Abermahls ein edler Samariter! – {versc3 11.} Es begab sich, so fängt der Evangelist seine Erzälung an, da Jesus reisete gen Jerusalem. Dies war die {Lucä 9c4 f.} Leidens-Reise Jesu; seine lezte Reise nach Jerusalem, um daselbst, wie er mehrmals schon vorhergesagt, den schmälichsten und peinlichsten Todt, den Todt am Kreuz, für uns, ∥c5 für die Welt zu dulden. Da nun gieng er, noch zum lezten mahl, durch Samarien und Galiläa, und erfüllete diese Landschaften mit heilsamen Lehren, edlen Beispielenc6 und den grosmütigsten Thaten.
{/bcvers 12–14bc\ ∥bc7 } Als er, auf dieser Reise, in einen Flecken kam, begegneten ihm zehn aussäzige Männer. Eine der fürchterlichsten und jämmerlichsten Krankheiten: ekelhaft, schmerzlichc8 und ansteckend. Darum musten auch diese Elende die damit behaftet waren, von der Gesellschaft der Menschen, wie Pestkranke, ausgeschlossen werden. Sie stunden, heißt es, von ferne, erhuben ihre Stimme und sprachen, Jesu, lieber Herr, erbarme dich unser. Da sie Jesus sahe, sprach er |a190| zu ihnen, gehet hin und zeiget euch den Priestern. Denn diese musten, nach Mosis Gesez, untersuchen und urtheilen, ob ihre Krankheit wirklich geheilet worden, und man sie wiederum in die |b182| |c197| menschliche Gesellschaft lassen könne? Und indem sie hingiengen, – wurden sie rein. So kräftig war der Wille Jesu! Ohne alle Mittel, durch blossen Machtspruch heilet er, augenblicklich, eine der schlimmsten Krankheiten.
{/cvers 15–18b9 c\ ∥c10 } Einer aber unter ihnen, als er sahe daß er gesund geworden, kehrete um, und lobpreisete Gott mit lauter Stimme, und fiel auf sein Angesicht Jesu zu Füssen, und dankete ihm. Und das warc11 – ein Samariter. Ein Samariter war dieser Dankbare! von einem Volk welches in Absicht der Religion mancherlei Irrtümer hegte, und von den Juden aufs äusserste, als Kezer gehasset ward. Unter diesen nun befanden sich so manche edle, Gottgefällige Menschen. Ein Samariterc12 war es, an dem Jesus, in dem Evangelio vor acht Tagen, uns das vortrefliche Muster einer grosmütigen Menschen-Liebe aufstellt. Ein Samariterc13 ist es auch hier, der unter zehnen, alleine, auf eine so rürende Art dankbar gegen Gottc14 war. Sind, so rümet Jesus diesen Mann, nicht |a191| zehn rein worden? Wobc15 sind aber die übrigen neune? Ist sonst keiner zurücke gekommen Gott zu preisen, als dieser Fremdling? Nicht umsonst ist dieser Umstand hier, ausdrüklichc16 und noch dazu zweimahl angemerkt. Dies soll uns, 1) eine bessere Meinungb17 und grössere Hochachtung gegen die Irrenden in der Religion einflössen. Auch unter den von uns abgesonderten Religions-Partheien, Catholikenc18, und wie sie sonst heissen mögen: auch unter den Judenc19 und Heidenc20 giebt es, wie uns dieses Bei|b183| |c198|spiel lehret, /cwürdige Gott gefälligec\ ∥c21 Menschen. Dies muß uns auch 2) von dem gefärlichen, abergläubigen Vorurtheil zurückfüren, als wenn unser reine Glaube, uns allein schon Gott gefällig mache. {Jacobic22 2, 26} Ein reiner Glaube ohne ein reines Leben, ist ein Körper ohne Seele, ein Leichnam! {2 Petric23 2, 20. 21.} Ja er dienet nur, unsre Schande und Strafe zu vermehren.
