System der Glückseligkeitslehre des Christenthums.
§. 80.
/aDurch die bisherige
d1 Betrachtungen haben wir uns vorbereitet, die gesamte Glückseligkeitslehre des Christenthums im Zusammenhange zu übersehen. Im ersten Abschnitt
d2 bestimten
c3 wir den Begrif
c4 von der menschlichen Glückseligkeit. Im zweiten
cd5 setzten wir die vortreflichen Anlagen, die in unsren
cd6 natürlichen, innern und äussern
d7 Bestimmungen zu höherer Glückseligkeit angetroffen werden, ins Licht. Im dritten suchten wir die Hindernisse zu entdecken, welche den Menschen bey ihren
cd8 selbstthätigen Bestreben nach grösserer
d9 Wohlfart im Wege sind, und um welcher willen sie einer äussern
d10 Hülfe bedürfen. Im vierten betrachteten wir die Lehre Christi in Beziehung auf die Bedürfnisse der Menschen
d11 und fanden, daß sie gerade diejenige Hülfe gewähre, welche zur Wegräumung der Hindernisse von aussen
d12 erforderlich ist. Im fünften Abschnitt
d13 untersuchten wir einige Lehren des gemeinen Kirchenvortrages, welche denkenden Leuten in unsern
d14 Tagen
/danstössig sind,
c15d\ ∥d16 und sie abhalten die Hülfe, welche auch ihnen das reine Christenthum darbietet, zu benutzen
cd17 und
∥cd18 fanden, daß sie
cd19 menschliche Zusätze sind, die
d20 auf mißverstandnen
cd21 Schriftstellen beruhen, und also von der christlichen Glückseligkeitslehre abgesondert werden können. Nun sind wir im Stande
dz22 die Anweisungen Christi zur Glückseligkeit, ohne Beymischung menschlicher Lehrmeinungen, in einem Grundriß
d23 vorzulegen, woraus ihre genaue Zusammen
|c208|stimmung
|b208| |z2| unter einander und zu dem Zweck
d24, uns seliger zu machen, deutlich ersehen werden kan. Dieser Grundriß ist blos für denkende Personen ein kleines vollständiges System, darin die
|d188| Hauptwahrheiten ohne alle sinnliche Einkleidung dem Verstande vorgelegt
cd25 werden: dagegen für den grossen
d26 Haufen, der
d27 mehr mit der Einbildungskraft denkt
d28, freilich noch manches hinzukommen muß, um diesen geistigen Begriffen einige Haltung und sinnliche Unterstützung zu geben.
Ich will nun in diesem Abschnitt
d29 eigentlich zweierley zu liefern suchen:
1.
Das kurze System der christlichen Philosophie oder Glückseligkeitslehre selbst, wie es unabhängig von Geschichte und ohne sinnliche Einkleidung erkant werden kan. Da es einen doppelten Weg giebt, sich von der Wahrheit und Göttlichkeit des Christenthums zu überzeugen; entweder, daß man bey der Geschichte anfängt und schließt
cd30: wer ein grosser
d31 Wunderthäter gewesen ist, dessen Vorträge müssen von Gott und also durchaus wahr und zuverlässig seyn; oder daß man von dem Lehrinhalt
d32 ausgehet und folgert: wer den wahren Plan Gottes in der Natur und in seiner moralischen Regierung uns entdeckt
dz33, dessen Lehre ist von Gott, und dessen Lebensgeschichte verdient
cd35 daher auch unsre
z36 besondre
cd37 Aufmerksamkeit: so will ich hier meinen denkenden Zeitverwandten, welche den ersten gemeinen Weg
d38 aus ein
cd39 oder der andern Ursache
d40 nicht betreten können, den zweiten eröfnen und bahnen, nach Pauli Beyspiel 1 Cor. 9, 20–23.
2.
Den Situationsplan der verschiedenen Denkarten und Vorerkentnisse der Juden und anderer Völker zu den Zeiten Christi und der Apostel in Absicht der Religion. So bald man hierüber deutliche Einsichten erlangt
cd41, wird das ganze neue Testament durchaus verständlicher
d42 und alle Zweifel, welche
|b209| |c209| |z3| durch die endlosen Streitigkeiten der Theologen über so viele Lehrartikel des Christenthums veranlasset worden sind, verschwinden auf einmal. Man stelle sich nur vor, daß in eine glückliche Provinz Leute aus allerley Gegenden von Osten, Westen, Süden und Norden her geführt
cd43 werden solten: ist es da wol möglich
d44 Einen gemeinschaftlichen Weg für
|d189| alle auszumitteln? Werden nicht mehrere Hauptstrassen
d45 und eine noch grössere
d46 Anzahl kleinere Wege und Fußsteige, die
d47 in die Hauptwege einleiten, angewiesen werden müssen, wenn jeder Kolonist, von seinem Wohnort
d48 aus, nach dem Lande des Wohlergehens hingeführet werden soll.
cdz49 Nun waren die Apostel solche Wegweiser, die
d50 unter allerley Völker ausgeschickt
cd51 wurden, jedermann zu höherer Glückseligkeit in die christliche Kirche einzuführen. Sie mußten
d52 also die Leute gleichsam in ihrer Heimat aufsuchen
z53 oder mit ihren Anweisungen da anfangen, wo sich ihre Zuhörer und Leser nach ihrer verschiedenen Gemüthslage und Vorerkentnissen befanden; und wie Paulus sich ausdrückt, allen allerley werden, den Juden als Juden, den Griechen als Griechen erscheinen, um viele zu gewinnen. Denn überhaupt ist es doch nicht möglich, auf
/cdandre
cd\ ∥cd54 Art Verbesserung der Einsichten durch Unterricht zu veranlassen;
cd55 als daß man die neuen Erkentnisse, die
d56 man erwecken und vergewissern will, aus Theilen des schon vorhandnen
cd57 Erkentnisses der Zuhörer zusammensetzt
d58 und mit Gründen, die von ihnen für ausgemacht wahr gehalten werden, beweiset. Wenn man nun die verschiedenen Principien und Theorien der gelehrten und ungelehrten Juden, Hellenisten und Griechen zu den Zeiten Christi unterscheidet, und sodann
c59 darauf acht hat, für welche Klasse derselben jedes Evangelium und jeder Brief zunächst aufgesetzt
cd60 und bestimt worden, so lernet man aufs überzeugendste einsehen, daß im neuen Testament
d61, nicht, wie in der Kirche gewöhnlich angenommen worden, nur Ein Weg, sondern
|c210| mehrere, ja
|b210| |z4| eben so viele einzelne Wege, als es verschiedne
cd62 Gemüthslagen der damaligen ersten Leser gegeben hat, gebähnet
cd63 worden sind, um allerley Leute von ihren Vorerkentnissen aus, zu höheren Religionseinsichten und einer glückseligern Gemüthsfassung zu bringen. Dieses ist nun der wahre Schlüssel zum richtigen Verstande
∥cd64 des neuen Testaments: dagegen bey dem gemeinen Auslegungsgrundsatz der Glaubensähnlichkeit (
analogiacd65 fidei), nach welcher alle Aussprüche der heiligen Schrift in allen Begriffen und
|d190| Sätzen übereinstimmig erklärt
cd66 werden sollen, gar vielen Stellen des neuen Testaments
cd67 nothwendig Gewalt angethan werden muß, und die Streitigkeiten der Theologen darüber niemals geendigt
cd68 werden können. Zwey Wege, die
d69 von verschiedenen Gegenden, von Osten und Westen her, auslaufen, können und müssen eine ganz entgegengesetzte Richtung haben, wenn sie beide richtige Wege seyn und am Ende in einem Mittelpunkt
d70 zusammentreffen sollen: eben so kan und muß ein und derselbe Satz in der einen Reihe von Vorstellungen bejahet und in einer andern Reihe verneinet werden, wenn am Ende aus beyden Reihen der Gedanken eben dasselbe Resultat der mehrern Gemüthsruhe und besserer Entschliessungen
d71 hervorgehen soll. Dieses alles wird meinen Lesern völlig verständlich und anschauend werden, wenn ich den Situationsplan der Denkarten
cd72 und Vorerkentnisse der Menschen zu Christi und der Apostel Zeiten, und die dadurch bestimte mannigfaltige Lehrarten der heiligen Schriftsteller ins Licht gesezt
zcd73 haben werde.
a\
aNachdem in den vorhergehenden Abschnitten bereits ins Licht gesetzet worden ist, was eigentlich menschliche Glückseligkeit sey; was für Anlagen in unsrer Natur und Verhältnissen zu derselben angetroffen werden; durch welche Einschränkungen und Hindernisse eine äußere Hülfe unserm selbstthätigen Bestreben nach höhern Graden derselben nothwendig gemacht wird; und wie die Anweisungen der christlichen Lehre diese einzelnen Menschen und ganzen Nationen auf das vollkommenste darbieten; und nachdem nun auch im letztern Abschnitt die dem Christenthum beygemischten Hypothesen älterer und neuerer Gelehrten davon abgesondert und die daraus entstehenden Mißverständnisse gehoben worden sind: so läßet sich nun der Grundriß zu einem vollständigen System der Glückseligkeitslehre Jesu, wie solche in den Schriften der unmittelbaren Schüler desselben vorgetragen ist, ohne Schwierigkeit entwerfen. Ich verstehe unter einem System der christlichen Glückseligkeitslehre weiter nichts als einen solchen deutlichen, bestimmten und bündigen Vortrag, der dazu gehörigen Hauptwarheiten, durch welchen jederman in den Stand gesetzt wird, die Zusammenstimmung derselben unter einander und zu einem gemeinschaftlichen Zweck klar zu übersehen, und sich vermittelst dieser Uebereinstimmung, als dem Hauptmerkmal der Wahrheit, durch seinen eignen Verstand eine zur Annehmung und Befolgung derselben hinlängliche Ueberzeugung davon
|a193| zu verschaffen. Ein solches System muß nach den verschiednen Bedürfnissen der Menschen auf eine doppelte Art entworfen werden, wenn man einer ganzen Nation im Fortgang zu höherer Wohlfart dadurch förderlich seyn will. Denn es hat nicht nur zu den Zeiten der Apostel eine zwiefache Gattung der Menschen gegeben, sondern giebt dergleichen auch in unsern Tagen; nemlich einige fragen nach Weisheit, andre wollen Zeichen und Wunder sehen, wenn sie glauben sollen.
- 1. Unter denen, die nach Weisheit fragen, verstehe ich diejenigen, welche ihre Geisteskräfte so geübt haben, daß sie das wahre und falsche aus innern Merkmalen, und aus der Uebereinstimmung mit allgemeinen Begriffen zu beurtheilen die Fertigkeit haben, und welche daher bey dem Erkentniß der Religion aus innern von Autorität unabhänglichen Gründen überzeugt seyn wollen. Für diese ist es nöthig, ein System der christlichen Philosophie zu entwerfen, welches keine Geschichtswahrheiten voraussetzt, sondern durchaus in sich selbst, und auf allgemeine Vernunftwahrheiten gegründet ist.
- 2. Unter die Classe derer, welche Zeichen und Wunder sehen müssen, wenn sie glauben sollen, gehört der große Haufe der Menschen, ja selbst viele von denen, die sich Gelehrte nennen; welche überhaupt wenig abstrakt, sondern größtentheils nur konkret, wenig deutlich sondern sinnlich, mehr durch die Einbildungskraft, als durch den Verstand vorzustellen und zu denken aufgelegt sind: welche nicht aus dem Zusammenhange allgemeiner Begriffe, sondern auf Autorität ihre Ueberredungen und Meinungen gründen, und durch Vorstellung einzelner Fälle und durch Erzählungen leichter als durch allgemeine Lehren zu klaren Sachbegriffen gelangen; wenn sie gleich sonst viel tiefsinnig scheinende Wörtererkentnisse bisweilen memorirt haben. Für |a194| diese ist zum Erkentniß und zur Ueberzeugung von den höhern Verstandeswahrheiten der Religion eine Einkleidung derselben in Geschichte nothwendig, theils weil ihnen hierdurch die Vorstellung derselben konkreter dargeboten werden, und die Einbildungskraft etwas hat, woran sie sich halten kann: theils weil bey Leuten die auf Autorität mehr als auf eigne Vernunftschlüsse bauen, und also nur durch Glauben im logischen Verstande, ihre Einsichten aufsamlen; die Geschichte der natürlichste Gegenstand des Glaubens ist, als wobey alles auf der Autorität der Zeugnisse beruhet. Für diesen ungleich größern und daher respectabelen Theil jeder Nation muß daher die Glückseligkeitslehre des Christenthums in Geschichte eingekleidet und eine Art des historischen Systems davon aufgeführet werden.a
z(NB. §.
81 bis 86. bleiben nach der ersten Ausgabe unverändert.)
z
|b224| |c224| §. 83.
Die mehresten erwachsenen Menschen benutzen ihr Leben nur immer als Mittel, niemals als Zweck. Sie arbeiten fortgesetzt für die Zukunft um dereinst sich glücklich zu wissen, aber niemals komt
a1 der Zeitpunkt, darin
cd2 sie nun recht mit Bewußtseyn die Früchte ihres
/aFleisses
d3 genössen
a\ ∥a4 und sich glücklich fühlten. Das Leben wird meistens in Hofnungen
a5 verträumet
cd6. Es ist daher eine sehr wohlthätige Veranstaltung für ein Volk, wenn zwischen mehreren Arbeitstagen ein Feiertag
a7 angeordnet ist, welcher den gewöhnlichen Kreislauf
a8 der mühsamen Geschäfte hemt
a9, und die arbeitsamen Menschen zur Erholung und
/dGenuß
d\ ∥d10 der Früchte ihres Fleisses
ad11 einladet. Gott einen Tag heiligen heißt,
acd12 aus mehreren Tagen, an
|a208| welchen man
∥cd13 die
/cdMittel, den Bedürfnissen dieses
cd\ ∥cd14 Lebens
/cdabzuhelfen, herbeyzuschaffen
/asucht
a\ ∥a15cd\ ∥cd16, einen aussondern und dazu widmen, sich deutlich, umständlich und anschauend des ganzen
/cdWerths
cd\ ∥cd17 seines Daseyns, des ganzen Umfanges
a18 der Wohlthätigkeit Gottes bewußt zu werden. Die Ruhe von
/cdbeschwerlicher Arbeit
cd\ ∥cd19, der Genuß besserer Speisen und Getränke
d20 und der mehrere Kleiderputz reizen zur Geselligkeit und Fröhligkeit
acd21; und schon hierdurch wird bey Leuten, welche ihre tägliche grobe Arbeiten ganz unempfindsam machen würden, die Menschlichkeit unterhalten, und ein
|d203| stärker
d22 Gefühl für Sitten erweckt,
acd23 Marc. 2, 27. Zur höhern
cd24 Feier
a25 eines Tages, an welchem es uns erlaubt ist,
a26 mehr uns selbst als andern zu leben, gehört
d27 nun vornemlich die ruhige Ueberdenkung unsres
a28 gesamten Zustandes. Bey den täglich fortgehenden Geschäften kommen wir selten völlig zu uns selbst;
cd29 selten werden wir veranlaßt
d30, den ganzen Umfang des Guten,
a31 was wir besitzen, schon erarbeitet
a32 haben und noch
∥cd33 hoffen, uns ausführlich klar zu machen, und daher sind wir auch so selten recht zufrieden, weil blos die äussern
ad34 kleinen Veränderungen unsre Aufmerksamkeit be
|b225||c225|schäftigen,
a35 und das immer vorhandne
cd36 Gute
/cdgar nicht beahndet
cd\ ∥cd37 wird. Indes sind auch wenige
a38 Menschen dazu aufgelegt, dergleichen Betrachtungen von selbst in sich zu veranlassen, und gehörig fortzusetzen. Wenn aber an solchen Tagen zugleich öffentliche Vorträge gehalten werden, welche uns auf den Werth dieses Lebens aufmerksam machen;
a39 das viele sich uns darbietende mannigfaltige Gute ins Licht setzen;
a40 Gründe zu den schönsten und erhabensten Hofnungen
a41 darbieten und vergewissern; alle gesellige edle Triebe und Gesinnungen beleben;
a42 und uns neue Aussichten in eine fruchtbarere Benutzung unsres
a43 Lebens eröfnen:
a44 ja denn
cd45 werden diese Tage wahre Feste für uns, an welchen wir uns zu höheren Staffeln
|a209| der Glückseligkeit empor gehoben fühlen. Personen von tiefen und ausgebreiteten Einsichten können
/dfreilich
a46 von
c47d\ ∥d48 den meisten
/cdöffentlichen Lehrern wenig
cd\ ∥cd49 neue Aufschlüsse
/d/coder
c\ ∥c50 grösseres
a51d\ ∥d52 Licht,
ac53 als sie selbst schon besitzen,
a54 erwarten: allein da die Erfahrung lehret, daß viele gute Erkentnisse
/cdbey uns
cd\ ∥cd55 lange Zeit hindurch in der Seele gleichsam schlafen, so dienet
/cddoch
cd\ sicherlich jeder öffentliche Religionsvortrag dazu, uns an allgemeine praktische Wahrheiten zu erinnern und
∥cd56 Betrachtungen, auf die wir sonst,
a57 wenigstens
vorietzt,
ad58 nicht gekommen seyn würden, in uns zu veranlassen. Redet der Lehrer des Volks
∥cd60 aus warmen Herzen, so träget
a61 /cddis
∥a62 viel
cd\ ∥cd63 zur
Belebunga64 edler Gesinnungen
∥cd65 bey. Hiernächst aber ist die Beywohnung einer öffentlichen Versamlung
∥cd66 mit dem unausbleiblichen Vortheil
cd68 ver
|d204|knüpft, daß es uns bey der
gemeinschaftlichena69 Anbetung der Gottheit sinnlich klärer und eindrücklicher wird, wie alle Menschen bey aller Verschiedenheit der Talente, der Neigungen
d70, der Stände, der Geschäfte des Lebens
a71 und
/cdandrer
/aäusserer
a\cd\ ∥cd72 Verhältnisse
a74 doch sämtlich als Kinder Gottes von
/agleicher innern Würdea\ ∥a75 und
/agleich erhabener Bestimmunga\ ∥a76 sind; und wie die Mannigfaltig
|c226|keit ihres
/cdäussern
a77 Berufs
cd\ ∥cd78 sie sämtlich zu
|b226| nutzbaren Gliedern eines grossen
ad79 Körpers
/cdmacht, welche
cd\ ∥cd80 daher auch
cd81 als unsre Mitglieder
/cdunser ganzes Wohlwollen
cd\ ∥cd82 und
/cdalle thätige Hülfsleistungen von uns
cd\ ∥cd84 verdienen. Wie viele Beförderung wahrer Glückseligkeit könten
a86 unsre öffentliche Religionsübungen bewirken, wenn alles bey denselben zweckmässig
ad87 nach Maaßgabe
c88 der Kultur
a89 der Einwohner jeglichen Orts
cd90 eingerichtet würde! Ebr. 10, 25. 1 Cor. 14 besonders v. 26. K. 12, 4 f.
§. 84.
Aus diesem mit wenigen
a1 Grundstrichen entworfenen Plan
cd2 der christlichen Philosophie ist nun die Wahrheit und Göttlichkeit der Lehre Jesu auch unabhängig von der
|a210| Geschichte seines Lebens ersichtlich. Das eigentliche innre
d3 Merkmal der Wahrheit für denkende Leute ist die Uebereinstimmung einer Lehre in allen ihren Theilen untereinander, mit allen ohnstreitigen Vernunftwahrheiten
cd4 und mit den unverwerflichsten Erfahrungen. Diese allgemeine Zusammenstimmung findet bey dem System
cd5 der christlichen Glückseligkeitslehre so augenscheinlich statt, daß jeder aufgeklärte Menschenverstand ohne Hülfe einiger Schulgelehrsamkeit dieselbe deutlich ersehen kan
a6.
1. Es ist nichts unnatürliches, nichts überspanntes, nichts,
a7 was mich nöthigte mir unnatürlichen Zwang anzuthun oder meine Selbstliebe zu verleugnen, in der christlichen Weisheitslehre. Ich soll Gott erkennen, verehren, lieben,
a8 nicht um seinetwillen, sondern damit ich selbst ruhiger, zufriedner, getroster werde und in mir die Geneigtheit alle Regeln der Ordnung gern zu beobachten aus der Ueber
|d205|zeugung
a9 entstehe, daß diese Ordnung auch in Absicht auf mich unverbesserlich gut und die vortheilhafteste sey. Ich soll alle Menschen wie mich selbst lieben, auch Feinden Gutes
a10 thun; auch da großmüthige Wohlthätigkeit zeigen, wo ich nicht absehen kan
a11, daß es mir von Menschen vergolten werden möchte; ja selbst mein Leben
|b227| |c227| soll ich für Brüder und Mitbürger lassen, wenn dadurch die allgemeine Wohlfart befördert werden kan
a12: aber nicht mit Kränkung meiner Selbstliebe; nicht aus Schwärmerey;
a13 sondern mit voller Vernunft und deutlicher Einsicht, daß ich dabey nichts verliere, mich nicht um andrer Willen gänzlich auf immer aufopfere, sondern daß dis
d14 mich unausbleiblich höherer Glückseligkeit empfänglich macht; aus Ueberzeugung von dem heiligsten und vollkommensten Plan
cd15 der moralischen Regierung Gottes, nach welchem ich von den uneigennützigsten Handlungen den allergrößten und dauerhaftesten Nutzen sicherlich erwarten kan
a16. Wie sehr
/derhebt
c17 dis
d\ ∥d18 die christliche Philosophie über die stoische, wie
/dviel mehr
d\ ∥d19 Vernunft ist
|a211| hierin,
∥d20 wie viel sichtbarer stimt
a21 dieses mit den Grundtrieben unsrer Natur überein! Ich soll nach Preis
a22 und Ehre und unsterblichem Ruhme
a23 trachten, nicht als nach einem leeren,
a24 nach meinem Tode mich schlechthin nicht mehr beglückenden Schall
d25 meines Namens bey der Nachwelt, sondern aus der Ueberzeugung, daß in einem noch bevorstehenden vollkomnern
ad26 gesellschaftlichen Leben alle natürliche Folgen der grössern
ad28 Hochachtung, Dankbarkeit und Dienstbeflissenheit meiner gewesenen Zeitverwandten und der Nachwelt mich reel
a29 beglücken werden. Daher soll ich nicht nach eitler Ehre geizen
a30, nicht blos scheinen wollen,
ac31 gut zu seyn und zu handeln, sondern zuvörderst nach der Ehre bey Gott streben; das ist, ich soll in meinen innern Gesinnungen, in meinen geheimsten Gedanken, die nur der Allwissende siehet, rechtschaffen,
a32 edel, wohlthätig und
∥a33 wahrhaftig ehrwürdig zu seyn trachten, weil ich nur dadurch allein überall so handeln werde, daß ewige Ehre mein Lohn seyn kan;
a34 dagegen alle Gleisnerey bey den weitern Aufklärungen
∥a35 in jenem andern Leben Schimpf und Verachtung erzeugen wird.
|d206| Ich soll hier von den Gütern dieser Erde, die ich besitze, den Dürftigen reichlich mittheilen;
a36 nicht um es mir zu entziehen,
a37 sondern
|b228| |c228| weil dieses das einzige Mittel ist, diese Güter, die im Tode zurückbleiben, in ein besseres Leben hinüber zu retten: indem ich nicht nur
∥acd38 die Verehrung und Liebe derer, welchen ich wohlthue, geniesse
d40, sondern
/aauch
a\ in ihren dankbaren Gesinnungen einen Schatz in jener neuen Verbindung der Menschen wieder finde, wo sie mir sehr reichlich durch Gegendienste und Freundschaftsbezeugungen alles zu vergelten im Stande seyn werden, was ich hier zu ihrem Besten gethan
/ahabe,
cd41 Luc. 16, 9. 1 Tim. 6, 18. 19. Matth. 25, 34–40.
a\ ∥a42
Wer von meinen Lesern fühlet nicht, wie sehr diese Vorstellungen und Motiven das menschliche Herz zu jeder edlen
a43 und liebreichen Gesinnung beleben können? Wer
a44 siehet nicht, wie Christen bey Befolgung
d45 solcher Grundsätze
|a212| nothwendig
/asich
a\ überall
∥a46 einen Himmel bereiten werden, wo sie sich in einer Gesellschaft vereint befinden?
a47 und wer kan
a48 noch zweifeln, daß jedem Staat
cd49 daran gelegen seyn müsse, die christliche Philosophie und Denkart
cd50 durch alle Stände und Familien
/cdzu
cd\ ∥cd51 verbreiten
∥cd52?
