|c52| Dritter Abschnitt.
Von den natürlichen Hindernissen der höhern Glückseligkeit bey den Menschen.
§. 22.
Wir können die wahren Gründe, warum ein lebhaftes Bestreben täglich weiser und tugendhafter zu werden, und das Bewußtseyn des wirklichen Uebergewichts des Guten in unsrem Zustande, unter unserer kultivirten Nation nicht allgemeiner ist, unter zwey Hauptklassen bringen. Zur ersten Klasse rechne ich diejenigen, welche ohne Rücksicht auf die Religion blos aus unserer Natur, und aus der Entwickelung ihrer Kräfte in der Gesellschaft erkannt werden können. In die zweite Klasse stelle ich diejenigen, welche der unter uns herrschende öffentliche Vortrag der Religion enthält. Die erstern gehören in die gegenwärtige Reihe der Betrachtungen. Die Gründe der zweiten Klasse werden dagegen erst im fünften Abschnitte deutlich dargestellet werden können.
§. 23.
Zu den Hindernissen eines schnellen Wachsthums der Tugend und eines fortdaurenden Bewußtseyns des überwiegenden Guten, welche in der Natur des Menschenselbst, und in der Entwickelung unsrer Talente angetroffen werden, gehöret erstlich: daß der Mensch mit blossem Vermögen und ohne alle wirkliche Erkentniß zur Welt komt. Sämtliche Begriffe müssen durch Empfindungen eingesamlet werden, und der Verstand kan nicht die kleinste Idee aus sich selbst erzeugen, wovon nicht wenigstens die Bestandtheile vorher durch den innern oder die äussern Sinne ihm dargeboten worden wären: ob er |c53| gleich nachher die von aussen eingesamleten Begriffe verschiedentlich zusammensetzen, theilen und von einzelnen Seiten betrachten kan. Es hängt daher vom Menschen nicht ab, wie er sich die Dinge vorstellen will, sondern die Begriffe werden durch die Eindrücke der Gegenstände in die Sinne gebildet (qualis idea impressa talis expressa). So hängt auch die Reihe oder Folge der Begriffe, die sich uns aufdringen, nicht von uns, sondern von der Lage des Körpers und dessen Verhältniß gegen die ausser uns befindlichen Dinge ab. Hierdurch aber werden zugleich die Begierden bestimt, und diese sind bey Kindern ganz unmoralisch, indem sie nothwendig nach dem, was ihnen sinnlich angenehm ist, ein Verlangen, und gegen das, was ihnen sinnlich unangenehm vorkomt, einige Widrigkeit empfinden müssen. Bliebe nun ein Kind lediglich sich selbst überlassen, so würde es nie anders als sinnlich begehren und verabscheuen, und sich wenig über die mit einem vernunftähnlichen Witz versehene Thiere erheben. Der Mensch bedarf also, weil er mit blossen Anlagen zur Welt komt, einer Hülfe von aussen, wenn er zum Gebrauch der Vernunft gelangen, und ein moralisches Wesen werden soll. Joh. 3, 6. Da dis nun eine von keinem Menschen abhängende Einrichtung unsrer Natur ist, so erhellet, daß wer diesen Weg der Darstellung des Menschen für verderbend hält und tadelt, den Urheber der Natur lästert. Indes hat Gott nun auch dafür gesorget, daß allen Menschen, die ihnen nöthige Hülfe zur Entwickelung ihrer Moralität wirklich angedeihet: indem vermöge der Erfahrung, theils bey menschlichen Aeltern der natürliche Trieb der wohlthätigen Liebe gegen ihre Kinder weit länger fortdauert, als bey den Thieren gegen ihre Jungen, theils Kinder weit hülfsbedürftiger zur Welt kommen, und weit länger die Verpflegung der Aeltern bedürfen, als junge Thiere, die in wenig Tagen ihre Mutter verlassen, |c54| und sich selbst ernähren können. Durch diese dem Anscheine nach unter die Thiere uns erniedrigende Schwächlichkeit bey unserer Geburt werden wir genöthiget, uns dem Willen erwachsener im Gebrauch der Vernunft stehender Personen zu unterwerfen, und hierdurch erhalten wir die Erweckungen zum Gebrauch der Vernunft, und lernen über die Dinge im