|b70| Vierter Abschnitt.
Vom Verhältnisse des Christenthums zur Glückseligkeit.
§. 30.
Nachdem bisher gezeiget worden, was für Hindernisse einer allgemeinern Verbreitung höherer Glückseligkeit auch noch unter aufgeklärten und gesitteten Nationen angetroffen werden, so lässet sich nun hieraus weiter herleiten, wie eine Weisheitslehre und deren Vortrag beschaffen seyn müsse, wodurch einem ganzen Volke die moralische Hülfe, deren es bey seinen Bestrebungen nach Wohlfart und Seligkeit bedarf, in einem hinlänglichen Maasse zugetheilet werden soll. Es gehört nemlich hierzu
- 1. Daß die unter dem Volk nach §. 29. sich natürlich erzeugende fürchterliche Begriffe von dem höchsten Regierer der Welt und einer willkührlichen Denkart desselben vor allen Dingen verbessert werden müssen: und wenn dieselben auf vorgegebenen ehemaligen Offenbarungen des Himmels beruhen, dieser Aberglaube durch die Autorität höherer durch Wunder beglaubigter Gesandten der Gottheit entkräftet werde. Denn sonst wird die Vernunft und das natürliche Gewissen mit unvermeidlichen Beängstigungen geplagt und in ihrer Wirksamkeit zu höherer Wolfart irre gemacht und verhindert.
- 2. Daß die Vernunft der Menschen auf die im Plan Gottes gegründete allgemeinen Vorschriften des rechtmäßigen Verhaltens aufmerksam gemacht, und diese in ein solches Licht gesetzt werden, daß jedermann seine Handlungen darnach zu beurtheilen und in allen Fällen einzurichten vermögend werde. §. 23. |b71|
- 3. Daß alle Vorschriften der Moral zugleich als geoffenbarte göttliche Gesetze vorgestellet und ihnen hierdurch eine höhere Autorität verschaffet werde, um eigenmächtige Ausnahmen davon zu verringern. §. 25. 28[.]
- 4. Daß die natürlichen Beweggründe zur Tugend noch durch die Aussicht in grössere Folgen und höhere Belohnungen verstärket werden. §. 25. 27.
- 5. Daß die Menge des Guten und dessen Uebergewicht über das Böse in den jetzigen Bestimmungen unsres Zustandes anschauend gemacht werde. §. 26.
- 6. Daß Hofnungen und erfreuliche Aussichten noch über das Grab hinüber veranlasset werden müssen. §. 13. Nr. 4.
- 7. Daß Hülfsmittel sich des Uebergewichts des Guten und der erfreulichen Aussichten immer lebhaft bewußt zu bleiben dargeboten werden. §. 26.
- 8. Daß alle Lehren und Vorschriften zur Fassung des Volks herabgestimt, und daher möglichst durch Geschichtwahrheiten unterstützt werden und darin eingekleidet erscheinen müssen.
Es ist augenscheinlich, daß mit jedem Grade der richtigern, klärern und gewissern Erkentniß dieser Lehre auch Zufriedenheit, moralische Glückseligkeit, und äussere bürgerliche Wohlfart in einer Nation merklich zunehmen, und allgemeiner werden müssen. Nun ist zu untersuchen, in wie fern das Christenthum mit diesem aus den vorhergehenden Betrachtungen gefolgerten Ideal einer vollkomnen Weisheitslehre zur Glückseligkeit übereinkomme.
§. 31.
Zuvörderst hat Christus die unter dem jüdischen Volk zur Zeit seines Lehramts allgemein herrschende praktische Vorurtheile von willkührlichen Anforderungen Gottes an die Menschen, wodurch die weitere Aufklärung ihrer moralischen Einsichten, und |b72| die richtige Anweisungen des natürlichen Gewissens bey ihnen verhindert wurden, gänzlich zu vertilgen gesucht. Mose wird daher vom Paulus als ein Kinderlehrer vorgestellt, welcher die jüdische Nation in dem Alter der Minderjährigkeit, da sie nur blos sinnlicher Begriffe fähig gewesen, durch sinnliche Gesetze und willkührliche Strafen vor Ausschweifungen hätte zurückhalten müssen; dagegen nun, nachdem die Zeit erfüllet sey, oder die Nation ihre Volljährigkeit erreicht hätte, das sinnliche und willkührliche unbrauchbar für sie geworden sey, und sie daher durch Christum für majorenn erklärt, der Kinderzucht entlassen, in völlige Freyheit gesetzt, und nach den eignen Einsichten ihrer Vernunft zu handeln berechtiget würden. Gal. 3, 24. 4, 1–5. Auf ähnliche Art leitet Paulus die Nothwendigkeit und Wohlthätigkeit des Christenthums für andre Nationen aus der allgemeinen Verdorbenheit der damals auch unter den Griechen und Römern herrschenden Moral und ihren abergläubischen Meinungen, von willkührlichen Gottesdiensten her. Röm. 1, 16. 21 f. Eph. 2, 7. 12. 5, 8. f. Diese besonders im Briefe an die Römer vorkommende Schilderungen von dem hieraus sich verbreiteten sittlichen Verderben werden aus Mißverstand von einem allgemeinen Verderben der menschlichen Natur; so wie die vom Apostel behauptete Unmöglichkeit, daß die Nationen ohne die durch Christum veranstaltete äussre Hülfsmittel der Erleuchtung sich vom Aberglauben und falschen moralischen Maximen selbst hätte befreyen können, für eine Versicherung des natürlichen Unvermögens des menschlichen Verstandes, Wahrheiten der Religion, auch wenn sie ihm vorgetragen worden, zu begreifen, ganz wider den Zusammenhang und Zweck des Apostels von vielen erkläret. Es ist also zuvörderst durch das Christenthum die Macht des Aberglaubens und der geheiligten Vorurtheile geschwächt worden, welche ver|b73|hinderten, daß unter den damaligen Nationen die Moralität, und die daraus entstehende Glückseligkeit sich nicht mit der vermehrten Ausbildung ihrer Vernunft verhältnißmäßig hatte bessern können.