2. Die wahre Vorbereitung zum künftigen Leben nach dem Tode bestehet in der weisesten und fruchtbarsten Benutzung des gegenwärtigen. Der Christ darf hier nichts um Gottes oder der Ewigkeit willen thun, nichts aufopfern oder sich entziehen, was er nicht schon nach gesunder Vernunft,
a53 zu seiner gegenwärtigen gesellschaftlichen Wohlfart zu thun,
a54 für nützlich
/aerkennen muß
a\ ∥a55. Er unterscheidet sich demnach von
cd56 Unchristen blos durch die grössere
ad57 Allgemeinheit und Erhabenheit der Beweggründe und die erfreulichern
a58 Aussichten in vortheilhafte Folgen seiner Verdienste ins Unendliche
a59. Hier ist also abermals der vollkommenste Zusammenhang
d60 und
/adie genaueste
a\ Zusammenstimmung, das
/aächte
a\ Merkmal der Göttlichkeit des Plans: die Aussichten in jenes Leben ermuntern zur bessern Benutzung des gegenwärtigen, und der
|c229| vollste
cd61 Genuß dieses Lebens vergrössert
ad62 unsre Empfäng
|b229|lich
|d207|keit zu höhern
cd63 Graden der Glückseligkeit im
acd64 künftigen
∥cd66. So erhellet demnach, daß christliche Tugend nichts anders als die Fertigkeit sey, seines Daseyns in allen Lagen, darin man sich immer befinden mag, möglichst froh zu werden; denn sie erwächst
cd67 aus deutlicher Einsicht in den gesamten Plan der moralischen Regierung des allervollkommensten Wesens.
3. Da die menschliche Glückseligkeit, wie im ersten Abschnitt
d68 erwiesen worden, im herrschenden Bewußtseyn des wachsenden Uebergewichts
cd69 der Vollkommenheiten unsres
a70 gesamten Zustandes über die Unvollkommenheiten desselben bestehet, so ist nun zugleich offenbar, wie das System der christlichen Philosophie die vollkommenste Glückseligkeitslehre sey: denn
|a213|
- a) da alle von uns nicht abhängende Bestimmungen unsres Zustandes von der vollkommensten Güte und Weisheit eingerichtet werden, so sind sie,a71 im Zusammenhangea72 und in Beziehung auf unsre ganze Dauer,a73 unfehlbare Mittel unsre höhere Wohlfart zu befördern. Dem Verstande /ades Christena\ erscheintcd74 daher keine /aäussered75 Bestimmung,a\ ∥a76 bey Ueberdenkung seinesa77 gesamten Zustandes,a78 als wahres bleibendes Uebel;a79 und die bald /dvorübergehende unangenehmed\ ∥d80 Empfindungen /ades Körpersa\ ∥a81 sind uns allemal erträglich und werden freiwilligad82 übernommen, so bald unsre Vernunft sie als Mittel ∥cd83 einera84 dauerhafterncd85 Verbesserung unsres Zustandes erkennet. Folglich ist eine herrschende Vorstellung von dem /dgrossena86 Uebergewichtc87d\ ∥d88 des Guten in unsrema89 Zustande über das Böse dem Christen möglich und leicht, und er kana90 daher eine beständige Zufriedenheit geniessend91.
- b) Da uns eine ganz unbegrenztea92 Aussicht in einen fortgehenden Wachsthum von Wohlfart und höherer Glückseligkeit eröfnet wird, so fälltcd93 alles,a94 was bey Ueberdenkung unsrer ganzen Bestimmung in Absicht der |c230| Zukunft uns nothwendig kleinmüthig und niederge|b230|schlagen machen muß, gänzlich hinweg;a95 und der König der Schrecken, |d208| der so furchtbare Tod, ist für uns ein göttlicher Bote, der uns in seligere Scenen hinüberführt. Der Christ kana96 also bey Ueberdenkung der ganzen Zukunft seine Zufriedenheit behalten; ja sie wird eben durch dieselbe aufscd97 stärkste erhöhetcd98.
- c) Da der Christ eine ganz vollkomnea99 moralische Regierung Gottes erkennet, vermöge welcher jede gute Handlung ihn nicht nur innerlich vollkomnera100 macht, sondern auch dereinst äusseread101 vortheilhafte Folgen für ihn haben muß, wenn solche gleich zunächst in diesem Leben gehemmeta102 und unterbrochen würdena103; so hängtc104 ein beständiger Wachsthum seiner Vollkommenheiten von ihm selbst ab. Da nun überdisd105 gute Hand|a214|lungen auch schon hier in den meisten Fällen den äussernad106 Zustand verbessern, so erhellet,a107 wie bey einer wahrhaftig christlichen Denkungsart ein /cdimmer fortgehendercd\ ∥cd108 täglicher Wachsthum des Uebergewichtscd109 des Gutena110 in unsern gesamten Bestimmungen,a111 folglich immer höhere moralische Glückseligkeit erfolgen müsse.
- d) Das System des Christenthums ist so vollkommen, daß alle einzelne Theile sich in ihrer Wirksamkeit zum Zweckcd112 durchaus unterstützen. Je mehr sich dem Menschen die Vollkommenheitena113 der göttlichen Güte und Weisheit aufklärena114, desto ruhiger wird er unmittelbar,a115 und desto geneigter sich in den Plan Gottes zu schicken; bey der hieraus entstehenden Heiterkeit des Gemüths ist er aufgelegter,a116 das viele Gute in seinem Zustande zu bemerkena117 und es frölich zu geniessend118. Dieser vollere Genuß des Guten verstärket rückwärts die lebhaftere Vorstellung der wohlthätigen Gesinnungen Gottes gegen uns,a119 und diese belebtcd120 aufs neue die dankbare Liebe und Betriebsamkeit,a121 ihm wohlgefällig zu denken und zu handeln. Durch das Bewußtseyn |b231| |c231| solcher Gesinnungen und durch jede Handlung der Rechtschaffenheit wird in unsa122 das Vertrauen zu Gott und der getroste Muth vermehret: und indem die meisten Handlungen der aufrichtigen Menschenliebe auch den |d209| äussernad123 Zustand verbessern, so vermehren diese Erfahrungen /atäglicha\ die Geneigtheit unser Glück ∥a124 durch /ddie Bemühungend\ ∥d125 Gott in allema126 ähnlich zu denken und zu handeln, das ist,a127 durch die thätigste rechtschaffenste Menschenliebe und /adiea\ Beobachtung aller Regeln der Ordnung zu bauen. So multipliciren sich alle religiöse Bestrebungen des Christen in sich selbst zu einem immerfort wachsenden Resultat höherer Glückseligkeit.
Und nun will ich diese Entwickelung
cd128 des wesentlichen in der Philosophie des Christenthums noch durch eine sehr wichtige Bemerkung beschliessen. Es sind unleugbar nun
|a215| schon beynahe volle 18 Jahrhunderte verflossen, seitdem Christus zuerst diese Glückseligkeitslehre, im Gegensatz
d129 der abergläubischen, unmoralischen und ängstlichen Gottesdienstlichkeit
a130 der Juden und Heiden, und auch im Gegensatz
cd131 der überspannten und doch sehr unvollständigen Tugendlehren der alten Philosophen vorgetragen hat. In dieser geraumen Zeit ist bis auf den heutigen Tag,
acd132 aller mehreren Kultur
a133 der menschlichen Vernunft und alles tiefsinnigen Nachdenkens so vieler Gelehrten ohnerachtet, doch noch nicht ein einziger Satz gefunden worden, welcher uns mehr Zufriedenheit, mehr Geneigtheit zur Tugend, mehr Muth und
/aHofnungen einflössen
d134 könte
a\ ∥a135, als die Wahrheiten, die
d136 Christus schon versichert hat. Alle so hoch berühmte Entdeckungen in der Metaphysik und natürlichen Religion sind doch genau betrachtet nichts anders,
a137 als endlich nach
/alangem Suchen
a\ ∥a138 in der Natur der Dinge entdeckte Gründe und Prämissen zu den Wahrheiten, welche Christus so viele Jahrhunderte vorher schon deutlich ohne alle Schulgelehrsamkeit
|b232| mit der erhabensten Simplicität vorgetragen hat. Sol
|c232|te
a139 diese unleugbare Geschichtswahrheit nicht die Aufmerksamkeit aller denkenden Männer verdienen? Solte
a140 sie nicht jedem das Geständniß abnöthigen, daß der Unterricht Christi,
cd141 und die Ausbreitung seiner Lehre in der Welt nicht nur unter die größten, sondern auch unter die ausserordentlichsten
ad142 Wohlthaten gehöre, womit Gott je das menschliche Geschlecht gesegnet hat?
a143
§. 86.
Zuvörderst will ich meine Hypothese über den Ursprung der Religionsbegriffe und Gottesdienstlichkeiten unter den er
|d211|sten Menschen oder
∥d1 den rohen Nationen vorlegen
a2, welche ich indes
ad3 der weitern Prüfung der Gelehrten überlasse. Es ist mir höchst wahrscheinlich, daß die alten Völker zuerst durch die in der Atmosphäre
d5 sich
|a217| zutragende
d6 Veränderungen zu der Vermuthung veranlasset worden sind, daß höhere über uns Gewalthabende Wesen die Oberwelt bewohnen. Sie mußten die wohlthätigen Einflüsse der Sonne und des Regens,
∥a7 die von anhaltender Hitze und Wassergüssen entstehende
d8 Verheerungen ihrer Felder, die Gewalt der unsichtbar tobenden Sturmwinde, und die
/derschütternde furchtbare
d\ ∥d9 Wirkungen
a10 der Donnerwetter nothwendig bemerken und anstaunen. Sie betrachteten also den Himmel, der
d11 über ihre Häupter bald Segen,
a12 bald Verderben schüttete
a13, mit einer gewissen Ehrfurcht;
a14 und da die Veränderungen
a15 desselben nach keinen
/dan den Körpern auf der Erde
d\ in die Augen fallenden Gesetzen erfolgen
a16, so vermutheten sie ganz
/dnatürlich, daß
d\ ∥d17 über ihnen willkührlich handelnde Wesen oder Elohims
cd18 wohneten
a19. Nun sannen sie auf Mittel,
a20 derselben Gunst zu gewinnen, und da Menschen durch Geschenke gewonnen werden können, so schlossen sie analogisch, daß man auch die Gunst der Elohims
cd21 /asich
a\ dadurch müsse
a22 erwerben können. Die Schwierigkeit war,
a23 |b234| wie man die Geschenke in die Höhe hinaufbringen könne. Nun bemerkten sie, daß das Feuer die Körper auflöset
d24, und der Dampf sich bis in die Wolken empor hebt;
ad25 und
|c234| so entstund
d27 das Anzünden der Opfer den Elohims
cd28 zum
/dsüssen Geruch.
d\ ∥d29 ∥c30 Ob ein dargebrachtes Opfer angenehm gewesen sey oder nicht, schloß man blos
d31 aus dem Erfolge
a32. Brachten zwey zugleich ihre Opfer dar, der eine um Regen, der andre um Sonnenschein zu erbitten
a33, so konte
a34 /dder erfolgende Regen
d\ in einem rohen Zeitalter
∥d35 sehr leicht eine solche Eifersucht wegen der mehrern
cd36 Begünstigung dessen, den die Götter erhöret hatten, bey dem andern erwecken, daß ein Bruder den andern erwürgte. Oft wurden Menge Opfer dargebracht ohne Erhörung zu bemerken;
a37 und nun sann man auf allerley neue Versuche, ob man nicht irgends etwas ausfindig
a38 machen könte
a39, was die Götter
/abewegen möchte,
a\ ∥a40 die Ab
|a218|änderung schädlicher
|d212| Witterung zu beschliessen
d41. Vielleicht geschahe es nach einer lange
d42 anhaltenden Dürre, daß ein Gewitter herauf zog und einen Menschen erschlug;
a43 und so gleich ward die Idee aufgefaßt, daß unter manchen Umständen die Elohims
cd44 Menschen zum Opfer verlangten. Das erste Studium der Theologie bestund
d45 also darin,
/adaß man
a\ Bemerkungen aus der Erfahrung samlete
a46, was für Arten der Opfer und Ceremonien unter diesen oder jenen Umständen am gewöhnlichsten durch einen guten Erfolg bestätiget worden wären. Hiernächst fieng man nunmehro auch an, den Himmel und dessen Veränderungen sorgfältig zu beobachten;
a47 ja selbst was sich den Wolken zu nähern schien, der Flug der Vögel und deren Geschrey
d48 wurden für andeutende Zeichen und Boten des Götterwillens gehalten. Die, welche diesen Beobachtungen mit
/adbesonderm
c49 Fleisse
ad\ ∥ad50 oblagen, hiessen
d52 Seher;
a53 und da sie natürlich früher
/aals andere
a\ ∥a54 einige Vorbedeutungen
/avon den
a\ ∥a55 Witterungsveränderungen aus der Aehnlichkeit der Fälle entdeckten, so konten
a56 sie manches
|b235| vorher sagen, und erhielten hierdurch eine gewisse Autorität, unter dem
a57 Namen der Propheten, Wahrsager und Zeichendeuter. Diese Leute machten ihre Entdeckun
|c235|gen als den ihnen geoffenbarten
a58 Willen der Götter bekant,
a59 und wurden nach und nach als Heilige mit den Elohims
cd60 in näherem Umgange stehende Minister der Gottheit
d61 verehret, und bey allen wichtigen Angelegenheiten von Familien und Völkerschaften um Rath befragt
d62. Bis dahin hatte nun die Religion noch nicht den mindesten Einfluß auf die Verbesserung der Moralität; denn die Witterung und
/dVeränderungen
a63d\ ∥d64 der Atmosphäre stehen in keiner ersichtlichen Verbindung mit den Gesinnungen und freien Handlungen der Menschen. Weil indes
d65 die erstgebornen Söhne in der alten Welt Priester und Häupter der Familien zugleich waren, so benutzten diese die vorhandne
cd66 Ehrfurcht
/cdvor den Göttern
cd\ ∥cd67, und ertheilten gute
|a219| gesellschaftliche Vorschriften,
a68 als ihnen vom Himmel geoffenbarte Gesetze. Diese Verbindung
a69 der Moral mit der Gottesdienstlichkeit war demnach nur zufällig.
⌇⌇a
|d213| Es ist mir
/aferner
a\ sehr wahrscheinlich, daß die Astronomie, welche doch mit den gemeinsten Bedürfnissen des Lebens einen weit geringern Zusammenhang hat, als viele später erfundene Künste, ihren frühzeitigen Anbau dem Religionsgeiste des ersten Zeitalters, welcher zu genauer Beobachtung alles dessen, was in der Höhe vorgieng, erweckte, zu danken habe
a70. Diejenigen, welche sich durch diese Kentnisse zuerst
/cdhervor thaten
cd\ ∥cd71, erhielten bald ein grösseres
ad72 Ansehen, als alle übrige Wetterpropheten;
a73 und da man sie aufsuchte und mit Geschenken überhäufte, um von ihnen über die Zukunft unterrichtet zu werden, so wurden sie hierdurch aufgemuntert, sich lediglich auf das Studium der Naturkunde zu legen. Um ihren Kindern ein gleich bequemes Leben zu verschaffen, machten sie aus ihren Entdeckungen Familiengeheimnisse und unterhielten aus Interesse den Aberglauben des
|b236| Volks. Der Begrif von der Einheit Gottes, oder von einem höchsten Monarchen der Welt, ist wie ich glaube unter diesen Gelehrten zeitig gefunden worden. Die
|c236| Naturkündiger mußten bald bemerken, wie alles mannigfaltige in der Körperwelt so harmonisch zusammen geordnet ist,
/adaß
a\ ∥a74 wenigstens der Plan dazu
/anur
a\ von
/aEinem höchst
a\ ∥a75 verständigen Anordner herrühren kan
a76. Ueberdis
d77 wird ein Gelehrter, der für die monarchische Regierungsform der Reiche, es sey aus Grundsätzen oder aus Gewohnheit,
a78 eingenommen ist, sich analogisch
cd79 die Regierung der Welt monarchisch zu denken sehr geneigt seyn
/a, obgleich dabey aus ähnlichen Gründen die Existenz vieler Unterregenten und Schutzgötter ihm wahrscheinlich bleiben wird
a\. Wir haben sehr wenig
d80 ächte Urkunden von der ältesten Philosophie und Theologie der Chaldäer, Egypter und andrer
d81 zuerst kultivirten
a82 Völker, aber alles, was sich davon erhalten hat, scheint
d83 mir dazu übereinzustimmen, die vorgetragene Hypothese zu bestätigen.
cdAnmerkung: Ueber die Religionsbegriffe der ältesten Völker werden in den Philosophischen Unterhaltungen zur weitern Aufklärung der Glückseligkeitslehre einige ausführliche Abhandlungen geliefert werden.cd
|a220| |d214| §. 87.
Unter die ältesten authentischen Urkunden der Gelehrsamkeit,
cd1 und der Religionskentnisse der Vorwelt ge
|z5|höret das Gesetzbuch der Ebräer, oder die Schriften
∥d2 Mosis.
∥a3 Mose war,
a4 wie aus
/dseiner eignen
c5 Erzählung
d\ ∥d6 bekant
a7 ist, von einer Israelitin geboren,
a8 in einem Kästchen ausgesetzt, und von einer egyptischen Prinzessin
c9 gefunden worden. Diese ließ
c10 ihn zuvörderst von seiner eignen
cd11 Mutter säugen und pflegen, nachher aber in aller Weisheit und geheimen Gelehrsamkeit der Egypter unterrichten,
a12 Apostelg. 7, 22. Nachdem er
/abey Vertheidigung eines Israeliten gegen die Gewaltthätigkeit eines Egypters den letztern zu tödten das Unglück gehabt hatte, und deswegen aus dem Lande geflohen war
a\ ∥a13, hielt er sich einige Jahre bey einem midianitischen
a14 Oberpriester
|b237| |c237| und Fürsten
cd15 auf, der als ein sehr kluger Mann geschildert wird, 2 Mos. 18, 14–24. kehrte darauf nach Egypten zurück, ward das Oberhaupt der Ebräer, welche von den Egyptern
a16 damals sehr hart behandelt wurden, führte
cd17 sie aus der
/aSklaverey zur
a\ ∥a18 Eroberung eines andern Landes aus, und gab denselben nun ganz neue Gesetze.
/aWill man von dem wahren Werth
cd19 dieser Gesetzgebung richtige Einsichten erlangen, so muß man sie von einer doppelten Seite betrachten:
erstlich, als die Grundlage einer
Staatsverfassung, blos nach
politischen Absichten:
d20 zweitens:
z21 als die Grundlage zu einer bessern
Volksreligion, nach
moralischen und höhern Absichten der Vorsehung.
a\ /a1. Es sey mir also vergönt
cd22, auf kurze Zeit zu vergessen, daß Mosis Gesetzbuch von der Kirche unter die göttlich geoffenbarten
d23 Lehrbücher über die Religion gezählet wird, um zuvörderst die grosse
d24 Staatskunst, die
d25 darin verborgen liegt
d26, ohne Rücksicht auf Religion in ihrem eigenen Lichte darzustellen. Weder der Werth der mosaischen Schriften, noch das Christenthum, noch die Wahrheit überhaupt werden dabey verlieren, sondern, wie sich in der Folge zeigen wird, auf mehr denn eine Art gewinnen. Man stelle sich
|d215| also zuvörderst ein
|z6| rohes zahlreiches Volk vor, das aus zwölf gegen einander eifersüchtigen Stämmen oder Horden bestehet, und nun zu Einem Staatskörper, der
d27 sich selbst zu erhalten und fortzuwachsen geschickt sey, vereint und geformt werden soll. Nothwendig muß hier vor allen Dingen ein Mittel ausfindig gemacht werden, alle zwölf Stämme durch ein fortdaurendes gemeinschaftliches Interesse auf immer fest zu verbinden; Gemeingeist in ihnen zu erwecken;
d28 und allen innern
d29 Trennungen, wobey sie ein Raub ihrer Feinde werden würden, vorzubeugen. Was thut Mose? Er verbindet sie durch das höchste Interesse einer gemeinschaftlichen, ihnen allein eignen
z30 Religion
|b238| |c238| und
∥d31 Unicität des Gottesdienstes, der nur an Einem Ort
d32 abgewartet werden kan: er erfüllet sie mit
/dreligiösen Nationalstolz
d\ ∥d33 und
/dErwartung unmittelbarer
d\ ∥d34 Mitwirkung der Allmacht bey ihren gemeinschaftlichen Volksunternehmungen;
z35 und mit Religionshaß, Verachtung und Abscheu gegen alle andre benachbarte Nationen,
∥d36 Was vermögen nicht, der Geschichte zufolge, diese Stücke schon einzeln in den Gemüthern der Menschen; und was würden sie
∥d37 vereint
/dnicht
d\ ausgerichtet haben, wenn die Juden von dem Geist
cd38 der mosaischen immer beseelt geblieben wären! – Doch lasset uns dieses weiter entwickeln. Jehova, der höchste über alle andre
d39 Götter erhabene Gott, der Schöpfer und Beherrscher des Weltalls, hat aus allen Völkern des Erdbodens sich nur allein das jüdische Volk ausgewählet, seinen Namen durch Beglückseligung
d40 desselben zu verherrlichen. – Welch ein Gedanke! Mußte nicht dieser schon das Herz jedes Israeliten mit dem edelsten Stolz
d41 anschwellen, und zu den allererhabensten Erwartungen berechtigen? Mußten nicht von dieser Höhe alle andre Nationen den Juden klein und verächtlich erscheinen? – Allein Jehova will nicht nur dann und wann bey ausserordentlichen Fällen sich ihrer unmittelbar annehmen;
|z7| nein, er wird ihr gewöhnlicher Heerführer im Kriege, ihr Regent in der bürgerlichen Regierung, ihr Richter bey Streitsachen. Er läßt
d42 sich ein Zelt und in den folgen
|d216|den Zeiten einen Pallast unter ihnen bereiten, in welchem er residiret, und nimt einen der Stämme zu seiner Hofstaat und Leibwacht
cd43 und eine Familie desselben zu
∥c45 Staatsbedienten an. Diese werden von den öffentlichen Landesabgaben der Zehnten und Erstlinge
z46 und von den Strafgefällen und ausserordentlichen Geschenken bey Sünd- und Dankopfer
cd47 besoldet. Niemand ausser dem hohen Adel, den Priestern, darf
/cdsich
cd\ in das Innere seines Pallastes nahen
cd48, und nur allein der erste Minister
|b239| |c239| hat jährlich einmal Zutritt ins Kabinet
d49, wo des Jehova Herrlichkeit thront: dem übrigen Volk
cd50 wird aller nähere Zugang von den Leviten verwehrt. Im Lager und besonders bey Märschen stieg von der Hütte des Stifts eine Dampfsäule bis zu den Wolken
z51 und bey Nacht ein
/dhoch
/chinauf loderndes
c\ ∥c52d\ ∥d53 Feuer empor;
cd54 gewiß die schicklichsten Mittel, den weit
d55 verbreiteten Horden den Ort des Hauptquartiers in grosser
d56 Entfernung noch merkbar
cd57 zu machen, um sich auf dem Fortzuge darnach richten und im Fall
cd58 des Bedürfnisses hin finden zu können. – Aber alle Anliegen mußten vermittelst der Priester oder Staatsbedienten vor den Jehova gebracht werden, und in zweifelhaften und wichtigen Fällen ward durch den ersten Minister oder Hohenpriester die Antwort ertheilt. – Sehet da, einen vortreflich angelegten Plan, die Stämme zusammenzuhalten, und allen Trennungen vorzubeugen! Das Volk hatte einen
unsterblichen König; und hiermit war den Spaltungen und innerlichen Kriegen, welche durch Thronerledigungen veranlasset werden, gänzlich vorgebeugt
cd59. – Nur an
/dEinem
c60 Ort
d\ ∥d61 konte Jehova nach Darbringung eines Opfers vor seinem Pallast
cd62 mit
/dErfolg
c64 gefragt
d\ ∥d65 und angebetet werden. Kein Bildniß von ihm war zu machen erlaubt, weil dieses zur Ver
|z8|vielfältigung der gottesdienstlichen Oerter und hiermit zu Trennungen der Stämme Anlaß gegeben hätte. Die Einheit des Orts
cd66 der Anbetung war eine Mauer ums Volk herum, und die Zusammenkunft aller Mannspersonen bey den hohen Festen zur Stiftshütte oder Tempel unterhielt Bekantschaft und Verknüpfung der Stämme. – Auch waren die Leviten und
|d217| Priester unter alle übrige
d67 Stämme vertheilt; sie waren Geistliche, Gesetzerklärer, Richter, Aerzte und Jugendlehrer zugleich: und hatten also die wirksamsten Mittel aller Art
cd68 in
/cdden
cd\ Händen, ihre Autorität im Volk
d69 ausnehmend zu vergrössern
d70, und ihr gemeinschaftliches Interesse erforderte, die got
|b240||c240|tesdienstliche Staatsverfassung, wovon ihr ganzes Wohl beym Mangel eigner
d71 Ländereien abhieng, möglichst aufrecht zu erhalten. – Was hätte die Israelitische
z72 Theokratie den Anlagen nach für ein festes und mächtiges Reich werden müssen, wenn Priester und Leviten mehr Klugheit und Thätigkeit gezeigt
cd73 hätten! – Doch lasset uns Mosis Staatsklugheit in der Gesetzgebung noch in andern Punkten betrachten. Jehova wird als ein heftig eifersüchtiger Gott vorgestellet
c74, der Abgötterey bis ins dritte und vierte Glied strafet
cd75. Die Heiden umher sind vor ihm ein Greuel; sie sind längst schon in ihren
/dStamvätern verflucht
c76d\ ∥d77 worden; er will sie vertrieben und mit der Schärfe des Schwerdts verbannet wissen: alle
d78 auch die überwundenen und wehrlosen
/dsolten
c79 getödtet
d\ ∥d80 werden. Warum dieses harte Gesetz?
