|b[I]| Anrede an das lesende Publikum bey der ersten Ausgabe von 1778.
Es ist dieses die erste Schrift, in welcher ich unter meinem eignen Namen im Publikum erscheine. In meinen bisherigen kleinen Abhandlungen habe ich nur incognito einige denkende Leute unterhalten wollen. Nicht alle unbenamte Schriften, die man mir in öffentlichen Blättern zugeeignet hat, sind von mir; und auch nach denen, welche es sind, möchte ich nicht gern gerade zu beurtheilet werden. |bII| Die Reisekleider machen mich darin unkentlich; denn ich habe sie insgesamt in einigen Zwischenstunden auf meinen Geschäftsreisen, wenn ich irgendswo einige Tage müßig bleiben mußte, entworfen. Da ich mir nun künftig zum öftern eine förmliche Audienz beym Publikum zu erbitten gedenke, und mir sehr viel an einer günstigen Aufnahme gelegen ist, so erkenne ich es für eine Pflicht des Wohlstandes und der guten Ordnung, mich zuvor wegen meiner schriftstellerischen Herkunft öffentlich zu legitimiren. Es wird dieses am leichtesten durch eine kurze Erzählung der Geschichte meiner Erkentnisse bewirkt werden können.
Ich bin von einem Vater erzogen worden, der von der Seite seines natürlichen Verstandes, seiner Einsichten in die Geschäfte des Lebens, seiner Arbeitsamkeit, vorzüglich aber wegen seiner Rechtschaffenheit und Amtstreue ein wirklich grosser und recht vorzüglicher Mann war; allein die Denkungsart desselben über Religionswahrheiten war zu der Zeit in Halle ausgebildet worden, da verschiedene würdige Männer sich rühmlichst bemüheten, den bisherigen ganz spekulativen und polemischen Vortrag des Christenthums mehr für das Herz der Menschen zur Erweckung guter Gesinnungen einzurichten; dabey aber, wie |bIII| es gewöhnlich geschieht, auf der andern Seite zu weit gingen, und auf eine mystische Sprache verfielen, die zwar gute Empfindungen erregte, aber nicht geschickt war, den Verstand gehörig zu erleuchten, und deutliche gründliche Einsichten in den Zusammenhang der Wahrheiten hervorzubringen. In dieser Sprache ward ich über die Religion unterichtet, und dabey zu überhäuften Andachtsübungen angehalten. Bisweilen durchliefen gewisse warme angenehme Gefühle mein Herz, die ich für Seligkeit hielt: öfters aber befand ich mich in der größten Unruhe und Aengstlichkeit, weil ich mich überredete, es läge nur an mir selbst, daß ich den überspannten Anforderungen der Religion nicht genügen könte. Nicht selten fiel mir dann bey, ich fehlte nur darin, daß ich zu viel mitwirken wolte, und dann gab ich mir nicht weiter Mühe, auf mich selbst aufmerksam zu seyn, sondern überließ mich allen jugendlichen Empfindungen in der Erwartung, daß die Gnade wol zu rechter Zeit mich wieder ergreifen würde.
Mit dieser Gemüthsfassung brachte mich mein Vater auf die berühmte Schule des Klosters Bergen. Auch hier herrschte noch damals der mystische Lehrton in öffentlichen Religionsvorträgen und mein Vater ward sehr gerne gehört. In
|bIV| den theologischen Klassen lernten wir dagegen nach Baumgartens
Dogmatik und Polemik Begriffe kunstmässig spalten, und bis in solche kleine Theile zergliedern, die nicht mehr mit dem blossen Verstande, sondern nur vermittelst dazu ganz eigentlich zugespitzter technischer Redformeln annoch gefaßt werden können. Dis hatte ich auch schon selbst so ziemlich gelernt, daß ich nachkünsteln konte, aber das Geheimniß, aus allen Splittern wiederum ein richtig zusammenhangendes Ganze, einen vollständig deutlichen Sachbegrif, zusammenzusetzen, ward uns nicht beygebracht, und ist mir ein Geheimniß geblieben, daher ich auch in der Folge diese ganze Kunst als für mich unfruchtbar aufgegeben habe. Wer mir einen deutlichen Begrif von einer Taschenuhr machen will, der zerlege mir solche in ihre merklich verschiedene grössern Theile, und zeige mir diese einzeln von allen Seiten, und dann die Art der Zusammensetzung, so werde ich alles begreifen; wer aber die Räder in ihre Zähne zerspaltet, und aus jedem Stift noch neue Theile macht, der wird meine Vorstellung von der Uhr mehr verwirren, als aufklären. Denn wie kan das, was in Staub zermalmet ist, als ein nach allen Theilen volkomnes zusammenhängendes Ganze übersehen werden. Möchten doch die scharfsinnigen Gelehrten sich der Grenzen, wie weit jede Zergliederung der Begriffe
|bV| zweckmässig ist, allezeit deutlich bewußt bleiben! wie viel ängstliche Mühe würden sie ihren Schülern ersparen, wie viel reeller und praktischer würde das Erkentniß von vielen Wahrheiten seyn, worüber die Aufmerksamkeit durch so vielen Wortkram zerstreuet wird.
Die vortrefliche Anweisungen, welche ich dagegen in der Mathematik, Physik, Philosophie und den schönen Wissenschaften auf Bergen erhielt, brachten mir einen wahren Geschmack am Studiren und an der Lektüre bey. Ich ward in die Gesellschaft einiger der geschicktesten Pädagogisten aufgenommen, welche insgeheim eine auserlesene Bibliothek verbotener Bücher in einer Krankenstube, deren schwächlicher Bewohner der Haupteigenthümer derselben war, verborgen hielten. Hier laß ich unter andern auch die Schriften des Philosophen von Ferney; anfänglich mit grosser Beunruhigung und Aengstlichkeit, indem ich gern meinen bisherigen Glauben wider den Spötter vertheidigen wolte, und doch zum öftern gezwungen ward, ihm beyzustimmen: nach und nach mit immer grösserer Begierde und Beyfall. Endlich kam es mit mir so weit, daß ich deutlich einsah, ich müßte entweder den bon sens verabschieden und auf den Gebrauch meiner eignen gesunden Vernunft auf immer Verzicht thun, |bVI| oder aber mein ganz Religionssystem umändern. Das erste war mir unmöglich, und also erfolgte nach vielem Kämpfen das letzte. Ich ward also ein theoretischer Freigeist, behielt aber dabey die mir durch meine Erziehung habituell gewordne Ehrfurcht gegen Gott und gegen die Stimme meines Gewissens bey.
Ich war bestimt, der Nachfolger meines Vaters in der Direktion des Züllichauischen Waysenhauses zu werden. Diese Stiftung meiner Vorältern hat in ihrer vom Könige ertheilten Fundation das Privilegium erhalten, daß der jedesmalige Direktor seinen Nachfolger erkennen kan. Als der einzige Sohn meines Vaters hatte ich also bereits von Kindheit
an in den Posten desselben eine sichre Aussicht gehabt, und mich an dieselbe gewöhnt. Da der Direktor des Waysenhauses nicht nothwendig zugleich Prediger an demselben oder überhaupt ein Theologe seyn muß, obgleich mein Vater beide Aemter verwaltet hat, so machte ich meinen Entwurf dahin, daß ich blos auf die Erziehungskunst studiren, und mich äusserlich zur theologischen Fakultät bekennen wolte, ohne mich eigentlich dem Predigtamte zu widmen.
Der damalige Abt des Klosters Bergen, der ehrwürdige Steinmetz, welchen ich nie ohne dank|bVII|bare Hochachtung nennen werde, hatte schon ehedem, als er noch in Teschen stund, eine sehr genaue Freundschaft mit meinem Vater errichtet, welche durch die Aehnlichkeit ihrer theologischen Denkungsart veranlasset, und durch ihr gemeinschaftliches Interesse gegen die Herrnhüther, die sich beider Begünstigung gerühmt hatten, noch mehr befestiget worden war.
Der Abt hatte daher meinem Vater die Pension für mich zur Hälfte erlassen, und mich dagegen unter diejenigen aufgenommen, welche ihm in den Abendstunden wöchentlich einmal vorlesen mußten. Aber selten ließ er mich vorlesen; sondern er wandte die dazu ausgesetzte Stunden (weil ihm meine Bestimmung zum Vorsteher eines öffentlichen Erziehungshauses bekant war,) größtentheils dazu an, mich über das Schulwesen überhaupt, und insonderheit über die Pflichten und Klugheitsregeln bey der Direktion einer öffentlichen Anstalt zu unterrichten. Diesem bekantlich grossen und erfahrnen Schulmanne habe ich die ersten Erweckungen zu dem algemeinen Vorsatz, mich den Erziehungsgeschäften überhaupt und ins Grosse zu widmen, zu verdanken, weil ich frühzeitig einsehen lernte, wie viel hierin noch auszurichten möglich sey. Der größte Theil meiner |bVIII| Zeit und meines Nachdenkens ist diesem Studium seitdem gewidmet geblieben, und ich werde dem Publikum das Resultat meiner Untersuchungen und eignen Erfahrungen nächstens in meinem Entwurf zu einer mit jedem Grade der Aufklärung einer Nation sich vervollkommenden allgemeinen Verbesserung der öffentlichen Erziehung und des Schulwesens vorlegen, so bald es nur die sich mir näher andringende und unmittelbarere Amtsarbeiten verstatten werden.