1) Daß Christus der falschen Moral der Rechtslehrer seines Volkes, besonders in der sogenanten Bergpredigt, gerade entgegen lehre, wird bereits allgemein zugestanden; weniger aber wird bemerkt, daß er zum öftern die gesunde Vernunft, welche von dem Aberglauben in ihren Wirkungen gehemt wurde, erweckt, und sie zur Richterin in der Moral macht. 2) Die gute Moral einzelner Weisen unter den Griechen und Römern war auf zu tiefsinnige Vernunftgründe gebauet, als daß sie unter ihren Nationen hätten gemein werden können.
§. 32.
Daß nun aber das Christenthum nicht etwa blos den damals herrschenden falschen, sondern überhaupt
allen Begriffen von willkührlichen Gesinnungen und Forderungen Gottes geradezu widerspreche, verdient ausführlicher dargethan zu werden. Hierher gehört:
- 1. daß Gott nach der Lehre Jesu durchaus als ein liebreicher Vater gedacht werden soll; daß der Geist des Christenthums ein Geist der Sohnschaft und Freiheit genant, und daß ausdrücklich eine von aller Furcht völlige freye zuversichtliche Liebe gegen Gott zum wahren Charakter eines Christen erfordert wird. Röm. 8, 16. 1 Joh. 4, 16 f. Nun verlangt nicht einmal ein menschlicher Vater, wenn ihn seine eigne Bedürfnisse nicht etwa dazu zwingen, Dienste von seinen Kindern; sondern hält sie nur zu solchen Uebungen an, wodurch sie sich selbst vollkomner und glücklicher machen können. Gott, der selbst jedermann Leben, Othem und alles giebt, kan also noch weniger einigen Dienst von seinen Kindern erheischen. Apostelg. 17, 24 f. Es wäre daher gut, wenn die aus Mosis Theokratie |b74| entlehnte Worte Gottesdienst, Gottesfurcht und andre ähnliche ganz aus christlichen Lehrvorträgen wegblieben, weil solche, wenn wir sie auch noch so richtig erklären, und ihren bestimten Sinn begrenzen, doch in der Sprache des gemeinen Lebens widrige adhärente Begriffe haben, die dem gemeinen Mann allzu habituell sind, als daß er sie absondern könte. Durch dergleichen Ausdrücke wird das erfreuliche Licht, worin uns die christliche Religion die Liebenswürdigkeit Gottes erscheinen läßt, immer in etwas umwölkt. Gal. 4, 7.
- 2. Daß Christus ausdrücklich erkläret hat, alle Anforderungen der Gottheit, und alle wahre Offenbarungen wären in den Worten: Liebe Gott über alles, und deinen Nächsten als dich selbst, enthalten: folglich muß jede Vorschrift, die hieraus nicht natürlich gefolgert werden kan, auch nicht göttlich, sondern menschliche Träumerey seyn. Da ferner diese Grundgebote, welche nach Christi eignen Ausspruch die ganze praktische geoffenbarte Religion enthalten, in der Natur der Menschen und ihren natürlichen Verhältnissen gegen Gott und gegen die Gesellschaft, darin sie ihre höhere Wohlfart suchen müssen, gegründet sind; so ist unläugbar, daß alle positive und willkührliche Anforderungen der Gottheit von Christo völlig ausgeschlossen, und für falsche zur wahren Religion nicht gehörige Satzungen erkläret worden sind. Matth. 22, 36–40. Gal. 4, 9 f. Daher nent Jesus auch das Gebot der Liebe, das neue allgemeine Gebot seiner Lehre, an dessen Befolgung man seine Schüler allein unterscheiden kan. Joh. 13, 34. 35. und nach welchem allein die Glückseligkeit in dieser und jeder andern Scene des Lebens unsrer geselligen Natur bestimt werden wird. Matth. 25, 31 f. Eben dis wiederholen zum öftern die Apostel. Röm. |b75| 13, 8. 10. 1 Cor. 13. Gal. 5, 14. besonders Johannes 1 Brief 4, 16. und an andern Orten.
- 3. Daß das Christenthum durchaus alle Einschränkungen des vernünftigen Genusses dieses Lebens aufgehoben, und alle Arten der sinnlichen Vergnügungen für rechtmässig erklärt hat; Röm. 13, 14. Kap. 14, 1–6[.] Kap. 8, 8. Kap. 10, 23 f. Col. 2, 16. 1 Tim. 4, 1–5. wie denn auch Christus selbst, ohnerachtet der Armseligkeit seiner äusserlichen Lage, von Jugend auf von allen sich ihm darbietenden sinnlichen Annehmlichkeiten Gebrauch gemacht hat; bey allen Gastmahlen, zu welchen er eingeladen wurde, erschienen ist; Matth. 11, 19. ja selbst die kostbaren künstlichen Vergnügungen der Sinne nicht getadelt, sondern selbst genossen, und die spitzfindige Kasuistik seiner Begleiter, die solches für übel angebrachte Verschwendung hielten, gemißbilliget hat. Marc. 14, 3 f.
- 4. Daß Christus und seine Apostel überall die Reizungen und Beweggründe zum Guten aus den natürlichen Trieben des Menschen und den natürlichen Folgen der Handlungen herleiten, und die Vernunft des Menschen zum eignen Nachdenken hierüber auffordern. Dis geschieht zuvörderst in Absicht des Grundgebots der Religion, der Liebe zu Gott, 1 Joh. 4, 19. und es wird also keine uns natürlich unmögliche, so genante reine Liebe gegen Gott, ohne Rücksicht auf unsern Vortheil gefordert. Unter tausend Stellen, welche die Vernunft des Menschen erwecken, das Gute und Böse, das rechtmässige und unrechtmässige, das anständige und unanständige, das nützlichere vom minder nützlichen zu unterscheiden, und darnach ihr Verhalten zu bestimmen, lese man nur folgende Stellen, die keinen Zweifeln der Auslegung unterworfen sind, Phil. 4, 8. 1 Thess. 5, 21. Luc. 14, 10. Röm. 12, 20. 1 Petr. 3, 10 etc. wie denn auch |b76| alle Stellen, worinnen im Gegensatz des Fleisches oder der Sinnlichkeit nach dem Geist zu handeln befohlen wird, uns verpflichten, den möglichsten Gebrauch von unsrer Vernunft zu machen.