{/cvers 19c\ ∥c24 } Und Jesus sprach zu ihm, stehe auf, gehe hin, dein Glaube hat dich gesund gemacht. Nicht als wenn der Glaube, das Vertrauen zu Jesu Macht und Güte, seine Krankheit geheilet. Dies konte er so wenig, als das blosse Vertrauen zu einem Arzt einen Kranken ge|a192|sund machen wird. Aber ohne diesen Glauben, dies Vertrauen zu Jesu, würde er nicht zu ihm gekommen seyn und seine Hülfe gesucht, folglich auch sie nicht erlanget haben. Solchergestalt hatte denn sein Glaube ihn gesund gemacht.
Gerade so, christlicher Leser, verhält es sich auch noch jezo mit den Wirkungen Jesu, oder seiner Religion unter den Menschen. Diese Religion die wir Christen bekennen, ist von Gottc25. Sie hat folglich, eine Göttliche Kraft: oder in dem Bilde unsers Textes zu reden, sie ist die göttliche Macht uns Menschen gesund zu machen, uns die wir an Irrtümern und Sünden jämmerlich krank daniederliegen. Gleichwohl wirkt sie nur so wenig. Selbst unter den Christen werden bei weitem nicht alle dadurch gesund. Und warum? – weil sie nicht glauben. Der {/cvers 19c\ ∥c26 } Mangel des Glau|b184||c199|bens, oder der Unglaube ist die Ursache, warum die Religion so wenig in der Welt fruchtet. Es ist nötig diese Quelle in der Nähe zu betrachten, um sie desto sicherer verstopfen zu können, und uns der seeligen Wirkungen unsrer Religion theilhaftig zu machen.
Es ist hier nicht die Rede von den erklärten Feinden des Christenthums, welche die Religion |a193| öffentlich verwerfen und als Aberglauben oder Betrug verhönen. Bei denen kan freilich die Religion so wenig ihre wohltätige Kraft beweisen, als die heilsamste Arzenei bei dem Kranken der sie mit Verachtung von sich stößt. Diese unsre Mitbrüder wollen wir der Barmherzigkeit ihres und unsers Schöpfersc27 und Erlösersc28, in unsern geheimen Gebeten anempfehlen: und an statt von ihnen Uebels zu sagen oder gegen sie zu eifern, vielmehr uns selbst eines ächten, das heißt, Tugendreichen Glaubens befleissigenc29, um sie dadurch von ihrer Verblendung und ∥c30 Elende zu befreien.
Bei dem also wollen wir uns verweilen was /cuns eigentlich angehetc\ ∥c31, die wir uns Anhänger und Freunde der Religion nennen. Woher komt es denn, daß viele das Christenthum annehmen, und dennoch so gar nicht christlich, vielmehr so ganz unchristlich gesinnet sind und handeln?bc32 Woher komt es, daß eine Menge Menschen die Lehren der Bibel von Gottesc33 Allgegenwart, Heiligkeit, Gerechtigkeit, dem Leben nach dem Tode, dem Leiden und Sterben des /cSohnes Gottesc\ ∥c34 für die Sünde, ∥c35 die ganze heiligste Sitten-Lehre bekennetc36; und |b185| |c200| nicht allein bekennet, sondern auch bei jeder Gelegenheit für diese Wahrheiten eifertc37, über ihre Ver|a194|fälschung oder Verleugnung jammertc38, so ganz für die Religion brennetc39: aber gleichwohl so gesinnet ist und handelt, als wenn – das alles lauter Fabel und Geschwäz wäre? Woher dieser so ungereimte Widerspruch? Woher diese so seltsame Erscheinung unter den Christen?
