Discursenc33 der Eigenliebe zu bahnen. Der Weise, der diese gemeine Schwäche der Menschen kennt und recht braucht, findet dadurch allenthalben tausend Mittel, sich nüzliche Kentnisse einzu|b174||c189|samlen. Der Listigeb34 macht sie zu einem Werkzeuge sich den Ruhm der Welt zu erschleichen. Man höre dem Redner aufmerksam und bewundernd zu, man gebe ihm durch neue Fragen neue Gelegenheit sich zu zeigen: so hat man sicher den Ruhm eines Mannes von Talenten, eines wizigen Kopfes und jeden andern Ruhm in einer /cGesellschaft,c\ ∥c35 durch diese in der Stadt,c36 und so in einem ganzen Lande erhalten; /cundc\ wenn man auch kein Wort von sich hören lassen. – Dies ist die wahre Geschichte des irrdischen Ruhms. Und wie sehr muß er nun, bei jedem Vernünftigen herabsinken! Ist denn so etwas, was auch der Unwissendste und Geschmackloseste erlangen, so leicht erlangen kan, und tausendmahl erlanget;c37 werth so begierig gesucht, an andern so niedrig beneidet, mit so viel Lieblosigkeit aller Art erworben zu werden?
{v. 29.} Der Disputantbc38 um sich zu zeigen, fragte Jesum, wer ist denn mein Nächster? Nichts war natürlicher als diese Frage, wenn von seiner Gemütsart die Rede war. Denn er war ein Mann von ausschweifender Eigenliebe. Und solche Menschen haben keinen Nächsten. Sie lieben ihre /bcNe|a184|ben Menschenbc\ ∥bc39 nicht anders als wie sie ihre Schaafe lieben, welche sie nären und pflegenbc40 damit sie ihnen Wolle tragen.
Aber das Gesez Gottesc41 selbst, war klar genug. Nächster, ein genau-verbundenerc42, ein verwandterc43 der uns nahe angehet, war selbst nach dem Geseze Mosis, ein jeder Mensch. Denn ein jeder Mensch ist mit uns aus Einemc44 Blut entstanden, von Einem Gottc45 geschaffen, durch |b175| |c190| Eine Natur verknüpfet. Du solst deinen Nächsten lieben eben so wohl als dich selbst, dies Gesez wird 3 Buch Mosis 19, 18. 33. 34bc46 und 5 Buch Mosis 10, 17–19bc47 auch von dem der kein Israelit war, von dem Fremdlinge erklärt. Denn, sezt Moses hinzu, der Herr euer Gott ist ein Gott aller Götter, und Herr über alle Herren, der keine Person achtet, und kein Geschenk nimt; nichtc48 wie die Götter der Heiden, der /cGott einerc\ ∥c49 Nation oder dieses und jenes Menschen, der sich durch Geschenke einnehmen läßt und seinen Favoriten alles andre aufopfert.c50 Er schaft Recht den Waisen und Wittwen, und liebt die Fremdlinge. Darum solt ihr, auch die Fremdlinge lieben. Dennoch verstand der angesehenste Theil der jüdischen Theologen, die Pharisäer, durch den Nächsten den Gottc51 zu lieben befohlen, bloß den Juden, {Matth.bc52 5, 43.} ja gar nur den Freund.
Jesus, ohne in diese Zänkereien hineinzugehen, wendet sich an das innere Gefül des Disputanten; welches auf eine geschickte Art erweckt, über seinen Disputir-Geist, selbst über seine Eigenliebe siegen muste. {/bcvers 30bc\ ∥bc53 } Die Juden der damahligen Zeit entflamtc54 von dem Geist der Hölle, erklärten alle andre Menschenc55 die keine Juden waren, für verdammt. Die {Siehe die Bücherbc56 Esrä /bundc57 Nehemiä.b\ ∥b58 } Samariter insbesondre, halb Juden, halb Heiden, waren seit uralten Zeiten ihnen aufs äusserste verhaßt: {Johannisbc59 4, 9. Kapitelbc60 8, 48.} selbst die gemeinsten Höflichkeiten und Dienstleistungen versagte man ihnen, |a185| und ein Samariter war den Juden, so wie ein Jude jenen, das Allerabscheulichste was er nur denken |b176| |c191| konte. – Selbst einen Samariter, muste ein Jude, ein Gesezgelehrter, durch sein inneres Gefül gedrungen, bewundern und loben. So unwiderstehlich war die Wahrheit in dem Munde Jesu!