Hieraus erhellet nun, daß das Christenthum ganz eigentlich darauf abzwecke, alle abergläubische Träumereyen von willkührlichen von Gott geoffenbarten Vorschriften, welche die Verbesserung der Moralität, und die Thätigkeit des natürlichen Gewissens hindern, zu vertreiben, und die Vernunft zur eignen Einsicht in das rechtmässige Verhalten zu erwecken: auch daß es unter allen Nationen, wo es als eine göttliche Lehre angenommen wird, diesen Effekt nach dem Maaß der Aufklärung derselben beweisen könne und werde, obgleich ganz rohe sinnliche Menschen wenig Empfänglichkeit dazu haben. 1 Cor. 2, 14. Nun lehret die Geschichte, daß diese wohlthätige Wirkungen desselben durch die allmählig entstandne Verfinsterung der ehemals schon aufgeklärt gewesenen Gegenden immer mehr geschwächt worden, ja daß gar die gesamte Lehre Jesu unter den rohen abendländischen Nationen, unter welchen sie in den mittlern Jahrhunderten äusserlich eingeführet worden, in ein Chaos willkührlicher Gebräuche verwandelt worden sey. Allein eben dieses muß den jetzt lebenden Lehrern des Christenthums zu desto grösserer Ermunterung dienen, alle aus diesen Zeiten übrig gebliebene menschliche Beymischung abzusondern, die Aufmerksamkeit des Volks von dem blos sinnlichen der Geschichte Jesu, und von den Anspielungen der apostolischen Vorträge auf die Gebräuche des Kindheits Gottesdienstes der Juden immer mehr zu entwöhnen, und sie dagegen mit dem Geist der Religion Jesu bekanter zu machen. Nur hierdurch würde die Reformation vollendet werden. Denn es ist ungezweifelt, daß unsre Nation auch seit den Zeiten der angefangenen Kirchenverbesserung abermals in jeder |b77| andern Beziehung sehr aufgeklärt worden ist. Man verhindert daher den Zweck des Christenthums, und den mehrern Anwachs moralischer Glückseligkeit, wenn man noch jetzt die durch das Christenthum so hoch geehrte Vernunft und Moral verschreyet; widersinnische spekulative Lehrformeln für göttliche Offenbarungen, und doch zugleich für Geheimnisse ausgiebt; und die Besserung der Menschen von etwas anderm, als den eignen Bestrebungen im treuen Gebrauch ihrer Vernunft und ihres Gewissens erwartet. Kein Wunder, wenn bey dieser von manchen Theologen selbst unterhaltenen Finsterniß die besten und aufgeklärtesten Menschen unsre Kirchen verlassen.
Alle kirchliche Streitigkeiten und Schulgezänke, ja selbst alle wichtige Disputationen mit den vernünftigen und Wahrheit suchenden Naturalisten hören auf, so bald man anerkennet, daß die Lehre Jesu durchaus vernünftig ist, und den Plan Gottes in der Natur nicht abändert, sondern uns nur ins Licht setzt, unserm Verstande gleichsam näher vor Augen bringt, ihn nach allen Theilen auseinander legt, und die Uebersehung des ganzen Zusammenhanges möglich macht und erleichtert. In dem gesamten Plan Gottes in der Welt ist so, wie in Gott selbst, alles Harmonie und Uebereinstimmung. Der Hang zu sinnlichen Vergnügen und zur Bequemlichkeit; der Trieb das Eigenthum zu vergrössern; die gesellige Neigungen zu lieben und geliebt zu werden; die Begierde nach Ehre und Ruhm; und was sonst noch für natürliche Wünsche der Menschheit eigen seyn mögen, führen alle zu Gott, werden durch Religion geheiliget und durch Beobachtung ihrer Vorschriften am sichersten, völligsten und fortdaurendsten harmonisch befriediget. Es ist daher Mißverstand des göttlichen Plans, wenn man Beweggründe, gut gesinnet zu seyn, welche aus einem dieser Naturtriebe entlehnt werden, für schlecht oder gar heidnisch hält. Der Mensch kan einmal nicht anders, als durch die in seiner Natur selbst liegende |b78| Triebfedern in Bewegung gesetzt werden; man benutze diese zur Absicht Gottes, so wird Gott in der Schrift und in der Natur uns überall ohne künstliche Hermenevtik verständlich werden, und sich beyde göttliche Offenbarungen einander auslegen und bestätigen.
§. 33.
Das Christenthum erweckt aber nicht blos die Vernunft zum Nachsinnen über das rechtmässige Verhalten zur Glückseligkeit, sondern trägt auch selbst eine vortrefliche und vollständige Moral auf eine jedermann faßliche Art vor. Indem es sich wenig auf Vorschriften über einzelne Handlungen und besondere Fälle einläßt, sondern nur überhaupt auf gute Gesinnungen der Rechtschaffenheit, und der Menschenliebe dringt, und diese hervorzubringen sucht, so giebt es auf einmal der gesamten Denckungsart des Menschen die allgemeine Richtung zu allen wahren Tugenden. Ebr. 10, 16. Röm. 13, 8 f. Auch bedarf man bey Kollisionen der Pflichten keiner tief hergeholten Kasuistik. Das Gebot der Menschenliebe wird ein für allemal für das Grundgebot erkläret, und hiemit sind die Grenzen aller Pflichten bestimt. Ist zum Beyspiel die Frage: soll man in allen Fällen die Wahrheit reden, und alles so sagen, wie man es weiß? so ist die Antwort dem christlichen Gewissen leicht: Man muß die Wahrheit reden, so oft und so weit es die Liebe erfordert; wird diese dadurch verletzt, so müssen wir dem grössern Gebot der Liebe gehorchen. Ausser diesen grossen Vortheilen, daß eine vollständige Erkentniß der Moral und eine richtige Anwendung einzelner Vorschriften auf alle Fälle, durchs Christenthum jedermann, der auch im Nachdenken wenig geübt ist, ungemein erleichtert wird, hat auch die Lehre desselben, so bald sie als göttlich geglaubt wird, noch einen doppelten wichtigen Vorzug, dadurch ihre Wirksamkeit in jeder Nation weit allgemeiner und grös|b79|ser wird, als menschliche Weisheitslehren jemals haben können. Dieser doppelte Vorzug besteht darin, daß durch sie nur allein theils die Ueberzeugung von der Nothwendigkeit, in jedem einzelnen Fall ohne Ausnahme gewissenhaft zu handeln, bey jedermann hervor gebracht werden kan; theils die natürlichen Beweggründe zur Tugend verstärkt, und durch neue vermehret werden. Jedes verdient eine besondre Betrachtung.