Einmal aus eben dem Grunde, weswegen das Haus Preussen dem Sächsischen niemals in seinen Kriegen mit Oesterreich die Neutralität zugestehen kan; weil das brandenburgische Land gegen Sachsen hin überall offen ist, und die Vertheidigung der Grenzen leichter durch Besetzung enger Pässe in Gebürgen, oder gegen einen Seehafen zu, als auf freien und ebenen Gefilden geschehen kan: und
zweytensd81 weil die gesittetern und wohlhabendern Cana
|z9|niter die benachbarten Stämme der Juden leicht zu einer Verbindung mit sich
z82 und zur Trennung von
/dden
d\ übrigen Stämmen vermocht haben würden;
d83 da überdis
d84 ihre Gottesdienstlichkeiten sinnlich angenehmer, in der Nähe, und mit weniger Kosten verknüpft waren. Der Erfolg hat Mosen gerechtfertiget, daß er politisch richtig verordnet gehabt; denn die verschont gebliebenen Cananiter verleiteten bald die ihnen benachbarten Juden zum Abfall
d85 vom mosaischen Gesetz
cd86, und unterjochten nachher bald diesen, bald jenen einzelnen Stamm. –
|d218| Durch die bisher betrachteten Gesetze erhielt der jüdische Staat blos innre
d88 Festigkeit und äussere Sicher
|b241||c241|heit. Die übrigen Verordnungen zielten auf Gesundheit, Ordnung, Gerichtspflege, Vermehrung der Volksmenge, Verfeinerung der Sittlichkeit und
∥cd89 bürgerlichen Wohlstand überhaupt ab. Was nach damaligen medicinischen Kentnissen den im Volk
d91 eingerissenen Skorbut
cd92 befördern, oder die Zeugungskräfte schwächen und die Fruchtbarkeit verhindern konte, ward zu geniessen und zu brauchen
d93 verboten, und die äusserste Reinlichkeit nebst öfterm
cd94 Baden nachdrücklich eingeschärft. Viel
cd95 Kinder zu haben war eine vorzügliche Ehre, und Unfruchtbarkeit Schande. Die Ruhe am Sabbathe solte
cd96 die rohen Juden menschlicher und geselliger machen, und mehr Gefühl für Sitten erwecken. – Auf ähnliche Art zielen die übrigen Gesetze auf Vermehrung der äussern Wohlfart des gemeinen Wesens ab:
cd97 und erscheinen in der mosaischen Gesetzgebung insgesamt als unmittelbare Verordnungen des Jehova, als des Landesherrn, der die Uebertreter ausrotten, und die gehorsamen Unterthanen mit Reichthum, zahlreicher Nachkommenschaft und allem,
c98 was ihr Herz wünschet, beglücken wird
cd99. Dem ganzen
/dGesetzbuch
c100 setzte
d\ ∥d101 Mose
∥d102 noch die Geschichte der Stammväter der Israeliten vor
d103, um seinen Gesetzen eine neue Unterstützung zu geben. Denn alle Erzählungen
|z10| sind mit ungemeiner Klugheit in Hinsicht auf das Gesetzbuch gewählt. So ist z. B. gleich in der Schöpfungsgeschichte der Sabbath; in der Erzählung vom Fall
cd104, der Unterschied und das Verbot gewisser Speisen; in den Segnungen und Verfluchungen der Erzväter, die Rangordnung der israelitischen Stämme, und die Verbannung der Cananiter u. s. w. autorisirt. Das Interesse der übrigen Erzählungen, in Absicht auf einzelne Gesetze, kan hier nicht ausgeführet werden; es ist zu meinem Zweck
cd105 hinlänglich, Aufmerksamkeit darauf erweckt
cd106 zu haben.
|b242| Und nun beschliesse ich diese Betrachtungen über die Staatskunst, womit das mosaische Gesetzbuch entworfen
|c242| worden, mit der Bitte an meine Leser, bey sich selbst etwas
|d219| ausführlicher darüber zu reflektiren, was für ein fester, furchtbarer und übermächtiger Staat die Theokratie der Juden, den
c107 Anlagen nach, würde geworden seyn, wenn diese Nation von dem Geist
cd108 der mosaischen Gesetzgebung zu allen Zeiten enthusiasmirt
cd109 gewesen wäre. Man weiß, was der kleine, in so viele Partheien zersplitterte,
z111 Ueberrest von zwey Stämmen den kriegerischen Römern bey Jerusalems Zerstörung zu schaffen gemacht hat, und mit welcher Wuth und Tollkühnheit sie den Tempel bis zu seiner Einäscherung vertheidiget haben. Was hätte also nicht die ganze Nation auszurichten vermocht, wenn sie nach Mosis Plan
/cdzusammen gehalten
cd\ ∥cd112, sich der möglichsten Vermehrung beflissen, eine kleine Völkerschaft nach der andern aus ihrer Nachbarschaft vertrieben, und sich durch Erwartung eines ausserordentlichen Beystandes Gottes, der nur sie allein segnen, und die Gräuel der Heiden durch sie vertilgen lassen wolte, zu allen Unternehmungen stark genung gehalten hätte.
2. Nun lasset uns auch Mosis Gesetz nach seiner moralischen Seite in Beziehung auf die Religion betrachten. Hier hoffe ich augenscheinlich darzuthun, daß es
|z11| von dem göttlichen Erziehungsplan
cd113 des menschlichen Geschlechts
cd114 zu höherer religiöser Denkungsart einen sehr wichtigen Theil ausmacht, und allerdings unter die vorzüglichsten Offenbarungen und Erleuchtungen, die Völkern jemals wiederfahren sind,
/cdgehöret
cd\ ∥cd115.
- 1. Mose war der erste, der einem ganzen Volkcd117 die Lehre von der Einheit Gottes bekant /cdmachte: abercd\ ∥cd118 dieser Grundbegrif aller wahren Religion hätte sich nicht erhalten können, wenn er nicht durch Verwebung mit der Staatseinrichtung eine feste Begründung bekommen hätte. Es war die erste Bürgerpflicht in der |b243| Theokratie, die Einheit Gottes |c243| zu behaupten: mehrd120 Götter anzubeten war ein Verbrechen der beleidigten Majestät gegen den Landesherrn. Die Richter und Staatsbediente waren zugleich die Religionslehrer, und ihr |d220| Interesse erforderte es, auf das Bekentnißc121 der Einheit des höchsten Gottes zu halten.
- 2. Mose war der erste, der /ddem Volked\ Bilder von Gott zu verfertigen untersagte; und hiermit war ein grosserd122 Vorschritt zu einer geistigernd123 Vorstellung vom höchsten Wesen gethan: obgleich bey der äussernd124 Verehrung desselben viele Sinnlichkeit annoch gestattet werden mußte, besonders in so fern Gott als Landesherr gedacht und bedientd125 werden solte.
- 3. Mose war der erste, welcher unter seiner Nation edlere Begriffe von der Hoheit, Macht, Güte, Weisheit, Wahrhaftigkeit und andern moralischen Eigenschaften Gottes verbreitete, als noch nirgends unter dem gemeinen Volkd126 eines Landes herrschten, und der die wichtige Lehre von der allgemeinen Vorsehung und Regierung Gottes über die ganze Welt, und von seiner Aufsicht auf einzelne Menschen und ihre Handlungencd127 bey seiner Gesetzgebung zum Grunde legte.
- 4. Mose war der erste, der es zur Bürger- und Religionspflicht zugleich machte, nicht nur gerecht, sondern |z12| auch mit Nachsicht, Liebe und Wohlthätigkeit gegen den Nächsten zu handeln; obgleich unter dend128 Nächsten nur Bürger und Religionsverwandte /dund höchstens einzelne durchreisende Fremded\ begriffen wurden.
- 5. Mose machte dem Volkcd129 das Sündigen schwer, indem escd130 für jede bemerkte Uebertretung der Gesetze Opfer bringen mußte; und da die Priester und Leviten ihren Antheil von diesen Strafgelderncd131 erhielten, so wurden sie dadurch gereiztc132, auf die strenge Befolgung der Gesetze genaue Aufsicht zu haben: und auch hierdurch ward der Geist der Nation /cdkultivirtcd\ ∥cd133, den Ausschwei|b244|fungen sinnlicher Begierden immer mehr wi|c244|derstehen und nach allgemeinen Vorschriften sich bestimmen zu lernen. Für nicht entdeckte Vergehungen geschah ∥d134 ein allgemeines /djährlichesd\ Sühnopfer fürs Volk. Nimt man nun dieses zusammen, so erhellet deutlich, daß Mosis Gesetzbuch die Hauptprincipien und Grundbegriffe der wahren Religion und Sittlichkeit in seiner Nation aus|d221|gebreitet und befestiget hat, so weit als es nur irgends ihre damaliged135 Gemüthsfähigkeiten zuliessen, und daß von den Priestern in den Propheten oder Gelehrten-Schulend136, darin man schreiben und rechnencd137 die Geschichte und Gesetze verstehen, denken, dichten und musiciren lernte, nach Maaßgabe der weiteren Kultur der Nation, immer höhere Erkentnisse daraus hergeleitet werden kontenc138; wie auch nach den Schriften der Propheten die Begriffe der Religion und Moralität nachmals würklich immer mehr verbessert worden sind. ∥d139 Hieraus folget nun,c140 daß Mosis Gesetzbuch mit Recht eine der ersten Stellen in der Samlung heiliger Urkunden von den ehemaligen von Gott veranstalteten Aufklärungen und über die Religion zu haben verdientcd141; wie denn auch ohne dasselbe der Unterricht Christi und seiner Apostel, nebst |z13| ihrer ganzen Lebensgeschichte, wenig oder gar nicht verstanden werden kan.
Die bisher vorgetragene Theorie über Mosis Schriften, daß solche das Gesetzbuch der theokratischen Staatsverfassung der Juden seyn solten
c142, und auch die vorangesetzte und eingeschaltete Erzählungen darauf abzielen, den Gesetzen mehr Autorität zu verschaffen, verbreitet nun ein allgemeines Licht über diese Schriften und über die sämtlichen Bücher des alten Testaments. Alle Einwürfe gegen die Würde, moralische Güte und Weisheit ihres Urhebers, welche auf keine befriedigende Art beantwortet werden können, wenn man die Einführung
|b245| einer bessern Religion zum
cd143 einzigen Hauptzweck macht
cd144, und die Hofhaltung des Jehova, als palästinischen Landesherrn
d145, für eigentlichen Gottesdienst und vorbildliche Ceremonien erklärt
cd146, lösen sich nun von selbst auf und verschwinden. Aber noch weit grösser
d147 ist der Nutzen dieser Theorie für uns,
cd148 bey Auslegung des neuen Testaments, indem sich das ganze Verhalten Christi und seiner Apostel in Beziehung auf die mosaischen Gesetze daraus aufkläret, und manche neuerlich erregte Zweifel über den eigentlichen Zweck Jesu und seiner Jünger ihre völlige Auflösung daraus erhalten: woraus auch gegenseitig rück
|d222|wärts die Theorie selbst eine authentische Bestätigung überkomt.
a\
aDiese Gesetze sind ein Meisterstück der Staatskunst, wenn man sich die rohen Horden der Ebräer, welche menschlicher gemacht werden solten, als den persönlichen Gegenstand derselben denkt. Der über alle andre Götter erhabne höchste Gott hat durch Mosen die Israeliten aus der Knechtschaft befreyet, um sie unter allen Völkern zu seinem eigenthümlichen Volk zu machen, das ihm allein dienen soll. Er will selbst unter dem Namen Jehova ihr Landsherr und Monarch seyn, und sie durch seine Ministers die Priester regieren lassen. Dieses ist die Grundlage der Staatsverfassung und Gesetzgebung. Die jüdische Regierungsform war also theokratisch; Abgötterey war Rebellion und Hochverrath, wodurch auch die Nachkommen bis ins vierte Glied aller bürgerlichen Vorrechte verlustig wurden. Die Stiftshütte und nachmals der Tempel war das Hoflager des Jehova als Lan|a221|desherrn; der Hohepriester der erste Minister der allein unmittelbaren Zutritt ins Cabinet des Monarchen hatte, die Priester und Leviten machten die Hofstaat und die Schloßwache aus. Die Entrichtung des Zehenten, der Erstlinge und vielen Opfer waren Landesabgaben, Schutz und Strafgelder zur Unterhaltung des Hoflagers bestimmt. Alle zur Gesundheit eines höchst unreinlichen Volks nöthige öftere Waschungen, alle Verbote der nach damaliger medicinischen Kentnisse dieser Nation Speisen, alle zur bürgerlichen Wohlfart in Kriegs und Friedenszeiten abzielende Gesetze, erscheinen daher in dem mosaischen Gesetzbuche gleich durch als Religionsvorschriften, weil ihr Landesherr Gott war. Die strenge Feyer von aller Arbeit am Sabath war zur Hervorbringung einiger Menschlichkeit und Sitten unter diesem rohen Volke anfänglich höchst nothwendig, und daher stehet dieses Gesetz unter den Criminalverordnungen der so genannten zehn Gebote. – Mosis Gesetze waren vollkommen in ihrer Art zweckmäßig zu ihrer Bestimmung, aber aller Gehorsam ward durch Furcht erzwungen, und der Geist derselben konnte keine höhere moralische Edelmüthigkeit und Glückseligkeit hervorbringen. Nachdem aber die Juden etwas cultivirt worden waren, und die Priester und deren Familien sie allzu sehr drückten, zwangen sie einen der vornehmsten derselben, ihn aus einen andern Stamm einen bürgerlichen König zu wählen, der sie vor den Ausschweifungen der Diener des Jehova schützen könnte. Die Könige traten mit den Höfen schon gesitteter Staaten in nähere Verbindungen, heuratheten deren Töchter, schlossen Handlungstractaten und Vertheidigungsbündnisse und führten mit großen Mächten Krieg. Dis alles trug das seinige zur mehreren Aufklärung der jüdischen Nation bey. Nun traten schon einsichtsvollere rechtschaffene Männer auf, welche die Nation von dem ganz sinnlichen Gottesdienst auf höhere vernünftigere |a222| Begriffe der Religion und Moralität führten, wie zum Beyspiel Jesaias, ein Mann vom königlichen Geblüte. Diese Propheten äußern in ihren Schriften an vielen Orten die sichere Erwartung, welche sie hatten, daß eine Zeit der allgemeinen Erleuchtung und Befreyung des Volks von ihren ängstlichen unmoralischen Frohendiensten, die sie dem Jehova leisteten bevorstehe, und Gott einen Mann der diese Erlösung ausführen könnte erwecken würde. Jes. 1, 10 folgg. K. 2.a
§. 88.
/aZu den Zeiten,
c1 da Christus auftrat, hatte Mosis Gesetz noch bey der ganzen jüdischen Nation ein göttliches Ansehen; allein ihr Staat befand sich äusserlich in ganz andern Umständen,
c2 als zur Zeit der Gesetzgebung. Die Geschichtbücher des alten Testaments erzählen uns, wie die Juden sehr bald von den übrig gelassenen Cananitern zur Abgötterey, und hiermit zur Vernachlässigung ihres gemeinschaftlichen Interesse verleitet worden sind:
|z14| wie sie nachher weltliche Könige gewählet; sich in zwey Reiche getheilt; bürgerliche Kriege geführt
cd3; von andern Nationen überwältiget; gröstentheils
cd4 aus Palästina weggeführt
d5, und in die ganze Welt zerstreuet worden sind, so daß geraume Zeit hindurch ihre eigene Staatsverfassung und solenner Gottesdienst
/dgänzlich zu seyn
d\ aufgehöret hat
d6. Als sie nachmals die Erlaubniß von ihren Beherrschern erlangt
cd7 hatten, sich wieder nach Palästina zu samlen, und ein besondres gemeines Wesen nach dem Gesetzbuch
d8 ihrer Vorältern zu errichten, kehrte nur ein geringer Theil des Volks
d9 aus einigen Stämmen zurück, und diese waren zu schwach
d10 ohne Schutz eines der mäch
|b246|tigern Reiche sich zu erhalten, zumal ein grosser
d11 Theil ihres ehemaligen Landes von den Samaritern, einer Mi
|c246|schung der im Lande gebliebenen gemeinen Juden und der hinzu gekommenen heidnischen Kolonisten, mit welchen sie in Religionshaß
cd12 lebten, besetzt
cd13 war. Der neue jüdische Staat behielt also eine gewisse Abhängigkeit bald von dem einen,
c14 bald von dem andern
/cdgrössern Volk
cd\ ∥cd15, und endlich wurden ihre letzte Schutzherren,
z17 die Römer. Man muß es den Juden nachrühmen, daß sie nach der Rückkehr aus den babylonischen
cd18 und persischen Provinzen, worin sie merklich kultivirt
cd19 worden waren, keine Spur von einiger Neigung zur Abgötterey weiter geäussert
d20, und mit weit grösserm
cd21 Eifer ihr durch das hohe Alterthum ehrwürdiger gewordenes Gesetzbuch respektiret und befolget haben.
c23 Die darin verordnete Unicität des Gottesdienstes verband nun,
|d223| nach wieder erbauetem Tempel, auch alle entferntere und in allen Weltgegenden zerstreuet lebende Juden wieder mit dem palästinischen Staat
d24: alle schickten Geschenke dahin, und suchten
dz25 so oft es ihnen der Entfernung wegen möglich war, von Zeit zu Zeit ein hohes Fest in Jerusalem mit ihren Familien zu feiern.
/dIndes fühlten
c26d\ ∥d27 die Juden doch insgesamt die Verachtung, welche die jetzige Schwäche und Abhängigkeit ihres
|z15| Staats
/dihnen
d\ von mächtigern Nationen
∥d28 zuzog, und daß die grossen
d29 Erwartungen, wozu ihr Gesetzbuch und ihre Propheten sie berechtiget hatten, nicht erfüllet werden könten, wenn nicht ein solcher ausserordentlicher
d30 Heiland, wie Mose für sie gewesen war, wieder erweckt
cd31 würde. Auf einen solchen hofte nun das ganze Volk
d32 als Jesus auftrat und die Aufmerksamkeit der palästinischen Juden auf sich zog. Hier entsteht
cd33 nun zuvörderst die wichtige Frage:
was der Zweck Jesu in Absicht des mosaischen Gesetzes gewesen sey? Nach vielen deutlichen Stellen in den Evangelien scheinet die Absicht Christi dahin zu gehen, das Gesetz Mosis zu bestätigen und
|b247| ihm eine immerwährende Gültigkeit
/cdzu zueignen
cd\ ∥cd34. Er verweiset Matth. 23, 2. 3. das Volk und seine Jünger an
|c247| die Schriftgelehrten und Pharisäer, als die auf Mosis Stuhl säßen, oder bevollmächtigte Erklärer des Gesetzes wären, und sagt
cd35 ausdrücklich:
allesd37 was sie euch sagen, das ihr halten sollet, das haltet und thut: und Kap. 5, 17–19
d38 erkläret Jesus: er sey nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen: es solle kein Pünktchen vom Gesetz
cd39 wegfallen, sondern alles genau beobachtet werden, bis Himmel und Erde vergangen seyn würden: und jeder, der ein Mitbürger seines Reichs
cd40 seyn wolle, solle dis
cd41 Gesetz lehren und beobachten. Vergleicht
cd42 man hiermit das in der Apostelgeschichte erzählte Verhalten der Jünger in Palästina, so scheinen diese darüber zweifelhaft gewesen zu seyn, in wie fern alle Christen sich nach dem Gesetz
cd43 zu richten hätten, Apostg. 15, 4–21. und
cd44, nach langen Debatten über diese Frage, beschliessen sie, nur gewisse mosaische Einschränkungen den Heiden zur Bedingung der in die neue Kirche vorzuschreiben. Lesen wir dagegen Pauli Briefe, besonders den an die Galater, so finden wir überall Mosen und Christum, Gesetz und Evangelium oder Glaube einander entgegen gesetzt
cd45; ja Paulus
/cderklärt grade
cd\ ∥cd46 zu Gal.
|z16| 5, 1. 2. es sey dem, der sich beschneiden lasse, Christus nichts nütze; denn Christus habe alle von dem sklavischen Joch
d47 der mosaischen Gesetze befreien wollen. – Sehet hier, meine Leser, sehr scheinbare Widersprüche, welche man auf vielerley künstliche Art aufzulösen gesucht
cd48 hat, ohne die Zweifel
cd49 hinlänglich befriedigen zu können. Ich hoffe nun, durch Anwendung der vorher entwickelten Theorie über das Gesetzbuch Mosis und desselben doppelte Hauptabsicht, eine ganz natürliche und leichte Auflösung darüber zu geben. – Hier ist sie. –
Das Gesetzbuch Mosis soll nach Christi Zweck
d50 in so weit es die Landes
d51 und Policeygesetze für sämtliche
|b248| Mitglieder des gemeinen Wesens in Palästina enthält, von allen Juden, die sich zur Lehre Jesu bekennen wol
|c248|len, nach wie vor aufs genaueste
c52 beobachtet werden, bis Himmel und Erde vergehen, das ist
d53 (nach einer bekanten jüdischen Art sich auszudrücken) so lange als die gottesdienstliche und politische Verfassung der Juden noch dauren, oder sie noch einen Tempel und eignes Land haben würden. Die Jünger Jesu solten sich selbst,
d54 in pünktlicher Erfüllung desselben,
d55 nach den strengsten Erklärungen der Pharisäer richten;
cd56 und dazu auch die palästinischen Christen fernerhin anhalten, damit sie sich als gute Bürger zeigten, und sich des Schutzes der Obrigkeit würdig machten:
cd58 so wie daher Christus selbst
/cddurch die genaueste
cd\ ∥cd59 Beobachtung desselben sich ihnen zum Muster darstellen konte. Aber für etwas mehr als Staatsgesetze solten Mosis Verordnungen nicht weiter gelten, und durchaus nicht für Bedingungen der höhern Seligkeit. Paulus konte demnach ausserhalb
cd60 Palästina, wo Mosis Schriften nicht die Grundlage der bürgerlichen
/dEinrichtung waren,
c62d\ ∥d63 und keine obrigkeitliche Autorität hatten, auch früher, dem Zweck
cd64 Jesu ganz gemäß, die fernere Beobachtung derselben für überflüssig
d65 und der höhern
cd66 geistigen Re
|d225|ligion des Christenthums
∥cd67 schädlich er
|z17|klären: dagegen die palästinischen Apostel die Erlösung erst abwarten mußten, welche nach Christi Vorherverkündigung, mit dem Untergang des jüdischen Tempels und Staats, binnen einem Mannsalter ihnen widerfahren würde, Matth. 5, 17–19. vergl. mit K. 24, 39. 44. Luc. 21, 25–33.