{versbc61 30–32.} Ein Mensch gieng von Jerusalem, ein Bürger also von Jerusalem, ein Jude, gieng nach Jericho. Auf diesem Wege muste man eine lange, gefärliche Wüste passirenbc62, die wegen Räubereien und Mordthaten schon lange berüchtigt war. Schon beim Josua 15, 7bc63 wird dieser Weg, {Luther hat das hebräischebc64 Wort Adummim, Blut-Vergiessungen,bc65 beibehalten.} der blutige Weg genantbc66. Hier nun fiel der Jude von Jerusalem, unter die Räuber, welche ihn plünderten, verwundeten, und halb todt liegen ließenc67. Von ohngefär reisete ein Priester denselben Weg, und da er ihn sahe, gieng er an der andern Seite vorüber. Imgleichen ein Levit, als er an den Ort kam und ihn sahe, gieng gleichfalls an der andern Seite vorbei. Ohne Zweifel rürete sie dieser Anblick. An jedem andern Orte hätten sie dem Elenden, der ihr Lands-Mann war geholfen. Aber die Mordthat war ganz frisch. Die Räuber musten noch in der Nachbarschaft seyn. Bei dem Anblick dieser Gefahr starb ihr Mitleiden. Ihr Leben zu retten entferneten sie sich auf die andre Seite, und eileten vor dem Elenden hülflos vorüber.
Ein Samariter aber kam auf seiner Reise dahin, und da er ihn sahe, bewegte sich sein Herz von Mitleiden, und gieng zu ihm, verband ihm seine Wunden und goß Oel und Wein darauf, sezte ihn auf sein Thier, fürete ihn in eine Herberge und pflegete ihn. |b177| |c192| Als er am folgenden Tage abreisete,c68 zog er zwei Denarien heraus und gab sie dem Wirth und sprach zu ihm: Pflege ihn, und alles was du aufwendest will ich dir beib69 meiner |a186| Rückreise bezahlen. – So half denn der Samariter demjenigen den er für einen Feind seines Volks und seiner Religion halten muste! Erc70 wagte sogar sein eigenes Leben, um ihm zu helfen: denn der Ort wo er sich so lange verweilete, war diec71 Wildniß, wo Räuber und Mörder sich aufhielten, und eben jezo diesen Elenden so mörderisch behandelt ∥c72; der gefärlicheb73 Ort, wo Priester und Levit, voll Schrecken über der nahen Todesgefahr vorbeigeeilet. Und welche allerzärtlichste Sorgfalt trug er für ihn, den Feind seines Volks und Religion? Da er ihn sahe, wird erbc74 bis ins Innerste gerürt. Aber nicht die Wirkung des Bluts und Temperaments war dieses schmerzliche Mitleiden: sondern die Wirkung eines an Menschen-Liebe gewönten Herzens. Alsbaldc75 hebt er ihn auf. /c–c\ Verbindet seine Wunden. Sezt ihn auf sein Thier. Jezt gehet er neben ihm her, und füret ihn in die Herberge. Und scheuet keinen Aufwand, um ihn,c76 durch alle Pflege zum Leben und Gesundheit zu helfen. – /cChristlicher Leser!c\ ∥c77 Rürt dich dies; gefällt es dir: so – {/bcvers. 37.bc\ ∥bc78 } gehe hin und thue desgleichen!