Wie es möglich gewesen sey, daß die Christen, und insonderheit die Theologen, die so oft wiederholten Versicherungen Christi und seiner Apostel; daß die rechtschafne Menschenliebe allein die Erfüllung des gesamten geoffenbarten Willens Gottes sey; ganz aus der Acht haben lassen können, würde unbegreiflich seyn, wenn nicht die Kirchengeschichte uns lehrte, daß man in den ersten Jahrhunderten heidnische Rhetoren und Philosophen bald nach ihrer Taufe zu Bischöfen gemacht hätte, um den Gemeinen dadurch mehreres Ansehen und Schutz zu verschaffen. Diese Leute machten nachher ihr ehemaliges philosophisches System zur Hauptsache und bekünstelten das Christenthum darnach.
§. 34.
So viel man auch öfters in den Schulen der Vernunftweisen gegen die Vorurtheile ohne Einschränkung eifert, so werden wir doch immer, so lange wir Vernunft haben, die nützliche Geneigtheit beybehalten, in allen praktischen Angelegenheiten uns nach Autoritäten zu bestimmen. Diese Geneigtheit ist kein blinder Naturtrieb, sondern entsteht erst mit der Entwickelung der Vernunft, und wird mit grosser Mühe durch die Erziehung in uns gebracht und verstärkt. Kinder sind zwar geneigt nachzuäffen, nicht aber durch Rathgebungen sich bestimmen zu lassen, sondern vielmehr alles selbst zu versuchen. Nur nach und nach lernen sie aus der Menge einzelner Fälle einsehen, daß sie sicherer gehen, wenn
|b80| sie der Warnung älterer Personen Gehör geben. Hieraus erzeugt sich die Geneigtheit auf Autorität zu trauen. Diese macht uns nun des Unterrichts empfänglich, und hiermit zu Erben aller Schätze der Weisheit, welche die Vernunft aller unserer Vorältern aus den Erfahrungen der verfloßnen Jahrhunderte aufgesamlet hat. Es giebt nur 3 Fälle, in welchen man sich bestimt findet, von der Autorität bey praktischen Entschliessungen von einiger Erheblichkeit abzugehen. Erstlich, wenn mehrere eigne Erfahrungen derselben widersprechen; zweitens, wenn leidenschaftliche Begierden das Gewicht derselben in unsrer Vorstellung sehr vermindern; drittens, wenn wir deutlich aus Vernunftgründen einzusehen glauben, daß eine sonst auf Ansehen beruhende Regel fehlerhaft seyn müsse. Im letztern Fall befindet sich selten der gemeine Mann. Nun können wir deutlich einsehen, wie sehr der Glaube, daß eine Sittenlehre von Gott selbst bekant gemacht worden sey, die Geneigtheit sie ohne Ausnahme zu befolgen verstärken müsse. Die gesamte praktische Erkentniß der meisten Menschen beruhet auf der Autorität ihrer Aeltern, Lehrer, Freunde, oder auf dem Beyspiel andrer angesehenen Personen. Hieraus erlernet jeder sehr viele richtige Regeln des Verhaltens aber auch manche fehlerhafte. Bisweilen widersprechen sich auch die Autoritäten, und alsdenn folgt jeder gar leicht derjenigen, welche von seiner Temperamentsneigungen begünstiget und gegen seine Vernunft und Gewissen in Schutz genommen wird. Die hieraus entstehende praktische, auf Ansehen gegründete Irrthümer beym grossen Haufen zu widerlegen, wird man meist vergeblich Vernunftschlüsse anwenden; weit leichter geschiehet es durch höhere Autorität. Da nun keine grössere Autorität, als das Ansehen einer göttlichen Offenbarung gedacht werden kan, so erhellet, daß der Glaube an dieselbe das einzige oder doch kräftigste Mittel sey,
|b81| die praktischen Erkentnisse einer Nation zu verbessern. Komt hierzu der Glaube an eine genaue Aufsicht Gottes auf alle auch die verborgensten Handlungen der Menschen, und an eine künftige vollständige Vergeltung auch der blossen innern Gesinnungen des Herzens; so ist offenbar, daß nach dem Maaß, nach welchem dieser Glaube stärker wird, auch die Gewissenhaftigkeit in Beobachtung der göttlich geoffenbarten Moral immer allgemeiner und wirksamer werden müsse. Die Sittenlehre, welche auf blossen Vernunftgründen beruhet, wird niemals bey einem Volk einen solchen Grad der Gewissenhaftigkeit hervorbringen können, weil die Autorität des Lehrers und seiner Vernunftschlüsse durch die öftere Erfahrung, daß die guten und übeln Folgen der Handlungen in diesem Leben oft ausbleiben, und durch die Autorität übler Beyspiele
angesehener Personen sehr geschwächt wird. Das Christenthum muß demnach die Moralität und Glückseligkeit einer Nation schon dadurch, daß es die moralische Vorschriften als göttliche Anweisung zu unsrem Wohl, deren Belohnungen unausbleiblich sind, vorstellet, ungleich fruchtbarer, als wenn solche aus blosser Ueberlegung der menschlichen Rathgebungen erkant werden, befördern.
Wenn auch hierdurch die Ausnahmen, welche die Menschen sich von moralischen Gesetzen zu machen erlauben, nur um einen Theil verringert würden, so gewönne so wol die äussere Wohlfart als die moralische Glückseligkeit eines Volks schon ungemein viel.