Zusammenhange nachdenken, und sie uns auch von denen Seiten vorstellen, wie sie sich den Sinnen nicht darbieten. So wie nun hieraus überhaupt erhellet, daß der Mensch, um der Moralität fähig zu werden, einer äussern Hülfe bedürfe, so ist auch nicht schwer einzusehen, wie sehr vieles in der nachmaligen Denkart eines Menschen von den ersten Entwickelungen durch die Sinne; von der Association der Ideen; von dem Unterrichte der Aeltern und Lehrer; von den Beyspielen, die man siehet; vornemlich aber von den Fertigkeiten, die man vor dem Gebrauch der Vernunft annimt und die durch Gewohnheit zur andern Natur werden, abhänge. Hieraus folgt ferner, daß bey der mangelhaften Beschaffenheit des Unterrichts und der Erziehung es manchem Menschen weit schwerer werden müsse, als andern, gute moralische Fertigkeiten nachher zu überkommen, und daß bey einigen gewisse bösartige Handlungen, als blosse Folgen der ihnen von den Aeltern beigebrachten schlechten Grundsätze und Gewohnheiten, bisweilen eine sehr geringe Moralität haben; indem solche Leute, vermöge der in sie ohne eigne Wahl gebrachten Vorstellungen und Fertigkeiten, nicht anders handeln können. Endlich fließt hieraus noch, daß ganze Nationen, so wie einzelne Kinder, äusserer Erweckungen und einer immer mehrern Aufklärung durch Unterricht zur Verbesserung der Moralität von Zeit zu Zeit bedürfen, und dis alsdenn vorzüglich, wenn gewisse unrichtige Erkentnisse und praktische Vorurtheile unter einem Volk herrschend geworden sind. Es ist demnach |c55| der Plan Gottes, daß der Mensch sich vom Thiere durch eigne Anwendung seiner Kräfte zu einer höhern Gattung mehr geistiger Wesen erheben, und daß die Aufklärung der Nationen nach und nach geschehen soll. Auch lehret die Geschichte, daß die göttliche Vorsicht von Zeit zu Zeit neue Hülfsmittel der Erleuchtung unter den Völkerschaften veranstaltet habe. Warum solches nicht allgemeiner, nicht mit schnellerm Erfolge geschieht? warum ganze Gegenden, wo schon ehedem helle Erkentnisse herrschten, wieder finster geworden sind? davon können wir die wahren Gründe nicht angeben, weil unser Standpunkt zu niedrig und unser Vorhersehungsvermögen zu kurzsichtig ist, als daß wir den Zusammenhang aller Folgen in alle Ewigkeit überschauen könten. So viel fället uns aber in die Augen, daß es zum Plan der Vorsehung gehöre, daß das gesamte menschliche Geschlecht, so wie einzelne Nationen und einzelne Menschen, nur sehr allmählig zu höhern Stufen der Einsichten und moralischen Glückseligkeit gelangen sollen. Fräget man aber noch weiter, warum eben diesem Volk z. B. anjetzt den Europäern, die vorzüglichern Hülfsmittel der Aufklärung zugetheilet worden? warum eben diese Menschen als Christen, und jene unter Wilden geboren worden ? endlich warum jener Unglückliche, dessen Körper auf dem Rabensteine uns Grausen erweckt, von Aeltern, die ihn zum Betriegen und Stehlen anhielten, in die Welt gesetzt worden, und dieser, der sein Todesurtheil gefället hat, von wohldenkenden Aeltern zu einem ehrenvollen Leben erzogen worden sey? so lege ich die Hand auf den Mund, und bewundre mit Paulus ehrerbietigst den unbegreiflichen Reichthum der Weisheit Gottes in der Mannigfaltigkeit seiner uns unerforschlichen Wege, bin aber auch mit diesem Apostel fest überzeugt, daß so wie alles von Gott ist (εξ αυτου), alles nach seinem Plan sich entwickelt (δἰ αυτου), eben so auch alles zu dem Gott |c56| allein würdigen Ziel der allgemeinen Glückseligkeit zulezt zusammen treffen werde, εις αυτον τα παντα! Nur dis kan nach den von Gott in unsern Geist gelegten Empfindungsgesetzen, uns bestimmen, auch mit Paulus zu sagen: Ihm gehöret Ehre und Ruhm in Ewigkeit! Röm. 11, 33–36.