Nun bezog ich die Universität zu Halle. Hier war Baumgarten zu der Zeit das Orakel der Theologen. Ich bemerkte bald, daß die äussere Lage dieses in so verschiedenen Fächern helldenkenden und scharfsinnigen Mannes ihn in seinen öffentlichen Vorlesungen und Schriften nöthige, dunkel zu bleiben und blos denen, die Fähigkeit hatten weiter zu forschen, die nöthigen Winke zu geben. Indes hofte ich ihn bey privat Unterredung offenherziger und freimüthiger zu finden. Ich setzte also meine wichtigsten Zweifel gegen das Christenthum auf, und übergab ihm solche mit dem Vorgeben, daß ein gewisser, damals in Halle studirender Kavalier, der als Freigeist bekant war, mir solche vorgelegt hätte, ihm dieselbe aufzulösen, und ersuchte den Herrn |bIX| Dokter darüber um einige Rathgebung. Herr Baumgarten sahe mein Blat kaltblütig durch, und gab mir darauf zur Antwort: „sie müssen sich niemals mit einem Naturalisten über Religionsfragen einlassen, bevor er ihnen nicht seine Principien, was er für ausgemachte Wahrheit hält, schriftlich vorgelegt hat: denn die Herrn leugnen immer rückwärts, wenn sie in die Enge getrieben werden, und haben oft am Ende gar keine Principien. Suchen sie ihren Freund dahin zu bestimmen, daß er ihnen das, was er in Absicht der Religion glaubt und für erwiesen hält, schriftlich aufsetze und unterschreibe: alsdann haben wir Principien, wo wir anfangen und weiter fortbauen können, und wenn sie mir einen solchen schriftlichen Aufsatz bringen, so will ich ihnen eine Anleitung geben, wie sie weiter verfahren sollen.“ – Ich eilte mit Freuden nach meiner Studirstube, weil ich glaubte, nichts könte leichter für mich seyn, als ein kleines System der Wahrheiten, die ich für unbezweifelt hielt, aufzuführen. Allein kaum fing ich zu arbeiten an, so ward ich gewahr, wie viel unbestimtes und unzusammenhangendes in meinen Begriffen und Meinungen war, und wie sehr es mir noch an der Fertigkeit fehlte, meine Gedanken für einen so scharfsinnigen methodischen Mann, wie Herr Baumgarten war, erträglich zu ordnen. Baumgarten starb etwa acht |bX| Monat nachher, ehe ich mit meinem System fertig geworden war. Aber unschätzbar ist mir demohngeachtet der Rath dieses grossen Mannes geblieben. Ich ward dadurch erweckt, zeitig auf ein eignes System zu denken, und so schwer es anfangs damit hielt, einige Grundlage zu demselbigen zu machen, so habe ich doch in der Folge in mein ganzes Studiren frühzeitig Licht und Zusammenhang gebracht. Alles, was ich hörte und laß, dachte ich in Beziehung auf mein System. Ich blieb mir immer bewußt, wie weit ich in der zuverlässigen Erkentniß gekommen wäre, und wo es mir eigentlich an Klarheit, Bestimtheit, Gewißheit der Begriffe und Hauptwahrheiten noch fehlte: und so wuchs, wiewohl langsam, dennoch mein gelehrtes und scientivisches Erkentniß allmählig zu etwas Ganzem heran.
Die Annäherung der feindlichen Kriegesheere in die Gegend von Halle nöthigten mich, um von meinem Vater nicht allzu lange abgeschnitten zu werden, nach Frankfurth zugehen. Hier fand ich an dem vortreflichen Töllner einen Freund und Vater, der mir bald so viel Zutrauen einflößte, daß ich ihm meine ganze Gemüthslage entdeckte. Ich wohnte bey ihm, und speisete an seinem Tisch, und war sein beständiger Begleiter auf allen seinen Spatziergängen.
|bXI| Er vertröstete mich wegen aller meiner Zweifel, daß wenn ich den ganzen Kursus der theologischen Disciplinen unter ihm machen würde, mir aus seinen Vorlesungen alles deutlich und gewiß werden solte, und erlaubte mir, ihm täglich gegen alles, was mir in seinem Unterricht zweifelhaft geblieben wäre, meine Bedenken zu eröfnen; wir disputirten demnach täglich. Ich lernte dabey ungemein viel, aber größtentheils war mein Nachgeben über so viele Hypothesen des Kirchensystems mehr die Wirkung der Ehrerbietung, die ein Schüler seinem Lehrer schuldig ist, als der gänzlichen Ueberzeugung; und Herr Töllner fühlte und bemerkte dis selbst nur allzuwohl, ohne jedoch darüber unwillig zu seyn. Bis an das Ende dieses würdigen Mannes haben unsre Dispüten, so wie unsre wärmste Freundschaft fortgedauert: aber meine ehrfurchtsvollste Dankbarkeit, wird nie, so lange ich lebe, gegen ihn verringert
werden.
Von Frankfurth ging ich nach Berlin, um als Lehrer an der vom Oberkonsistorialrath Hecker, meinem nachmaligen Schwager, gestifteten Realschule, die für so viele andre ein Muster geworden ist, das Vorzüglichste, wodurch sie sich unterschied, zu meiner weitern Bestimmung zu lernen. Damals genoß Berlin noch nicht das Glück, daß die einsichtsvollern Prediger ihre Aufschlüsse öffent|bXII|lich mitgetheilt hätten. Der freimüthige Sack war in Magdeburg, und die herrschende Denkart im Oberkonsistorium war unbestimt, oder doch vor den Augen der Kandidaten ein Räthsel.
Von Berlin kehrete ich also nach Züllichau zurück, ohne in meiner theologischen Erkentniß einen merklichen Anwachs des Lichts erhalten zu haben, ausser demjenigen, welches mir das Lesen besonders der Lockischen und Fosterschen Schriften verschaffet hatte. Diesen meinen zween Lieblingsautoren bin ich nicht nur viel materielle Aufschlüsse, sondern auch eine grosse Verbesserung meines formalen Denkens überhaupt, und in der Theologie insonderheit schuldig. So weit war ich indes im System meines Religionserkentnisses bereits gekommen, daß ich aus der Geschichte der Gottesdienstlichkeiten unter Juden und Heiden deutlich einsahe, Jesus sey ein ausserordentlicher Mann von seltenen Talenten und seltener Rechtschaffenheit gewesen. Ich hielt mich an die ihm eigenthümliche und von seinem Liebling, dem Johannes, so oft relevirte Begriffe, daß Gott nur als Vater angesehen, nur geliebt nicht gefürchtet werden will, für alle Umstände und kleinste Veränderung unsres Lebens sorgt, und blos durch Redlichkeit und wohlwollende Gesinnungen gegen andere unter dem frölichsten und vernünftigsten Genuß alles Guten in |bXIII| der Welt von uns dankbar verehret werden will. Die andern Apostel schienen mir alle etwas aus ihrem vorigen privat System übrig behalten und der Lehre Jesu beygemischt zu haben. Wenn ich im alten Testament gelesen hatte, fiel mir allemal der Ausspruch Christi Joh. 10, 8. aufs Herz: alle die vor mir gewesen sind, sind Diebe und Mörder gewesen: und dieser schien mir so durchaus in seiner ganzen Ausdehnung wahr, daß alles in der mosaischen Religion nur auf Ausplünderung der einfältigen Juden angesehen gewesen sey, und diese arme Leute überdis noch Todesangst und übertriebne Furcht vor dem Zorn Gottes, statt einiges Dankes, von den Priestern überkommen hätten. Nachdem ich aber nachher die Geschichte der Religionen sorgfältiger studiret, mich in die Lage Mosis, und in den ganzen Plan der theokratischen Regierungsform hineingedacht, und die Reden der Propheten, in Beziehung auf den Grad der Kultur der jüdischen Nation, nach ihrer nächsten begrenzten Absicht mir erkläret habe, so bin ich bestimt worden, Christi Worten eine etwas gelindere Bedeutung zu geben, obgleich die Hauptbegriffe dieselben und völlig wahr bleiben, daß alle herrschende Religionsmeinungen unter den Juden den Menschen mehr Vortheile und Freuden des Lebens geraubt als gegeben, sie mehr geängstiget und in Schrecken gesetzt, als beruhiget und mit Hofnungen erfüllet haben.