Sagen daß Grundsäze und Meinungen gar nichts über den Menschen vermögen, daß der Mensch nie, oder nur selten nach Grundsäzen handle, und es folglich gleich viel sey was er glaube: das heißt gegen alle Erfahrung und eigene Empfindung sprechen. Alle Handlungen die in unsrer Freiheit stehen, sind bei uns immer die Wirkung gewisser Kentnisse. Wir verlangen und streben nach einigen Dingen, ∥c40 darum weil wir sie für angenehm und heilsam halten: wir scheuen dagegen und fliehen andre, ∥c41 darum weil wir sie für unangenehm und schädlich ansehen. Ja! selbst den Ruchlosesten unter denen die sich Christen nennen, wird seine Kentniß der Religion immer noch von einigen Sünden abhalten und zu einigem Guten treiben. Wie dort {Matth.c42 14.} der Fürst Herodes, wird er selbst bei Begehung einer Mordthat, sich scheuen seinen Eid zu brechen.
|a195| Der wahre Grund jener seltsamen Erscheinung in der christlichen Welt, ist in dem Verstande zu suchen. Was auch diese unchristlich lebende Christen vorgeben, was sie auch sich selbst einbilden mögen: so ist doch sicherlich ihr Glaube ein Unding. |b186| |c201| Sie sind in der That Ungläubige. Sie verwerfen zwar freilich die Religion nicht gerade zu, sie spotten auch nicht darüber. Aber – sie glauben sie eben so wenig. {2 Thessalonicherc43 3, 1. 2.} „Betet, sagt Paulus, daß wir fürc44 solchen Neubekehrten bewahret werden, die durch ihr unanständiges und gottloses Leben der Religion Schande machen. Denn nicht alle, welche das Christenthum annehmen, haben den Glauben.“
Lasset uns sie in der Nähe betrachten, lasset uns nur in unser eignes Herz hinein sehen, und wir werden folgende Ursachen finden, warum die Religion bei uns so wenig Gutes, folglich auch so wenig Freude und Glück wirket. 1) Wirc45 verstehen die Religion gar nicht und sind davon nicht überzeugt. 2) Oderc46 wir vermengen und zernichten unsre Kentnisse davon mit allerlei Vorurtheilen und Irrtümern. 3) Oderc47 wir denken nicht an die Religion. 4) Oderc48 wir lassen uns gar, durch sündliche Begierden in förmliche Zweifel, und Verwerfung der Religions-Wahrheiten stürzen.
|a196| Wir verstehen unsre Religion nicht, und haben keine Ueberzeugung davon. – „Dies[“], wird hier mancher denken, „dies gehet mich gar nicht an. Denn ich weiß die Wahrheiten der Religion. Schon lange habe ich sie in dem Catechismusc49 auswendig gelernt!“ – Aber! nicht dieses, sondern über die Religions-Wahrheiten nachdenken, ihren Sinn recht fassen und mit andern Worten sagen können; den Zusammenhang jeder Wahrheit mit den übrigen wissen; und den |b187| |c202| Grund angeben können warum es Wahrheit ist: das heißt, seine Religion wissen und mit Ueberzeugung annehmen.
Wie weit sind aber ∥b50 hievonc51 /bsob\ manche entfernt! Nicht bloß gemeine, ungelehrte und niedrige, sondern selbst einsichtsvolle, gelehrte und vornehme Christen, wissen von der Religion nichts weiter als was sie in der Jugend auswendig gelernt. Nie haben sie über diese Wahrheiten nachgedacht. Nie die Bibel in der Absicht gelesen, um zu forschen ob sie darin stehen. Nie sich eine deutliche Vorstellung von ihrem Sinn gemacht. Nie nach den Beweisen gefragt. Nie davon etwas empfunden. Ihre ganze Religions-Kentniß ist also, nichts als ein leerer Schall. Bloße Thöne die sie |a197| auswendig gelernt, ohne dabei etwas zu denken und zu empfinden. Sie glauben folglich die Religion in der That nicht. Denn, – wie kan man das glauben was man nicht verstehet?