Hier sehen wir denn, was ächte Menschen-Liebe? wer ein wahrer Menschen-Freund istbc80? Es giebt tausendec81 von Menschen die höflich, fein, und gefällig im Umgange sind; aber ihre Untergebenen desto härter behandeln, und ihre Gläubiger |b178| |c193| desto gröber betrügen. Menschen die beib82 jedem Trauer Spiel weinen; aber bei dem wirklichen Elende ihrer Neben-Menschen lachen,c83 ohne Bedenken ganze Familien und Gesellschaften, durch Handlungen der Unzucht, durch Verleumdung und Ungerechtigkeit zu Grunde richten. Menschen die zwanzig Personen durch Allmosen erfreuen, aber hundert andre durch bittren Spott betrüben. Menschen die gegen alles was ihnen nicht im Wege stehet, ganz Zärtlichkeit,c84 aber gegen ihre Amts-Ge|a187|hülfen, Beleidiger und Feinde, tygermässigc85 grausam sind. – Nein! So leicht erkauft man nicht den Ehren-Nahmen, die erhabene Würde eines Menschen-Freundes! Das ist die Menschenliebe des Pharisäers. Nicht aber die Menschenliebe des Samariters. – {/cvers 37c\ ∥c86 } Gehe hin und thue desgleichen. 1) Sey ein herzlicher Freund, jedes Menschen. Alles was Mensch ist, auch dein Mitwerber, der deinen irrdischen Ruhm und Vortheil verdunkelt und schwächet; auch dein ärgster Feind der auf die Zerstörung deines ganzen Glücks sinnt; auch der welcher dir scheint ein Feind Gottes zu seyn, muß von dir aufrichtig und herzlich geliebet werden. Denn; {/bcvers 30. 33bc\ ∥bc87 } so liebte der Samariter, den Juden. 2) Liebe ihn thätig. Nicht bloß mit süssen Worten, und gefälligen Reden. Sondern aus allen deinen Kräften. Mache ihn glücklich mit deinem Gelde, mit deinem Verstande, mit deinen Einsichten, mit deinem Ansehen, mit deinen mächtigen Verbindungen. Suche so viel Freude und Wohlfarth, als dir nur möglich ist, allenthalben um dich her zu verbreiten. {versbc88 29.} Der Gesezgelehrtec89, so wie der Priesterc90 und Levitc91, disputirten viel und |b179| |c194| gelehrt über die Nächsten-Liebe. {/bcvers 33–38bc\ ∥bc92 } Der Samariterc94 aber der darüber nicht disputiren konte, übte sie aus. 3) Thue dies, wenn es die Umstände fordern, auch mit deiner Ungemächlichkeit. Sobc95 verband der Samariter dem Elenden seine Wunden, und gieng selbst zu Fusse neben ihm her. So muß auch uns, die Menschen-Liebe etwas kosten. Bald einen eigenen Vortheil aufopfern, bald eine Beschwerde übernehmen, und Ungemach dulden. 4) Ja gar, dein Leben wage, und opfere gern auf, wenn es die /cMenschen-Liebe fordertc\ ∥c96. Feige flohen der Priester und Levit. Mit heldenmässigerc97 Grosmuth wagt sich der Samariter. Die Furcht seiner Gesundheit zu schaden, das Schrecken vor den nahen Mördern, der Anblick der Todes-|a188|Gefahr; nichts kontec98 ihn bewegen den halb-Sterbenden hülfloß umkommen zu lassen; nichts kontebc99 seiner Liebe Grenzenbc100 sezen. Noch immer giebt es Fälle, wo das gemeine und besondre Wohl der Menschen, von uns durch angreifende Arbeiten, gefärliche Unternehmungen, strenge Verschwiegenheit, u. s. f. Gesundheit und Leben zum Opfer fordert. Da nun,c101 besonders, sollen wir hingehen und nach dem Muster des Samariters handeln. {1 Johannisc102 3, 16.} Da sollen wir für unsre Neben-Menschen auch das Leben lassen.
Ein – Solcher, einc103 christlicher Menschen-Freund, – das ist in der That der Inbegrif aller wahren Würde, der Gipfel der Grösse menschlicher Seelen! Ihr sehet ihn vielleicht nicht /cbeib104 Trauer Spielenc\ ∥c105 weinen; ihr höret ihn nicht über die Menschen-Liebe disputiren und declamirenc106, und |b180| |c195| immer jene erhabene Nahmen im Munde füren, und immer in flammende Lobpreisungen derselben ausbrechen. Aber desto geschäftiger treft ihr ihn allenthalben, im gemeinen Leben; hier eine Thräne abzutrocknen, dort in ein verwundetes Herz den Balsam des Trostes zu giessen, einem angehenden Handwerker Capitalec107 ohne Zinsen zu leihen, Waisen zur Religion zu erziehen, seine Mitwerber durch rümliche Urtheile zu empfehlen, seine Feinde vom Untergange zu retten; und wo möglich jeden Tag durch irgend ein freudiges Gesicht und Herz seiner Neben-Menschen auszuzeichnen. Fürt euch die Vorsehung auf eurem Wege, zu einem solchenc108 Mann: o den schäzt über alles, völlig sicher leget euer Glück ganz in seine Hände. Denn ihr habt einen ächten Freund Gottesc109, und Seinerc110 Menschen gefunden. Einen Menschen-Freund, nicht nach der neuen Mode; sondern nach dem uralten Exempel des Samariters!z\