|bXIV| In meinem 32. Jahre bin ich mit meinem gesamten System über die Glückseligkeit und über die christliche Religion im Verhältniß gegen einander zu Stande gekommen, und habe mich auf eine feste Art überzeugt, daß der Geist der Anweisungen Christi ein göttlicher Geist ist, und der gesamte Plan des Christenthums genau mit dem ganzen Plan Gottes in der Natur übereinstimt. Kein Trieb, mich durch Neuerungen in der Lehre nahmkundiger zu machen, hat mich verleitet, mit Bekantmachung dessen, was ich etwa besser als andre zu erkennen glaubte, zu eilen. Ich wünschte vielmehr, daß manches schon vor mir von vielen gesagt wäre, was ich in dieser Schrift sagen mußte, weil die erste Behauptungen, welche herrschenden Lehrmeinungen entgegen gesetzt sind, selten eine günstige Aufnahme erwarten können, als etwa bey den Stillen im Lande. Mein Wunsch ist auch zum Theil erreicht, und sehr vieles ist seit 8 Jahren öffentlich gesagt worden, was nun nicht mehr unerhört und ganz fremd klingen wird. Ich hatte mir aus der Ueberzeugung, daß auch unsre vollständig berichtigt scheinende Einsichten durch Erfahrung, durch Besprechung mit andern Gelehrten und durch Nachlesen, noch in immer höherm Grade gereiniget und bestimter gemacht werden können, fest vorge|bXV|nommen, vor dem vierzigsten Jahre meines Alters nichts wichtiges über die allgemeine Verbesserung in der Religion oder öffentlichen Erziehung zu schreiben. Ich bin im verflossenen Herbst in mein 40tes Jahr getreten, und nun halte ich mich verpflichtet zu wirken, weil es Tag ist, und mit derjenigen Freimüthigkeit, welche meine innre Ueberzeugungen von mir fordern, und wozu mein akademisch theologisches Lehramt, und der ausdrückliche Auftrag meiner Obern mich berechtiget und verpflichtet, das ganze Resultat meiner mehrjährigen gewissenhaften Nachforschung nach Licht und Wahrheit dem Publikum vorzulegen. Ich habe in den letztern acht Jahren keinen Hauptbegrif meines Systems zu verändern nöthig gefunden, aber wohl hat mich das unschätzbare Wörterbuch des Herrn Oberkonsistorialraths W. A. Teller in den Stand gesetzt, viele Stellen der apostolischen Schriften, die ich ihrer Dunkelheit wegen dahin gestellet lassen seyn mußte, dem Geist der Religion Jesu anständig zu finden, und nach ihrer wahren Abzweckung besser zu erklären.
Ich habe ehedem niemals darauf gedacht, ein akademischer Lehrer zu werden. Meine Aussicht ging dahin, die Züllichauische Erziehungsanstalten zu einer allgemeinen Normalschule zu erwei|bXVI|tern, auf welcher Schulmänner zur wahren Aufklärung der Nationen, für alle Gattungen der Schulen, ausgebildet werden könten. Hierzu machte ich die Voranstalten unter der Hofnung einer sehr grossen Unterstützung. Meine Plans wurden von des Herrn Etatsministers Freyherrn von Münchhausen Excellenz, als meinem damaligen höchsten Chef, so wie nachher von meinem jetzigen Chef des Herrn Geheimen Etatsministers Freyherrn von Zedlitz Excellenz durchaus gebilliget und ihre Ausführung unterstützt: ja Se. Königl. Majestät ertheilten Höchstselbst mir die allgemeine Postfreiheit zur Korrespondenz über das allgemeine Schulverbesserungswesen in ihren sämtlichen Ländern. Allein mein Vermögen ward erschöpfet, ehe die bequeme Zeit zur Ausmittelung eines hinlänglichen Fonds eintrat; und man muß abwarten bis anderweitige Bedürfnisse des Staats solche verstatten werden. Um indes meinen Geschäftskreiß zu erweitern, ward mir das akademische Lehramt hieselbst mit Beybehaltung meiner bisherigen Aemter übertragen. Wegen des allgemeinen Schulverbesserungsplans werde ich die Erwartung des Publikums nächstens durch Vorlegung desselben befriedigen. Die Hauptidee dabey ist diese, daß zwischen dem gelehrten Stande, als dem denkenden Kopf, und den ar|bXVII|beitsamen Ständen, als den Händen am Staatskörper, die jetzt fast gänzlich fehlende nähere Verknüpfung hervorgebracht werden muß.
Man wird schon vermuthen, daß ich mir auch bey dem Plan über meine akademische Arbeiten eine neue Bahn gebrochen haben werde. Da ich mehrere Jahre hindurch in allerley Geschäften des bürgerlichen Lebens und auf vielerley Feldern desselben geübt worden bin, so habe ich die Welt von viel mehreren Seiten kennen gelernt, als sie aus dem Fenster der Studirstube betrachtet werden kan; und hierdurch hat allerdings meine auf Schulen eingesamlete Gelehrsamkeit eine grosse und allgemeine Reform erleiden müssen. Wie vieles lernen wir noch, was uns im geschäftigen Leben ganz unnütz bleibt! wie vieles solten wir frühzeitig lernen und üben, wozu uns kein Lehrer eine Anweisung giebt!
Die Theologen studiren gewöhnlich gerade so, als ob sie nur um andrer Theologen willen in der Welt wären, und doch ist unleugbar, daß sie nur um derer willen da sind, die nicht Theologie studirt haben. Einem Prediger gehet in der Welt kein andrer Theologe etwas an, sondern er ist um seiner Gemeine willen da, und wenn er diese ruhi|bXVIII|ger, zufriedner, weiser macht, so erfüllet er seine Bestimmung. Weder er noch seine Gemeine verliert oder gewinnet dabey etwas, daß die Wahrheiten, welche er vorträgt, von andern Theologen eben so oder anders gedacht werden; schon lange oder erst seit kurzem erkant worden sind. Doch ich breche hier ab, und behalte mir vor, in einigen Nachträgen zu dieser Schrift theils über meine bisherige anonymische Kleinigkeiten, theils über den Plan meines akademischen Unterrichts, theils über den Gebrauch dieser Schrift noch manches zu sagen, da die Messe mich übereilt hat, diese Schrift zu ihrer ganzen Bestimmung zu vollenden.
Nun noch eine vorläufige Bitte an meine Leser, die ich in drey Klassen eintheile:
- 1. an die, welche mich an Einsichten übertreffen und mich beurtheilen können: Sie, theureste Männer, ersuche ich in meiner Schrift auf zwey Punkte vorzüglich aufmerksam zu seyn, und mich, was sie darüber besseres erkennen, zu lehren:
- a) was menschliche Glückseligkeit sey? denn hiervon hängt doch unleugbar das Urtheil ab, ob ein Weg dazu führe oder nicht?
- b) ob eine wahre göttliche Offenbarung, sofern sie allgemein seyn soll, etwas Positives |bXIX| enthalten könne; oder, ob in Gottes Gesinnungen, Vorschriften und Strafen etwas Willkührliches statt haben könne? wie viel hiervon abhängt, darf ich Ihnen nicht sagen.
- 2. an die, welche Unterricht und Licht suchen: Sie bitte ich, Freunde der Wahrheit, diese Schrift nicht blos zu lesen, sondern ganz eigentlich zu studiren. Ich habe vieles zusammengedrängt, und wünsche daher, daß sie oft mitten im Paragraphen absetzen, und erst das Gesagte umständlicher überdenken möchten, ehe sie weiter lesen, auch daß sie das Aufschlagen der Sprüche nirgends verabsäumen wolten.
- 3. an diejenigen, welche glauben, daß jede Abweichung vom Kirchensystem ein Verbrechen sey: Sie, Freunde des Herkommens, habe ich zu bitten, daß sie Gott und denen obrigkeitlichen Personen, welchen es allein zukomt zu richten, nicht vorgreifen und sich erinnern, daß eigentlich der Protestantismus im Gegensatz des Pabstthums darin bestehet: daß die heilige Schrift die einzige Erkentnißquelle und Schiedsrichterin in der christlichen Religion seyn solle, und daß keine menschliche Autorität die Auslegung derselben einzuschränken berechtiget sey. Ich kenne keinen andern Grundsatz, |bXX| der eigentlich symbolisch wäre, als diesen, und also muß ich als Protestant, als Theologe, als Professor, der mit Luthern schlechterdings gleiche Rechte hat, nothwendig so lehren, wie ich, beym gewissenhaften Gebrauch aller jetzt vorhandnen Auslegungsmittel, den Unterricht Christi und der Apostel verstehe. Eine Wahrheit kan dadurch, daß dieser oder jener sie denkt oder nicht denkt, daß sie schon von vielen oder noch wenigen erst gesagt ist, an sich keine Abänderung erleiden.
|b[XXI]| Fortsetzung der Anrede
an das lesende Publikum bey der
zweiten Auflage von 1780.
Bey der ersten Ausgabe dieser Schrift ward ich durch die bereits eingetretene Buchhandlungsmesse genöthiget, in meiner Anrede ans Publikum da abzubrechen, wo man vielleicht noch eine bestimtere Erklärung über meinen eigentlichen Zweck bey dieser Schrift erwartet hatte. Ich glaubte indes, daß der deutliche Titel des Buches, nebst dem, was in der Einleitung und
§. 80 , unmittelbar vor Aufführung des eigentlichen Systems, gesagt worden war, hinlänglich seyn würde, meine wahre Absicht und ihre Grenzen ins Licht zu setzen. Hierin habe ich mich geirret. Der Titel, den ich für sehr verständlich hielt, hat selbst einigen Predigern räthselhaft geschienen, und der Zweck des Ganzen ist von noch mehrerern gänzlich verkant worden. Ich muß mich also über beides erklären.