Diesem ganz einförmigen Plan
cd68 Christi und seiner sämtlichen Jünger zu folge, erhielten nun die Apostel die Neubekehrten in Palästina in ihrem Eifer für das Gesetz der Väter, und autorisirten doch auch zugleich Paulum, die Heiden ohne Beschneidung zu Christen aufzunehmen; nur solten diese, der Schwäche der Juden wegen,
|b249| sich von den Dingen äusserlich
d69 enthalten, wogegen den Juden von Kindheit an Abscheu und Ekel beygebracht
|c249| worden war, damit der freundschaftliche Umgang zwischen beiderley Nationsverwandten nicht litte. –
∥cd70 Hiernach lässet sich nun auch eine sehr schwierige Stelle im Briefe an die Galater befriedigend erklären, da Paulus Kap. 2, 11–14. erzählt, wie er sehr hart mit Petro
/dzusammen gekommen wäre
d\ ∥d72 und zwar darüber, daß Petrus bey seiner Ankunft nach Antiochien mit den bekehrten Heiden umgegangen sey, sich aber nachher denselben entzogen habe, so bald einige palästinische Judenchristen aus Jerusalem auch daselbst angelanget wären. – Der hierüber zwischen zwey Aposteln entstandne
cd73 heftige Streit höret auf, etwas Anstössiges
cd74 zu enthalten, und zeigt
cd75 die Rechtschaffenheit beider Männer in einem sehr vortheilhaften Lichte, wenn man sich ihre Situation deutlich macht. Paulus war der Heiden Apostel. Er arbeitete Tag und Nacht daran, die Scheidewand zwischen Juden und Heiden niederzureissen
d76, und eine Uebereinstimmung in christlichen Gesinnungen hervorzubringen. Es war ihm darin so weit geglückt, daß die Judenchristen zu Antiochien ihren Nationalstolz und Vorurtheile besieget, und sich mit den Heiden zum gemeinschaftlichen
|z18| Brodbrechen vereint
cd77 hatten. Petrus komt an; er ist mit Paulo eines Sinnes
d78 und macht keinen Unterschied zwischen bekehrten Juden und Heiden. Paulus benutzt
cd79 |d226| diesen Umstand wahrscheinlich dazu, die Juden durch die Autorität, welche Petrus als ein unmittelbarer Begleiter Christi in ihren Augen voraus hatte, noch mehr in ihren guten Gesinnungen gegen die Heiden zu befestigen, und dis
cd80 macht auch den gewünschten Eindruck. Nun aber treffen palästinische Juden aus Jerusalem
/cdselbst
cd\ zu Antiochien ein; Leute, bey welchen,
cd81 nach der Verabredung zwischen Jakobo und Petro,
cd82 der Eifer fürs mosaische Gesetz noch erhalten werden solte, damit sie
|b250| gute Bürger blieben, und den Tempeldienst unter den Augen der Obersten des
/dVolks fleissig
c83d\ ∥d84 und an
|c250|dächtig abwarteten. Was solte hier Petrus thun? Er, der mit diesen Leuten nach Jerusalem zurückkehren mußte, und wenn er mit Heiden
/dumging, ihr
d\ ∥d85 Zutrauen verlor, und seiner ganzen Gemeine in Palästina verdächtig ward; oder aber Gefahr lief, das
cdz86 die jerusalemsche
cd87 Bürger durch sein Beyspiel sich berechtigt
d88 halten möchten, auch
/cdzu Hause
cd\ ∥cd89 Mosis Gesetz zu verachten, welches der jüdischen Obrigkeit neue Anreizungen geben würde, die Christen zu verfolgen. – Mit Recht entschloß er sich also, sich nach den Schwachen zu richten und ein Aergerniß bey Leuten
seiner Gemeine zu verhüten, was ihn
∥cd90 die palästinische Kirche unbrauchbar machen, oder noch ausgebreitetere Folgen haben konte. Allein Paulus ward dadurch allarmirt
d91. Auch Er wolte bey
seiner Gemeine gern das Aergerniß verhüten, was Juden und Heiden an diesem schnell abgeänderten Betragen Petri nehmen konten. Er setzt
d92 daher Petrum mit
/dvielen
c93 Affekt
d\ ∥d94 zur Rede. – Aber gewiß wußte der gute Paulus damals nicht, oder
∥cd95 konte es sich nicht vorstellen, wie heftig der Enthusiasmus der christlichen Juden für das mosaische Gesetz noch in Jeru
|z19|salem war. – Er erfuhr es aber wenige Jahre nachher, als er selbst nach Jerusalem kam. – Jakobus und die Aeltesten der dortigen Gemeine eröfneten ihm gleich bey seiner Ankunft, daß die viele
d96 tausend Juden, welche in Palästina gläubig geworden wären, alle für das Gesetz eiferten, daher sie ihm anriethen, sich nebst einigen andern Männern, die Gelübde gethan hätten, in den Tempel zu bege
|d227|ben und sich mit ihnen nach allen gesetzlichen Ceremonien reinigen zu lassen, um seine Hochschätzung gegen die Landesgesetze in Palästina zu zeigen, und den Verdacht zu verhindern, als ob er zu Jerusalem eben so, als
cd97 in andern Ländern Gleichgültigkeit
|b251| und Verachtung dagegen lehren wolte
d98. Er befolgte diese Rathgebung. Allein so bald man ihn
|c251| im Tempel erkante, erregten asiatische Juden einen Tumult gegen ihn, als einen Abtrünnigen, der
d99 auswärtige Juden das Gesetz der Väter verachten
/cdlehrte;
cd\ ∥cd100 selbst in Jerusalem in Gesellschaft von
cd101 Heiden
/cdsich
cd\ sehen liesse, und den Tempel durch seinen Anhang
/cdentweihte
cd\ ∥cd102. Die ganze Stadt, ungläubige und gläubige Juden stürmten auf ihn, daß er kaum durch die römische Garnison dem gewissen Tode aus ihren Händen entrissen werden konte, Apg.
d103 21, 22 ff. Selbst der römische Stadthalter
cd104 würde ihn
/cdnach
cd\ dem Religionseifer der Jüden
cd105 aufgeopfert haben, hätte sich Paulus nicht auf sein römisches Bürgerrecht und auf den Kaiser berufen, Apg.
cd106 25, 9. 10.
c107 vergl. mit Kap. 22, 25–29.
Aus dieser Geschichte, und den vorgehenden
cd108 Bemerkungen, ergeben sich nun augenscheinlich zwey höchstwichtige Folgerungen:
- 1.
Christus und seine Apostel haben einstimmig Mosis Gesetze blos für palästinische Landesgesetze erkläret, die ein unzertrennliches Ganze ausmachen;
d109 darin sie kein Pünktchen abändern wolten, und welche von allen Christen, die Mitbürger des jüdischen Staats
d110 waren,
|z20| als obrigkeitliche Policeygesetze, nach der strengsten Auslegung der Pharisäer, bis zur Zerstörung des Tempels und des gemeinen Wesens der Juden beobachtet werden solten. Dagegen haben sie ihnen nun
cd111 auch alle Autorität und Brauchbarkeit in der neuern göttlichen Oekonomie, die Menschen zu höherer Glückseligkeit anzuleiten, abgesprochen. In dieser Beziehung wird Mose und Christus; das Gesetz und der Glaube; der Buchstabe und der Geist; der alte und der neue Bund; die Gerechtigkeit aus dem Gesetz
d112 und die Gerechtigkeit vor Gott; die Knechtschaft
|d228| und die Kindschaft; u. s. w. einander überall als unvereinbar und wider
|b252|sprechend entgegengesetzt
cd113, und Christus der Erlöser vom Fluch
cd114 des Gesetzes und das Ende des Gesetzes
|c252| genant, Joh. 1, 17.
∥d115 Gal. 5, 1 f. Kap. 2, 16. K.
d116 3, 23 f. 2 Cor. 3, 6 f. Ebr. 8, 6–13. Röm. 10, 3 f. Ebr. 9, 14
c117 f. 1 Petr. 1, 18. Röm. 8, 15. Gal. 4, 4–7. Kap. 3, 10–14. Wenn daher gleich Christus und seine Apostel in ihren Unterredungen mit palästinischen Juden Mosis und der Propheten öfters mit Achtung gedenken, so verweisen sie doch niemals
/ddarauf,
c118d\ ∥d119 als auf einen Unterricht zu höherer Glückseligkeit, sondern leiten nur aus
/cddenselben
cd\ ∥cd120 die Nothwendigkeit einer vollkomnern
d121 Anweisung her, welche die Propheten als künftig bevorstehend bereits verkündiget und verheissen
d122 hätten. Forschet in der Schrift, sagt Christus Joh. 5, 30. 40. 46;
czd123 denn ihr steht
d125 in der Meinung, als enthielte sie eine Anweisung zur Glückseligkeit, ihr werdet aber finden, daß sie selbst auf einen bessern Unterricht, den ich euch nun ertheile, verweiset. Eben so erklären sich alle Apostel,
/dd\ ∥d126 Ebr. 9, 18. 19. K.
cd127 10, 1. Hieraus folgt
cd128, daß es ganz wider den Sinn Christi und der Apostel gehandelt ist, wenn man die Christen in unsern Tagen aufs
cd129 alte Testament verweiset
cd130, welches nur eine Vor
|z21|dämmerung zu dem hellern Licht
cd131 des Christenthums seyn
/cdsollen; von welchen die
cd\ ∥cd132 Apostel
/cddie Juden möglichst
cd\ ∥cd134 abzuführen gesucht
/cdhaben
cd\, weil
/cdes
cd\ Gott
∥cd135 zu sinnlich, menschlich
d136 und leidenschaftlich vorstellet
cd137, und
∥cd138 mehr knechtische Furcht als Liebe und Vertrauen
/cdeinhaucht
cd\ ∥cd139. Für uns ist das alte Testament nur blos eine ehrwürdige historische Urkunde von den Religionsbegriffen und deren allmähligen Verbesserung unter den Juden bis zu den Zeiten Christi; aus deren Vergleichung mit den
/dneutestamentischen Schriften,
c141d\ ∥d142 wir die überaus grossen
d143 Vorzüge des Christenthums vor jenen groben und ängstlichen
|d229| Religionserkentnissen
d144 zu er
|c253|kennen haben.
|b253| Gewöhnlich tragen indes
d145 unsre Theologen aus dem Christenthum
cd146 viel mehr
d147 Licht und Richtigkeit ins alte Testament hinein, als niemals
d148 darin statt gefunden hat;
d149 und bringen es nachher durch willkührliche Auslegungen wieder heraus, als ob es vor Christo schon darin
cd150 zu finden gewesen wäre. Ganz unphilosophisch ist auch die Hypothese, als ob noch einige Gesetze aus dem Mose für uns verbindlich wären, so wie die ganze Abtheilung derselben in
/dceremonial, civil
d\ ∥d151 und moralische Gesetze willkührlich und unrichtig ist. Denn wenn gleich allgemeine Naturgesetze von ewiger Verbindlichkeit auch unter Mosis Gesetzen vorkommen, so entsteht
cd152 doch keine Verbindlichkeit zu ihrer Beobachtung
aus dem Mosesd153 für uns, indem kein Gesetzbuch irgends eines Volkes in der Welt ist, darin nicht allgemeine Naturgesetze z. B. du solst nicht tödten, du solst nicht stehlen u. s. w. aufgenommen seyn solten. Kein Mensch aber wird daher folgern
cd154 daß wir an einige Gesetze der Chineser oder der Indianer gebunden wären, weil nemlich unsere Verpflichtung
∥cd155 nicht aus ihren Gesetzbüchern herrühren kan.
Doch dieses alles, was ich von der Unbrauchbarkeit der alttestamentische
cd156 Schriften zu einer reinen der Religion für uns angemerkt habe, wird noch mehr
d157 Licht und Bekräftigung erhalten, wenn ich die wichtige
d158 Verbesserungen aller Religionsbegriffe des alten Bundes, die
d159 wir Christo zu danken haben, im folgenden Paragraphen deutlicher auseinandersetzen werde.
- 2.
Christus und seine Apostel beobachten
d160 in Palästina das ganze mosaische Gesetz auf das pünktlichste, da sie doch von der Untauglichkeit und Zwecklosigkeit des ehemals nützlich gewesenen Tempeldienstes in ihren Tagen, und von dem schädlichen Aberglauben, der
d161 dadurch unterhalten ward, deutliche Einsichten hatten, und selbst dahin arbeiteten, die Juden allmählig davon
|b254| |c254| abzuziehen, und zu edlern
d162 und reinern Erkentnissen von Gott zu bringen. Hieraus fließt
cd163 die wichtige Regel für alle
|d230| christliche Lehrer, daß sie,
cd165 diesen erhabenen Beyspielen gemäß, sich ebenfalls nach allen obrigkeitlichen Landesverordnungen richten müssen, und wenn sie auch in den herrschenden Lehrformen und Kirchengebräuchen, die
d166 durch öffentliche Symbolen und Gesetze autorisirt
cd167 sind, mancherley Aberglauben und veraltete zwecklosgewordene Ceremonien vorfinden, sich doch nach den kirchlichen Policeygesetzen ihrer Gegend, als gehorsame Unterthanen und recht christlich kluge Lehrer, zu bequemen haben; welches der Redlichkeit gar nicht entgegen ist, Matth. 10, 16. Will ein Lehrer nützlich werden, so muß er zuvörderst das Vertrauen seiner Landsleute
cd168 zu gewinnen suchen. Dieses kan aber auf keine andre Weise geschehen, als indem man sich zu ihren Meinungen herabläßt
d169, und sich ihnen gerade so zeigt
cd170, wie sie sich ihr Ideal von einem rechtgläubigen, einsichtsvollen und treuen Lehrer gebildet haben. So ging
cd171 selbst Christus in seiner Herablassung zu den Vorurtheilen und der Schwachheit der Juden so weit, daß er nach Matth. 15, 22 f. so gar den gemeinen Ton des jüdischen Nationalstol
|z23|zes gegen eine Cananiterin annahm, und anfänglich sie gar nicht anhören wolte
d172, nachher aber durch die äusserst
d173 harte Vergleichung: daß es unschicklich sey, den Kindern das Brodt
c174 zu nehmen und es den Hunden zu geben;
∥d175 tief unter die Juden erniedrigte. Allein dis
cd176 Betragen war nothwendig, wenn er seine Begleiter nicht von sich entfernen, sondern sie allmählig zu dem vorbereiten wolte, was sie im Anfange seines Lehramtes zu ertragen noch allzuschwach waren. Man siehet bey dieser und mehrern
cd177 ähnlichen Geschichten, mit welcher Weisheit Jesus durch die scheinbare Genehmigung der Nationalprincipien seine Landesleute zu
|b255| |c255| besserer Beurtheilung andrer Völker angeleitet hat. Er läßt
d178 seine Begleiter erst Thatsachen sehen, und dann folgert er daraus, so einleuchtend, daß sie die Wahrheit nicht weiter verkennen konten. So mußte die mütterliche Treue der Cananiterin, mit welcher aller Verachtung und Erniedrigung gelassen
|d231| unterwarf, um nur Hülfe für ihre kranke Tochter zu finden, für die anwesende
d179 Juden ein auffallender Beweis
d180 von der Gutherzigkeit, die
d181 unter den Heiden anzutreffen war, seyn; und so führet Christus gewöhnlich zu Beyspielen der Rechtschaffenheit, Dankbarkeit und Menschenliebe Heiden oder Samariter, aber nur stets in Erzählungen auf, Matth. 8, 5
c182 f. Luc. 10, 33
c183 f. K. 17, 15. 16. da er noch nicht gerade
∥cdz184 die Wahrheit von der allgemeinen Gleichheit aller Menschen vor Gott, vortragen durfte.
Hat man erst Zutrauen gewonnen, so kan man allmählig Aufklärung und Verbesserung der Einsichten nach Maaßgabe der Emfänglichkeit
cd185 der verschiedenen Klassen der Zuhörer befördern. Gesetzt, daß man bey dieser Behutsamkeit auch nicht so geschwind weiter komt, als man zu gelangen wünscht
cd186, so muß man sich mit Christi Beyspiel
cd187 trösten, der auch bey
|z24| seinen Lebzeiten es nicht sehr weit bringen konte; und demohngeachtet seine Apostel zu einem ähnlichen Verhalten anwies; sie aber zugleich mit der bevorstehenden Erlösung von den äussern
d188 Einschränkungen tröstete, die
d189 nicht durch sie, sondern durch Gottes Vorsehung mit Aufhebung der jüdischen Gerichtsbarkeit über die Christen veranstaltet werden würde.
Ueberhaupt sind wir nicht verbunden, eine Pflicht in höherm
cd190 Grade auszuüben, als Gelegenheit dazu vorhanden ist, und diese Gelegenheiten hängen nicht von uns, sondern von den äussern
d191 Verhältnissen ab, in welche Gott uns zu setzen für gut findet: folglich
|b256| |c256| wird auch von keinem christlichen Lehrer mehr gefordert werden, als so viel ihm bey einer treuen und klugen Benutzung der ihm dargebotenen Gelegenheiten, nach den Kirchen
d192 und Policeygesetzen seines Orts,
cd193 zu leisten möglich gewesen ist. Einsichtsvolle Geistliche der katholischen Kirche befinden sich gewissermassen
d195 ganz eigentlich in den Umständen, darunter Christus und die Apostel in Palästina lehreten: und ich kenne mehrere sehr rechtschafne Männer
|d232| unter ihnen, die
d196 in der Stille grosse
d197 Aufklärungen verbreiten. Sie würden unbrauchbar werden, wenn sie weniger behutsam verführen, oder sich gegen die hierarchischen Gesetze ihrer Kirche gerade zu erklären wolten. Aber auch unter den Protestanten lebt
cd198 man an vielen Orten noch auf mosaisch-jüdischen Fuß: und tausend heller sehende Prediger dürfen nicht sagen oder schreiben, was sie denken. Sie handeln aber auch christlich weise, wenn sie sich nach den Schwachen richten, und die Policeygesetze der Kirche ihrer Gegend befolgen. Christus und seine Apostel decken sie durch ihr Beyspiel gegen den schwärmerischen Vorwurf der Unredlichkeit und Heucheley. – Allein diejenigen Lehrer, welche mit Paulo ausserhalb
d199 Palästina leben, oder
|z25| wie Luther von ihrem Landesherrn von dem Zwange der Policeygesetze befreiet sind, haben nicht nur das Recht, sondern auch die Verpflichtung auf sich, gerade heraus zu gehen, und so laut gegen Aberglauben und Mißbräuche zu eifern, wie Paulus und Luther gethan haben. Von solchen wäre es Kleinmuth und Verrätherey an der Wahrheit, wenn sie vor den falschen Brüdern und jüdischgesinnten Schwärmern sich fürchten, und nicht die kleine Unbequemlichkeit, von dergleichen Leuten beseufzt
d200 oder beschimpft
cd201 zu werden, um des Evangeliums willen übernehmen wolten. Nur muß jeder Lehrer, der
d202 über die gemeine
d203 und öffentlich
|b257| |c257| bestimte
d204 Schranken der kirchlichen Symbolen und Policeygesetze hinausgehen will, bey jedem Vorschritt
d205 Rückfrage an seine Obrigkeit thun, um nicht die öffentliche Ruhe zu stören, oder ihres Schutzes verlustig zu gehen. Dieses hat selbst Luther bey aller seiner anscheinenden Unbiegsamkeit und Enthusiasmus gethan; und es ist jetzt bekant genung, daß die erste Trennung von den Schweizern mehr aus einer politischen Spekulation des Churfürsten, als aus Luthers Streitsucht ursprünglich hergerühret hat: nur Luthers Nachfolgern, besonders auf
/cdder Akademie
cd\ ∥cd206, fehlte es völlig an christlicher und weltlicher Klugheit.
|d233| Lasset uns, meine theologische Mitbrüder, künftig so apostolisch von einander denken, wie Jakobus, Petrus und Paulus, bey aller Verschiedenheit ihres Verhaltens in Lehre und Wandel, von einander geurtheilet haben. Ich stosse
d207 mich nicht daran, wenn ich einem helldenkenden Prälaten das hohe Amt mit allem Pomp
d208 abwarten sehe: ich denke mir dabey Paulum im Tempel, wie er mit den vier Männern sich wegen eines nicht gethanen Gelübdes förmlich reinigen läßt
cd209. Ich verdenke es auch euch nicht, meine protestantische Brüder, wenn ihr nach den Kirchengesetzen
|z26| eures Orts den kleinen und grossen
d210 Exorcismus braucht
d211, an Gottes Statt Sündenvergebung ertheilt, und euch vieler Lehrformeln bedient
cd212, deren Untauglichkeit ihr unter uns eingesteht;
d213 ihr habt Christi und seiner Jünger Verhalten zu eurer Rechtfertigung für euch:
z214 da ihr im christlichen Palästina lebt. Käme ich unter euch, warlich
d215 ich würde nicht laut sagen, nicht unter meinem Namen drucken lassen, was ihr hier leset. – Aber nun beurtheilet auch Ihr mich nicht ferner nach den Einschränkungsgesetzen der Kirchenpolicey eures Distrikts. Ich lebe und lehre ausserhalb der Gerichtsbarkeit der Priester und Schriftgelehrten,
cd216 in
|b258| den Umständen, worunter Paulus
|c258| und Luther mir das Vorbild der Freimüthigkeit hinterlassen haben. Ich hänge von keiner Volksgemeine, auch
∥cd217 keinen Fakultätsstatuten ab. Ich schreibe mit Genehmigung meiner höheren Obrigkeit; und da es ungewiß ist, wie lange die hellen Zeiten uns gegönt
cd218 seyn werden, so halte ich mich verpflichtet zu wirken, weil es Tag ist. Ich verlange keinen
lauten Beyfall von euch, die ihr mit mir gleich denket; so bald euch Leute aus Jerusalem beobachten, handelt wie Petrus! Ich will durch Pauli nachmalige Erfahrung erinnert
d219 mich nicht übereilen, euch Vorwürfe zu machen. Verwerfet und tadelt daher auch immerhin dreist diese Schrift gegen alle, welche die Empfänglichkeit nicht haben, den Inhalt zu ertragen, wenn sie durch Lesung derselben schon beunruhiget worden wären;
|d234| nur predige keiner öffentlich dagegen; sonst kauft sie, wie die Erfahrung gelehrt
d220 hat, der
/cdBauer und
cd\ Küster
∥cd221, für die ich
/dsie
d\ nicht schrieb, und die sonst nicht gewußt hätten, daß eine solche Schrift vorhanden wäre, wenn sie die Predigt dawider nicht neugierig gemacht hätte. Möchten doch alle christliche Theologen, die den Logos (die Vernunft) Gottes als ihr Haupt verehren, und Christi Lehre für
|z27| den Geist Gottes erkennen, immer mehr
λογικοι und
πνευματικοι (vernünftig und geistiger
cd222 denkende Leute) werden, und endlich einmal aufhören, an dem sinnlichen und buchstäblichen der heiligen Schriften zu kränkeln, und den Zehnten von Münz, Till und Kümmel zu berechnen! Möchten
∥cd223 doch dafür alle ihre Kräfte und
∥cd224 Eifer dahin vereinigen, die grossen
d225 Gebote der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit und der Treue und Redlichkeit immer mehr an allen Orten aufzurichten! Amen.
a\
aZu den Zeiten da Christus auftrat waren zwar noch die Juden, bey den gesitteten Völkern in dem Ruf der Dummheit, und des gröbsten Aberglaubens, indes fehlte es den vornehmern und besonders den Oberpriestern nicht an politischen Einsichten. Diese machten die klügere Parthey der Sadducäer aus, welche sich von der größern schwärmerischen Secte der Pharisäer dadurch unterschied, daß sie theils nur dem mosaischen Gesetzbuch eine höhere Autorität beylegten, den übrigen Schriften, deren Samlung wir das alte Testament nennen, dargegen nur einen solchen Werth zugestunden, als den Postillen, Gesangbüchern und Legenden der Heiligen in der Christenheit beygelegt wird, theils die Begriffe vom Teufel, vom Todesengel, von der Auferstehung sämtlicher Juden zur Eroberung aller Länder des Erdbodens, von einem tausendjährigen Reich des Meßias u. s. w. welche die Pharisäer dem gemeinen Volk beygebracht verwarfen. Die Secte der Pharisäer unterschied sich außer der schon erwähnten Lehrmeinung, durch eine mikrologische Auslegung des Gesetzes, und derselben gemäße strenge Beobachtung der äußern Gottesdienstlichkeit, wodurch sie beym Volk das Ansehn der Frömmigkeit erhielten: sonst aber ließ ihre Moral die Gesinnungen des Herzens völlig ungebessert. Gegen die prophetischen |a223| Schriften hatten sie mehr Ehrerbietung als die Sadducäer, auch legten sie denselben einen höhern Grad der Göttlichkeit zu, als den historischen Schriften, jedoch eine geringere als dem Gesetzbuch. Ueberhaupt haben diese jüdische Schriften unter den Juden selbst niemals das große Ansehn gehabt, was ihnen nachher von vielen christlichen Theologen beygelegt worden ist, welche die Begriffe von einer unmittelbaren göttlichen Eingebung aus Mißverstand orientalischer Redensarten übertrieben haben. Christus erkläret uns ausdrücklich Math. 15, 24. daß er sich für seine Person blos mit den Verbesserungen der Denkart seiner Landsleute der Israeliten beschäftigen, und auf diese die Absicht seines Lehramts einschränken wolle. Nun hatte er ein Volk vor sich, welches die Göttlichkeit seiner bisherigen Religion auf die Geschichte vieler Wunder gründete, die nach ihren historischen Schriften zur Bestätigung des mosaischen Gesetzes geschehen waren, und womit alle ältere Gesandten des Jehova ihre Bevollmächtigung erwiesen hatten. Wollte Christus dieses Volk von der Anhängigkeit an den unfruchtbaren Gottesdienst ihrer Väter befreyen, so mußte er sich nach ihrer Denkungsart bequemen, und sich als einen höheren Gesandten Gottes denn Moses und die Propheten gewesen waren durch Zeichen und Wunder legitimiren Joh. 4, 48. K. 2, 2. Die Lehrer des alten Bundes waren als Diener und Knechte des Jehova an das Volk geschicket worden, und hatten selbst knechtische Gesinnungen gehabt, und solche in der Nation unterhalten, Christus wollte eine kindliche Denkart gegen Gott erwecken, erschien daher als der Sohn Gottes, und als der Meßias von welchen schon im voraus Mose und alle Propheten geweissaget hatten. Diese Bemerkungen werden für selbstdenkende Leser der apostolischen Schriften hinlänglich seyn, die ganze Einkleidung der Glückseligkeitslehre, und solche Juden an|a224|nehmlich und faßlich zumachen, aus dem rechten Gesichtspunkte zu beurtheilen. Denn für Juden sind zunächst die Schriften, welche wir von den Schülern Jesu haben, aufgesetzt worden, daher wird die Lebensgeschichte desselben darin so erzählet, daß diese Nation dadurch bestimmt werden könnte, ihm die größte Autorität unter den Gesandten der Gottheit zu zugestehen, und ihn für den Herrn und Christ zu erkennen, in welchen Gott stets gewohnet habe, anstatt andre Boten des Jehova nur dann und wann begeistert worden sind; und welcher als das Leben und Licht hervorbringende Wort des Weltschöpfers als die in menschlicher Gestalt herumgehende Stimme angesehen werden könnte, und in dessen Person und Lehre sie alles in höheren Maaß vereiniget finden, was in der mosaischen Religion ihnen ehrwürdig und tröstlich gewesen sey. In so fern nun der weit größere Theil der Menschen unfähig ist, höhere Religionswahrheiten aus innern Gründen zu erkennen, und die Untersuchung darüber bis zu den ersten Quellen richtiger Erkentniß fortzusetzen, selbst die meisten Gottesgelehrten sich lieber auf Autoritäten verlassen, als selbst prüfen, so bleibt die historische Einkleidung das vortreflichste Hülfsmittel die Glückseligkeitslehren praktisch klar zu machen, und durch höhere Autorität sie zu vergewissern. Ich will daher das Christenthum mit Absonderung des, was blos für Juden war, in der historischen Gestalt noch vortragen, wie es in der evangelischen Geschichte erscheint, und noch in den öffentlichen Unterricht an das Volk vorgestellet werden muß.