Wollen wir denn, daß die Religion uns etwas helfe, so müssen wir sie vor allen Dingen glauben. Wollen wir sie aber glauben, so müssen wir sie ganz andersc52 lernen als wir es ofte thun. Nicht alsbald nach dem Genuß des heiligen Abendmahls, bei unserm ersten Eintritt in die Welt, wo wir die Religion allererst recht bedürfen, sie in der Meinung daß wir schon genug davon gelernt, zusamt demb53 Kinder-Catechismusc54 bei Seite legen. Oder uns höchstens darauf einschränken daß wir noch des Sontages etwas davon in der Kirche hören. Sondern die Kentnisse die wir in dem Catechismusc55 |b188| |c203| erlernt, nur als das Fundament betrachten, worauf wir /cunser ganzes Leben hindurchc\ ∥c56 immerfort zu bauen haben. Zu dem Ende fleissigc57, und so viel möglich alle Tage, die Bibel nebst andern guten Andachts-Büchern für uns lesen, und mit Nachdenken studiren. Und auf solche Art unsre Kentnisse in der Religion, täglich immer mehr befestigen, berichtigen und erweitern. Thun wir dieses? – Thun wir es nicht, so ist ausgemacht, daß wir die Religion nicht verstehen.
|a198| Noch eine andre Ursache welche die glückliche Wirkung der Religion bei uns hindert ist diese: Wir verstehen zwar dasjenige was wir von der Religion wissen, haben auch eine eigene Ueberzeugung davon. Allein dieses Wahre wird durch die Vorurtheilec58 womit es vermenget ist, ganz zernichtet. Baldc59 bilden wir uns ein, der Glaube gewisser /cLehr Punctec\ ∥c60 sey genug,c61 das übrige in Absicht des Lebens werde Gottc62 so genau nicht nehmen. So verwandeln wir denn die Religion in ein Formular, welches mehr dazu dienet, andre zu Kezern, als uns selbst zu guten Menschen zu machen; folglich mehr schadet als nuzet. – Baldc63 sehen wir die äusserec64 Andachts-Uebungen, Kirchengehen, Gebrauch des h. Abendmahls, Gebete hersagen, für die Religion an. So wird sie denn ein blosses Cerimoniellc65, welches uns und andern lästig, aber keinem Menschen nüzlich ist. – Oderc66 wir verlassen uns auf unser /cAllmosen Gebenc\ ∥c67, und änliche Handlungen; gleich als wenn diese ein Freiheits-Brief wären nach unsern Lüsten zu leben, – Oderc68 wir täuschen uns mit den gotteslästerli|b189||c204|chen Hofnungen, das Verdienst Jesu werde uns auch bei fortwärendem /cLaster Lebenc\ ∥c69 seelig machen; der Glaube an Jesum bestehe in einer niederträchtigen Herabsezung seiner selbst und küner Beru|a199|fung auf Jesu Verdienst; die Barmherzigkeit Gottesc70 übersehe alle unsrebc71 sichere Sünden, lasse sich durch Thränen und Seufzer erweichen, uns bei allem dem Neide, Misgunst, Schwelgerei, Unzucht die wir bis an den Todt über uns herrschen lassen, dennoch in den Himmel aufzunehmen. – Und wer kan alle die unseeligec72 Vorurtheileb73 und Irrtümer zälen, woran die Seelen der Menschen die sich Christen nennen, krank liegen! Diese nun zerstümmeln die Religion, und zernichten dasjenige was sie davon wahres wissen; wie das Unkraut die reine Frucht erstickt. – Auch diese Menschen glauben folglich die Religion nicht. Denn dasjenige was sie für Religion halten, ist ein Gemische von etwas Wahrheit und noch mehr Irrthum.
Jedoch! auch bei aller richtigen, überzeugenden Kentniß der Religion wirket sie gleichwohl bei manchen nichts. Denn, und dies ist die dritte Ursache, sie denken nicht an die Religion, wenigstens alsdenn nicht wenn sie bei ihnen wirken soll. Wollen wir die Kraft der Religion an uns erfahren, so müssen wir sie uns recht geläufig, so einheimisch und vertraut machen, daß ihre Lehren und Vorschriften uns zur rechten Zeit, bei jeder Versuchung zur Sünde, jeder Gelegen|a200|heit zum Guten, jeder Freude und Widerwärtigkeit dieses Lebens einfallen. Dieses herrschende Bewustseyn der Religion ist einem Christen so |b190| |c205| unentbehrlich als dem Gelehrten und Künstler das Bewustseyn seiner Gelehrsamkeit und Kunst. Und hiezu zu gelangen, das kostet viele und lange Uebung: nämlich, einen täglichen und ernstlichen Gebrauch der Bibel; tägliche Erwägung ihrer Wahrheiten, tägliche Prüfung unsers Wandels darnach, täglichen vertrauten Umgang mit Gottc74 im Gebet.