Ich nehme auf dem Titel alle Worte in ihrer eigentlichsten und gemeinsten Bedeutung. Unter Philosophie verstehe ich, der Abstammung des |bXXII| Wortes gemäß, Studium der Weisheit und als Gegenstand der Erkentniß betrachtet, wie sie ein Buch enthalten kan, Weisheitslehre. Da nun wahre Weisheit die Wissenschaft ist, sein Daseyn möglichst zu benutzen, so sind Philosophie und Glückseligkeitslehre gleichbedeutende Ausdrücke, in sofern man blos auf den Inhalt (oder das Materiale) siehet: und darum ist das letztre Wort dem erstern zur Erklärung beygefügt. Allein Philosophie bezeichnet noch überdis die Art und Weise des Erkennens. Ein jeder denkt sich, dem allgemeinen Sprachgebrauch nach, ein gelehrtes Erkentniß aus innern Wahrheitsgründen darunter, und setzt ein philosophisch Erkentniß dem blos historischen entgegen. Eben so ist System in der gebräuchlichsten Bedeutung genommen worden; denn alle Gelehrten verstehen darunter einen zusammenhängenden Vortrag sich auf einander beziehender Wahrheiten, darin zuvörderst die Grundbegriffe entwickelt, und hernach die Sätze so zusammengeordnet werden, daß ihre Begründung in einander, und ihre Zusammenstimmung zu einem Ganzen deutlich übersehen werden kan.
Ein System der Christenthumsphilosophie ist also ein solcher bündiger Vortrag der von Christo ertheilten Anweisungen zu höherer menschlicher |bXXIII| Glückseligkeit, woraus derselben innre Wahrheit und hinlängliche Vollständigkeit, unabhängig von Geschichte, deutlich erkant werden kan. Dieses verspricht also der Titel des Buches, und mich deucht, daß der Inhalt desselben das Versprechen erfüllet.
Die Personen, für welche ich eigentlich die Schrift aufgesetzt habe, bestimt der Titel ebenfals genau. Es sind überhaupt nur solche, die
Bedürfnisse in Absicht der Religion haben, und die sich also durch den gemeinen Kirchenvortrag nicht befriediget fühlen; und unter diesen zunächst meine
aufgeklärte Landesleute, die bey der Freiheit im denken, sprechen und schreiben, die in unsrem Vaterlande herrscht, von der Anhängigkeit an unverständliche Wortformeln und gelehrtklingenden Unsinn entwöhnt worden sind, und nicht Deklamation, sondern klare Sachbegriffe und gründliche Einsichten in Religionsvorträgen verlangen, durch welche sie in Stand gesetzt werden, ihr Gemüth gegen die herrschenden Zweifel und gemeinen Einwürfe wider das Christenthum zu bevestigen. Ferner habe ich auch andern,
die nach Weisheit fragen, nützlich werden wollen. Diese Redensart ist aus Luthers Bibelübersetzung 1 Cor. 1, 22. entlehnt, wo Paulus den abergläubigen Juden, die immer Zeichen und Wunder sehen wolten, die gelehrtern Grie
|bXXIV|chen, die Vernunftgründe zum Beweise eines Religionsvortrages verlangten, entgegensetzt. Herr Sack hat auch in der Vorrede zur letztern Ausgabe seiner Schrift: Vertheidigter Glaube der Christen; deutlich gezeigt, wie diese Verschiedenheit der doppelten Denkart noch unter unsren Zeitverwandten statt finde, und sich dabey der nemlichen Ausdrücke bedient. Endlich hatte ich mich zum Ueberfluß selbst
§. 80. der ersten Auflage, ausführlich darüber erklärt, was für Leser ich unter denen verstehe, die nach Weisheit fragen. Ich bin daher nicht wenig erstaunt, daß selbst Prediger auch diese Ausdrücke für räthselhaft gehalten und mißgedeutet haben. Ich erkläre demnach hiermit aufs bestimteste, daß ich unter Leuten, die nach Weisheit fragen, nur solche verstehe, welche
erstlich Weisheit suchen, das ist: die Religion nicht wie viele Theologen ihre Dogmatik, als eine spekulative Wissenschaft und Gedächtnißwerk studiren wollen, sondern nach einer praktischen Anweisung zu wahrer Gemüthsruhe und Heiterkeit der Seele und einer erhöheten Thätigkeit in Ausübung aller göttlichen Tugenden sich sehnen: und
zweitens nicht durch Nachrichten von ehemals geschehenen Wundern, deren Glaubwürdigkeit sie in ihrer Lage hinlänglich zu prüfen weder Hülfsmittel noch Muse genug ha
|bXXV|ben, sondern durch immer fortdaurende innre Merkmale der Wahrheit überzeugt seyn wollen.
Und so glaube ich denn nun den vollen Verstand von dem Titel meines Buches so vorbuchstabiret zu haben, daß wenigstens die meisten von denen, die ihn vorher nicht verstehen konten, nunmehro klar einsehen werden, wie sie selbst gar nicht unter die Klasse des lesenden Publikums gehören, für welche ich diese Schrift ausgearbeitet habe.
Ehe ich den
Hauptzweck dieser Schrift, in Beziehung auf die besondern Bedürfnisse der jetzigen Zeit, völlig ins Licht setzen kan, muß ich zuvörderst die
Veranlassung erzählen, wodurch ich bestimt worden bin, die Hauptwahrheiten des Christenthums in der Form und unter dem Namen eines Systems vorzutragen, und diese Schrift vor allen meinen übrigen Lehrbüchern, die ich nach und nach in Druck zu geben gedenke, zuerst bekant zu machen. Man hat vom Melanchton an in unsrer Kirche, besonders auf Akademien, einen systematischen Vortrag der Theologie für den vorzüglichsten gehalten, und die mehresten haben sich dieser Lehrart bedient. Seit Wolfs Zeiten ist so gar eine der mathematischen sich möglichst nähernde Methode empfohlen worden, und mein
Vorgänger im akademischen Lehramt, der verdiente Töllner, hat eigne Traktate darüber ge
|bXXVI|schrieben, in welchen er zu beweisen suchte, daß die strenge scientivische Lehrart zum Vortrage sämtlicher theologischen Disciplinen die beste und die einzige wahre zur Beförderung gelehrter Einsichten sey. Andre neuere Theologen sind dagegen der Meinung, daß die systematische Methode die allerunschicklichste und schädlichste beym Vortrage des christlichen Lehrbegrifs sey. Ihre Gründe sind:
- 1. weil die meisten Materialien, woraus man das Lehrgebäude künstlich zusammensetzt, noch einer genauern Bearbeitung bedürften; und aus dem rohen und zum Theil vermorschten Stückwerk des überlieferten Erkentnisses kein festes Gebäude, welches den Bestürmungen der Freigeister Widerstand thun könte, aufzuführen möglich sey.
- 2. weil diejenigen, welche ein solches System des Christenthums, als einen Inbegrif erwiesener göttlicher Wahrheiten, von ihrem akademischen Lehrer angenommen hätten, sich nachher nicht wagten, etwas daran zu bessern; aus Beysorge, daß das Ganze die Haltung verlieren möchte, wenn man einen Begrif oder Satz herausnehmen und abändern wolte.
- 3. weil hieraus weiter bey den Verehrern eines Systems, so bald ihnen die Untauglichkeit oder Unzuverlässigkeit einer oder der andern menschli|bXXVII|chen Hypothese, die das Lehrgebäude zusammenhalten hilft, von einem gelehrten Gegner dargethan wird, in Aengstlichkeit wegen der gesamten Religion gerathen; und entweder auf Köhlerglauben und blinden Eifer verfallen, und sich selbst alles weitere Nachdenken und Lesen versagen, um nur Zweifel zu vermeiden; oder aber in völligen Unglauben und Freigeisterey gerathen, weil ihr System alle Haltung verloren hat.
Aus diesen Gründen halten nun viele angesehene Gottesgelehrten
eine historische Lehrart beym Vortrage der Theologie für nützlicher. Nach dieser werden bey jedem Lehrartikel und wichtigem Satze alle verschiedene Meinungen erzählt, die jemals in der Kirche darüber aufgekommen sind, und die Gründe, womit jede Parthey ihre Behauptungen unterstützt hat, vorgelegt. Man überläßt sodann den jungen Theologen, aus diesem Reichthum der Materialien sich selbst das Beste zu wählen, und daraus ein Lehrgebäude zu erbauen, wie es ihren übrigen Einsichten zusagt. Diese Methode hat offenbar den Vortheil, daß sie mehr zum eignen Nachdenken erweckt, und die Studirenden auf den Weg des Weiterforschens führt, um nach und nach immer vollkomnere und zuverlässigere Einsichten durchs Lesen der besten Schriften, durch Reflexion, und
|bXXVIII| durch Aufmerksamkeit auf Erfahrungen sich selbst zu erwerben. Auch bereitet diese historische Vortragsart zur Klugheit im Lehramt näher vor, daß es dem Prediger nachmals leichter wird, allen allerley zu werden, wodurch unleugbar mehrere gewonnen werden, als durch systematische Unbiegsamkeit des Geistes. – Ueberdis ist auch der akademische Lehrer selbst gegen die unartigen Beschuldigungen der Irrgläubigkeit bey dieser historischen Methode mehr gesichert, indem er blos
Facta erzählt, daß nemlich diese und jene Meinung in der Kirche vorgetragen worden sey, ohne dogmatisch festzusetzen, ob die unterdrückte und herrschend gebliebene Parthey die Wahrheit auf ihrer Seite gehabt habe.