§. 24.
Das
zweite in unserer Natur selbst gegründete Hinderniß des schnellern Anwachses moralischer Glückseligkeit ist folgendes: Der Mensch wird mit solchen positiven Naturtrieben geboren, als ihm zu seiner Erhaltung und körperlichen Wohlfart in dem Zustande der blossen Natur (worin er kein Mitglied einer kultivirten Gesellschaft ist) nöthig seyn würden, um ihm die dazu erforderliche Thätigkeit zu geben. Wenn ein Kind einen jeden, der ihm etwas nimt oder sonst wehe thut, ins Gesicht schlägt, kratzt oder beißt, so ist dis nichts moralisch Böses; denn in dem blossen Zustande der Natur müßte das Kind sich selbst vertheidigen, und also von Kindheit an sich üben, seine Kräfte zur Abtreibung der Beleidigungen anzuwenden. Daß wir nach der jetzigen Verfassung unserer bürgerlichen Gesellschaften die grosse Bequemlichkeit geniessen, von andern beschützt zu werden, ohne uns den Gefahren eines Zweikampfes oder einer Schlägerey aussetzen zu dürfen; daß Richter verordnet sind, und eine Hauptwache auf dem Markte ist, davon brauchte dem Knaben im Brandenburgischen kein Erkentniß angeboren zu werden, weil einem jeden in derjenigen Gesellschaft, darin er geboren wird, alle zum Genuß der besondern grössern Vortheile in derselben nöthige Erkentnisse durch die Erziehung beygebracht werden können. Gleiche Bewandniß hat es mit allen andern Trieben, nach welchen die Kinder handeln, und welche man aus Unverstand für sündliche Neigungen ansiehet. Sie sind alle gut, ohne sie würde man im blos natürlichen Zustande sich gar nicht erhalten können. Aber
|c57| sie müssen durch die Erziehung modificirt, nach Maaßgabe der gesellschaftlichen Einrichtung, in welcher wir zu grösserer Wohlfart gelangen sollen, und in Beziehung auf die Bestimmung zu einem gewissen Posten in solcher Gesellschaft gemässiget, und nach den Gesetzen derselben sich zu bequemen gewöhnet werden. Sie auszurotten ist unmöglich; und auch dis ist gut, indem sie uns unter solchen Umständen, wo der Schutz der Gesellschaft uns verläßt, in der nöthigen Thätigkeit unterstützen müssen. Ja selbst die aus ihnen entstehende Leidenschaften, ob sie gleich bisweilen Fehltritte veranlassen, gehören zur Schnellkraft unserer Selbstthätigkeit, und ohne sie ist kein Mensch zu Handlungen, die Muth, Standhaftigkeit und Kraft erfordern, aufgelegt. Hieraus lässet sich nun das wahre Principium der Erziehungskunst herleiten. Kinder werden mit lauter an sich guten Trieben geboren, durch deren Befolgung sie sich aber nur eine blos thierische Wohlfart im unkultivirten Zustande der Natur verschaffen könten: sollen sie der höhern Wohlfart, welche Mitglieder einer wohl eingerichteten Gesellschaft geniessen, theilhaftig werden; so müssen ihre Naturtriebe sich nach den Regeln der Ordnung in der Gesellschaft zu bequemen gewöhnet, und sie zu solchen Erkentnissen und Fertigkeiten angeleitet werden, die sie der vorzüglichen Bequemlichkeiten, welche nur brauchbaren Gliedern des Staatskörpers zu Theil werden, empfänglich