Um den morgenländischen Sprachgebrauch von den Redensarten, der Geist Gottes kam über jemand oder war in einem Menschen, Gott hauchte jemanden an, oder inspirirte ihn, nach seiner ganzen Ausdehnung zu übersehen, vergleiche man nur folgende Stelle 1 Mos. 41, 38. 2 Mos. |a225| 31, 2. 1 Sam. 16, 23. und insonderheit Hiob 32, 8. in der griechischen Uebersetzung mit 2 Tim. 3, 16.a
§. 89.
/aWir haben bisher gesehen, wie Christus und seine Apostel sich gegen Mosis Schriften, in sofern sie die
palästini|b259||c259|sche Landesgesetze enthielten, betragen haben; wie sie darin kein Jota verändert, sondern sich selbst aufs pünktlichste darnach gerichtet, und alles vermieden haben, was bey gemeinen Judenchristen die Achtung gegen das Gesetzbuch und den Eifer in dessen Befolgung hätte schwächen können. Lasset uns nun bemerken, wie ganz anders sie über eben diese mosaische Schriften urtheilen, in sofern die Juden ihren Inhalt als einen
Religionsunterricht betrachteten, der zu höherer Glückseligkeit anzuleiten geschickt sey. Hier wird sich finden, daß kein
d1 Jota aus dem Mose unverändert geblieben, sondern ein durchaus neuer Lehrbegrif von Christo im Gegensatz
cd2 des mosaischen geoffenbaret und eingeführet worden ist. Daher sagt Johannes Kap. 1, 17. Das Gesetz, (worauf euer bürgerliches gemeines Wesen beruhet,)
c3 ist durch Mosen gegeben, die Gnade und Wahrheit aber, das ist, die gnädigen Gesinnungen Gottes gegen die Menschen, und die wahre beseligende Religion,
|d235| sind durch Jesum Christum allererst geoffenbaret worden. Dieses verdient
cd4 nun um so mehr deutlicher
cd5 auseinander gesetzt
d6 zu werden, da hauptsächlich auf einer richtigen Einsicht hiervon sowol der grosse
d7 Vorzug des Christenthums vor dem Judenthum
d8, als auch das rechte Erkentniß von dem
/cdzweck
|z28|mässigen Gebrauch
cd\ ∥cd9 des alten Testaments unter den Christen beruhet.
- 1. Begriffe von Gott. Mose stellet Gottz10 nach den kindischen Fähigkeiten der Juden seiner Zeit, als ein Wesen von menschlicher Denkungsart und heftigen Leidenschaften vor. Ercd11 ist ∥cd12 der höchste und stärkste der Götter, der eifersüchtig auf seine Ehre ist, der sich auf das Volk Israel nach den Kriegesgesetzen ein eigenthümliches Recht,cd13 durch /cdihrecd\ Eroberung und Erlösung ∥cd14 aus Egyptens Sklaverey,cd15 erworben hat, und ∥cd16 daher als der einzige Schutzgott des Landes, dasd17 er /cdihnen zur Benutzung eingiebtcd\ ∥cd18 und erobern hilft, an|b260||c260|gesehen und verehrtcd19 werden will. Man soll ihm,cd20 als einen Grundzins und Schutzgeld, die Erstlinge und den Zehnten von allem geben; niemals ohne Geschenke vor ihm erscheinen; nirgends als vor seinem Pallastd21 opfern, weil es sonst die Feldteufel geniessend22, 3 Mos. 17, 7. Der Jehova hasset und verabscheuet die übrigen Völker, besonders die Cananiter, theils wegen ∥cd23 Vergehungen ihrer Stamväter, theils weil sie andere Götter und die Feldteufel verehren, darum sollen auch die Juden sie hassen, verabscheuen und ausrotten.d24 Wer sich gegen des Jehova Gesetze vergehtd25, kan keine Vergebung hoffen, bevor nicht Blut vergossen worden; und Abgötterey soll als Hochverrath unverzeihlich noch an den Nachkommen bis ins vierte Glied bestrafet werden. – Sehet da die mosaisched26 Begriffe von Gott! Können diese wold27 Gemüthsruhe und Edelmuth erzeugenc28? Kan Gott, auf diese Art gedacht, der Gegenstand einer freudigen Anbetung und das vollkommenste moralische Muster unsrer Nachahmung seyn? – Christus machtcd29 es dagegen zum ersten Begrifd30 von Gott, daß er der Vater |d236| aller Menschen sey; auf diesemcd31 Grundsatz sollen alle Völker, died32 seine Lehre annehmen, getauftcd33 wer|z29|den. Der Geist der kindlichen Liebe soll das Vorrecht der Christen vor den Juden seyn, die durch einen Geist der Furcht und der Knechtschaft beherrschtd34 worden waren, und den Weg des Friedens nicht gewußtd35 hatten; denn ihr Gesetz hatte nur Zorn und widrige Leidenschaften erregtcd36, Röm. 8, 15. K. 4, 15. Luc. 1, 74. Die Feindschaft, welche durch dasselbe zwischen ihnen und andern Völkern gestiftet und unterhalten worden war, ist durch Christum aufgehoben, und die Verfluchungen des Gesetzes sind für unbedeutend erkläret, /cc\ ∥c37 Gal. 3, 13. Nun wird Gott, der über Böse und Gute seine Sonne |b261| |c261| scheinen lässet, mit seinem Regen die Felder der Gerechten und Ungerechten befruchtet, und auch gegen Undankbare und Boshafte gütig ist, das erhabenste Muster der moralischen Vollkommenheit für uns,cd38 Matth. 5, 45. 48. Luc. 6, 35. Von ihm können keine andred39 als gute und vollkomned40 Gaben herkommen, denn er hat keine Leidenschaften, und ohne auf äussered41 Unterschiede der Nationen und ihre Herkunft zu sehen, ist nun in allerley Volk ein jeder, wer ihn hochschätztcd42 und recht handelt, ihm angenehm, Apostg. 10, 34. Röm. 2, 6–16. Denn alle sind seine Kinder, alle will er durch Verbesserung ihrer Einsichten und Gesinnungen selig gemacht wissen, Röm. 3, 29. 1 Tim. 2, 4. 5. – Mit Recht sagtcd43 daher Johannes Evang. 1, 18. noch habe niemand, weder Moses noch andre Propheten, Gott gekant, sondern Christus sey der erste gewesen, /dderd\ ∥d44 den Vater /dunsd\ nach seinem wahren Charakter geoffenbaret habe. (Ebr. 8, 6–13. Röm. 10, 12. K. 11, 32. K. 3, 22.cd45 f.)
- 2. Begriffe von der Vorsehung und moralischen Regierung Gottes. Nach Mose komt es darauf an, ob man das Glück gehabt hat, von jüdischen Aeltern geboren zu werden, um an der nähernd46 Aufsicht |z30| und Wohlthätigkeit Gottes Theil zu nehmen, und ob die |d237| nächsten Ahnen das Gesetz beobachtet haben, oder ob man noch für sie büssend47 muß. Die Belohnungen für genaue Erfüllung der Gesetze sind nach dem Mose der Mitbesitz /cdan demcd\ ∥cd48 gelobten Lande,cd49 Reichthum, viele Kinder, Gedeihen der Feldfrüchte, Ehre und /dandre äussred\ ∥d51 Vorzüge, 2 Mos.c52 13, 25. f. 5 Mos. 7,c53 12–16. Wem diese Merkmale des Segens vom Jehova fehlen; wer in Armuth, Verachtung, Krankheit und /cdäusserm Elendcd\ ∥cd54 lebt, der ist kein Gesegneter des Herrn, und hat entweder selbst oder in seinen Aelternd56 gesündiget, 5 Mos. 28, 15 f. – Glücks und |b262| |c262| Unglücksfälle sind Zeichen der Gnade oder des Zorns Gottes. – Hören wir Christum dagegen, so erstrecket sich die göttliche Vorsehung auf jede Blume des Grases, auf jeden Vogel, und demnach auf alled57 die mehr sind, als Blumen und Thiere, auf alle Menschen, ohne Unterschied der Herkunft, Matth. 6, 25–30. Krankheiten und äussered58 zufällige Uebel sind keine Anzeigen des Zornsd59 Gottes, noch auch angeerbter oder selbst begangnerd60 Verschuldungen, Joh. 9, 2. 3. ∥d61 sondern werden durch die väterliche Regierung unsrer Schicksale, Mitteld62 unsre grössred63 Wohlfart zu befördern. Auch die Armen, Verfolgten, Verachteten können schon hier selig seyn, wenn sie Gott ähnliche Gesinnungen haben: ja es ist denen, welche durch äusserliched64 Glücksgüter weniger zerstreuet werden, leichter als den Vornehmen und Reichen, gottselig zu leben, und ihr Gewissen rein zu bewahren, Matth. 5, 3.cd65 f. Luc. 6, 20–26. Alle Menschen haben in Gottes Augen einerley Werth, in was für äusserncd66 Verhältnissen sie sich auch befinden; nur nach dem innern Gemüthscharakter und ∥d68 den Werken unterscheidet er sie,cd69 und giebtd70 jedem täglich, was ihm das zuträglichste ist, 1 Petr. 1, 17. Matth. 5, 31. |z31|
- 3. Begriffe von der Anbetung Gottes. Nach Mosis Gesetzd71 kan Gott nur an einem Ortcd72 ihm wohlgefällig angebetet werden, 5 Mos. 12, 5. Man darf aber nicht mit leerer Hand vor ihm erscheinen, 5 Mos. |d238| 16, 16. auch sich nicht unmittelbar an ihn wenden; sondern die Priester sind die geweiheten Mittelspersonen, died73 der Menschen Anliegen vor Gott bringen ∥d74. Es sind auch nicht alle Tage gleich. /dSabbat, Neumonden,cz75d\ ∥d77 und Gedächtnißfeste sind heiligere Zeiten, died78 Gott zu /dehren gefeiertc79d\ ∥d80 werden müssencd81. Man muß sich von allerley Speisen enthalten, und selbst die Zubereitung der Kleider ist nicht |b263| |c263| gleichgültig, wenn man vor Gott rein bleiben will, 5 Mos. 22, 10. 11. – Dagegen erklärtcd82 Christus, daß Gott als ein Geist nur in Gedanken und Gesinnungen des Herzens gehörig angebetet werden könne, ohne daß der Ort dazu etwas beytrage; und die Apostel lehren nochmalscd83, daß Gott nicht in Tempeln wohne, died84 von Menschen Händen gemacht sind, auch nicht von Menschen gepflegtcd85 und beschenktcd86 werden dürfe;d87 daß jeder einen ofnend88 freien Zutritt ohne vermittelnde Priester zu ihm habe; daß niemand sich ein Gewissen machen solle, über Speise oder Trankz89 oder bestimten Sabbatern, Neumonden oder Festtagen; daß alle Tage gleich sind, und alle Gabe Gottes, died90 mit dankbarem Andenken an ihn genossen werde, uns rein sey; und in der Kleidung jeder die Sitten des Landes beobachten könne, Col. 2, 16. Röm. 14, 5. 14. 17. Phil. 4, 8.
- 4. Principium des Gehorsams gegen Gott. Nach dem Mose beruhend91 die Pflichten gegen Gott auf der Errettung der Juden aus der Sklaverey Egyptens und ∥d92 der Schenkung eines eignend93 Landes, daher sie Gott dienstbar seyn soltencd94. Den Gehorsamen war äusseresd96 Wohlergehn, den Ungehorsamen aber |z32| Verderben gedrohet. Das Gesetz war unter Donner und Blitz bekant gemacht, und Furcht und Zittern vor dem Eifer des solten die Uebertretungen verhindern; daher die schrecklichen Verfluchungen, die man 5 Mos. 28. nicht ohne Grausen lesen kan. Ob nun gleich Mose auch das Gebot hat: Man solle Gott von ganzem Herzen lieben, so vermochte doch sein Gesetz nicht, diese Liebe her|d239|vorzubringen. Nach Christi Lehre sollen die wohlthätigen Gesinnungen Gottes uns überzeugen, daß alle seine Vorschriften väterliche Rathgebungen zu unsermz97 Besten sind. Liebe soll die Quelle aller religiösen Ge|b264||c264|sinnungen gegen ihn seyn;cd98 und sich in der Begierde, ihm gefällig und ähnlich zu werden, bey allen Handlungen äussern;cd99 weil damitd101 unmittelbare Gemüthsruhe und freudiger Muth in Absicht der Zukunft entsteht. Daher bedarf es keines geschriebenen Gesetzes mehr;d102 alles positive ist aufgehoben, da ein dankbares liebevolles Herz gegen Gott von selbst dascd103 thut, was /cdihmcd\ recht und ∥cd104 angenehm ist, Röm. 7, 6. K. 8, 2. 1 Joh. 4, 16. 19. Ebr. 8, 10. 11. Röm. 12, 1. 2.d105 f.
- 5. Principium der gesellschaftlichen Pflichten. Nach dem Mose solte der Jude zwar auch schon seinen Nächsten lieben als sich selbst, 3 Mos. 19, 18. aber der Nächste war nach eben dieser Stelle nicht jeder Mensch, sondern nur der Mitjude, der Religionsverwandte und Mitbürger; alle andred106 Völker war der Israelit zu hassen nicht nur berechtigtcd107, sondern auch verpflichtet. Daher sagtcd108 Christus: es ist zwar zu den Alten gesagt: du solst deinen Freund lieben und deinen Feind hassen; ich aber sage euch, liebet auch eure Feinde, segnet, die euch fluchen, thut wohl denen, die euch beleidigen und verfolgen, damit ihr Kinder seyd des allgemeinen Vaters, der allen seine Sonne scheinen läßtd109. Und darum zeigtcd110 Chri|z33|stus in der Erzählung von dem barmherzigen Samariter dem Juden, der ihn frug: wer denn sein Nächster sey? daß auch Menschen aus feindseligen Nationen, und die für Ketzer gehalten würden, darunter gehörtencd111. Mit Recht wird daher auch, so wol wegen dieser Ausdehnung der Pflicht des Wohlwollens auf alle Mitmenschen, als wegen der weit innigern und thätigern Art der Liebe, welche das Christenthum empfieltcd112, diese Vorschrift, den Nächsten zu lieben, für ein neues Gesetz erklärtcd113, was Christus zuerst bekant gemacht hat, und welches zugleich statt aller übrigen buchstäblichen |d240| Verordnungen das |b265| |c265| einige Gebot der Christen seyn soll, Joh. 13, 34. Röm. 13, 8–10.
- 6. Begriffe vom Zustande nach dem Tode. Im Mose findet sich gar keine Aussicht in ein besseres Leben eröfnet; alle Belohnungen und Strafen, die als Beweggründe zur Beobachtung seiner Gesetze angeführtcd114 werden, beziehen sich auf Palästina, undcd115 das äussered116 Glück dieses Lebens und auf die Nachkommenschaft. Durch Christum ist allererst Leben und Unsterblichkeit durchs Evangelium ans Licht gebracht ∥cd117. Denn was die Pharisäer/cd, nach einer spätern Muthmassung,cd\ von einer bevorstehenden Auferstehung glaubten, /cdwar einecd\ ∥cd118 Wiederauflebung der Juden zu einem tausendjährigen Reichd119 unter dem Messias, und ∥cd120 keine Religionslehre, died121 das Herz zu göttlichern Gesinnungen und zu unendlichen Hofnungen hätte erweitern können, 2 Tim. 1, 10. 1 Petr. 1, 3. Ph. 3, 20. 21. ∥cd122
Nimt man alles dieses zusammen, so ist unleugbar, daß alle Religionsbegriffe, die
d124 Mose im Kindheitsalter des israelitischen Volkes in Beziehung auf seine politische Gesetzgebung bekant gemacht hatte, durchaus durch Christum abgeändert worden sind. Ob nun gleich die Propheten nach und nach schon manches darin zu bes
|z34|sern versucht
cd125 hatten, so konte es doch nicht fehlen, daß nicht auch bey ihnen der Geist der Furcht, der Knechtschaft, des Nationalstolzes und des Religionshasses gegen andre
d126 Völker, nebst dem Hange zum Sinnlichen in der Religion, vermöge des Geistes der mosaischen Gesetzgebung, noch herrschend blieben; daher diese auch jetzt noch den Lesern der alttestamentischen Schriften eingehaucht
d127 werden. Wie kan der gemeine Christ, wenn er an diese Bücher als einen für ihn bestimten göttlichen Unterricht gewiesen wird, mit seinem
c128 ungeübten Scharfsinn
d129 das absondern, was seine erfreulichere und edlere christliche Vorstellungen verschlechtert:
cd130 Paulus warnet
|b266| |c266| Gal. 5. aufs angelegentlichste vor aller Einmischung mosaischer Begriffe ins Christenthum, und sagt
cd131 ausdrücklich in dieser Beziehung: ein wenig Sauerteig
|d241| könte
d132 den ganzen Teig verderben; und warlich
d133 nicht nur gemeine Christen, sondern auch viele Theologen haben durch den zweckwidrigen Gebrauch des alten Testaments ihren Lehrbegrif vom Christenthum
d134 in vielen Artikeln sehr durchsäuren lassen. Dieses wird sich in der Folge noch deutlicher zeigen, und ich glaube schon jetzt meine Behauptung vom alten Testament
cd135 dahin gerechtfertigt
cd136 zu haben, daß es blos als eine historische Urkunde von der grossen
d137 Unvollkommenheit der Religionsbegriffe vor Christo, und von der allmähligen
cd138 zunehmenden Dämmerung bis zum Anbruch
d139 des Tages bey Erscheinung Christi anzusehen und zu brauchen
cd140 sey, 2 Petr. 1, 19.
a\
a1. Gott hat sein unsichtbares Wesen und seine preißwürdige Vollkommenheiten in seinen Werken den Augen der Vernunft allen Menschen geoffenbaret; und durch so viele Wohlthaten in der Natur, die sich von allen Seiten ihnen darbieten seine Güte allen ihren Samen empfindbar gemacht: auch hat er den Menschen das Vermögen mitgetheilt, gutes und böses, recht und unrecht, das anständige und unanständige zu unterscheiden, ja die äußere Verbindung darin Gott die Menschen gesetzt hat veranlasset diese Erkentnisse so gleich in ihnen, wenn sie zum Gebrauch der Vernunft kommen, weil ihr Selbstgefühl ihnen in jedem Fall sagt, was für eine Begegnung sie von andern zu erhalten wünschen: diese von selbst entstehende richtige Empfindungen von Sittlichkeit sind das natürliche Gewissen, was bey allen Völkern nach dem Maaß des Anbaues ihres Verstandes angetroffen wird. In so fern wäre es daher allen Menschen möglich gewesen, die liebreichen Gesinnungen Gottes gegen uns zu erkennen und aus Dankbarkeit dagegen allen Regeln der Ordnung und Gerechtigkeit nachzuleben. Röm. 1, 20. Apg. 14, 17. K. 17, 26 f. Röm. 2, 14.
2. Allein die Menschen hatten wenig Aufmerksamkeit auf die Erweisung der göttlichen Wohlthätigkeit bewiesen, und waren auf allerley fürchterliche Begriffe von der Gottheit gerathen: auch hatten sie verabsäumet den Vorschriften ihres natürlichen Gewissens zu folgen, und daher hatte sich unter allen Völkern ängstlicher Aberglaube und Lasterhaftigkeit ausgebreitet, so daß keine Nation den wahren Weg zur Gemüthsruhe und Glückseligkeit zu gelangen erkannte. Röm. 1, 21. f. K. 3, 9–19.
3. Gott hatte nun zwar unter allen Nationen besonders unter den Juden von Zeit zu Zeit rechtschafne Männer begeistert, die sich dem überhandnehmenden |a226| Verderben der Sitten widersetzten, allein alle diese Männer hatten mehr durch Androhungen göttlicher Strafen, als durch Vorstellungen der gütigen Gesinnungen Gottes gegen die Menschen, eine Verbesserung der Denkart hervorzubringen gesucht, und daher waren überall nur knechtische Befürchtungen, hiermit mehr feindselige und widrige Gesinnungen, als kindliches Vertrauen und Folgsamkeit gegen Gott in den Menschen erweckt und unterhalten worden. Die Menschen quälten sich daher durch allerley Demüthigungen, durch Enthaltung von vielen Vergnügen des Lebens, durch Geschenke und Opfer und andre Büßungen die Gottheit zu besänftigen, und zitterten bey dem Gedanken, an den bevorstehenden Tod, weil sie sich einbildeten, daß Gott sie alsdenn einem grausamen Geist zur Marter übergeben werde. Ebr. 1, 1. Röm. 4, 15. Luc. 1, 79. Ebr. 2, 15.