Aber diese tägliche Haus-Andacht, ach wie selten ist sie unter den Christen! Daher verdunkelt sich bei ihnen nothwendig, einec75 Kentniß, einec76 Empfindung nach der andern. Sie entwönen sich immer mehr von dem Andenken an /cGott, seinec\ ∥c77 Gegenwart, seinec78 Geseze, seinec79 Ewigkeit. Sie denken also nicht an die Religion. Ihre Wahrheiten sind ihnen nicht gegenwärtig. Sie fallen ihnen da nicht ein, wo sie darnach handeln sollen. Und so ist es ja eben so gut, als wenn sie von der Religion gar nichts wüsten, oder sie /cgerade zuc\ ∥c80 verwürfen.
Eines der gemeinsten und gefärlichsten Hindernisse der Wirkungen der Religion, sind end|a201|lich, die sündlichen Begierden. Diese wissen und üben, selbst alsdenn wenn wir uns auch der Religion erinnern, hundert Künste unsern Verstand zu blenden, darin den Glauben zu zernichten, und ihn in förmliche Zweifel und Verwerfung der Religions-Wahrheiten zu stürzen. Die sündlichen Begierden aller Art verschlimmern nicht allein unser Herz, indem sie uns in Sünden; sondern auch unsern Verstand, indem sie uns in Irrtümer |b191| |c206| stürzen. Auch bei der richtigsten Kentniß und stärksten Ueberzeugung löschen sie, gerade in den wichtigen Augenblicken wo wir nach der Religion handeln sollen, gleich einem Sturmwinde das Licht der Ueberzeugung aus, und erregen auf solche Art einen förmlichen Unglauben, eine förmliche Verwerfung der sonst erkanten und geglaubten Wahrheiten. Oder sie geben den Sachen ein ganz verkehrtes Ansehen, und hindern dadurch die richtige Anwendung jener Wahrheiten.
So war {1 Buch Mosisbc81 3} Eva von der Gewisheit des göttlichen Befehls gar wohl überzeugt. Kaum aber regte sich in ihr die unordentliche Begierde; da fiengbc82 sie an, die Richtigkeit desselben zu bezweifeln, bald darauf ihn geradec83 zu verwerfen und sich /ceinzubilden Gottc\ ∥c84 habe den Genuß dieser Frucht wirklich nicht |a202| verbothen, oder wenigstens habe sie und Adam dieses Verboth unrecht verstanden. – {2 Samuelbc85 12.} David erkante so richtig als lebhaft, wie äusserst schändlich und strafbar der Reiche gehandelt welcher das einzige Schaaf dem Armen entrissen und zu seinem Gastmahl geschlachtet. Aber die schändlichec87 Lüste die noch in seiner Seele herrschten, hinderten die Anwendung davon. Er sahe nicht, daß er selbst dieser abscheuliche Bösewicht sey. – Der Rachbegierige weiß, und ist überzeugt, daß Feindseeligkeitb88 und Haß gegen unsre Feinde Sünde ist, daß Gottc89 uns nicht vergiebt wenn wir unsern Feinden nicht vergeben. Nun seztb90 ihn eine sehr grobe Beleidigung andrer, in den Fall dieses Stück der Religion zu üben. Da reget sich die Rachbegierde. „Ey, denkt er nun, jene Stellen der Bibel sind |b192| |c207| nicht so strenge zu verstehen. Das ist mir ja unmöglich diese Beleidigung zu vergeben. Und – am Ende, wer weißc91 ob sich Gottc92 um solche Kleinigkeiten als die Handlungen der Menschen sind, bekümmert! – Wer weiß, ob überall, die Bibel /cGottes Wortc\ ∥c93 ist!“ Diese und änliche Gedanken durchkreuzen Blizschnell seine Seele, und machen ihn in dem Augenblik der That, zu einem förmlichen Ungläubigen. – Der Stolze siehet überzeugt das Abscheuliche und Strafbahre dieses Lasters. Mit Hize verdammet er es an andern. Aber sein Stolz hindert ihn zu sehen, daß er selbst dieser Thor, dieser Verabscheuungswürdige ist, und giebt sich die Gestalt einer schuldigen Selbst-Achtung, ja gar einer rümlichen Grösse des Geistes. – Und so ist keine einzige Sünde, die uns nicht in dem Augenblick, wo sie sich in uns gegen die Re|a203|ligion empöret, zu Zweiflern, ja gar zu förmlichen Gottesverleugnern machen könte!
