So viel man auch öfters in den Schulen der Vernunftweisen gegen die Vorurtheile ohne Einschränkung eifert, so werden wir doch immer, so lange wir Vernunft haben, die nützliche Geneigtheit beybehalten, in allen praktischen Angelegenheiten uns nach Autoritäten zu bestimmen. Diese Geneigtheit ist kein blinder Na
|c80|turtrieb, sondern entsteht
d1 erst mit der Entwickelung der Vernunft, und wird mit grosser
ad2 Mühe durch die Erziehung in uns
∥d3 gebracht und verstärkt
d4. Kinder sind zwar geneigt nachzuäffen, nicht aber durch Rathgebungen sich bestimmen zu lassen, sondern vielmehr alles selbst zu versuchen. Nur nach und nach lernen sie aus der Menge einzelner Fälle einsehen, daß sie sicherer gehen, wenn
|b80| sie der Warnung älterer Personen Gehör geben. Hieraus erzeugt
d5 sich die Geneigtheit auf Autorität zu trauen. Diese macht uns nun des Unterrichts empfänglich, und hiermit zu Erben
|a74| aller Schätze der Weisheit, welche die Vernunft aller unserer Vorältern
d6 aus den Erfahrungen der verfloßnen
d7 Jahrhunderte aufgesamlet hat. Es giebt nur 3 Fälle,
a8 in welchen man sich
c9 bestimt
ad10 findet, von der Autorität bey praktischen Entschliessungen
d11 von einiger Erheblichkeit abzugehen. Erstlich, wenn mehrere eigne
d12 Erfahrungen derselben widersprechen; zweitens
ad13, wenn leidenschaftliche Begierden das Gewicht derselben in unsrer Vorstellung sehr vermindern; drittens, wenn wir deutlich
/aaus Vernunftgründen
a\ ∥a14 einzusehen glauben, daß eine sonst auf Ansehen beruhende Regel fehlerhaft seyn müsse. Im
/dletztern
c15 Fall
d\ ∥d16 befindet sich selten
a17 der gemeine Mann. Nun können wir deutlich einsehen, wie sehr der Glaube, daß eine Sittenlehre von Gott selbst bekant
a18 gemacht worden sey, die Geneigtheit sie ohne Ausnahme zu befolgen verstärken müsse. Die gesamte praktische Erkentniß der meisten Menschen beruhet auf der Autorität ihrer Aeltern, Lehrer, Freunde, oder auf dem
/dBeyspiel andrer
d\ ∥d19 angesehenen
a20 Personen. Hieraus erlernet jeder sehr viele richtige Regeln des Verhaltens aber auch manche fehlerhafte. Bisweilen widersprechen sich
|d72| auch die Autoritäten, und alsdenn
d21 folgt jeder gar leicht derjenigen, welche
/avon seiner
a\ ∥a22 Temperamentsneigungen
cd23 begünstiget und
∥a24 gegen seine Vernunft und Gewissen in Schutz
/agenommen wird
a\ ∥a25. Die hieraus
/dentste
|c81|hende praktische,
ac26d\ ∥d27 auf Ansehen
a28 gegründete
d29 Irrthümer beym grossen
ad30 Haufen zu widerlegen, wird man meist vergeblich Vernunftschlüsse anwenden; weit leichter geschiehet
a31 es durch höhere Autorität. Da nun keine grössere
ad32 Autorität, als das Ansehen einer göttlichen Offenbarung gedacht werden kan
a33, so erhellet, daß der Glaube an dieselbe das einzige oder doch
∥d34 kräftigste Mittel sey,
|b81| die praktischen Erkentnisse einer Nation zu verbessern. Komt
ad35 hierzu der Glaube an eine genaue Aufsicht Gottes auf alle auch die verborgensten Handlungen der Menschen, und an eine künftige vollständige Vergeltung auch der
/dblossen innern
d\ ∥d36 Ge
|a75|sinnungen des Herzens; so ist offenbar, daß nach dem Maaß
d37, nach welchem dieser Glaube stärker wird, auch die Gewissenhaftigkeit in Beobachtung der göttlich geoffenbarten Moral
d38 immer allgemeiner und wirksamer werden müsse. Die Sittenlehre, welche auf
/ablossen
d39 Vernunftgründen
a\ ∥a40 beruhet, wird niemals bey einem Volk
d41 einen solchen Grad der Gewissenhaftigkeit hervorbringen können, weil die Autorität des Lehrers
a42 und seiner Vernunftschlüsse durch die öftere Erfahrung, daß die guten und übeln
ad43 Folgen der Handlungen in diesem Leben oft ausbleiben, und durch die Autorität angesehener
a44 Personen sehr geschwächt
d45 wird. Das Christenthum muß demnach die Moralität
d46 und Glückseligkeit
/deiner Nation
d\ ∥d47 schon dadurch, daß es die moralische Vorschriften als göttliche Anweisung
d48 zu
/aunsrem Wohl, deren Belohnungen unausbleiblich sind,
a\ ∥a49 vorstellet, ungleich fruchtbarer, als wenn solche aus
/ablosser
d50 Ueberlegung
a\ ∥a51 der menschlichen Rathgebungen erkant
a52 werden, befördern.
|c82| |d73| Das Christenthum verhindert täglich eine Menge Thorheiten, und befördert täglich viele gute Handlungen, die
d56 sonst unterbleiben würden, auch bey denen, welche man in der Sprache der Kirche Unwiedergeborne oder Unbekehrte nent
acd57. Denn wenn diese gleich ihren Temperamentsneigungen mehr als ihrem Gewissen folgen, so suchen sie doch in allen andern
d59 Handlungen, wo ihre Hauptleidenschaften nicht mit ins Spiel kom
|b82|men, sich desto genauer nach den Vorschriften des Christenthums zu richten. Die Verpflichtung Gott gehorsam zu seyn, wird als die erste
/cdund
cd\ allgemeine Wirkung des Christenthums von allen, zu welcher Kirchenparthey sie auch gehören, empfunden, und
|a76| /ddis verstärkt
c60d\ ∥d61 nothwendig die Stimme des natürlichen Gewissens, und hindert die völlige Gewissenlosigkeit[.]
acd62