machen. Kinder der Natur überlassen, heißt sie zu Raubthieren bestimmen, welches dem Plan der Vorsicht nicht gemäß ist, die eben darum Menschenkinder so spät zu genungsamen Kräften, sich selbst ernähren zu können, gelangen läßt, damit sie erzogen und zu einer gesellschaftlichen und moralischen Wohlfart gebildet werden sollen. Eben so ist es nicht gut, wenn man bey der Privaterziehung und auch wol in öffentlichen Anstalten sich möglichst nach den Kindern zu richten, und ihren
|c58| Neigungen nachzugehen sucht. Sie werden verwöhnt, und kommen nicht so gut in der Gesellschaft fort, als wenn sie sich in allerley Personen und Denkarten zeitig schicken gelernet haben. In so fern ist oft ein eigensinniger und wunderlicher Hofmeister besser, als ein gar zu nachgebender und gar zu kunstweiser Mann. Ich muß hier beyläufig auch noch des rechten Principiums für die Aufmunterungs und Zuchtmittel gedenken. Kinder können, wie schon gezeigt worden ist, die Gegenstände nicht anders, als nach der sinnlichen Empfindung und nach der Beziehung auf ihre Naturtriebe beurtheilen, und es ist ihnen daher nicht möglich einzusehen, wie das, was ihren Sinnen angenehm ist, im Zusammenhange oder in der Zukunft schädlich, und was ihnen unangenehm ist, dereinst in seinen Folgen ihnen nützlich werden solte. Man muß daher, statt der ihnen noch nicht sichtbaren und begreiflich zu machenden künftigen guten oder übeln Folgen ihres Verhaltens, willkührliche angenehme Empfindungen mit den zur künftigen gesellschaftlichen Wohlfart abzielenden Handlungen, und willkührliche unangenehme Empfindungen, mit der ihnen künftig zum Schaden gereichenden Aufführung verknüpfen, und durch diese Association der Ideen die Neigungen zweckmässiger lenken. Ein Kind wird zum Beyspiel, auch wenn es ihm verboten worden ist, von Obst und andern Eßwaaren naschen; dis ist Naturtrieb. Daß es künftig sich dadurch in der Gesellschaft entehren und um viele Vortheile bringen würde, läßt sich ihm noch nicht anschauend machen. Muß es aber dafür einen halben Tag hungern, oder bekomt es die Ruthe; so überwiegt künftig die Vorstellung dieses sinnlichen Uebels den sinnlichen Trieb zum Naschen, und es wird derselbe hiemit gemässiget, daß in der Folge die Vernunft, so bald sie allgemeine Vorschriften und deutliche Beweggründe einzusehen im Stande ist, denselben zu lenken vermag. Soll
|c59| ein Kind lesen lernen, so muß es durch sinnliche Belohnungen zum Fleiß erweckt werden, denn an sich ist diese Beschäftigung ihm natürlich unangenehm, und von dem künftigen Nutzen kan es keine klare und wirksame Vorstellungen haben. Hieraus ergeben sich folgende allgemeine Regeln:
- 1. Man muß gute Handlungen nicht durch Strafen erzwingen, sondern möglichst durch Belohnungen zu befördern suchen; weil sie alsdenn mit mehrerer Lust, und folglich mit Anwendung mehrerer Kraft und demnach vollkomner verrichtet werden, auch leichtter eine Fertigkeit in ähnlichen Fällen auf ähnliche Art sich zu verhalten erweckt wird.