4. Um die Nationen aus diesem allgemeinen Verderben der Moralität und des Aberglaubens zu erlösen und sie mit sich auszusöhnen, veranstaltete Gott unter dem jüdischen Volk zuerst die Geburt eines ganz vorzüglichen Mannes, welchen er mit allen Talenten des Geistes ausrüstete, und mit welchem er so vereint war, daß man an diesem Jesu sehen konnte, wie Gott gegen die Menschen handeln würde, wenn er als Mensch uns erschiene. Er war das Ebenbild und die unter den Menschen wandelnde Stimme Gottes; seine Worte waren Licht und Leben ertheilende Gottesworte, seine Handlungen göttlich wohlthätige Thaten. Er zeigte blos kindliche Gesinnungen gegen Gott und theilte als Sohn Gottes, denen die ihn hörten ähnliche Gesinnungen und die Berichtigung mit, sich als Kinder Gottes zu betrachten. Aus allem was er redte und that leuchtete der göttliche Character seiner Sendung hervor und an ihm konnte man sehen, wie göttliche Tugenden in der Menschheit geübt, und wie Menschen göttlicher Natur theilhaftig werden können. Apostelg. 10, 38. Joh. 1, 1–8. vergli|a227|chen mit 1 Joh. 1, 1. und Joh. 6, 63. Joh. 17, 7–11. K. 10, 34–38. 2 Petr. 1, 3. 4. f.
5. Er ward von der jüdischen Geistlichkeit verfolgt. Die Sadducäer und vornehmen Priester besorgten eine Zerrüttung des Staats und den Verlust ihrer Einkünfte beym Tempel, wenn das Volk über die Religion weiter aufgekläret würde. Die Pharisäer aber waren theils als Heuchler, theils als Schwärmer gegen eine Lehre aufgebracht, die ihre bisherige äußere Heiligkeit und Eifer fürs Gesetz der Väter erniedrigte. Man beschloß also Jesum zu tödten. Er wußte dieses voraus, aber er entfernte sich nicht, weil sonst der ganze Nutzen seines mehrjährigen Amts vereitelt worden seyn würde. Er kündigte seinen Schülern und beständigen Begleitern den Abend vor seiner Gefangennehmung seine bevorstehende Hinrichtung im voraus an, und stiftete eine Feyerlichkeit zum Andenken dieser freywilligen Aufopferung zum Besten der Menschen. Durch ein Concilium der Geistlichen verdammt besiegelte er durch seinen Tod seine Lehren und stiftete dadurch so wol das stärkste Denkmal seiner Menschenliebe als seinen eignen Uebergang von den bevorstehenden belohnenden Leben nach dem Tode. Joh. 11, 47. f. K. 15, 13. 14. f. K. 10. 8–18. 1 Joh. 3, 16.
6. Gott erweckte ihn wieder. Am dritten Tage suchte er seine Schüler auf, unterrichtete sie einige Wochen hindurch vollständiger, und bevollmächtigte sie hierauf Boten des Friedens in der ganzen Welt zu seyn, daß nun Gott nur als Vater geliebet werden wolle, keine Opfer, keine Büßung, keine Dienste mehr von Menschen verlange, sondern blos rechtschaffene Menschenliebe und vernünftige Bestrebung nach Glückseligkeit, wodurch ein jeder zu höherer Wohlfart nach dem Tode sich hier geschickt machen könne. Hierauf begleiteten seine Jünger ihn auf einen Berg, wo er sich in einer Wolke ihren Augen entzog. Math[.] 28, 19. 20. Eph. 4, 1. bis K. 5, 17.
7. Wer sich nun zur Gemeine Christi bekennt ist ein Mit|a228|glied seines Körpers, wovon er das Haupt ist; wer aufrichtige Liebe gegen Gott und Menschen übt, hat den Geist Christi und kann daran bemerken, daß er mit Christo und Gott vereinigt ist, und hiermit kann er zugleich gewiß seyn, daß er nicht im Grabe bleiben, sondern sein Haupt ihn nach sich ziehen wird: denn diese Macht hat Gott Christo gegeben, dereinst alle die an ihn geglaubt haben zu höhern Freuden einzuführen. 21. 1 Cor. 12, 12–27.
Man siehet leicht, daß die Geschichte des Lebens Christi blos aus dem einigen Gesichtspunkte betrachtet, daß Christus uns sichtbar gemacht hat wie Gott denkt und handelt, und wie wir also gesinnet seyn und uns verhalten müssen, wenn wir mit Gott vereiniget werden, oder seinem Plan gemäß denken und handeln wollen, ungemeine reiche Materien zum praktischen Unterricht für jederman darbietet. Ich habe schon von einer andern Seite eben diese Geschichtseinkleidung
§. 39. betrachtet und muß hier überhaupt mehr bloße Winke geben, wenn ich nicht sehr weitläuftig werden will. Diese historische Einkleidung wird nach Pauli Urtheil so lange Menschen hier leben nöthig bleiben, aber nach dem Tode werden alle ohne Glauben durch deutliches Erkennen gerade zu Gott geführet werden: so verstehe ich die Stelle 1 Cor. 15, 24–28. verglichen mit K. 13, 8–12.
a
§. 90.
/aDer Zweck Christi und seiner Apostel ging
cd1 nach den deutlichsten Aussprüchen des neuen Testaments
cd2 dahin, ohne Abänderung der Landesgesetze zuvörderst würdigere und geistigere Begriffe von Gott, als Mose und die Propheten von ihm noch nicht
∥d3 ertheilen konten
d4, zu erwecken, damit die Menschen von aller Furcht und Aengstlichkeit, womit
|z35| sie
/dihm äusserlich
d\ ∥d5 zu dienen und seinen Zorn zu besänftigen gesucht
cd6 hatten, befreiet, Vertrauen zu ihm fassen, nichts als Gutes erwarten, bey allen Schicksalen ihres Lebens ruhig bleiben, und der Zukunft auch über das Grab hinaus getrost und hofnungsvoll entgegen sehen möchten, Luc. 1, 79. Dieses ist der Geist der Kindschaft, welchen die Juden nicht ohne Erlösung von Mosis Gesetz, in sofern
d7 es als Religion von ihnen betrachtet ward, empfangen konten, Gal. 4, 4. 5. 1 Petr. 1, 18. 19. Röm. 8, 1. 16. K. 14, 17. 18. Joh. 8, 31. 32. 1 Joh. 4, 16–19. K. 3, 1
c8 f. Hiernächst solte
c9 ein allgemeiner Geist der Rechtschaffenheit und Liebe unter den Menschen,
|b267| ohne Rücksicht auf Nationalherkunft und andre
/cdäussere Unterschiede
cd\ ∥cd10 der Stände, erweckt
cd11 werden, damit die Menschen einander das Leben versüssen
d12, und Gottes Absicht, allen möglichst wohlzuthun, ihrerseits thätigst befördern möchten, Joh. 13, 34. 35. Matth. 5, 43. 48. Ephes. 4, 15. 1 Joh.
|d242| 3, 11. 24. Col. 3, 15. Röm. 13, 8–10. 1 Cor. 13. Und so ist demnach das Wesen aller Religion und des ganzen Christenthums lediglich und allein in dem Geist
cd13 der Liebe zu Gott und zu unsern
z14 Mitmenschen zu setzen, Matth. 22, 36. 40. 1 Joh. 4, 16. Diese Gesinnungen sind die unmittelbare Quelle der innern Gemüthsruhe, der höhern moralischen Freuden und der erhabensten Hofnungen. Zu diesem Zweck
cd15 hin sind alle Anweisungen des neuen Testaments
d16 unleugbar gerichtet. Hierüber ist man nun auch von je her in der christlichen Kirche einig gewesen, und
diese Einigkeit des Glaubens und des Geistes ist das einzige ächte Symbolum der wahren allgemeinen christlichen Kirche. ∥cd17 Alle andre
d18 Symbolen trennen
d19 das des Friedens und der Einigkeit, Ephes. 4, 3 f. und veranlassen, daß Christus getheilet wird
d20 und Partheien entstehen, die sich Paulisch, Kephisch, Athanasianisch, Papistisch, Lutherisch, Kalvinisch u. s. w. nennen,
|z36| 1 Cor. 1, 10–13. – Da dergleichen Trennungen der Christen in Sekten schon zu der Apostel Zeiten, und nachher weit öfter und allgemeiner entstanden sind, und noch fortdauren, so lasset uns die natürliche Ursache derselben in ihrer Quelle aufsuchen, damit die möglichste Wiedervereinigung im Geist
d21 zu einerley Glauben, zwischen allen denkenden Christen aus allen Kirchpartheien, befördert werde; wenn wir gleich, wie Christus und seine Apostel
dz22 die kirchlichen Policeygesetze der Landesobrigkeiten, die uns äusserlich
d23 trennen und einschränken, als gute Bürger genau beobachten, und es der Vorsehung überlassen müssen, ob und wenn sie auch von diesen eine Erlösung
|b268| veranstalten wird.
/dVon Mosis knechtischem Joch
/cließ
c\ ∥c24 Gott die Christen durch die heidnischen Römer befreien, und wo ich anders die Zeichen unsrer Zeit richtig deuten kan, so wird Gott die zweite
c25 Erlösung vom hierarchischen Joch abermals durch Ungläubige bewirken, die nicht das geistige Christenthum, sondern das kirchliche Lehrgebäude und dessen symbolische Bollwerke in ihren Schriften bestürmen.
d\a\
aIch beschließe diese gesamte Untersuchungen mit der Bemerkung, daß es weit leichter ist nieder zu reißen als zu bauen; leichter Wahrheiten zweifelhaft zu machen, als zu erweisen: daß aber jeder Philosoph, wenn er ein wahrer Weiser, ein Patriot oder gemeinnütziger Menschenfreund seyn will, sichs zur ersten Pflicht machen müsse, keine ihm morsch scheinende Stütze der Tugend oder der Hoffnungen eines Volks wegzureißen, sondern nur darauf denken müsse, mehrere und sicherere Säulen derselben unter zu stellen; und daß man niemals seine Zweifel gegen trostvolle und gemeinnützige Wahrheiten in Gegenwart solcher Personen, die dergleichen nicht haben äußern müsse, weil man hierdurch unleugbar eine der größten Feindseligkeit gegen die Gemüthsruhe der Mitmenschen und die gemeinsame Wohlfart ausübt. a
/a§. 91.
Ich habe bereits
§. 80. erwähnet, daß im neuen Testament nicht blos ein Weg, sondern mehrere verschiedene Wege zu höherer Glückseligkeit abgezeichnet sind, nemlich so vielerley
cd1, als es zu den Zeiten Christi besondre Gemüthslagen oder Standorte nach Verschiedenheit der Vorerkent
|d243|nisse gab, von wo aus jeder Zuhörer und Leser von den Aposteln zu den
cd2 gemeinschaftlichen Ziel
cd3 der überwiegenden Liebe zu Gott und einer allgemeinen Rechtschaffenheit und Menschenliebe geführet werden mußte. Dieses will ich in der Absicht deutlicher
/cdaus einandersetzen
cd\ ∥cd4, damit es augenscheinlicher werde, daß die abweichende
d5 Kirchensysteme in der Christenheit sämtlich einen biblischen Grund haben, und mehr nützlich als schädlich sind, sofern sie nur keinen Religionshaß erregen, und
|z37| den göttlichen Geist der Liebe nicht in seinen Wirkungen stören.
Christus selbst konte während seines Lehramtes
/ddas jüdische Volk
d\ ∥d6 nur wenig aufklären, und mußte sie nur durch Gleichnißreden, die
d7 ihnen künftig verständlicher werden solten
c8, vorbereiten, einen weitern Unterricht anzunehmen; und selbst seine Jünger konten
c9 nur wenig mehr fassen, als das übrige Volk; daher er ausdrücklich sagte
d10: ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnet es jetzt nicht tragen, Joh. 16, 12
c11 folg. Das meiste von Christi Unterricht
d12 ward den Aposteln erst bey
/cdweiterm
cd\ ∥cd13 Nachdenken und aus der Erfahrung in ihrem Amte nach
|b269| und nach verständlich, Apg.
d14 10, 34. K. 11, 16–18. Hieraus erhellet nun schon unwidersprechlich, daß nicht
|c269| allen Christen ein gleiches Maaß der Erkentniß nöthig und nützlich ist;
cd15 daß es Wahrheiten giebt, die
d16 nicht alle fassen können, und daß demnach die christliche Lehre in jedem Zeitalter und in jeder Gegend, nach Maaßgabe
c17 der vorhandnen
d18 Grade der Fähigkeiten und Vorerkentnisse, eine ganz verschiedne
d19 Ausdehnung in Absicht der Zahl der Wahrheiten haben müsse, und bald mit mehr sinnlicher Einkleidung, bald ohne solche, reiner und deutlicher werde erkant werden können. Ein System der Glaubenswahrheiten, oder auch eine besondre
d20 Vortragsart
∥cd21, kan zu einer gewissen Zeit in einer bestimten Gegend vorzüglich gut gewesen seyn, und zu einer andern Zeit oder in einer andern Gegend verwerflich werden: ja es muß nothwendig mit jeder mehrern
cd22 Fertigkeit im Gebrauch
cd23 der obern Geisteskräfte, auch der Lehrbegrif
cd24 |d244| von der Religion einen höhern
cd25 Grad der Reinigkeit und Vollkommenheit erhalten.
⌇⌇c ⌇⌇d
⌇⌇c
⌇⌇d Diese waren in ihren Principien und bisherigen Religionsbegriffen sehr von einander verschieden, und
|z38| die Apostel mußten daher nothwendig für jede Klasse derselben eine eigne
d27 Lehrart erwählen. Paulus versichert es selbst, daß er allen allerley geworden sey, den Juden als ein Jude, den Griechen als ein Grieche, um viele zu gewinnen, 1 Cor. 9, 19–22. Wir haben in der Samlung der heiligen Bücher keine Schrift, welche
blos für Heiden aufgesetzt
d28 worden wäre; weil die Apostel an allen Orten zuerst die Juden zu gewinnen suchten, und diese daher überall den ersten Stamm der Gemeinen ausmachten, zu welchen sich
∥cd29 nach und nach
/cdauch
cd\ Leute aus andern
d30 Nationen geselleten. Evangelien und Briefe sind daher vornemlich für Juden geschrieben. Allein
|b270| aus einem Auszug
cd31 einer Rede Pauli an die heidnischen Athenienser, welcher uns Apg. 17, 22 f. aufbehalten
|c270| worden ist, können wir uns doch von Pauli Lehrart unter den Griechen, und wie er ihnen selbst als ein Grieche zu erscheinen suchte, einen ziemlich vollständigen Begrif machen. Ich setze
c32 voraus, was alle christliche Theologen zugestehen werden, daß Lukas
cd33 uns das Wesentlichste und Hauptsächlichste, was Paulus den Heiden als Christusreligion vorzutragen pflegte
d34 und die Methode, deren er sich gewöhnlich dabey bediente, vorlegen wollen. Nun erwähnt
cd35 der Apostel in dieser Rede weder Mosis noch der Propheten, sondern beruft sich gegen die Athenienser auf ihre Philosophen und Dichter; er nennet Christum weder Sohn Gottes, noch Herr, noch Hoherpriester
d36; er gedenkt
cd37 keiner von ihm zum Beweise der Göttlichkeit seiner Lehre verrichteten Wunder; keines Versöhnopfers für die Menschen, keiner Erlösung vom
/dZorn, Fluch
d\ ∥d38, Todesengel oder Teufel; denn dis
d39 alles waren blos jüdische Vorstellungsarten. Der ganze Inhalt seiner Christenthumspredigt ge
|d245|het dahin: daß nur ein einiger Gott sey, der Weltschöpfer, der keines Wohnorts
cd40, keiner Verpflegung oder Beschenkung von den Menschen bedürfte
cd41, sondern der all
|z39|gegenwärtige Mittheiler aller Kräfte und alles Guten sey, was wir besitzen: daß dieser gütige Gott alle Begebenheiten der Menschen regiere, und sie durch seine Wohlthaten zu erwecken gesucht habe, sich von ihm, als dem Geber des Guten würdige Begriffe zu machen: daß er indes
d42 allen die grobe Unwissenheit, darin sie sich in Absicht auf ihn bisher befunden hatten, nebst den daraus hergeflossenen Folgen in ihrem Verhalten, übersehen wolle; nun aber verlange, daß alle bessere Begriffe von ihm fassen, und ihre moralische Gesinnungen verändern solten
c43: indem er beschlossen habe, die Schicksale der Menschen dereinst nach ihrer Aufführung in diesem
|b271| Leben zu bestimmen
d44 und zwar (nicht durch den Minos
/dund Radamanthus
d\ ∥d45 sondern) durch einen Mann, den er
|c271| vom Tode erweckt, und dadurch zugleich als einen glaubwürdigen Lehrer über die Zukunft legitimiret habe. – Sehet da den Weg, welchen Paulus die Heiden zur Gemüthsruhe, zur Rechtschaffenheit
c46 und zu freudigen Hofnungen, als dem Ziel
cd47 aller Religion, geführet hat!
Ganz andre
d48 Wege wurden für die Juden nach ihrer Gemüthslage eröfnet. Diese mußten vor allen Dingen von der Anhängigkeit
c49 an ihr väterliches Gesetz losgemacht werden; und daher mußten sie Christum als einen weit höheren Gesandten Gottes, als Mose und die übrigen Propheten gewesen waren, erkennen und verehren lernen. Nun erwarteten die Juden zur damaligen Zeit bereits einen noch grössern
d50 Propheten, als Mose gewesen war, und erklärten viele Stellen des alten Testaments
cd51 für Vorherverkündigungen der Glückseligkeit, die
d52 sich bey seiner Ankunft über die Nation verbreiten würde. Sie nanten diesen erwarteten Propheten, den Messias,
d53 oder Christus, den Gesalbten
d54 und in sofern er ihr König seyn, und sie an Gottes Statt regieren solte
c55, den Sohn Gottes und ihren Herrn, Ps. 89,
|z40| 7. Ps. 2, 7. Joh[.]
cdz56 10, 34. 36. Ebr. 1. Als dieser erwartete grosse
d57 Prophet, Messias oder Christus,
|d246| Gottes Sohn und Herr, ward nun Jesus den Juden vorgestellet, Luc. 1, 32. 33. 76. Kap. 2, 11. Ebr. 3, 1–6. Apg.
d58 2, 36. K.
d59 3, 22–26. Allein die Juden in und ausserhalb
d60 Palästina hatten nicht einerley Begriffe von der Person des Messias, den sie erwarteten: und da die Apostel sich auch hierin nach ihren Vorerkentnissen richten mußten, so finden wir daher auch mehrere verschiedene Theorien hierüber in den Schriften des neuen Testaments. Insonderheit lassen sich deren drey sehr deutlich unterscheiden.
|b272| Die erste Theorie von Christi Person findet sich in den Schriften, die
d61 für
ungelehrte Juden aus den gemeinen syrischen Schulen aufgesetzt
cd62 worden
∥cd63, namentlich in den Evangelien
/zdes
z\ Matthäus, Markus, Lu
|c272|kas
d64, den Briefen Petri, Jakobi und Judä, und in den Reden an gemeine Juden, die
d65 in der Apostelgeschichte aufbehalten sind. In allen diesen Schriften ist keine Spur von einer Präexistens
cd66 der Seele oder einer höhern
cd67 Natur Christi, oder einer Herabkunft desselben vom Himmel zu finden, sondern Jesus wird als ein
/dwunderthätig empfangener
d\ Mensch, den
d68 Gott mit Geist und Kraft zum Wunderthun ausgerüstet habe, beschrieben, 20. 23. K.
d69 3, 16. Luc. 1, 30. 35. 76–80. K. 2, 40. 52. K.
d70 3, 22.
/zK.
z\ 14, 61. 62. K. 22, 42. 43. 44. Apg.
d71 2, 22–36. K. 3, 12–26. K. 4, 27. 31. K. 5, 30–32. K. 10, 38. K. 13, 23. 33. 1 Petr. 1, 19. 20.
/dDie
zweitec72d\ ∥d73 Theorie ist nach dem Lehrsystem
d74 der
gelehrten Juden, welche die
pythagorisch-platonischecd75 Philosophie mit der Lehre ihrer Propheten verknüpften, eingerichtet.
c76 Man findet sie in den Schriften Johannis, der
d77 viele Jahre
/dsich
d\ zu Ephesus aufgehalten hatte; auch etwas davon im Briefe an die Ebräer. Nach dem System
d78 der platonisirenden Juden hatte Gott vor Schö
|z41|pfung der Welt den Logos (das Wort) hervorgebracht. Wenn Moses
d79 erzählt, Gott
sprach, so lehret er, daß der Logos aus Gott hervorgegangen, und durch diesen, der eine besondre
z80 für sich bestehende Person geworden, ist
cd81 nachher alles gebildet und ausgeschmückt
d82 worden. Ausser
|d247| dem Logos sind nachher noch andre Ausgeburten aus Gott hervorgegangen, als die Wahrheit, das Licht, das Leben u. s. w. Nun glaubten
c83 diese philosophirende Juden, der Logos sey ihr Bundesengel, der schon ehedem dem Abraham und andern erschienen sey, und als ihr Messias sichtbar werden würde. Indes
d84 waren ihre Theorien nicht übereinstimmig, und andere erwarteten den Monogenes oder Eingebornen.
|b273| In Hinsicht auf diese Vorerkentnisse lehret nun Johannes, daß Jesus der Logos, der Eingeborne, das Licht, das Leben, die Wahrheit und alles das vereint gewesen sey, was man sich nach der Philosophie der
∥d85 Platoniker grosses
d86 und
|c273| herrliches unter diesem
cd87 Namen dachte: also derjenige, durch welchen alle höhere Segnungen Gottes den Menschen
/cdzugetheilt würden. Dasselbe
cd\ ∥cd88 Wort, wodurch Gott ehemals alles erschaffen, habe Fleisch angenommen und seine Hütte unter uns aufgeschlagen, Joh. 1, 1–18. und sey von den Jüngern leibhaftig gesehen, gehört und gefühlt
cd89 worden, 1 Joh. 1, 1–3. Daher wird von Christo in Johannis Erzählungen wiederholentlich gesagt, er sey vom Himmel gekommen, Joh. 13, 13. 24. und ehe gewesen
z90 denn Abraham, Joh. 8, 58;
d91 er habe eine Herrlichkeit vor Schaffung der Welt gehabt, zu welcher er in den Himmel zurückkehre, Joh. 17, 5. er wirke von jeher mit seinem Vater, und der Vater wirke durch ihn, und zeige ihm immer mehrere Werke, Joh. 5, 19 f. u. s. w. Auf gleiche Weise
/cdredet Paulus Ebr.
cd\ ∥cd92 1, 2. 3. K. 2, 7–10. 14. 16. 17. K. 3, 6. K. 5, 8. K. 7, 26–28.
Die
dritte Theorie trift man in Pauli Lehrart an, welcher die
/cvorhandne
d93 verschiedenen
c\ ∥c94 Begriffe durchs Allegorisiren einander näher zu bringen sucht
cd95, und inson
|z42|derheit in den Briefen an die Epheser und Colosser Christum zwar als den Erstgebornen unter allen Geschöpfen vorstellet, durch welchen alles erschaffen sey; aber dabey diese Schöpfung mehr aufs Moralische bey Errichtung einer neuen Kirche deutet, indem er lehrt
cd96, daß aus Juden und Heiden eine neue dritte Gattung der Menschen erschaffen wor
|d248|den sey, und jeder Christ als eine neue Kreatur angesehen werden müsse: daher sich Christen nicht mehr nach ihrer ersten Geburt als Juden und Heiden, Freigeborne und Sklaven u. s. w. unterscheiden solten, Eph. 1, 10–23.
d97 K. 2, 5. 6. 10. 14. Col. 1, 15–22. K. 2, 9. 10. 2 Cor. 5, 17. Gal. 6, 15. In allen übri
|b274|gen paulinischen Briefen findet sich keine nähere bestimte Erklärung über die Person Christi,
c98 wenn man nicht Ph. 2, 5–11. dahin rechnen
/cdwill,
z99 und
cd\ ∥cd100 1 Cor. 15, 23–28.
/cdwird
cd\ ∥cd101 Christo ein Reich zugeeignet
∥cd102, was mit Aufhebung der Sterblichkeit zugleich aufhören wird
cd103, weil dann keine historische vermittelnde Begriffe zu reinern Erkentnissen von Gott ferner nöthig seyn werden.
Ueberall wird indes
d104, wo von Christo als einem uns vorgesetzten Herrn und Haupt
d105 geredet wird, Gott als ein höherer von ihm unterschieden, von dem
d106 Christus alle Kräfte, Kentnisse, Hoheit und Gewalt bekommen hat,
cd107 und welcher Christum,
cd109 als eine Mittelsperson, seine Segnungen auszutheilen brauche. Hierin stimmen alle Apostel überein, 1 Cor. 8, 5. 6.
∥cd110 1 Tim. 2, 5. Matth. 28, 18. Joh. 14, 28. K. 5, 18. 19. 20. 26. 27. K. 17, 3. Apg.
d112 2, 32–36. Ph. 2, 5–11.
§. 92.