Allein so vorzüglich sich diese Lehrart von der bisher betrachteten Seite empfiehlt, so fehlt es doch nicht an sehr scheinbaren Gegengründen, woraus man sie von einer andern Seite für nachtheilig und fehlerhaft zu erklären sucht. Man wendet nemlich ein, daß diese Methode nur für diejenigen Studirenden von wahrem Nutzen seyn könne, welche einen guten Kopf, vielen Fleiß, und hinlängliche Hülfsmittel vereint besässen, und nach den Universitätsjahren noch eine geraume Zeit Muse zum eignen Studiren geniessen könten, ehe sie sich als Lehrer der Jugend oder des Volks dürften anstellen lassen. Diese würden allerdings |bXXIX| durch die Einleitung in den Weg der freimüthigen Untersuchung und des Weiterforschens vorzüglich brauchbare Männer werden. Allein der weit grössere Theil der mittelmässigen Köpfe unter den Studirenden sey schlechterdings unfähig, sich selbst ein System zu formiren, und werde durch die Menge der Gründe und Gegengründe für jeden Lehrsatz nur in Verwirrung gesetzt, so daß schwache Köpfe lebenslang in ihrem Lehrbegrif unbestimt und schwankend bleiben, wo nicht gar allgemeine Zweifler werden würden. Ueberdis, sagt man, müssen ja die mehresten Theologen so gleich von der Universität das Amt der Jugendlehrer antreten, und wie können diese im Christenthum unterrichten, wenn sie selbst noch nicht mit sich eins worden sind, was sie glauben und lehren sollen.
Ausser diesen vernünftigen Gegnern der historischen Methode, die sie durch scheinbare Gründe zu bestreiten suchen, giebt es noch andere Eiferer, welche mit Ungestüm einen verdienstvollen Semler und andre Aufklärer der historischen Theile der Gottesgelehrsamkeit beschuldigen, daß sie mehr niederreissen, als baueten, mehr Zweifel erregten, als Ueberzeugungen beförderten, und wol selbst, überall kein System haben möchten!
|bXXX| Sehet da, meine Leser, die Veranlassung, welche mich bestimt hat, ein System der Christenthumsphilosophie meinen übrigen Schriften voraus zu schicken. Denn auch ich gehöre zu denen, welche die historische Lehrart überall, wo es auf Meinungen ankomt, wie bey dem kirchlichen Lehrbegriffe, für die allein zweckmässige halten, durch welche am sichersten die Berichtigung des Fehlerhaften befördert werden kan; und ich bediene mich daher auch derselben beym akademischen Vortrage der Glaubenslehren. Zugleich aber befinde ich mich in der glücklichen Lage der Unabhängigkeit nach allen meinen äussern Verhältnissen und Wünschen, daß ich mich nicht scheuen darf, mein eignes System der Welt vorzulegen.
Und nun kan ich den
Hauptzweck und zwiefachen
Nebenzweck dieser Schrift deutlicher angeben. Ich habe durch dieselbe
zunächst meinen theologischen Zuhörern, und dann auch andern jungen Gottesgelehrten, die Grundlagen zu einem förmlichen Lehrgebäude über das Christenthum liefern wollen, worauf sie sich nun theils selbst ein eignes System aufführen, theils mehrere nach den Bedürfnissen ihrer künftigen Kirchkinder formiren können. Sie finden die allgemeinsten und wesentlichsten Lehrwahrheiten von §.
81 –
84. so vorgetragen, wie sie in der ganzen Christenheit angenommen werden, nur daß
|bXXXI| jede Parthey von dem ihrigen etwas hinzusetzt, welches eben daher, weil es nicht allgemein ist, auch zufällig bleibt. Sie haben also zuvörderst doch etwas feststehendes, woran sich nun das andre, was sie durch Lesen, Nachdenken, und eigne Erfahrungen weiter erkennen, anschliessen kan. Und übrigens ist die ganze Schrift dazu eingerichtet, daß sie aus derselben auch erlernen können, wie sie die Materialien nach ihrer verschiedenen Brauchbarkeit sortiren, und nach Verschiedenheit der Gemüthslage und Vorerkentnisse ihrer Zuhörer zur Erbauung anwenden können.
Hiernächst habe ich noch zwey andre Zwecke mit dieser Schrift zu erreichen gewünscht.
- 1. Ich habe mir ein bequemes Lehrbuch verschaffen wollen, über welches ich akademische Vorlesungen über das Christenthum für diejenigen Studirenden, die sich nicht der Theologie widmen, halten könte. Es ist doch gewiß, daß jeder Gelehrte durch die mehrere Uebung seiner Geisteskräfte, in welcher besondern Wissenschaft es auch immer sey, eine grössere Fähigkeit zu einem weit vollkomnern Religionserkentnisse, als für gemeine Christen hinlänglich ist, erlangt; und daß hiermit auch ein würkliches Bedürfniß für Studirende entsteht, sich um gelehrtere Einsichten und wissenschaftlichere Erkentnisse von der Glückseligkeitslehre zu bemühen, |bXXXII| indem sie sonst bey Entdeckung des Groben und Irrigen in der gemeinen Volksreligion in Zweifel und Gemüthsunruhen, wegen ihrer Hofnungen und wegen der besten moralischen Grundsätze des Lebens gerathen. Nun haben die mehresten unter den angehenden Gelehrten keinen weitern zusammenhängenden Religionsunterricht vor den Universitätsjahren genossen, als welchen man ihnen im katechetischen Unterricht, und in den niedern Schulen, nach den eingeführten kirchlichen Lehrbüchern mit dem grossen Haufen der gemeinen Jugend zugleich ertheilet hat. Gesetzt nun auch, welches doch bey wenigen anzunehmen ist, daß dieser Unterricht so vollkommen gewesen wäre, als es nur immer ihre Fähigkeiten und Vorerkentnisse in frühern Jahren verstattet haben, so vergrössern sich doch diese beym Studiren der philosophischen Disciplinen und der Realwissenschaften auf der Universität in kurzem dergestalt, daß sie gegen das Ende der akademischen Jahre zu einem weit vollkomnern und mehr gelehrten Erkentniß der Religion nicht nur fähig werden, sondern dergleichen auch würklich schon zu bedürfen anfangen, wenn sie nicht in Scepticismus oder Leichsinn verfallen sollen. Hierzu komt noch die Betrachtung, daß unter den Studirenden, die sich der Rechtsgelehrsam|bXXXIII|keit widmen, sich viele befinden, die nachher in obrigkeitlichen Aemtern die Aufsicht über Kirchen und Schulen erhalten, und an dem Berufungsrecht der Prediger Theil nehmen, folglich auch in dieser Aussicht weit deutlichere Einsichten in die Verhältnisse des kirchlichen Lehramts gegen das Wohl des Volks, und die erforderliche Hauptgeschicklichkeit eines öffentlichen Lehrers der Weisheit und Glückseligkeit sich zu erwerben nöthig haben. In dieser Beziehung habe ich im fünften Abschnitt den grossen Nutzen der christlichen Lehrvorträge bey einer zweckmäßigen Einrichtung derselben, mehr in Beziehung auf das gemeine Volk, als auf einzelne Personen, ins Licht gesetzt und entwickelt.
- 2. Endlich habe ich auch den edlern Theil des lesenden Publikums, welcher einsiehet, wie unentbehrlich jedem denkenden Menschen deutliche und zuverlässige Erkentnisse von dem Regierungsplan der Weltbegebenheiten und von unsrer wahren Bestimmung sind, wenn man unter allen Abwechselungen des Lebens und bey dem Ausgange aus demselben, Heiterkeit und Standhaftigkeit des Geistes beybehalten will, durch diese Schrift aus den Verwirrungen heraushelfen wollen, welche durch so viele neuere Schriften über die Religion |bXXXIV| und durch die widersprechenden Behauptungen der Theologen für alle diejenigen veranlasset werden, die das Wesentliche und das blos Zufällige in der Glückseligkeitslehre des Christenthums nicht von einander scheiden können. Freilich habe ich für diese höchstschätzbare Klasse meiner Leser nicht so viel, als ich wol zu thun gewünscht hätte, leisten können, als ich durch die zwey erstern Absichten, die ich, meinen eigentlichen Berufspflichten nach, vorzüglich zu erreichen suchen mußte, eingeschränkt ward. Ob ich aber nun gleich manches in dieser Schrift gesagt habe, was Leser, die mit der Schulgelehrsamkeit unbekant sind, nicht völlig verstehen können, und manches von mir nicht gesagt worden ist, was viele Wahrheitsforscher vielleicht darin noch zu lesen wünschen möchten, so wird doch dieses Buch vielen selbstdenkenden Freunden der Religion manche Zweifel gegen das Christenthum benehmen, und ihnen zur Formirung eines eignen Systems über die christliche Glückseligkeitslehre zu ihrem eignen Gebrauch nützliche Dienste leisten können. Ein akademischer Lehrer muß sich darauf einschränken, die Hauptbegriffe zu entwickeln und Grundrisse zu liefern; die weitere Ausführung, Anwendung und Belebung der Religionswahrheiten ist die Berufspflicht der Prediger. Solte mir |bXXXV| indes noch künftig, nach Vollendung der sich mir näher andringenden Arbeiten für die hier Studirende, Muse und Gesundheit übrig bleiben, für das allgemeinere lesende Publikum etwas auszuarbeiten, so werde ich es für die angenehmste und edelste Beschäftigung ansehen, eine Erbauungsschrift für meine denkende Zeitverwandten, zur Belebung der Wahrheiten zur Glückseligkeit in ihrem Gemüth, anzufertigen.