Wir erschrecken, wenn wir von einem Verächter der Religion oder einem Gottesverleugner hören. Aber noch mehr Ursache haben wir, über uns zu erschrecken, wenn wir das Christenthum als eine göttliche Religion bekennenc94 und dennoch seine göttliche Kraft an unserm Herzen und Leben verleugnen, wenn wir so leben als wäre kein Christenthum und kein Gottc95. Was kan man von einem Arzte schimpflicheres sagen, als daß er in allem, nur nicht in Heilung der Krankheiten erfahren sey; oder, daß er von der Heilung sehr gelehrt und beredt sprechen aber keinen Kranken heilen könne? So ist auch das Allerschimpflichste das man von einem |b193| |c208| Christen sagen kan, daß er ein unheiliges Leben füret. Das unheilige Leben eines Christen macht der Religion mehr Schande, als die frechste Spötterei ihres Verächters. Denn wie verächtlich und abscheulich muß jedem Vernünftigen eine Religion vorkommen, welche den Menschen gewisse Formeln, als Privilegia zu sündigen lehret? Und nicht so wohl die Spötter der Religion, als vielmehr ihre unheiligec96 Bekenner sind es, welche jenes fürchterliche Wehe trift, {Matth.c97 18, 6.} wehe dem Menschen durch welchen Aergerniß komt. Es wäre ihm besser daß er mit einem Mülstein am Halse, im Meer ersäufet würde, wo es am tiefsten ist! – Entweder müssen wir also, /cchristlicher Leserc\ ∥c98, auch das äussere Bekentniß des Christenthums aufgeben und zur Parthei der Verächter Gottesc99 und seinerc100 Religion übergehen. Oder wir müssen uns entschliessen, als Christen – zu leben!
|a204| Aber die Religion ist keine körperliche Arzenei, welche wirketc101 man mag daran denken, und wollen oder nicht. Sondern eine Arzenei der vernünftigen Seele. Sie thut Wunder. Aber nur alsdenn wenn wir sie brauchen, und recht gebrauchen. Wir müssen nämlich, uns mit ihr, oder welches einerlei istc102 mit der Bibel worin sie gelehret wird, täglich beschäftigen. Daraus immer mehr unsre Religions-Kentnisse berichtigen, stärken, erweitern. Daraus uns immer fester überzeugenc103 daß ihre Vorschriften unsre einzige Ehre, Freudec104 und Glückseeligkeitb105 sind. Mit dieser Belehrung unsers Verstandes, täglich die genaue Prüfung unsers Lebens verbinden. Und das al|b194||c209|les durch herzliches Gebet zu Gottc106 recht kräftigmachenc107; indem wir ihmc108, durch demütige Bekentnisse, reuvolle Abbitten, feierlicheb109 Zusagen, inbrünstiges Flehen, immer mehr unser Herz eröfnen. Thun wir dieses, so werden wir allmälich dahin kommen die Religion von Herzen zu glauben. Und bei einem solchen Glauben werden wir auch unfehlbar, sie aus allen Kräften thun.z\