- 2. Bey Züchtigungen sind so viel und so starke unangenehme Empfindungen zu veranlassen, als bey jedem einzelnen Kinde nöthig sind, dem sinnlichen Reize zu Unarten das Gegengewicht bis zur Reife des Verstandes zu halten, damit solche nicht vorher schon zu bösen Gewohnheiten werden.
- 3. Man muß Belohnungen und Züchtigungen möglichst den guten und üblen Folgen, welche gewisse Handlungsarten in der Societät haben, analogisch und proportionirt einrichten. Z. E. Gewaltthätigkeit gegen andere Kinder durch schmerzhafte Strafen; Lügen durch Beschämung und Aeusserung eines fortgesetzten Mißtrauens gegen des Kindes Aussagen.
- 4. Niemals muß man das Erlernen oder sonst eine nützliche Uebung Kindern zur Strafe machen, weil hierdurch ein Widerwille gegen das Gute erregt wird. Aller Unterricht muß ihnen stets als Wohlthat erscheinen.
Aus diesen Betrachtungen erhellet nun abermals, wie Versäumnisse und Fehler in der Erziehung bösartige Gewohnheiten vor dem Gebrauch des Verstandes veranlassen können, und daß daher in Absicht der Erwachse|c60|nen ein öffentlich Lehramt nützlich sey, um jeden durch Unterricht und Erinnerung bey der nachmals schwer fallenden Besserung zu Hülfe zu kommen. In dieser Beziehung solten sich die Prediger, als freundschaftliche von den Häuptern der Societät verordnete Rathgeber des Volks betrachten, und in ihren öffentlichen Vorträgen die allgemeinen Regeln des gesellschaftlichen Wohlverhaltens ins Licht setzen, Beweggründe und Hülfsmittel der Ausübung an die Hand geben und zur willigen Beobachtung der zum allgemeinen Besten abzielenden Landesgesetze aufmuntern; damit niemand allererst durch positive Zwangsmittel, wie ein unartiges Kind, von der Obrigkeit genöthiget werden dürfte gut zu seyn.
Aus dem hier angegebenen wahren Principium der Erziehung erhellet, in wie fern Roußeau Recht habe, wenn er die Naturtriebe für gut erklärt, und in wie fern er bey den daraus gefolgerten Regeln für die Erziehung sich geirret habe. Mehr Entwickelung über die Erziehungsregeln findet man theils in der Nachricht von der jetzigen Verfassung der Erziehungsanstalten in Züllichau von 1786. theils im 3ten Heft meiner philosophischen Unterhaltungen.
§. 25.
Der dritte natürliche Grund, warum das von allen in der Gesellschaft erzogenen Menschen so leicht zu erlangende Erkentniß der moralischen Vorschriften, doch nicht eine so allgemeine und fortdaurende Wirksamkeit auf die Gesinnungen und Handlungen beweiset, als man vermuthen solte, ist dieser: daß zwar die Vernunft leicht und oft veranlasset wird einzusehen, wie die Tugend auf die Verbesserung des gemeinsamen und privat Wohls, so wie das Laster zu allgemeinen Zerrüttungen und unsrem eigenen Schaden abzielet, daß aber nach dem Lauf der Welt es öfters Fälle giebt, wo die Tugend uns nachtheilig zu werden, und eine nicht allzugewissenhafte Beobachtung der Moral uns leichter und geschwinder glücklich |c61| machen zu können scheinet. So lange nun der Mensch die moralischen Vorschriften nicht für so allgemein hält, daß sie ihn in allen einzelnen Fällen richtig leiten, sondern unter einigen Umständen Ausnahmen davon zu machen für erlaubt ansiehet, so gehört nicht viel dazu, ihn nach und nach zu gänzlicher Gewissenlosigkeit zu verleiten. Es ist kein Dieb, der nicht die Ehrlichkeit für etwas