Nachdem ich nun den Hauptzweck und die doppelte Nebenabsicht, welche ich bey Ausarbeitung meines Systems vor Augen gehabt, selbst angegeben habe, so ist es unnöthig, die falsche Absichten, die man aus Mißverstand mir beygemessen hat, weitläuftig zu widerlegen. Ich habe gar nicht zur Absicht, das Kirchensystem der Lutheraner oder die symbolischen Bücher abzuändern. Ich lasse diese Policeygesetze, welche äussere Gerechtsame begrenzen, so wie Christus Mosis palästinische Landesgesetze, stehen, und wer von meinen theologischen Zuhörern darwider redet, und die Kirchengesetze dadurch übertritt, den erkläre ich für einen unächten und mißrathenen Zögling von mir. Meine Schrift enthält die Philosophie des Christenthums und nicht des Lutherthums. – Indes gestehe ich, daß einige Worte in meiner Dedikation an des Herrn Geheimen Etatsministers Freyherrn |bXXXVI| von Zedlitz Excellenz eine Zweideutigkeit enthalten, die ich beym Niederschreiben nicht wahrgenommen hatte, und daß diese allerdings dahin gedeutet werden können, als ob ich auf eine äussere durch obrigkeitliche Befehle hervorzubringende Reform des kirchlichen Lehrbegrifs mein Absehen gerichtet gehabt hätte. Ich sage nemlich in der Zuschrift: Die höhere Genehmigung meines System von Seiten des hohen Departement der geistlichen Sachen im Königl. Etatsministerium, dem nur allein in den königlichen Staaten das oberrichterliche Amt, was zum Besten der Nation öffentlich gelehret werden darf, zukomt, würde mir zur weitern Aufmunterung gereichen. Man hat diese Worte dahin auslegen wollen, als ob ich behauptete, das geistliche Departement könne nach Willkühr den öffentlichen Lehrbegrif, so oft es ihm beliebte, abändern; den privilegirten symbolischen Glauben verbieten, und einen andern anbefehlen. Eine solche Erklärung meiner Worte konte mich nun wol nicht von Leuten befremden, die durch ähnliche Auslegungen der Bibel eine Fertigkeit erlangt haben, Worten ohne Rücksicht auf Zusammenhang und Zweck eine Deutung zu geben, wie sie zu ihren angenommenen Meinungen und Absichten paßt: denn sonst sagt schon der Titel, und der ganze Inhalt bestätiget es, daß ich nicht ein System fürs Volk, |bXXXVII| sondern blos für selbstdenkende Zeitverwandten geschrieben habe. Ueberhaupt aber wäre es doch wol die auslachenswürdigste Idee, welche ein Mann in Verhältnissen je haben könte, wenn ich mich überredete, daß in den preussischen Staaten, wo der Schwärmer, der Orthodoxe, der selbstdenkende Christ, und der Freigeist glauben, reden und schreiben können, was sie wollen, und gleiche Bürgerrechte behalten, eine allgemeine Lehrvorschrift zwangsweise eingeführt werden würde, wenn ich bey dem geheimen Etaatsministerium darauf anzutragen versuchte. So ungesund erscheint mein Verstand doch im ganzen Buch nicht!
Ich will indes nach dem unstreitigen Kanon, daß jeder der beste Ausleger seiner Worte ist, den Sinn und Zweck der gerügten Stelle paraphrasirt vorlegen. – Hier ist er:
„Gnädiger Chef, ich sehe vorher, daß gar viele Kleinmänner gegen mich aufstehen, und ein kleinpäbstlich Tribunal über mich errichten möchten. Allein ich erkenne blos Ew. Hochfreyherrl. Excellenz für meinen Richter, ob der Inhalt meiner Schrift nicht öffentlich gelehret werden dürfe. Dieses schreibe ich hier indes nicht, um Ew. Hochfreyherrl. Excellenz willen, sondern die unberufne Fiskäle und Richterlein zu erinnern, daß sie es sich nicht etwa arrogiren sollen, ihrer höhern Obrigkeit vorzugreifen.“
|bXXXVIII| Es war also mein Zweck, mir die Leutchen im voraus abzuwehren, die destomehr schreien, je weniger sie verstehen. Aus eben diesem Grunde mußte ich auch in dem ganzen Buch, einen determinirten Ton annehmen, weil die Miene und Sprache einer schüchternen Bescheidenheit des Untersuchers oft den Schwächsten keck macht, einen Angrif zu wagen.
Ich bin sehr weit davon entfernt, ältern Theologen oder Predigern, die eine lange Reihe von Jahren, nach einem früh angenommenen System, gedacht und gelehret haben, eine Umarbeitung desselben zuzumuthen. Dieses ist nach psychologischen Principien bey den mehresten unmöglich. Allein ich habe mit Vergnügen bemerkt, daß sehr viele von denen, welche für ihre Person den ältern Lehrbegrif, der dem Geist des Zeitalters in ihren Universitätsjahren angemessen war, beybehalten, doch zugleich einsehen, daß ihre jetzt studirende Söhne nicht für die verfloßne Zeit ihrer Väter, sondern für die nächstkommende Jahre vorbereitet werden müssen, um die Christenthumswahrheiten der Denkart des nächstkünftigen Zeitalters gemäß vortragen, und mit solchen Waffen, wie die neuern Angriffe sie erfordern, gehörig vertheidigen zu können.
Man hat mir die Ehre erwiesen, mich unter die neuern Reformatoren zu zählen. Was für Nebenbegriffe nun auch immer von einem oder dem andern mit |bXXXIX| diesem Titel verknüpft werden mögen, so erkläre ich doch ohne Rückhalt, daß ich von ganzem Herzen wünsche, durch meine Schriften zu einer sehr wichtigen Reform, etwas mehr, als gute Wünsche, beyzutragen. Damit man aber nicht erst errathen dürfe, wohin ich mit meinem Reformationsentwurf abziele, so will ich dieses sogleich öffentlich bekant machen. Mein Wunsch gehet dahin, nicht blos in Absicht der Religion, des Schulwesens und der Erziehungskunst, sondern in Absicht aller Wissenschaften und des gesamten Studirens, der Denkart der jungen Gelehrten die Richtung zu geben, daß sie sich gewöhnen bey allem, was sie unternehmen, sich zuvörderst erst recht deutlich auseinander zu setzen, und genau zu bestimmen, wohin sie am Ende wollen, oder was der eigentliche Zweck und das Gute sey, welches sie durch jede Art der Bemühung darzustellen wünschen, und daß sie nach deutlich erkantem Zweck sich nun ferner entwickeln möchten, was zur Darstellung desselben wesentlich erforderlich sey, und welche Mittel dazu die kürzesten, sichersten und fruchtbarsten sind: damit sie nicht mehr so viel Ueberflüssiges für die Schule, und destomehr für das Leben erlernen, und den höchsten und letzten Zweck alles Studirens und aller Arbeiten, nemlich Vergrösserung der gemeinsamen und eignen Glückseligkeit in allen Fächern der Erkentnisse, und jeder in seinem besondern Standpunkt kräftiger |bXL| und zutreffender befördern möchten. – Dieses ist der Schlüssel zu allen meinen Schriften. – Ich habe in meiner Anleitung des menschlichen Verstandes zum regelmässigen Bestreben nach möglichst vollkomner Erkentniß §. 102. 103. etwas mehr hierüber im allgemeinen erklärt, und noch ausführlicher im 5ten Hauptstück dieses Buchs, worüber noch gedruckt wird, bey den Regeln über das Studiren davon gehandelt. Man vergleiche hiermit meine Anweisung zur Amtsberedsamkeit christlicher Lehrer, und selbst diese Schrift, so wird sich finden, daß ich überall nichts thue, als daß ich den Zweck jeder Wissenschaft deutlicher bestimme, und dann zeige, was zur Darstellung desselben wesentlich gehört, und was blos zufällig, unzweckmässig oder gar zweckwidrig ist, und doch aus Nachahmungssucht noch immer zu den richtigen, und pertinenten Mitteln und Hülfserkentnissen gerechnet wird. Niemand wird diese meine Reformationsabsicht, an und für sich betrachtet, tadeln können; aber die nothwendig daraus entstehende Simplificirung der Mittel, und Absonderung so vieles Unnützen in den Disciplinen und dem ganzen Lehrplan des Studirens wird denen nicht gefallen, welche das Unglück gehabt haben, gerade auf das, was das zweckloseste und überflüssigste ist, ihren vorzüglichsten Fleiß und den grössern Theil ihres Lebens verwandt zu haben.