Das Christenthum verhindert täglich eine Menge Thorheiten, und befördert täglich viele gute Handlungen, die sonst unterbleiben würden, auch bey denen, welche man in der Sprache der Kirche Unwiedergeborne oder Unbekehrte nent. Denn wenn diese gleich ihren Temperamentsneigungen mehr als ihrem Gewissen folgen, so suchen sie doch in allen andern Handlungen, wo ihre Hauptleidenschaften nicht mit ins Spiel kom|b82|men, sich desto genauer nach den Vorschriften des Christenthums zu richten. Die Verpflichtung Gott gehorsam zu seyn, wird als die erste und allgemeine Wirkung des Christenthums von allen, zu welcher Kirchenparthey sie auch gehören, empfunden, und dis verstärkt nothwendig die Stimme des natürlichen Gewissens, und hindert die völlige Gewissenlosigkeit[.]
§. 35.
Das Christenthum
verstärket aber auch
die natürlichen Beweggründe des natürlichen Wohlverhaltens und vermehret dieselbe mit neuen, welche von dem Volk sonst nicht erkant werden würden. Dahin gehört:
- 1) Ueberhaupt versichert es eine genaue Aufsicht und eine höchst weise und gerechte moralische Regierung Gottes, vermöge welcher daher alle natürlich gute Folgen gewissenhafter Gesinnungen und Handlungen unausbleiblich in Zukunft erfolgen und uns zu statten kommen, wenn auch solche eine Zeitlang auszubleiben scheinen. Dis giebt also in allen Fällen, wo es uns nicht sichtbar wird, wie das Gute, so wir zu thun Gelegenheit haben, uns belohnet werden möchte, eine lebhaftere Entschlossenheit im Vertrauen auf Gottes moralische Regierung so gut als möglich, auch wo wir von Menschen nicht beobachtet werden, zu handeln.
- 2) Das Christenthum erklärt überdis, daß alle Handlungen der Rechtschaffenheit, besonders die edlern, uneigennützig wohlthätigen, als Gott selbst erwiesene Gefälligkeiten, weit über ihren Werth belohnt werden sollen, so wol in diesem Leben, als in der Fortdauer nach dem Tode. Dis muß den Muth auch bey allem Undank der Menschen und unter allen Umständen groß und edel zu handeln, ungemein beleben. 1 Tim. 4, 8. Luc. 14, 13. Matth. 6, 1 f. Hierdurch wird aber nicht nur die moralische Glückseligkeit derer, welche der Geist des Christenthums zu Handlungen der Men|b83|schenliebe beseelt, unmittelbar erhöhet, sondern auch über viele andre, welche die Gegenstände der christlichen Wohlthätigkeit sind, äussere Wohlfart verbreitet.
- 3) Das Christenthum erweckt die uns so sehr über uns selbst erhebende Vorstellung, daß wir durch gutes thun unsrem göttlichen Vater ähnlich zu werden bestimt sind. Diese Vorstellung verfeinert und erhöhet das moralische Vergnügen, welches wir im Bewußtseyn unsrer guten Gesinnungen empfinden, ausserordentlich; vergrössert unsern eignen Werth in unsren Augen; und verschaft uns die wonnevolle Aussicht in einen unendlichen Wachsthum höherer Vollkommenheiten, welcher blos von unsren eignen Bestrebungen, immer tugendhafter zu werden, abhängt. Je mehr jemand diese Vorstellung in sich habituell macht, desto mehr innre Kraft wird er besitzen, Versuchungen zu erniedrigenden Handlungen zu widerstehen, und je weniger werden äussere Unannehmlichkeiten die innre fortdaurende Zufriedenheit seines Gemüths unterbrechen.
§. 36.
Ausser dem vortheilhaften Einflusse, welchen die Lehre des Christenthums durch Beförderung guter moralischer Einsichten und Fertigkeiten auf die Glückseligkeit hat, vermehret es dieselbe auch noch von einer andern Seite, indem es die Gründe der Unzufriedenheit und der Befürchtungen verringert und unsre Hofnungen ins unendliche erweitert. Die Lehre von einer besondern, auf jeden einzelnen Menschen und alle dessen, auch kleinste Veränderungen sich erstreckenden göttlichen Fürsorge, ist zwar der menschlichen Vernunft an sich, auch ohne Offenbarung zu erkennen möglich; die Erfahrung aber lehret, daß selbst grosse Philosophen solche noch bezweifeln, und also noch mehr der sinnlich denkende Theil des Volks unfähig sey, durch Vernunftbeweise davon eine Ueberzeu|b84|gung zu erhalten. Dennoch ist diese Lehre ganz allein die Quelle, woraus wahrer Trost für Menschen bey den vielen von uns nicht abhängenden Veränderungen des Lebens geschöpft werden kan. Der Gedanke, man muß sich einem Uebel, was man nicht abändern kan, geduldig unterwerfen, ist zwar vernünftig und dazu nützlich, daß man dadurch abgehalten wird, seinen Zustand nicht durch unbesonnenes Tumultuiren noch mehr zu verschlimmern. Allein dieser Gedanke gewährt keinen eigentlichen Trost. Ich werde nur denn getröstet, wenn die Vorstellung von der erlittenen Verschlimmerung meines Zustandes und deren üblen Folgen, welche mich nothwendig mißvergnügt machen muß, weggeschaft oder doch verdunkelt wird. Dis kan aber nur geschehen, wenn man mich überzeugt, daß das, was ich mir als ein Uebel vorstelle, wirklich kein Uebel ist, oder daß es im Zusammenhange ein grösseres Gute veranlassen werde, und also der Verlust nur scheinbar sey. Diese Tröstungen genießt der Christ in allen möglichen Fällen, wenn er nach der Lehre Jesu einmal fest überzeugt ist, daß kein Haar von seinem Haupte falle, ohne den Willen seines göttlichen Vaters, und daß alle Dinge denen, die Gott lieben, zum besten dienen müssen. Der gemeinste Christ kan demnach, auch ohne ein grosser Philosoph zu seyn, einer durch keinen Vorfall des Lebens völlig zu unterdrückenden Zufriedenheit wegen des Bewußtseyns des fortwachsenden Uebergewichts des Guten in seinem Zustande geniessen.