ihm und andern nützliches ansehen solte. Allein er glaubt von Zeit zu Zeit sich in dem Falle zu befinden, wo eine Ausnahme von der Regel gemacht werden müsse. Hieraus folget, daß der Mensch um stets gewissenhaft zu seyn, erst überzeugt werden müsse, die Tugend mache in allen Fällen glücklicher, als ein Vergehen gegen die Gesetze, und es sey keine Ausnahme von den Vorschriften des Gewissens in irgends einem Falle ihm unschädlich. Diese Ueberzeugung von selbst in einem solchen Grade zu erhalten, daß sie allen Versuchungen widerstehen könte, erfordert eine sehr geübte Vernunft, und es ist offenbar, daß die meisten Menschen sich solche nicht verschaffen können. Hieraus erhellet abermals der Nutzen eines öffentlichen Lehramtes, wenn dieses auch nur die Probabilität von der Allgemeinheit des Nutzens der Tugend in allen einzelnen Fällen verstärkte, und die Ausnahmen, welche das Volk von moralischen Vorschriften zu machen sich erlaubt, nach und nach immer mehr verringerte.
§. 26.
Ein vierter Grund des natürlichen Mangels höherer Grade der Glückseligkeit liegt darin, daß, indem wir durch den Grundtrieb unserer Selbstthätigkeit immerfort gereizt werden, auf Verbesserung unseres Zustandes zu sinnen, unsere Aufmerksamkeit fast gänzlich blos auf die Veränderungen unsres Zustandes gezogen wird, und wir darüber die bleibenden und fortdaurenden Bestimmungen desselben ganz aus der Acht lassen. Vieles von dem Guten, was Menschen von Kindheit |c62| an besitzen, wird von ihnen gar nicht als etwas Gutes beahndet, und erst dann, wann sie es verlieren, fangen sie an, den Werth desselben zu schätzen. Ein Mensch, der tausend Bequemlichkeiten besitzet, und eine davon verlieret, kan Tage lang sich für unglücklich halten, und sich dem rohesten Mißvergnügen überlassen, ohne die 999 Gründe zur Zufriedenheit, die ihm noch übrig sind, zu überdenken. Hierzu komt, daß indem wir immerfort nach Verbesserung streben, wir oft mehr wünschen und zu erlangen uns Hofnung machen, als nach der Ordnung der Dinge von uns erlangt werden kan. Wenn sich alsdann auch wirklich unser Zustand verbessert: so sind wir doch wol noch misvergnügt, blos weil die Verbesserung nicht so groß ist, als wir erwartet hatten. Hieraus erhellet nun abermals sehr deutlich, daß die Naturtriebe an sich gut sind, daß aber, wenn man sich denselben lediglich überläßt, die höhern Grade der Glückseligkeit nicht entstehen können. Denn es ist ohnstreitig besser, daß wir mit dem stets regen Triebe unsren Zustand vollkomner zu machen geboren werden, als wenn wir mit der Neigung zur Welt kämen, uns mit dem, was wir schon Gutes haben, zu begnügen, und mit der Einerleiheit unsrer Bestimmungen zufrieden zu seyn. Alle Thätigkeit würde dabey ermatten, und wir würden nach Art einiger faulen Leute nicht eher unsre Kräfte anwenden, etwas zu unsrem Besten zu thun, bis alles, was wir anfänglich hatten, aufgezehret wäre, und uns die Noth zur Arbeit zwänge. Allein obgleich der Trieb uns immer zu verbessern gerade zu auf Vermehrung der Vollkommenheit, und also auf Vermehrung der wahren Gründe zur Glückseligkeit, abzielet, so werden wir doch nur dadurch gereizt, Mittel zu dauerhafter Zufriedenheit und Vergnügen wirklich zu machen, nicht aber bis zum Zweck selbst, das vorhandne und erworbne Gute mit vollem Bewußtseyn