Da über die Lehre von der Person Christi die ersten, mehresten und allgemeinsten Streitigkeiten in der Kirche entstanden sind,
z1 und noch in unsern
d2 Tagen fortwähren, so kan ich bey derselben am deutlichsten und vollständigsten zeigen, wie man sich aus dem Labyrinth
cd3 der Zweifel, welche durch solche kirchliche Uneinigkeiten über den wah
|z43|ren Unterricht der heiligen Schrift veranlasset worden
cd4, herausfinden, und seinen Glauben, seine Gemüthsruhe und seine Hofnungen zugleich dabey aufs stärkste bevestigen könne. Zuvörderst muß man also das gemeine Vorurtheil fahren lassen, als ob in der heiligen Schrift eine gewisse Anzahl von Lehrwahrheiten überall auf einerley Art vorgetragen wären, und jeder
∥cd5 alle diese Sätze mit einerley Bestim
|d249|mungen, um selig zu werden, erkennen müsse. Wir haben bisher gesehen, wie vielerley verschiedene Vorstellungen von der Person Christi in den Lehrvorträgen der Apostel herrschen, und diese Verschiedenheit der Begriffe muß also zum Seligwerden unschädlich seyn. Chri
|b275|stus preiset Matth. 5. bereits seine damalige Zuhörer, die doch äusserst
d6 fehlerhafte und grobe Begriffe nicht nur von
|c275| ihm, sondern auch selbst von Gott hatten, selig, wenn sie nur gutmüthig gesinnet wären, und Gott vertrauten
cd7. Es komt also gar nicht darauf an, was und wie viel jemand erkennet und glaubt, sondern nur darauf, ob das, was er glaubt, in Verbindung mit seinen übrigen Einsichten, dahin zusammen stimt
d8, ihn christlichgesinnt
cd9 zu machen; das ist, ihn mit Liebe und Zuversicht zu Gott, und mit Wohlwollen gegen seine Mitmenschen zu erfüllen:
cd10 denn alsdenn
cd11 hat er den Geist Christi, und ist in Gott und Gott ist in ihm, 1 Joh. 4, 6. 7. 8. 13. 16. 17. Es fragt
cd12 sich demnach, was ist das Allgemeine und Wesentliche, was alle, die durch Christum zu Gott kommen oder durch ihn zu göttlichen Gesinnungen und daraus fliessender höhern
cd13 Seligkeit gelangen wollen, von Christi Person zu erkennen und zu glauben haben? Unleugbar nichts von dem, worin die apostolischen Lehrvorträge von einander abweichen, sondern nur das allein, worin sie sämtlich übereinstimmen;
cd14 und wovon sie Heiden, palästinische Juden, Hellenisten, Gelehrte und Einfältige gleich durch zu überzeugen suchen; der Punkt, auf welchen
cd15 alle verschiedene Wege, die
d16 sie nach den verschiede
|z44|nen Vorerkentnissen ihrer Leser gebähnet haben, zusammentreffen. Und welches ist dieser Punkt? Ohnstreitig blos der Satz:
Jesus ist ein göttlicher Lehrer gewesen, dessen Unterricht, als Wahrheit von Gott, anzunehmen und zu befolgen ist, wenn man glückseliger werden will. Dieses ist offenbar hinlänglich, um durch ihn den Vater in seiner ganzen Liebenswürdigkeit anbeten zu lernen, die erfreulichsten Hofnungen zu fassen, und solche Gesinnungen anzunehmen, wie er gegen Gott und Menschen gezeiget hat.
|d250| Die weitern
cd17 Fragen: wie ist Christus ein göttlicher Lehrer? Hat Gott ihn bey seiner Geburt oder bey sei
|b276|ner Taufe mit ausserordentlichen Geistesgaben ausgerüstet? Oder hat Gott nach und nach immerfort in ihm jede
|c276| Vorstellung gewirkt
d19? Oder ist seine Seele ein Geist einer höheren Ordnung gewesen? Ist dieser Geist der höchste nach Gott, und das erste seiner Geschöpfe? Oder ist er nur ein untergeordneter Geist, der etwa der Schutzgeist der Erde, oder gar nur der Schutzgeist und Bundesengel der jüdischen Nation
/cdgewesen
cd\ ist? Oder ist er der einzige Geist seiner Art, der Eingeborne? Ist er aus Gott geboren oder erschaffen, und was ist dazwischen für ein Unterschied? In wiefern nimt er Theil am Wesen Gottes? Hat man in ihm mehrere Naturen zu unterscheiden, und heißt
d20 er nur nach einer oder nach beiden der Sohn Gottes? Wie theilen sich diese Naturen ihre Eigenschaften mit? u. s. w. alle diese Fragen und tausend andre
d21 kan der Christ zur Seligkeit unbeantwortet lassen, und jeder Gelehrte ist durch die mannigfaltige
d22 Vortragsarten der Apostel berechtiget, sich den Lehrbegrif nach Maaßgabe seiner sonstigen Erkentnisse so auszubilden, als es ihm zu seiner Beruhigung am erfreulichsten ist; und es werden sich ihm auch gewiß beym fleißigen Forschen der Schrift Aussprüche darbieten, die seine Theorie, wie sie auch immer ausfallen mag, begünstigen werden. Denn
|z45| eben dadurch wird das Christenthum eine
allgemeine Religion, daß es sich an alle Vorerkentnisse anschließt
cd23, und von da zu höherer Seligkeit leitet.
Die Geschichte der Lehrmeinungen in der Kirche bestätiget nun auch, daß es seit der Apostel Zeiten eine überaus grosse
d24 Mannigfaltigkeit der Vorstellungsarten von der Person Christi in allen Zeiten gegeben habe; und
∥d25 jede Parthey
∥c26 ihre Lehre deutlich im neuen Testament anzutreffen geglaubt, und Beweisstellen, die
d27 von ihren Gegnern nicht völlig widerlegt werden konten, dafür angeführet
/chabe
c\. Anfänglich, da man sich blos aus den mündlichen Vorträgen der ersten Christenthumslehrer etwas
|b277| aufgezeichnet hatte, oder sich auf mündliche Ueberlieferungen von den Apo
|d251|steln berief, gab es eine grosse
d28 Men
|c277|ge Lebensbeschreibungen von Christo, und viele einzelne Lehrbegriffe von seinem Unterricht
d29. In jedem Lande, unter jeder besondern jüdischen und philosophischen Sekte, hatte man eigne Evangelien und Lehrbücher, die alle sehr von einander abwichen. Dieses konte nicht fehlen, da die Apostel sich überall nach den Vorerkentnissen ihrer Zuhörer richteten, und davon soviel
cd30 beybehielten und benutzten, als zur Erweckung der größten Hochachtung und
/cddes möglichsten
cd\ ∥cd31 Zutrauens gegen Christum nur irgends brauchbar zu seyn schien; um den Principien zu bessern Religionseinsichten einige Haltung zu verschaffen. Nachmals, da die eigne
d32 Schriften der Apostel und ihrer Begleiter, die
d33 an die Hauptgemeinen gerichtet worden waren, durch diese ein höheres und allgemeineres Ansehen erlangt
cd34 hatten, hielt jede Gegend sich an die
cd35 Evangelien und Briefe, die
d36 für ihre Denkart
d37 eingerichtet, und ihr zunächst gewidmet worden waren. Die aus den Schulen der syrischen Juden hatten das Evangelium Matthäi, Marci, Lucä; die platonisirenden Christen das Evangelium Johannis. Die daraus nothwendig entstehende Verschiedenheit in ihren Lehren von der Person Christi
|z46| /dveranlaßte indes
d\ ∥d38 noch keine Spaltung oder sektirischen Haß. Justinus der Märtyrer, der
d39 in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts, und also bald nach der Apostel Zeiten
/cdgelebt hat
cd\ ∥cd40, und die philosophischen Systeme mehrerer griechischen Schulen studirt
cd41 hatte, nachher aber ein berühmter rechtgläubiger Lehrer und Vertheidiger des Christenthums geworden war, erklärt
cd42 in seinem Gespräch
cd43 mit dem Juden Tryphon ausdrücklich: „wenn ich auch nicht beweisen könte, daß Jesus schon zuvor der Sohn des Weltschöpfers gewesen sey, ehe er als ein Mensch von der Jungfrau Maria geboren worden ist, so würde doch dadurch nicht aufgehoben, daß er nicht Christus
|b278| oder der Gesalbte Gottes sey. – Man kan annehmen, daß er als ein Mensch von Menschen geboren, und doch
|c278| von Gott zum Christ gewählet oder bestimmet worden sey. Denn es giebt auch unter den Christen unsrer Nation (
απο του |d252| ημετερου γενους) einige, die
d44 ihn für den Christ halten, und doch sagen, daß er ein Mensch von Menschen sey. Ich pflichte ihnen indes
d45 nicht bey, wenn es gleich die
gemeine Meinung seyn mag.“ Aus dieser Stelle siehet man deutlich, daß nicht nur Christen aus den Juden, sondern auch aus den Griechen, Jesum blos für einen Mann, der durch ausserordentliche
d46 Mittheilung höherer Gaben von Gott autorisiret worden, die Religion zu verbessern, gehalten haben; ja daß dieses die gemeinere Vorstellungart
cd47 damals gewesen sey, ohne daß eine Parthey die andre deshalb für unchristlicher erkläret habe.
Insonderheit veranlaßte
d48 nun der Johannäische Vortrag, daß der Logos (das Wort) Gottes einen menschlichen Körper angenommen habe, Joh. 1, 1–14. vielerley besondre philosophische Theorien. Denn da das griechische Wort Logos zweierley
cd49 bedeutet, nemlich
/cdeinmal
diecd\ Vernunft, ∥cd50 und
/cddann auch
eincd\ Wort oder
/cdeinecd\ Rede, so mußte
d51 die weitere Entwickelung dieser Begrif
|z47|fe nothwendig verschiedene Lehrbegriffe erzeugen. Die unter Logos die Vernunft verstunden
cd52, rechneten den Logos zum Wesen Gottes, und gaben ihm eine gleiche Hoheit und Ewigkeit; weil Gott ohne Vernunft nie würklich gewesen seyn konte
d53.
cdDie, welche Logos durch Gedanke übersetzten, ließen denselben in Gott von Ewigkeit her erzeugen, da doch Gott immer gedacht haben muß
d54: und dann war nach ihrer Vorstellung bey der Schöpfung die bisher in Gott verschlossene Gedankensumme hervorgegangen und außer ihm dargestellet worden.
cd Diejenigen aber, welche unter Logos ein ausgesprochnes Wort verstunden
d55, theilten sich in vielerley Partheien, und gaben dem Logos entweder eine besondere Subsistenz und abgesondertes Daseyn ausser
d56 Gott; oder sie dachten sich ihn blos als eine
|c279| Ausstrahlung oder aus Gott Kraft und Wirkung. Daher finden wir die Kirchenväter der ersten drey Jahrhunderte, die
d57 alle für rechtgläubig gehalten wor
|b279|den
∥cd58, so sehr verschieden in ihren Vergleichungen, wodurch sie uns deutlich machen wollen, wie der Logos zu Gott gehört
cd59, und doch eine andre Person ist
d61, als der Vater.
|d253| Tertullian, ein afrikanischer Kirchenvater des zweiten Jahrhunderts, will es recht deutlich
cd62 machen, wie der Sohn als Logos immer im Vater gewesen, und doch auch von ihm selbst als eine zweite Person gezeugt
cd63 sey, und hält sich dabey an die doppelte
cd64 Bedeutung des Ausdrucks
cd65 Logos. In seiner Schrift wider den Praxeas trägt er diese Lehre folgendergestalt vor, K.
d66 5. folg. „Man darf nur acht geben, wie die Schrift vom Sohn
d67 als vom Wort;
cd68 oder besser als von der Vernunft (Gottes) spricht: Ehe etwas war, war Gott
allein; da war er sich selbst Welt und Ort und alles.
Allein war er, weil nichts
aussercd70 ihm war: übrigens war er auch damals nicht allein, denn er hatte seine
Vernunft bey und in sich, – den Logos, wie ihn die Griechen nennen, und die unsren durch
Wort oder
Rede übersetzen, da es doch natürlicher wäre, die
Vernunft als das ältere anzunehmen. Denn Gott wird uns von Anfang nicht als
sprechend, wol aber als
vernünftig vorgestellt
cd71. Wie wol es liegt
d72 so viel nicht daran
d73 (wie man Logos übersetzt); denn was man denkt
d74, sind
Worte, und dann ist
|z48| das zweite, was sich bey uns äussert,
die Rede, die
d75 den Gedanken herausbringt
d76 oder offenbaret. – Wie viel mehr wird das so in Gott seyn, dessen Bild und Gleichniß wir sind. – Ich kan mit Grunde annehmen, daß Gott vor der Schöpfung der Welt nicht allein gewesen, da er in sich selbst die Vernunft, und mit der Vernunft auch das Wort gehabt, welches er, indem er mit sich selbst überlegte, als den zweiten nächst sich machte, K. 6. Eben das heißt
cd77 sonst auch die Weis
|c280|heit in der Schrift. Daher
/cdheißt es
cd\ ∥cd78 auch, daß die Weisheit als die zweite Person geschaffen sey, Sprüchw. 8, 22. 31. vergl. mit V. 12. und eben in dieser Stelle
|b280| wird sie, man bedenke das, als Gott beystehen und also als würklich von ihm abgesondert beschrieben. So bald nemlich Gott das, was er mit der Weisheit, Wort
d79 und Vernunft (Logos) in sich selbst geordnet hatte, würklich ans Licht bringen wolte, hat er
das Wort selbst zuerst hervorgebracht
d80 – K. 7. Da nahm
|d254| /cdGott
cd\ also
das Wort, selbst seine Form und Gestalt, Schall und Tonfügung an, da Gott sprach: Es werde Licht. Dieses ist nun die völlige Ausgeburt des Worts
d81, indem es von Gott ausgeht.
cd82 – Aber, wird man gegen mich einwenden, was ist denn das Sprechen;
cd84 es ist ja nichts als ein hörbarer verständlicher Schall, übrigens aber etwas unkörperliches, was nicht für sich besteht.
cd85 – Ja, antworte ich, was von Gott ausgeht
cd87, kan nicht etwas leeres oder vorübergehendes seyn; sondern was
von einer solchen Substanz herkomt, muß selbst
/cdeincd\ Bestehen und Fortdauer haben. – Was nun auch der Logos für eine Substanz oder Bestehen bekommen haben mag, so nenne ich dieses eine Person und den Sohn Gottes, und behaupte, er sey der zweite nächst dem Vater,
/du. s. w. –“
d\ ∥d88 Den Geist Gottes aber erkläret Tertullian folgendergestalt: „Jede Rede hat einen Sinn
|z49| oder Verstand, und dieser ist der Geist, welcher den Worten gleichsam das Bestehen giebt.“
Aus diesen Erklärungen der berühmtesten christlichen Lehrer, gleich nach den Zeiten der Apostel, erhellet nun aufs deutlichste, wie sich ein jeder nach seiner Philosophie die biblischen Begriffe weiter entwickelt und geformt
cd89 hat, und daß es auch damals, so wenig als vor oder nachher, eine Uebereinstimmung in allen Begriffen gegeben habe. Dieses aber hinderte auf keinerley Weise den Zweck des Christenthums und den äussern
d90 Frieden der Kirche. Al
|c281|lein so bald die Kaiser das Christenthum begünstigten, und den Bischöfen eine obrigkeitliche Gewalt einräumten, fingen diese an, verbindliche Lehrvorschriften zu er
|b281|theilen, wornach sich alle ihre untergeordnete Priester richten solten. Man hatte nun nach und nach die apostolischen Schriften, die
d91 sonst nur einzeln bey den Gemeinen vorhanden gewesen waren, gesamlet; und es traf sich nicht selten, daß an einer Kirche Lehrer aus syrischen, griechischen und egyptischen Schulen zugleich angestellet wurden. Ein jeder trug nun die Lehren des neuen Testaments
d92 nach denjenigen apostolischen Schriften, die
d93 ihm zuerst bekant worden waren,
|d255| und in der Einkleidung seiner Landesphilosophie vor. Daraus
/cdentstanden
cd\ ∥cd94 Mißverständnisse, und die Bischöfe
c95 setzten die Priester, welche sich nicht nach ihrer Vortragsart bequemen wolten,
/cdvon ihren Aemtern
cd\ in ihrem Kirchsprengel
∥cd96 ab. Fand nun ein solcher Priester bey andern Bischöfen seiner theologischen Schule Unterstützung, so brach über die Streitfrage ein öffentlicher Zank aus; und indem jeder Bischof seine Parthey durch die Mehrheit der Stimmen zu verstärken suchte, so ward der Streit in kurzem in allen Gegenden der Christenheit allgemein. Jeder Theil führte Schriftstellen für sich an, worin er seine Meinung mit klaren Worten zu finden glaubte, und es war nicht möglich,
/cdsich
cd\ aus der Bibel
∥cd97 zu widerlegen. Die Kaiser sahen sich genö
|z50|thiget, um den öffentlichen Unruhen, welche der Bischöfe Eifer gegen einander veranlaßte
d98, Einhalt zu thun, sich selbst ins Mittel zu schlagen. Sie versuchten zuerst den Weg eines Vergleichs, und versamleten die angesehensten Bischöfe und Gottesgelehrten aus allen christlichen Gegenden. Allein, wie konten sich diese vereinigen, da keiner nach der Schrift unrichtig lehrete
cd99, und nur alle darin irreten, worin die Theologen noch heut zu Tage irren, nemlich daß sie annahmen, es sey in den heiligen Schriften überall nur
einerley Theorie und Vorstellungs
|c282|art über jeden
d100 Artikel
∥d101 anzutreffen. – Es mußte
d102 also natürlich der allgemeine Erfolg aller Kirchenversamlungen seyn, daß entweder die stärkere Parthey die schwä
|b282|chere unterdrückte, oder daß man sich über etwas, wie zu Nicäa aus Gefälligkeit gegen den gegenwärtigen (noch ungetauften) Kaiser, vereinigte, was keiner recht verstand, und worüber bald nachher, wenn man es erklären wolte, neue Zwistigkeiten ausbrachen.
Es ist unmöglich, daß mehrere von verschiedenen Gemüthsfertigkeiten und Vorerkentnissen, wenn sie einerley Lehrvortrag hören oder lesen, sich völlig gleiche Vorstellungen von dem Inhalte bilden solten, zumal wenn es unsinnliche oder moralische Gegenstände betrift. Ein jeder faßt
cd103 daraus nur grade
d105 so viel, als er sich vermittelst der vorrä
|d256|thigen,
c106 ihm schon klaren, Begriffe begreiflich machen, und mit seinen übrigen Erkentnissen zusammen reimen und damit verknüpfen kan. Nun kommen
cd107 auf den Koncilien Geistliche aus so sehr verschiedenen philosophischen Schulen, aus Egypten, Palästina, Griechenland und den Abendländern zusammen, die einander unmöglich ihre Philosophie beybringen konten, und deren ein jeder nur dieses oder jenes biblische Buch, was für sein Vaterland geschrieben worden war, für völlig klar und verständlich hielt. Gesetzt nun auch, daß man einräumen wolte, es wären auf den Koncilien solche Lehr
|z51|bestimmungen und Vortragsarten beliebt
cd108 worden, die damals nach der Fassung des größten Theils der Bischöfe und Priester die bequemsten gewesen wären,
cd109 so konten sie es doch nicht lange bleiben, sondern mußten
d110 verändert werden, so bald die übrigen Einsichten der Geistlichen und ihre Philosophie sich verbesserte. Denn mit jeder Kultur der Vernunft wird die Fähigkeit zu reinern Erkentnissen von Gott ohnstreitig vermehret. – Ein jeder kan nun leicht hieraus erklären, woher so vielerley Geheimnisse und Dunkelheiten in das gelehrte System des
|c283| Christenthums hineingekommen sind. Wir haben nach und nach die jüdische, alexandrinische, pythagorisch-platonische, afrikanische und gröstentheils
cd111 auch die aristote
|b283|lische Philosophie so verlassen, daß sich kaum noch einige Theologen um historische Kentnisse davon bemühen, und haben
/cddem ohnerachtet
cd\ ∥cd112 die Lehrbestimmungen
/dim Christenthum
d\ ∥d113 beybehalten, welche aus diesen verschiedenen philosophischen Theorien nach und nach auf Kirchenversamlungen aufgenommen worden sind. So solte z. B. auf dem Nicäischen Koncilium eine bestimte Erklärung von der Person Christi, und dem Verhältniß
d114 desselben zum Vater gegeben werden. Ist aber wol jetzt das damals geformte Symbolum eine
würklichecd115 Erklärung der biblischen Lehre, oder ist es nicht geständlich jetzt allen ein Geheimniß, das ist, eine weit dunklere Lehre, als
/dsie
d\ die Schrift selbst vorträgt? –
Ich unterschreibe ohne Bedenken das
symbolum Athanasianumd116 in Beziehung auf die platonischen Sätze der Ar
|d257|rianer vom Logos, denen die verneinende Sätze desselben entgegen gestellet sind: ich bin aber zu gleicher Zeit überzeugt, daß unter tausend Predigern kaum einer ist, der
d117 den wahren Sinn desselben begreift, eben daher, weil sich überaus wenige mit der Geschichte der alten philosophischen Meinungen beschäftigen, woraus der wahre Verstand begreiflich wird. Die mehresten, die sich
/cdin dem
|z52| kirchlichen Sinn
cd\ darum für
∥cd118 Rechtgläubige halten, weil sie die Worte der Koncilien und Symbolen beybehalten
cd119, sind nichts weniger als rechtgläubig, weil sie unter den alten Formeln sich gar nicht mehr die Begriffe denken, die ehedem damit verknüpft
d120 worden sind. Gleiche Bewandniß
d121 hat es nun auch mit den Symbolen der Protestanten. Man kan zugestehen, daß darin die Christenthumslehre so gut vorgetragen sey, als es nach der
/cdFassung der
cd\ Philosophie, und den übrigen Erkentnissen der Geistlichen zur Zeit der Reformation geschehen können
d122. Sind wir
|c284| denn aber seitdem nicht weiter gekommen? Solten nicht Gelehrte in unsren Tagen von vielen Religionssätzen schon weit reinere Vorstellungen haben, als damals
|b284| möglich waren? Und solte nicht mancher Satz für uns anstössig
d123 geworden seyn, der
d124 es zu den Zeiten Luthers noch nicht war? Ohnstreitig hat jede Aufklärung des menschlichen Verstandes, in welcher besondern
d125 Wissenschaft sie auch immer erfolgen mag, einigen Einfluß auf die Religion. Nicht blos die so sehr verbesserte philologische, kritische und historische Erkentnisse, die
d126 sich näher auf die Bibel beziehen, sondern auch die neuern Aufschlüsse in der Naturkunde und spekulativen Philosophie machen einen gereinigtern Religionsvortrag, als für Luthers Zeiten erforderlich war,
/cdfür unser Jahrhundert
cd\ ∥cd127 nothwendig. Ich kan hierüber jetzt nicht ausführlich werden; aber zur Erweckung des weitern
d128 Nachdenkens wird ein einziges Beyspiel für Leser, wie ich mir wünsche, hinlänglich seyn. Es ist bekant, daß zu den Zeiten der Reformation, und noch lange nachher, diese Erde für den einzigen bewohnten Weltkörper, und die Menschen für die vornehmsten Geschöpfe Gottes gehalten worden sind. Ob man nun gleich dabey auch Engel glaubte, welche höhere
|d258| Kräfte besässen
d129, so hielt man sie doch in Absicht der künftigen Bestimmung kaum den Menschen gleich, sondern beehrte sie mit dem Amte, hier die
|z53| Menschen, besonders in der Kindheit zu beschützen, und ihnen dereinst an Abrahamstafel zu Tische zu dienen. Mir selbst hat man in meinen Kinderjahren dergleichen Vorstellungen noch beygebracht, wobey man sich auf Ebr. 1, 14. Luc. 16, 22. 1 Cor. 6, 3. berief. So lange man nun nach diesen Ideen das Menschengeschlecht für das vornehmste der göttlichen Werke ansahe, und
/cddem Zweck
cd\ ∥cd130 der Schöpfung des Weltalls auf ihre
cd131 Seligmachung einschränkte,
∥cd132 konte
/cdman
cd\ kein zu
übergrossesd133 Mittel erdenken
cd134, was nicht immer einer göttlichen Weis
|c285|heit zu brauchen
d135 anständig gewesen wäre, um den Hauptzweck ihrer ganzen Weltschöpfung an den Menschen zu erreichen. – Allein da in unsren
cd136 Tagen die Aussich
|b285|ten in die Stadt Gottes dergestalt erweitert worden sind, daß wir unsre Erde nur als ein unbedeutendes Kämmerchen in derselben betrachten können, was man im Ganzen, wenn es völlig wegfiele, gar nicht vermissen würde; da man viele tausend Sonnen, und um jede derselben eine Menge grösserer
d137 Erdbälle, als der unsrige ist, kennet
d138, und diese insgesamt wahrscheinlich nur ein unendlich kleinerer
cd139 Theil des ganzen Weltalls
d140 sind; da kan man wol unmöglich alle Lehrsätze und alle Einkleidungen derselben, wie sie die alten Dogmatiker ausgebildet haben, so schlechthin beybehalten. Wenigstens müssen die, welche mit Maupertuis es für einen der stärksten Beweise eines höchst weisen Urhebers des Ganzen erkennen, daß überall zu keiner Wirkung in der Natur mehr Kraft angewandt wird, als grade
d141 dazu nothwendig ist, eine auffallende Disproportion zwischen Absichten und Mitteln in dem Kirchensystem
d142 finden. Wer also nicht zugleich glauben kan
d143, daß es weise sey, die Mittel zu den Zwecken genau zu proportioniren, und auch daß die höchste Weisheit zu kleinen endlichen beschränkten Zwecken Mittel, die
d144 ungleich grösser
d145 sind als die Zwecke selbst, gewählt
cd146 habe: der wird im Kirchensystem
d147 in vielen Artikeln reformiren müs
|z54|sen. – Deutlicher will ich hier mit
|d259| Vorsatz
d148 nicht seyn; ein jeder mache die Anwendung, so gut er kan
c149!