§. 37.
Unmöglich kan bey dem Gedanken, daß durch den natürlichen Tod unser Bewußtseyn auf immer verschwindet, eine wahre Werthschätzung unsrer selbst bestehen. Wie klein und unbedeutend werde ich mir in meinen eignen Augen, wenn ich dis Leben als meine ganze Dauer, als einen Traum weniger Jahre gedenke. Höhere Glück|b85|seligkeit kan damit nicht bestehen; denn diese beruhet auf der Vorstellung eines immer fortdaurenden Wachsthums meiner Vollkommenheiten. Nun sind die Gründe der Vernunft für die Unsterblichkeit des menschlichen Geistes nur für eine kleine Anzahl im tiefen und scharfsinnigen Nachdenken geübter Männer einleuchtend, und da der übrige grosse Haufen der Menschen seine Hofnungen hierüber auf Autorität bauen muß, so erhellet, was abermals das Christenthum bey denen, welche es als eine göttliche Offenbarung verehren, für einen ausnehmend beruhigenden Einfluß haben muß. Es lehret ein weit besseres Leben nach dem Tode, und in demselben den vollen Genuß der Früchte aller hier verrichteten guten Handlungen, und es vergewissert hiervon stärker als alle Vernunftschlüsse. Der Tod verliert das furchtbare und erscheint als eine Hinübergeburt in seligere Scenen.
Der Sieg über die Gegner des Christenthums würde uns sehr leicht werden, wenn wir das reine durchaus vernunftmäßige Christenthum nur allein vertheidigen wolten. Ja mir ist es deutlich, daß es dann gar keine Gegner unter denkenden und gutgesinnten Menschen geben würde. Wenigstens könte sich denn keiner enthalten zu gestehen: selig ist, wer es glaubet; keiner sich enthalten zu wünschen, daß er sich von dem göttlichen Ursprung des Christenthums überzeugen könte. Aber so lange noch viele Kirchenlehrer die nur halbverstandne philosophische Hypothesen der Kirchenväter als die wichtigsten Hauptwahrheiten und als die wesentlichste Lehren des Christenthums verfechten, werden sie nach und nach immer mehr kordate und denkende Leute zu Ungläubigen machen, und alle Autorität des Lehramts vernichten. Wir solten als Gelehrte und noch mehr als Lehrer der Nation immer ein Mannsalter in der Kultur des Verstandes voraus haben; es giebt aber Lehrer, die ein halbes, ein ganzes, auch wol zwey volle Jahrhunderte noch zurück geblieben sind. Ich glaube indes, daß deren jetzt nicht mehr viele sind, oder |b86| daß sie wenigstens nicht die herrschende Parthey unter den angesehenen Theologen ausmachen, sonst hätte ich diese Schrift noch nicht drucken lassen.
§. 38.
Endlich befördert auch das Christenthum auf eine vorzügliche Art
das öftere Bewußtwerden des grossen Uebergewichts des Guten in unsern Bestimmungen, indem es seinen Bekennern angelegentlich empfielt, Gott täglich für alles Gute zu danken. Die mehresten sehen das Dankgebet blos als eine Pflicht gegen Gott an, und manche, die sich besonders grosse Einsichten zutrauen, haben sich bisweilen geäussert, als ob es unanständig wäre, von Gott zu denken, daß er durch unsre Danksagungen bekomplimentirt werden wolte. Allein das Gebet überhaupt ist, wie alle Pflichten der christlichen Gottesdienstlichkeit ohne Ausnahme, ein natürliches Beförderungsmittel der Weisheit, Moralität und Glückseligkeit. Indem ich bete, denke ich mich in dem unmittelbaren Verhältniß gegen den Vater der Welt. Mein Geist nimt den höchsten Schwung, den seine Kräfte verstatten; ich strenge mich an, mir die erhabensten moralischen Vortreflichkeiten des Unendlichen anschauend zu machen, und hierdurch schon veredeln sich meine Gesinnungen. Wenn ich aber durchdacht habe, wie Millionen Welten in jedem Augenblick aus dieser Urquelle der Vollkommenheiten alles Gute, was sie besitzen, erhalten; denn denke auch ich mich in dieser unzählbaren glücklichen Menge, voll Demuth gegen die Gottheit, aber selbst in meiner Abhängigkeit von ihr groß; noch grösser im Gefühl meiner Bestimmung, daß ich ihr ähnlich zu werden geschaffen bin. Alle niedrige und menschenfeindliche Neigungen entweichen, ich fasse die edelsten Vorsätze, und fühle mich voll Kraft sie auszuführen. Meine Sorgen, mein kindischer Kummer wegen trüber Aussichten in die Zukunft verschwindet; und hierdurch aufge
|b87|heitert, findet nun mein dankbares Gemüth sich aufgelegt, alles Gute was ich von der göttlichen Liebe bereits besitze, mir vor Augen zu samlen; und da finde ich mich denn ungleich reicher, als ich gedacht habe; und unendlich reich, in der verstärkten Ueberzeugung, daß mein Vater, der Herr der Welt, an keinem wahrhaftig Guten mir je es fehlen lassen kan. Mit Freuden geniesse ich nun das mich umgebende Gute, und voll göttlichen Antriebes verbreite ich auch um mich her, Wohlfart und Glückseligkeit. So ist es demnach offenbar, daß die durchs Christenthum so angelegentlich empfohlne Pflicht, fleißig zu beten, wenn sie auch nur beym Anfange und Beschluß eines jeden Tages feyerlich ausgeübt wird, das aller wirksamste Hülfsmittel der Fortdauer und des Wachsthums der Glückseligkeit in jeder Beziehung seyn müsse. Denn
- 1. So oft ich bete, werde ich zum stillen Nachdenken über mich selbst, und zu einer umständlich klaren Vorstellung meines gesamten innern und äussern Zustandes veranlaßt; und demnach wird durch ein öfteres Gebet das deutliche Bewußtseyn des Uebergewichts des Guten in meiner gesamten Bestimmung, und hiermit eine fortdaurende Zufriedenheit beständig unterhalten.