|bXLI| Wenn jemand eine sehr zusammengesetzte und überaus künstliche Maschine erfindet, um einen bestimten Effekt durch dieselbe hervorzubringen, so wird der grosse Haufe, nebst den Halbgelehrten und gemeinen Künstlern, die Erfindung desto höher schätzen und destomehr bewundern, je grösser die Menge der mannigfaltigen Theile, und je verwickelter die Art der Zusammensetzung ist. Aber der grosse Gelehrte und Künstler wird eben dieses, was die übrigen bewundern, für Unvollkommenheit erkennen, und die Erfindung eines weniger zusammengesetzten und weniger künstlichen Werkzeuges für ein grösseres Meisterstück halten. In der gelehrten Welt ist es ein Mittel sich bey der Menge in den Ruf eines grossen Mannes zu setzen, wenn man über jede Aufgabe ein starkes Buch schreiben, und nach Anführung einer Menge verschiedener Meinungen, und nach Citationen vieler Bücher, endlich eine Antwort herausbringen kan, welche nicht leicht zu begreifen ist, und worüber neue Kommentarien erfordert werden. Wenn aber jemand eben dieselbe Aufgabe durch unmittelbare Zusammenstellung der Hauptbegriffe, die verglichen werden müssen, und durch Entwickelung und Bestimmung derselben ohne einige Citaten so auflöst, daß auch ein mittelmässiger Kopf es sogleich verstehet und einsieht, ohne erst andre Bücher dabey nachschlagen zu dürfen, so wird er von den wenigen Gelehrten vom ersten Range
|bXLII| geschätzt, von den übrigen aber vielleicht kaum bemerkt werden, weil jeder glaubt, die Auflösung sey so natürlich und leicht, daß er sie auch selbst erfunden haben würde, wenn er sich die Mühe hätte geben wollen, darüber nachzudenken. Dennoch ist eben das am allerschwersten
zu erfinden, was, sobald es erfunden ist, jedem natürlich und leicht scheint: die einfachste Verfahrungsart ist der höchste Gipfel der Kunst. Um ein hinlängliches Licht über Wahrheiten, die durch vielerley Streitigkeiten verdunkelt worden sind, mit wenigen Worten zu verbreiten, und viel Sachen auf einem Bogen zu liefern, muß man gar vieles vorher nicht blos gelesen, sondern auch durchgedacht, und halbe Bibliotheken durchstudirt haben. Aber diese vorhergehende Mühe sieht man einem leichtgeschriebenen Buche nicht an. Dagegen wird zu einem weitläuftigen Werke, worin man die Meinungen der Gelehrten samlet, und mit beyfälligen Anmerkungen durchwebt, oft nicht viel mehr als eine fertige Hand zum schreiben, und wenig Geistesanstrengung erfordert. Allein was haben die Käufer für ihr Geld, und für die Mühe des Durchlesens in ihrem praktischen und zuverlässigen Erkentniß am Ende gewonnen? Warlich mehrentheils weiter nichts, als das sie vielerley Gründe für und wider einen Satz aufgesamlet haben, und doch kein festes Resultat herausbringen können. – O was
|bXLIII| würde für die Wahrheit, für die Glückseligkeit, und für die äussere Bequemlichkeit des Lebens täglich gewonnen werden, wenn man aufhörte, die Kentniß der mannigfaltigen Meinungen für würkliche Einsichten zu halten; wenn man Belesenheit nicht ferner für Gelehrsamkeit, sondern blos für das, was sie ist, für ein Hülfsmittel der Erweckung zum eignen Weiterdenken betrachtete, und wenn jeder das Resultat seines Lesens und Studirens zur Brauchbarkeit im Leben kurz und gut bekant machte, ohne uns erst durch alle die Krümmungen hindurch zu führen, durch welche er sich durchwinden müssen, ehe er seinen neuen Begrif und Satz, den er uns liefern will, hat entdecken können. – Freilich werden diejenigen, welche Finanzprincipien oder zur Parade schreiben, keinen Geschmack an dieser Methode finden; aber ich rede auch nur zu denen, welche als Patrioten möglichst gemeinnützig zu werden wünschen.
Ich will nun meinen Lesern auch kürzlich anzeigen, was gegen mein System nach der ersten Ausgabe eingewandt worden ist: nicht um hier irgends einen Gegner ausführlich zu widerlegen; dis soll in einer besondern Schrift unter dem Titel: Bestätigungen meines Systems etc., welche stückweis herauskommen werden, geschehen: sondern blos eine allgemeine Idee von der Lage der Einwürfe ge|bXLIV|gen meine Behauptungen, und was solche eigentlich für Punkte betreffen, zu erwecken.
Gegen dasjenige, was eigentlich in meiner Schrift das System der Glückseligkeitslehre ausmacht, hat kein einziger Gelehrter etwas eingewandt. Man hat weder meinen Begrif von der Glückseligkeit, noch irgends einen Haupsatz der vier ersten Abschnitte zweifelhaft gemacht, sondern den Inhalt davon theils gelobt, theils ohne die geringste Gegenerinnerung
eingeräumt, und also die Vordersätze, worauf die übrigen daraus gefolgerten Wahrheiten beruhen, zugestanden. Selbst gegen den sechsten Abschnitt hat niemand behauptet, daß eine derer Wahrheiten, die ich ins allgemeine Christenthumssystem aufgenommen habe, ungegründet oder dahin nicht gehörig, oder auch nur ausserwesentlich sey. Alles, was man wider mich erinnert hat, läßt sich auf drey Punkte zurückführen:
- 1. Daß ich den christlichen Lehrbegrif geliefert hätte, sondern noch mehrere Wahrheiten dahin gehörten. Dis hat Herr Lavater in seinem Etwas über Steinbarts System erinnert, und zwar nach seiner Art, mit mehr Inbrunst eines gutherzigen Enthusiasmus, als mit kaltblütiger Scharfsinnigkeit: daher auch von ihm nicht bestimt angegeben wird, welche Sätze |bXLV| in mein System der Glückseligkeitslehre noch eingeschaltet werden sollen. Ich habe nicht nöthig, etwas weiteres hierüber für meine Leser zu sagen, als daß ich nicht das Lavatersche Christenthum, sondern die Glückseligkeitslehre des Christenthums überhaupt, und zwar zunächst für Leute, die nicht nach Gefühlen, sondern nach Weisheit fragen, habe liefern wollen. Ein ungenanter Gelehrter, der durch H. D. L. bezeichnet wird, und der Herr Dokter Semler haben mich gegen des Herrn Lavaters Anschuldigungen gerechtfertiget. Beide Schriften sind mit dem Lavaterschen Etwas zusammengedruckt, und von dem Herrn D. Semler unter dem Titel: Herrn Caspar Lavaters und eines Ungenanten Urtheile über das Steinbartische System des reinen Christenthums, mit vielen Zusätzen von D. Joh. Sal. Semler, mir freundschaftlich zugeschrieben worden.
- 2. Daß mein System zwar ein richtiger christlicher Lehrbegrif und für denkende Zeitverwandten gut und hinlänglich sey, daß aber die allgemeine Einführung desselben und der darin gebrauchten Lehrart in der Kirche nicht statt finden könne, und ein obrigkeitlicher Zwang in dieser Absicht mehr schädlich als nützlich wer|bXLVI|den würde: weil immer mehrerley Lehrarten nach den sehr verschiedenen Gemüthsfähigkeiten der Menschen erforderlich bleiben würden. Dieses hat der Herr D. Semler in der Zuschrift und Vorrede des vorhin genanten Buchs, und in seinem eignen darin befindlichen Urtheile über meine Schrift, gründlich ausgeführet: nicht, als ob der Herr Dokter würklich glaubten, daß ich dahin zielte, meine Lehrart als die einzige wahre allen Kirchenlehrern aufzudringen, sondern nur um diejenigen zu belehren, welche dergleichen ungegründete Besorgnisse gefaßt, und deswegen wider mein Buch deklamirt hatten. Die übrigen historischen Anmerkungen und Zusätze des Herrn Dokters dienen auch alle dazu, den Zweck meiner Schrift zu befördern und ihren Hauptinhalt zu bestätigen.
- 3. Daß die im fünften Abschnitt von mir widerlegten kirchlichen Lehrsätze von der Zurechnung einer fremden Schuld und fremden Gerechtigkeit u. s. w. sich wohl vertheidigen liessen, wenn man nur die Worte nicht in der eigentlichen Bedeutung nähme, sondern unter Zurechnung einer Handlung blos die Theilnehmung an den Folgen derselben verstünde. Hierauf antwortete ich überhaupt: über Worte werde ich niemals strei|bXLVII|ten. Theilnehmung an den Folgen der Handlungen Adams und Christi habe ich nie geleugnet. Wir nehmen Theil an den Folgen aller Handlungen aller unsrer Vorältern, sowol der guten als bösen. Wer diese Schrift liesset, nimt Theil an den Folgen der Erfindung des Papiers und der Buchdruckerkunst; aber es ist doch nicht gewöhnlich zu sagen, daß Gott den Lesern einer Schrift die Erfindung des Papiers und der Buchdruckerkunst zurechnet. Wenn also mir zugestanden wird, daß keine eigentliche und förmliche Zurechnung einer fremden Schuld und fremden Gerechtigkeit; keine eigentliche und förmliche Genungthuung und Besänftigung Gottes von denkenden Leuten angenommen und geglaubt werden dürfe, so will ich gegen alle tropische uneigentliche und unförmliche Zurechnungen, Satisfaktionen und Aussöhnungen einer zürnenden Strafgerechtigkeit meinerseits nie etwas einwenden, und wir sind also hierüber bald ausgeglichen.