§. 93.
Mit allen übrigen Lehrartikeln der apostolischen Schriften hat es nun eben die Bewandniß, wie mit der Lehre von der Person Christi. Man verstehet alles, wenn man sich vorher klar macht
d1, wie die unmittelbaren Zuhörer und Leser der Apostel über jeden Lehrpunkt dachten, und alsdenn
cd2 nur das Ziel in Augen behält, wohin sie geführet werden solten, nemlich zur Furchtlosigkeit
|c286| und freudigern
d3 Vorstellungen von Gott, und
∥d4 ihren künftigen Schicksalen bey moralischguten Gesinnungen. Um
|b286| nur eine Probe zu geben, wie hieraus die Lehrart der Apostel ihr volles Licht erhält, wähle ich die Artikel von den Dämonen und von dem Versöhnopfer Christi.
Dämonenlehre.
- 1. Vorerkentnisse der ersten Leser. Ihr Juden glaubt, daß eine Menge Dämonen in der Luft sind, welche auf die Seele und den Körper dercd5 Menschen und auf die äussered6 Begebenheiten der Welt einen kräftigen Einfluß haben. Ihr glaubtcd7, daß die mächtigsten unter denselben mit ihrem Anhange in eignend8 Gebieten herrschen, und sie zu erweitern suchen. Ihr haltet diejenigen, welche euer Reich beschirmen, für gute Engel, die Schutzgeister der übrigen Nationen aber für eure Widersacher und Teufel, und /ddaherd\ auch für Feinde des Jehova, Jud. 9. Tob. 3, 8. K. 12, 14. 15. Offenb. 12, 3c9 f. Diesen bösen Geistern schreibtd10 ihr die meisten Unfälle und verschiedned11 Arten unheilbarer Krankheiten zu; ja ihr befürchtet, daß ihr im Sterben, wegen der Uebertretung eures Gesetzes, ihnen ausgeliefert und von ihnen gequälet werden möchtet. Nun will ich mich nicht auf den |z55| Grund oder den Ungrund eurer Meinungen einlassen, aber euch zu eurer Beruhigung nun eine erfreuliche Lehre verkündigen.
- 2. Unterricht der Apostel: Christus ist ein Stärkerer als das Oberhaupt der widerwärtigen Geister. Er |d260| ist dazu gekommen, die Wirksamkeit derselben aufzuheben, und hat in seinem Tode dem Gewalthaber des Todes seine Macht über die Menschen benommen; und zum Beweise davon alle, die vom Teufel überwältiget waren, gesund und frey gemacht. Nun ist er über alle Dämonen und Geister, sie mögen über, aufcd12 oder unter der Erde seyn, erhöhet; alles ist unter sei|c287|ne Füssed13 gethan. Wer daher an Christum glaubtd14, |b287| und redlich seinen Vorschriften gemäß lebtcd15, an den hat Satan keine Gewalt, sondern er fliehet vor ihm. Aber durch Abfall vom Christenthumd16, und durch Betrug und Lieblosigkeit geräth man in der Teufel Gewalt und Verdamniß, Ebr. 2, 14. 15. 1 Joh. 3, 8. Eph. 6, 12. 16. 1 Tim. 4, 1. 1 Joh. 3, 10.
Versöhnungstod Christi.
- 1. Vorerkentnisse. Ihr Juden glaubtcd17 nach Mosis Gesetz, daß niemand als nur der Hohepriester einen nahen Zutritt zu Gott habe; daß man daher eines solchen zum Mittler und Fürsprecher bey Gott beständig bedürfe. Ihr glaubt, daß wer nicht alle Worte des Gesetzes erfülle, vom Herrnd18 verflucht sey; und daß keine Vergebung ohne Blutvergiessend19 erfolgen könne. Unter diesen Verhältnissen lebtetcd20 ihr in Angst und Todesfurcht; aber nun verkündigen wir euch /cdein Evangelium.cd\ ∥cd21
- 2. Apostolischer Unterricht: Christus ist uns von Gott zu einem ewigen unsterblichen Hohenpriester verordnet, er ist ein für allemal mit seinem /deignen Blutd\ ∥d22, das mehr werth ist, als aller Böcke und Kälberblut |z56| und alles Lösegeld von Metall, in das Allerheiligste eingegangen, und hat dadurch eine ewige Erlösung und Befreiung von allen Strafen, died23 Mose den Uebertretern seines Gesetzes gedrohet hat, gestiftet. Nun ist der Vorhang im Tempel zerrissen, und jeder hat als ein Christ einen ofnend24 und freien Zugang zu Gott. Die Handschrift, died25 wider uns Juden war, ist /cdans Kreutzcd\ ∥cd26 geschlagen, und aller Fluch aufgehoben, da Christus durch sein Hängen am Holzd27 ihn auf sich genommen hat. Nun bedür|d261|fenc28 Christen auch keines Priesters zum Fürsprecher, sondern sie selbst können in seinem Geistcd29 ihn überall wohlgefällig als Vater anbeten. Aber nun muß auch jeder Christo leben, der für ihn |b288| |c288| gestorben ist, wenn er dereinst auch mit ihm in seiner Herrlichkeit leben will, Ebr. 2, 12. Luc. 23, 45.
Es erhellet ganz deutlich, daß diese Lehrart die Juden gerade zu dahin brachte, alle Furcht fahren zu lassen, und die zur Glückseligkeit nöthige Freudigkeit zu Gott, besonders in Absicht der Zukunft, zu fassen, und überhaupt geistiger und vernünftiger zu denken und zu handeln. Aber auch in diesen Lehren ist eine grosse
d30 Mannigfaltigkeit der besondern Einkleidung,
d31 für die verschiedenen jüdischen Sekten und für die Heiden, in den heiligen Schriften anzutreffen. Nirgends wird denen, welche von den bösen Geistern nichts wußten, es zu einer Seligkeitsbedingung gemacht, dergleichen zu glauben; nirgends den Heiden gesagt, daß
d32 sie ohne Söhnopfer keine Vergebung zu hoffen gehabt hätten. Hieraus folgt
cd33 demnach die Regel der Amtsklugheit: man wähle bey jeder Klasse der Zuhörer den nächsten Weg, sie mit Vertrauen, Liebe und Freudigkeit zu Gott zu erfüllen. Haben sie keine ängstliche Vorstellungen von der Gewalt böser
c34 Geister, so erwecke man sie ihnen nicht erst. Sind sie bereits von so hellen Einsichten, daß sie von Gottes väterlicher Güte Verzeihung, ohne vorgängiges Blutvergiessen
d35 oder andre
d36 |z57| Geschenke, hoffen, so bringe man sie nicht erst auf die
/dfinstere jüdische
d\ ∥d37 Begriffe zurück. Findet man dagegen unter den Christen Leute vor sich, die
d38 so weit in ihren Vorerkentnissen zurück sind, wie ehedem die Juden waren, nun dann führe man diese denselben Weg, den
d39 die Apostel von da aus vorgezeichnet haben. Wer jenseit des Stroms
d40 sich befindet, bedarf einer Brücke
d41 um herüber zu kommen, es wäre aber thöricht, wenn man Leute, die disseit des Wassers wohnen, darum erst auf einem gefährlichen Nachen über den Strom herübersenden
cd42 wolte, um auch sie über die Brücke in die Stadt herein zu bringen. Die Lehre vom Opfertode
∥cd43 ist die Brücke für alle;
cd44 welche
|d262| da stehen, wo sich die Juden zur Zeit der
|b289| |c289| Apostel befanden: unsre denkende Christen wohnen schon disseits.
Lieset man nun die Schriften der Kirchenväter aus den ersten Jahrhunderten, so findet man fast durchgängig den Tod Christi als das Erlösungsmittel von der Gewalt des Todesengels oder des Teufels vorgestellt,
cd45 aber keine Spur von der spätern Lehre, daß Gott
∥d47 besänftiget oder ihm eine Genungthuung geleistet werden sollen. Ein jeder christlicher Schriftsteller entwickelte sich, nach seiner eignen
d48 besondern Philosophie, die Gründe und die Art und Weise der Erlösung vom Teufel. Einige lehreten, der Körper Jesu sey dem Teufel als eine Lockspeise vorgehalten worden, damit Christus den Satan, wenn er glaubte, eine Menschenseele zu haschen, selbst fassen und gebunden ins Gefängniß führen können. Gregor von . Rede 39. Andre
cd49 wie z. B. Augustin
cd50 sagten: Gott hätte zwar nach seiner Allmacht dem Teufel seine Gewalt über die Menschen nehmen können, aber dis
d51 hätte sich für Gott nicht geschickt, sondern der Teufel hätte durch Gerechtigkeit besiegt
cd52, oder nach Urtheil und Recht seiner Herrschaft über die Menschen, die
d53 sich ihm freiwillig unterwürfig ge
|z58|macht
/chätten, beraubt
d54c\ ∥c55 werden müssen. Gott hätte daher veranstaltet, daß der Teufel Gelegenheit gehabt
cd56, sich an Christo als einem völlig Unschuldigen zu vergreifen und derselben
cd57 zu tödten, und
/cdeben dadurch
cd\ ∥cd58 hätte er nun das bisher gehabte
/cdAnrecht an
cd\ ∥cd59 die
/dMenschen
d\ ∥d60 verloren. Es ist daher auch diese Vorstellung in Luthers Erklärung des zweiten Artikels übergangen: erworben, gewonnen, von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels.
Wer sich selbst ausführlich überzeugen will, wie mannigfaltig von der Apostel Zeiten her die besondre
d61 Vorstellungsarten einer jeden einzelnen Hauptwahrheit, und die Methoden sie mit einander zu verbinden, ge
|b290||c290|wesen sind, und entweder die todten Sprachen nicht geläufig versteht, oder weitläuftige Werke sich nicht anschaffen kan, oder
∥cd62 durchzustudiren nicht Zeit hat, der lese die deutsche Uebersetzungen und Auszüge aus den Schriftstellern der ersten
|d263| Jahrhunderte, welche uns der Herr Professor Rößler
/dzum Theil
d\ geliefert hat
/dund noch liefern wird
d\. Denn ob gleich Herr
d63 Rößler unter solchen Verhältnissen gegen kirchliche Policeygesetze schreibt
d64, daß er das herrschende System möglichst schonen muß
d65, und daher z. B. den wichtigen Unterschied zwischen
Θεος (ein Gott) und
ὁ Θεος (der höchste Gott) in seiner Uebersetzung nicht hervorstechen läßt
d66, so ist doch für Gottesgelehrte durch die beygedruckte
d67 Originalstellen an vielen Orten gesorgt
cd68; und die übrigen Leser, die
d69 auf feinere Lehrbestimmungen zu merken nicht nöthig haben, werden aus der Lesung des Ganzen sich noch immer einleuchtend überzeugen, daß das Christenthum überall nach der Landesphilosophie und dem
/cdGeist des
cd\ ∥cd70 Zeitalters geformt worden ist; daß die jetzt gemeinen Kirchenlehren ehedem unbekant gewesen sind; daß in den frühern
d71 Jahrhunderten das Christenthum gleichsam in der Kindheit sich befunden
∥d72, so wie es nachher in den finstern Zeiten der
|z59| Barbarey in den Abendländern abermals noch sinnlicher geworden
∥d73; und daß also bey einer solchen Aufklärung der Vernunft und aller Wissenschaften, als Gott in diesem Jahrhundert
cd74 uns gönnet, nothwendig eine Absonderung der groben Begriffe
d75 und eine geistigere Vorstellung der Lehre Jesu, als von den Zeiten der Apostel an
/dbis jetzt
d\ noch nie
d76 statt finden können,
∥d77 nicht nur möglich, sondern auch nothwendig ist
cd78.
§. 94.
Ich habe nun, meinem Versprechen gemäß, deutlich dargethan, daß es beym Christenthum
cd1 nicht auf Buchstaben oder auf tiefsinnige Lehrbestimmungen, son
|b291||c291|dern blos auf die innere Gemüthslage ankomme; daß nur der Geist der kindlichen Liebe und Freudigkeit gegen den Weltregierer, und der Geist des thätigen Wohlwollens gegen alle Menschen die göttliche Wohlthat sey, die
d2 durch Christum allen Gläubigen hat zugetheilet
c3 werden sollen; und daß übrigens das Bruch- und Stückwerk aller sonstigen Erkentnisse bey den Menschen, der Seligkeit unbeschadet, mehr oder weniger sinnlich und fehlerhaft seyn kan, und in diesem Leben immer mangelhaft bleiben wird. Paulus, der Gelehrteste
|d264| unter den Aposteln, bekennet, daß seine Einsichten und seine Auslegungskunst der Schriften
∥d4 alten Testaments
d5 Stückwerk sey, und daß er sich, wie alle Menschen hier in diesem Leben noch im Kindheitsalter befände, und Gottes Regierungsplan nur wie im Dunkeln sähe, 1 Cor. 13, 9–12. Was würde dieser grosse
cd6 Apostel zu den demonstrirten Kirchensystemen der spätern Theologen gesagt haben, die
d8 genau alle Begriffe begrenzen, alle Fragen entscheiden, und von uns verlangen, daß nun keiner weiter denken, sondern seine Vernunft der festgestellten Lehrform unterwerfen soll! Paulus meint in dem ange
|z60|führten Kapitel
d9 v. 1. 2. 3. daß, wenn er auch alle Sprachkunde und alle andre
d10 Wissenschaften im vollkommensten Grade besässe
d11, die Schrift völlig erklären, und alle Religionserkentnisse in einem vollständigen System
d12 liefern, und noch
/cdoben drein
cd\ ∥cd13 Wunder thun könte
d14, so wäre das alles zusammen genommen
d15 nicht so viel werth, als ein Herz voll Liebe
/cdzu Gott und den Menschen
cd\. Er meint ferner v. 8–13
d16 alle damalige Schrifterkentnisse würden verschwinden, wenn in einem männlichen Alter des menschlichen Geistes reinere Einsichten sich darbieten würden; nur Redlichkeit, Liebe und Hofnung würden immer wesentlich bleiben, und unter diesen bliebe die Liebe das grösseste
d17 und wirksamste:
cd18 auf welche Christus bey Entscheidung der ewigen Schicksale auch nur allein sehen wird, Matth.
|b292| 25, 31
c19 f. – Ich will gegen diesen ächten
|c292| Geist des Christenthums den Geist der kirchlichen Orthodoxisterey nicht kontrastiren lassen; ich fühle, daß ich zu lebhaft werden würde, und auch dieses könte den Geist der Liebe schwächen, 1 Cor. 13, 4–7. Gott sey gedankt, daß wir seit zwanzig Jahren so weit empor gekommen sind, daß wir nun wiederum mit Paulo einsehen, es lasse sich kein allgemeines vollständiges System
∥cd20 erbauen, weil unser Wissen Stückwerk ist, und daß es thöricht sey, von andern eine völlige Beystimmung
cd21 zu
/cdunsrem Glaubensbekentniß
cd\ ∥cd22 zu verlangen! – Allein diese Schrift selbst solte, dem Titel nach, ein System der christlichen Glückseligkeitslehre vorlegen. – Wie stimt dieses mit den vorstehenden Entwickelungen zusammen? – –
|d265| Was ich geliefert habe, theureste Leser, ist kein solches System, wie die Dogmatiker in weitläuftigen Werken aufführen; es ist nur eine Zusammenordnung der allgemeinsten Religionswahrheiten, wodurch Glaube, Liebe und Hofnung unmittelbar erzeugt
cd24 werden; auch ist es nur für einen Theil meiner denkenden Zeitverwandten, die mit mir
|z61| ohngefehr gleiche Denkart
cd25 und Vorerkentnisse haben, geschrieben. Von den Sätzen und gelehrten Meinungen, worüber die Kirchen sich zanken, findet ihr nichts darin, und da man in der ganzen Christenheit über die Wahrheiten, welche ich §.
81. gesamlet habe, einig ist, so dünkt
cd26 mir, es sey dieses ein neuer Beweis, daß eben diese Wahrheiten nur allein wesentlich sind; und daß die streitigen Lehrbestimmungen das Zufällige
cd27 ausmachen, welches eben so wenig bey allen gleichförmig seyn kan, als die einzelnen Gesichtszüge der Menschen, ob wir gleich alle ein menschlich
d28 Gesicht in Absicht des der Organisirung haben. Freilich werden hundert Leser meines Systems auch hunderterley verschiedene Vorstellungen von den Wahrheiten, die
d29 sie lesen, in dem Innern
cd30 ihres Gemüths
cd31 sich ausbilden, wenn sie
|b293| |c293| es gleich alle verstehen. Es ist unmöglich, daß alle in gleichem Grade der Klarheit, Deutlichkeit, Bestimtheit, Gewisheit
d32 und des Lebens die Begriffe fassen solten, und die bisherige
d33 Vorerkentnisse eines jeden, die
d34 sich sogleich beym Lesen einmischen, müssen unendlich verschiedene Gedankenreihen darüber erzeugen.
Wenn aber nur jeder, nach seiner persönlichen Denkungs- und innern Empfindungsart, Gott über alles liebt und als den erfreulichsten Gegenstand der herzlichsten Anbetung verehrt
cd35; wenn nur jeder nach seiner Fähigkeit sich die herrlichsten Aussichten für die Zukunft eröfnet, und unbegrenztes Vertrauen zu Gott faßt,
cd36 und wenn nur jeder nach dem Maaß
cd38 seiner Kraft Gott immer ähnlicher zu denken und zu handeln , und mit seinem ganzen Gemüth
cd39 dem Nächsten wohlwill und
/cdliebt
cd\ ∥cd40, o so sind wir alle gleich selig und Gott gleich wohlgefällig, so weit auch immer der Abstand in den Graden der Vollkommenheit
/cdunsrer einzelnen Begriffe
cd\ ∥cd41 zwischen uns seyn mag.
§. 97.
Ich habe nun, wie ich glaube, sehr deutlich dargethan, daß eine völlige Einförmigkeit des Lehrbegrifs
d1 niemals in
|d281| der Welt statt finden könne, und daß die Mannigfaltigkeit der Religionen überhaupt weit mehr nützlich als schädlich sey. Solten mich dieser freimüthigen Aeusserungen
cd2 wegen einige Eiferer unter den
|z80| christlichen Gottesgelehrten, ihrer Gewohnheit nach, für einen Latitudinarier, Synkretisten oder Indifferentisten erklären wollen, so würden sie sich nicht so wol gegen mich, als vielmehr gegen den höchsten Regierer der Welt, auf die unbesonnenste Weise vergehen: denn auf diesen würde der Vorwurf zurückfallen. Ich bin es ja nicht, der die Menge der Religionssysteme in den Erziehungsplan des menschlichen Geschlechts hineingebracht hat. Ich war es nicht, welcher der weitern Ausbreitung des Christenthums Grenzen setzte, und den gehoften Erfolg der Kreutzzüge vereitelte. Ich habe nichts
|b311| dazu beyge
|c311|tragen, daß die vielen Sekten in der Christenheit entstanden sind, und daß alle Verfolgungen der herrschenden Parthey, sie gänzlich auszurotten, nicht vermocht haben. Worüber solte
c4 ich also Tadel verdienen? Etwa deswegen, daß ich auf den
wahren Plan der göttlichen Vorsehung, wie er am Tage liegt
d5,
Aufmerksamkeit erwecke? Oder daß ich zu dem Vater aller Völker das ehrfurchtsvolle Vertrauen äussere
d6, er könne sich in der Wahl der Wege, die
d7 er die verschiedene
d8 Nationen und jeden Menschen zu dem Ziel
cd9 ihrer Bestimmung leitet, nicht irren; alles werde dereinst, so wie es von ihm herkomt, auch durch ihn und nach seinem Plan
cd10 wiederum zu ihm hingeführet werden? Haben nicht schon Christus, Petrus und Paulus eben dieses gelehret? Röm. 11, 33–36. Matth. 8, 10. 11.
/dd\ ∥d11
Uebrigens bin ich sehr weit davon entfernt, alle Religionen für gleich gut zu halten. Schon die Allegorie, welche ich in diesen Betrachtungen zum öftern gebraucht
d12 habe, legt
cd13 es zu Tage, wie ich hierüber denke. Es können viele Wege zu einer glücklichen Provinz hinführen, und doch wird immer einer vor dem andern
|z81| kürzer, sicherer und weniger beschwerlich seyn. Derjenige, welchem mehrere Wege, die von seinem Wohnort
d14 ausführen, bekant sind,
|d282| ist im Stande, den besten darunter zu wählen; wer aber nur Einen in seiner Gegend vor sich findet, oder von keinem andern nichts weiß, ist genöthiget, den, der
d15 sich ihm darbietet, ohne weitere Wahl zu betreten. Sehr wenige Menschen befinden sich in solchen Umständen, daß sie ihre Religion wählen könten. Die meisten werden durch die Verhältnisse bey ihrer Geburt,
cd16 und durch ihre Erziehung sogleich zwischen die Verzäunungen eines kirchlichen Lehrbegrifs
d17 hineingebracht, und an solche Führer gewiesen, die
cd18 selbst keinen andern Weg kennen, und
|b312| |c312| alle, die ausser
d19 ihren Schranken fortzukommen suchen, für unglückliche und verlorne Leute erklären. Kaum wird, selbst in gesitteten Ländern, unter jedem Tausend sich Einer befinden, der
d20 in männlichen Jahren Stärke des Geistes und Vorerkentnisse genung hat, sich selbst einen Weg, der
d21 ihn grade
cd22 zum Ziel
cd23 führet, zu suchen, oder sich einen neuen zu bähnen
d24. Und diese einzelne unter Tausenden
cd25 machen das kleine Publikum aus, für welche ich eigentlich schreibe: Junge Gottesgelehrte, welche selbst Wegweiser ihrer Zeitverwandten von so mannigfaltiger Denkungsart und Gemüthslage werden wollen, und bey den Streitigkeiten der ältern Theologen, über den
Einzigen richtigen Weg zum Leben, sich nach Rathgebungen
cd26 eines Unpartheyischen sehnen: und hiernächst auch die edlen Personen der gesitteten Stände, welche ihren Geist durch Lesung der besten untersuchenden Schriften geübt haben, und mit den Augen ihres eignen
cd27 Verstandes sehen und beurtheilen wollen, in wiefern dieser oder jener Weg sie richtig oder durch unnöthige Krümmungen dem Ziel
cd28 ihrer Wünsche entgegen führt
d29: die
|z82|se sind es, welchen ich nützlich zu werden wünsche; ohne bey der übrigen Menge das Vertrauen niederschlagen oder schwächen zu wollen, was jeder zu seinem angewiesenen kirchlichen Wegweiser gefaßt
d30 hat.
/dDas Gedankenvolle, Enthymematische und Aphoristische der
d\ ∥d31 Schreibart, welche ich zu dieser Schrift gewählet habe, macht sie zu einem versiegelten Buch
cd32 für alle, die
d33 nicht Stärke des Geistes genung haben, sie
mitd34 Nutzen zu lesen.