- 2. In jedem Gebet betrachte ich mich im Verhältniß gegen Gott, und hiermit zugleich im Verhältniß gegen das Ganze, oder den gesamten Plan Gottes; wodurch die allgemeinen Regeln des Wohlverhaltens und insonderheit die gesellschaftlichen Pflichten mir weit wichtiger und eindrücklicher werden.
- 3. Wenn ich am Morgen die Gelegenheiten, die sich den bevorstehenden Tag hindurch mir darbieten werden, Gutes zu thun; und die Veranlassungen, welche ich erhalten könte, Thorheiten zu begehen, mir bey meinem Gebet deutlich mache, und dann auf eine |b88| feierliche Art gleichsam Gott angelobe, ihm wohlgefällig zu handeln; so wird meine Vernunft hierdurch ausnehmend gestärkt, den Anwandlungen sinnlicher Begierden zu Ausschweifungen zu widerstehen, und das Gewissen zu einer solchen Wachsamkeit erweckt, daß ich nicht leicht von Thorheiten überrascht werden kan.
- 4. Wenn ich am Abend gleichsam im Angesicht Gottes mich prüfe, in wie fern ich moralisch besser geworden bin, und meine guten Vorsätze erfüllet habe, so erhöhet sich dadurch ungemein das moralische Vergnügen und die Selbstzufriedenheit, wenn ich die guten Handlungen überzähle, und denke, daß ich Gott dadurch wohlgefälliger geworden bin: und wenn ich Fehltritte bemerke, so untersuche ich, wie ich dazu veranlaßt worden bin, und ermuntre mich zu grösserer Vorsicht.
- 5. Indem ich Gott täglich um Abwendung der etwa besorglichen Uebel, oder Zutheilung des mir fehlenden Guten bitte, gewöhnt sich mein Gemüth, die von mir nicht abhängenden Veränderungen meines Zustandes als Fügungen einer höhern Weisheit anzusehen; es wirft mich daher kein Unglück nieder, und kein plötzliches Glück kan in mir Stolz oder Schwindel erzeugen.
- 6. Eben so verstärkt die Fürbitte für Obrigkeiten, Feinde und alle Menschen die Gewissenhaftigkeit, in Beobachtung der gesellschaftlichen und der besondern Beziehungspflichten, und erhöhet meine Gesinnungen zur gemeinnützigsten Großmuth. Auch der Dank für das Gute, was mir durch die bürgerliche Gesellschaft von Gott zugetheilet wird, erleichtert die Mittragung der gemeinen Lasten, und macht mich williger jedem Landesgesetze gewissenhaft gehorsam zu seyn.
Leider wird von den meisten Christen das Gebet für einen Frohndienst gehalten, und ist es auch gewöhnlich bey Her|b89|betung oder Lesung ohne Geist entworfner battologischer Formulare, es geschehe mit oder ohne Rosenkranz. Gute Gebetbücher, wodurch der gemeine Mann zu Selbstprüfungen und grösserer Dankbarkeit gegen Gott erweckt würde, sind noch sehr selten; es fehlet ihnen an Popularität oder an der Kraft zu begeistern.
§. 39.
Es ist wenigen Menschen, die nicht durch lange Uebungen dazu gewöhnt worden sind, sich geistige Gegenstände blos im Verstande zu denken, möglich, scharfsinnige Beweise, dergleichen das wissenschaftliche Erkentniß der natürlichen Religion erfordert, einzusehen. Das Christenthum komt auch in dieser Beziehung dem Einfältigsten zu Hülfe, indem es die transcendentesten
Wahrheiten in sinnlicher und historischer Einkleidung darbietet. Dahin gehören vorzüglich nachfolgende Vorstellungen:
- 1. Gott ist in Christo gewesen, und hat sich uns nach seiner ganzen Denkart gegen die Menschen sichtbar gemacht, Joh. 14, 6. folg. K. 12, 45. 2 Cor. 5, 19. Das Wort Gottes (ὁ λογος), eben die Stimme, welche nach Mosis Erzählungen ehemals das Licht hervorgerufen, und überall Leben hervorgebracht hat, ist in menschlicher Gestalt gesehen, gehört und empfunden worden, Joh. 1, 1 f. K. 17, 8. 1 Joh. 1, 1. Nun darf nur dem einfältigen Christen die Lebensgeschichte Jesu vorgelesen und erkläret werden, so leuchtet ihm sogleich die väterliche, nachsichtsvolle und wohlthätige Menschenliebe Gottes in jeder Beziehung in die Augen.
- 2. Der geliebteste Sohn Gottes hat in sehr dürftigen Umständen, und unter beständigen Verfolgungen der Scheinheiligen, sein wohlthätiges und verdienstvolles Leben höchst mühselig zugebracht, und ist von der gesunden Vernunft der Heiden zwar für unschuldig |b90| und tugendhaft erklärt, von dem Koncilium der Geistlichkeit aber als ein Gotteslästerer und Ketzer zu einem gewaltsamen schmerzhaften Tode verdamt worden, und unter dem Spott seiner Feinde gestorben: er ist aber nachher von Gott desto mehr erhöhet und belohnet worden. Hieraus wird auch dem schwächsten Verstande einleuchtend, daß der arme, geringe und unterdrückte Wahrheitsfreund nicht weniger von Gott geliebet werde, als der Reiche, Vornehme und Kirchengewaltige, und daß der Lohn der Tugend und Freimüthigkeit desto grösser seyn werde, je mehr man darüber gelitten hat.
- 3. Christus hat sich selbst für die Menschen aufgeopfert, und Gott hat die Welt durch ihn mit sich ausgesöhnt: folglich hat niemand mehr willkührliche Strafen wegen seiner Sünde zu besorgen; es bedarf keiner Opfer mehr, keiner Kasteyungen, keiner eignen Satisfaktionen, sondern so bald der Mensch sich bessert, treffen ihn weiter keine Uebel, als die natürlichen übeln Folgen seiner Vergehungen, die Gott nie aufhebt, sondern welche nur durch eignen Fleiß des Menschen nach und nach verringert werden können.