Es erhellet nun aus dieser kurzen Anzeige der Gegenschriften, daß mein System noch auf keinerley Weise in seinem Innern zweifelhaft gemacht und noch weniger widerlegt worden sey. Man hat den fünften Abschnitt desselben vornemlich angegriffen, weil man ihn für eine Bestreitung der symbo
|bXLVIII|lischen Lehren der Kirche angesehen hat. Allein ich habe in meiner Schrift es gar nicht mit Policeygesetzen der Kirche zu thun; diese lasse ich in ihrem Werth und Autorität, so lange es Gott will, daß sie nach obrigkeitlichen Verordnungen noch Lehrvorschriften seyn sollen. Ich habe eine Philosophie des Christenthums überhaupt, und nicht des Lutherthums geschrieben. Wer mich also widerlegen will, muß entweder einen ganz andern Begrif von menschlicher Glückseligkeit, als ich gegeben habe, erweislich machen; oder von den Sätzen, die ich im 5ten Abschnitt als Hindernisse wahrer Glückseligkeit für verwerflich erklärt habe, zeigen, daß sie bey jedem denkenden Manne zur Beruhigung des Gemüths, zur Vermehrung der Freudigkeit zu Gott, und zur stärkern Belebung der Thätigkeit im Guten unmittelbar hinwürken, und daher von jedem geglaubt werden müssen. Die Gegner meines Systems müssen daher die Lehren von der Zurechnung einer fremden Schuld und Gerechtigkeit, vom natürlichen Verderben und gänzlichen Unvermögen des Menschen zum Guten, von der vertretenden Genungthuung und Besänftigung einer unendlichen Strafgerechtigkeit, nicht als spekulative Lehrmeinungen in
abstracto, sondern als Theile einer Glückseligkeitslehre behandeln, und davon deutlich darthun:
|bXLIX|
- 1. daß uns Gott in einem weit liebenswürdigerem und reinerem Licht erscheine, und unser Gemüth weit mehr beruhiget und getrost gemacht werde, wenn wir glauben, daß uns Gott Adams Sünde zur Verdamniß anrechne, daß wir nach Gottes Einrichtung durch die Herkunft von Adam durchaus verderbt in die Welt gesetzt worden; daß Gottes Gerechtigkeit uns daher verabscheuen und ewig strafen müsse, wenn nicht ein andrer ein unendlich Lösegeld für uns bezahlt, oder selbst unendlich für uns büßt: als wenn wir nach dem 5ten Abschnitt meines Systems glauben, daß Gott uns als Unschuldige, mit hinlänglichen unverdorbenen Anlagen zu höherer Glückseligkeit, geboren werden läßt, daß wir aber nur als Fleisch oder Thiere zur Welt kommen, und uns nachher durch eigne Anwendung der Kräfte vom Thiere zum Menschen, und vom Menschen zu einer höhern Klasse vollkomner Geister stufenweis empor heben sollen, und daß Gott nie darüber zürnt, daß wir nicht mehr leisten, als wir nach den uns verliehenen Talenten und Einsichten zu leisten vermögen.
- 2. daß unser selbstthätiges Bestreben nach immer vollkomnern Erkentnissen und unser Fleiß und Eifer in der Gemüthsverbesserung und Uebung aller Tugenden weit mehr erweckt und belebet werde, wenn wir glauben, daß wir etwas Gutes selbst zu denken durch|bL|aus ungeschickt sind, und unser eignes Wirken gar nichts taugt, sondern daß Gott alle gute Gedanken und Begierden unmittelbar in uns hervorbringen müsse: und daß es auch überall bey der Seligkeit nicht auf unsre eigne moralische Güte des Herzens, sondern vielmehr auf Ergreifung und Zueignung einer fremden Gerechtigkeit ankomme: als wenn wir glauben, daß wir hinlängliche Kräfte des Gemüths von Gott natürlich überkommen haben, deren treue Anwendung uns täglich weiter bringen kan, und daß wir nach dem Maaß Seligkeit erhalten, nach welchem wir selbst christlich und Gott ähnlich denken und handeln lernen.
Sehet, meine Leser, dieses sind die eigentlichen Streitfragen zwischen mir und meinen Gegnern, worauf sich keiner eingelassen hat. – Ohne Rücksicht auf Glückseligkeit mag man meinetwegen lehren und glauben, was man will, wenn man nur nicht Sätze zu Bedingungen und Hülfsmitteln des Seligwerdens macht, die ihrer natürlichen Wirkung nach Gemüthsunruhe, Furcht vor Gott, und Schläfrigkeit und Unthätigkeit im eignen Bestreben nach moralischer Vollkommenheit erzeugen.
In dieser zweiten Auflage des Systems der Glückseligkeitslehre des Christenthums habe ich in den fünf ersten Abschnitten nichts Hauptsächliches hinzugesetzt oder verändert, sondern nur einzelne Stellen, |bLI| die Mißverständnisse veranlasset hatten, deutlicher zu machen gesucht. Dargegen ist der sechste Abschnitt, den ich bey der ersten Ausgabe, wegen der nahen Buchhändlermesse, nicht hatte vollenden können, jetzt sehr erweitert worden. Man findet darin nun völlig deutlich und ausführlich erklärt, was man bey der ersten Ausgabe vermißt hat, nemlich meinen Glauben und meine Lehren von Mosis Schriften; vom Gebrauch des alten Testaments unter Christen; von der richtigen Auslegung der neu testamentischen Bücher; vom Nutzen und Schaden der Lehrsysteme und symbolischen Lehrvorschriften; vom rechten Verhalten eines gewissenhaften christlichen Lehrers gegen kirchliche Gesetze; von Toleranz und deren Principien; und endlich von der rechten Beurtheilung der vielerley Religionen, Lehrgebäude und Streitigkeiten, die von je her in der Welt zur Beförderung der wahren Bestimmung der Menschen zu einer selbst erworbenen Glückseligkeit, nach dem Plan einer höhern Weisheit, geherrscht haben, und so lange Menschen und endliche Geister existiren, immer in Gottes Stadt fortdauren müssen.
NB. Zum Vortheil der Besitzer der ersten Ausgabe habe ich sowol diese Fortsetzung der Anrede ans lesende Publikum, als auch die neuen Zusätze zum sechsten Abschnitt besonders abdrucken lassen, unter |bLII| dem Titel: Zusätze zum System der reinen Philosophie der Glückseligkeitslehre des Christenthums, und ich werde, wenn bey neuen Auflagen noch mehr hinzukommen solte, es jederzeit für eine Pflicht der Billigkeit ansehen, das Neue derselben auch besonders für die Käufer der erstern Editionen zu liefern.
Und nun bitte ich alle rechtschafne Freunde der Weisheit und Religion, welche sich für die Aufklärung und moralische Verbesserung ihrer Mitmenschen interessiren, an allen Orten, wo Theologen diese Schrift verlästern und zu verschreien suchen, sich dahin zu vereinigen, und darauf zu dringen,
daß diese sich rechtgläubiger dünkende Männer ihr eigenes besseres System der Glückseligkeitslehre ungesäumt bekant machen. Hierzu gehört nothwendig zweierley,
- 1. daß sie ihren Begrif von der Glückseligkeit uns deutlich angeben: und zwar von derjenigen Glückseligkeit, die hier durch das Christenthum sogleich im Menschen hervorgebracht werden soll.
- 2. daß sie von jedem einzelnen Religionssatze, den sie zur Glückseligkeitslehre rechnen, uns entwickeln müssen, wie er die Menschen, die ihn glauben, seliger mache.
Ich werde mich von ganzen Herzen freuen, wenn andre Theologen einen kürzern, ebenern und sicherern |bLIII| Weg zur Gemüthsruhe, Heiterkeit der Seele, Thätigkeit und Standhaftigkeit im Guten und den erhabensten Hofnungen zu gelangen, für denkende Zeitverwandten bekant machen werden. Ich will mich gern mit der Ehre begnügen, durch einen unvollkomnen Versuch dazu eine nähere Veranlassung gegeben zu haben, und werde der erste seyn, der den bessern Weg selbst betreten und öffentlich empfehlen wird. Kein Prediger kan sich mit seinem Alter oder vielen Amtsverrichtungen entschuldigen, daß er den ihm bekanten bessern Weg nicht beschreiben könne, denn je länger jemand im Amte ist, und je öfter er über die Religionswahrheiten zu reden Veranlassung hat, je leichter muß es ihm werden, sein System der christlichen Glückseligkeit, kurz und deutlich zu entwerfen. Macht ihm dieses Schwierigkeiten, so hat er wahrscheinlich noch nie ein würkliches System gehabt. Ich bin gewiß, daß sobald Eiferer unter den Theologen den Versuch machen werden, sich ihren Begrif von menschlicher Glückseligkeit zu entwickeln, und ihre Lehrmeinungen aus dem Gesichtspunkt zu untersuchen, in wie fern sie Seligkeit bewürken, so werden wir in kurzem weit näher zusammentreffen, als es jetzt möglich ist, da man die Dogmatik als eine auf vielfache Autorität erbauete Wissenschaft, ohne Rücksicht auf Gemüthsruhe und moralische Verbesserung der |bLIV| Gesinnungen erlernet. Kurz, es wird auf alle Fälle von grossem Nutzen seyn, wenn man anstatt mein System zu verlästern, sich an allen Orten bemühen wird, vollkomnere Anweisungen zu höherer Glückseligkeit zu schreiben. Nach dieser Erklärung haben nun alle, welche diese Schrift öffentlich tadeln, zu erwarten, daß das vernünftige Publikum, so lange bis sie selbst etwas Vollkomneres geliefert haben, sie für Leute halten wird, die selbst nicht wissen, was Glückseligkeit ist, und welche die Religion mehr als einen Wörterkram und Gewerbe, denn als eine Anweisung der Menschen zur Zufriedenheit und Gemüthsverbesserung ansehen und behandeln.
Frankfurth den 16ten Julii, 1780.
der Verfasser.