- 4. Christus ist am dritten Tage nach seinem Absterben wieder lebendig geworden, und mit seinen Schülern mehrere Tage hindurch umgegangen, und diese haben auf die Wahrheit dieser Begebenheit mit Freuden ihr Leben dahin gegeben. Es ist ungezweifelt, daß der Glaube an diese Begebenheit dem gemeinen Christen eine grössere Gewißheit seiner künftigen Wiederauflebung giebt, als noch kein Philosoph sich durch die tiefsinnigste Demonstration hat verschaffen können.
Dis ist zur blossen Probe, wie überaus wohlthätig die Einkleidung der höheren Religionswahrheiten in Geschichte, besonders für den grossen Haufen sey, um solche jederman leichter verständlich, anschauend und zuver|b91|lässig zu machen, hinlänglich. Es ist fast kein theoretischer noch praktischer Satz von einigem erheblichen Einfluß auf die Beruhigung und Besserung des Gemüths, welcher nicht aus der Geschichte der heiligen Schriften der Christen ein besonderes, auch für die blödesten Augen schickliches Licht erhalten solte; so wie das ganze Leben Jesu dem Nachahmungstriebe das höchste Muster der Vollkommenheit darbietet.
Unsere Kirche hat gegen die Römische eine solche Deutlichkeit der heiligen Schrift behauptet, daß jederman sie leicht zu verstehen vermögend sey. Man hat sich indes bald gezwungen gesehen, dis dahin einzuschränken, daß nicht
perspicuitas sacrae scripturae absoluta, sed ordinata ad receptivitatem lectorum restricta verstanden werde, und dies ist nun
in thesi ganz richtig, aber
in hypothesi nimt man die receptivitaet der gemeinen Christen gewöhnlich zu groß an. Ich will daher anrathen, zur Verhütung der Schwärmerey, Ungelehrten selbst die Lebensgeschichte Jesu und noch mehr die apostolischen Briefe nicht ohne einige Einleitung
in ihren rechten Verstand zum lesen und durchdenken zu empfehlen.
§. 40.
Um nun den gesamten ausserordentlich grossen Effekt, welchen das Christenthum auf die Beförderung höherer Glückseligkeit unter einem Volke haben muß, so bald es für göttlich gehalten wird, auf einmal zu übersehen; dürfen wir nur die bisher erwiesenen einzelnen Wirkungen desselben zusammen nehmen. Es waren folgende:
- 1. Das Christenthum hebt durch seine höhere Autorität alle abergläubische Begriffe von willkührlichen Gesinnungen und Anforderungen der Gottheit, welche die richtige Wirkungen der Vernunft hindern, und das natürliche Gewissen verwirren, völlig auf, und erweckt das eigene Nachdenken der Menschen zu Einsichten in ihr wahres gemeinschaftliches Wohl. §. 31. 32. |b92|
- 2. Es trägt auf eine jederman faßliche Art die vortreflichste und vollständigste Moral dergestalt vor, daß auch ein gemeiner Verstand sich in allen Fällen darnach richten kan. §. 33.
- 3. Es giebt den natürlichen Anweisungen der Vernunft zum moralischen Wohlverhalten eine höhere Autorität, indem es solche als göttlich geoffenbarte Gesetze vorträgt, von welchen in keinem Fall eine Ausnahme zu machen erlaubt ist, und verringert also die sonst so gewöhnlichen Ausnahmen von denselben. §. 34.
- 4. Es verstärkt alle natürliche Beweggründe der Tugend ausnehmend, indem es eine genaue Aufsicht Gottes auf die Gesinnungen der Menschen lehrt, und vermehret solche durch Beweggründe und Erweckung der Hofnungen zu ewigen übergrossen Belohnungen. §. 35.
- 5. Es befördert die Einsicht in das Uebergewicht der guten Bestimmungen unsres Zustandes, indem es eine moralische väterliche Regierung versichert, durch welche alle scheinbare Uebel Mittel zur Vermehrung der Wohlfart der Tugendhaften werden. §. 36.
- 6. Es eröfnet die erfreulichsten Aussichten in einen unbegränzten immer fortgehenden Wachsthum der Vollkommenheiten, und vermindert dadurch das fürchterliche des natürlichen Todes und die daraus entstehende Kleinmüthigkeit. §. 37.
- 7. Es befördert durch Empfehlung der Pflicht des Gebets das fortdaurende Bewußtseyn von dem wachsenden Uebergewicht unsrer guten Bestimmungen, erhöhet dadurch die moralische Freude, und verstärkt jede tugendhafte Fertigkeit. §. 38.
- 8. Die historische Einkleidung der allgemeinsten Vernunft und Religionswahrheiten , ist das vortreflichste Vehiculum jedem zu abstrakten Nachdenken nicht aufgelegten Menschen Einsichten und Gewißheit von |b93| allen zur Weisheit und Glückseligkeit nöthigen Wahrheiten beyzubringen. §. 39.
Hieraus folgt demnach, daß für die im Denken geübte Menschen die christliche Philosophie das vollständigste System der Anweisungen zur Glückseligkeit enthalte, zu welchen binnen 18 Jahrhunderten von der menschlichen Vernunft, so sehr sie seitdem kultivirt worden, doch noch nichts neues oder besseres hat hinzugedacht, oder erfunden werden können; und daß die Einkleidung eben dieser Anweisungen in Geschichte für den grössern Haufen der Menschen, der einzige und sicherste Weg sey, denselben höhere Weisheitslehren verständlich und gewiß zu machen.
Der Unterschied zwischen der Philosophie des Christenthums oder den eigentlichen Anweisungen desselben zur Glückseligkeit und zwischen dem in Geschichte eingekleideten Christenthum ist überaus wichtig, und empfehle ich jungen Gottesgelehrten darüber nachzudenken[.] Es ist hier nicht der Ort, und vielleicht noch nicht die rechte Zeit solches völlig auszuführen. Wer nach dieser Erweckung zur Aufmerksamkeit darauf, es nicht selbst findet, für den würde ich auch vergeblich etwas mehreres darüber sagen.