zu geniessen und eine fortdau|c63|rende Zufriedenheit in uns zu erhalten, geführt. Es bedarf also der Mensch auch von dieser Seite einer äussern Hülfe, um zu höherer Glückseligkeit zu gelangen. Das öftere Ueberdenken aller Bestimmungen unsres Zustandes, die gehörige Schätzung und Zusammenrechnung alles des Guten, was wir besitzen, die richtige Abwägung desselben gegen die wirklich vorhandenen Uebel, endlich das beständige Bewußtbleiben des grossen Uebergewichts des Guten, dis alles sind Geistesgeschäfte, zu welchen wir durch keinen Naturtrieb gereizt, sondern erst durch Unterricht angeleitet werden müssen, und wozu öftere Erweckungen zur Uebung, ehe wir zu einer Fertigkeit in denselben gelangen, von aussen her nöthig sind. Man siehet hieraus abermals, wie sehr das öffentliche Lehramt zur Verbreitung mehrerer Glückseligkeit in einer Nation nützlich werden kan, wenn es die Menschen auf die Menge des Guten, was sie ohne es zu beahnden besitzen, aufmerksam macht: den Werth desselben ins Licht setzt; die anscheinenden Uebel, als Mittel zu grösserer Vollkommenheit, im Zusammenhange vorstellt; anschauende Erkentnisse des Uebergewichts des Guten, zum öftern veranlaßt; und endlich Mittel sich derselben immer bewußt zu bleiben öffentlich bekant macht, und zum Gebrauch derselben kräftig ermuntert.
Wir werden im folgenden zeigen, daß die vom Christenthum so angelegentlich empfohlne Pflicht des Gebets, und insonderheit des Dankgebets, das natürlichste und wirksamste Mittel sey, ein öfteres Bewußtwerden des Uebergewichts des Guten in unsrem gesamten Zustande zu veranlassen, und daß die öftere Uebung des Gebets nach und nach die Fertigkeit, uns unserer vortheilhaften Verhältnisse und Aussichten bewußt zu bleiben, nach den psychologischen Gesetzen des Denkens hervorbringen müsse.
§. 27.
Der fünfte Grund, warum Menschen zum öftern nicht so gut handeln, als es nach ihren Einsichten |c64| möglich wäre, und sich hierdurch höherer Grade der Glückseligkeit verlustig machen, ist schon mehr allgemein erkant, als die vorhergehenden. Es ist dieser: die äussern Eindrücke bringen in unsrer Seele, auch wenn wir schon im völligen Gebrauche der Vernunft stehen, blos sinnliche Erkentnisse hervor, und dabey verhält sich die Seele mehr leidentlich, als selbstthätig. Mit jeder sinnlichen Vorstellung entstehet eine derselben gemässe Begierde, ohne daß wir es verhindern können, und wir sind natürlich geneigt, derselben gemäß uns zu bestimmen. Ob nun gleich jeder im Gebrauch der Vernunft stehende Mensch an sich das Vermögen hat, ehe er sich nach den sinnlichen Begierden entschließt, vorher zu überlegen, ob das ihm sinnlich als gut erscheinende, auch nach seinen Folgen im Zusammenhange, und nach moralischen Vorschriften gut sey: so findet sich doch, diese Ueberlegungen anzustellen, in uns kein natürlicher Trieb, sondern die Geneigtheit und Fertigkeit zu überlegen, muß blos durch Uebung hervorgebracht werden. So lange sie daher noch schwach ist, wird der Mensch sich oft, ehe er überlegt hat, von den sinnlichen Begierden hinreissen lassen, etwas zu thun, was er bey nachheriger Ueberdenkung mißbilligen muß. Ueberdis giebt es Fälle, worinnen auch geübte von ihren sinnlichen Begierden überrascht werden, und wo die Vernunft nicht stark genung ist, dem sinnlichen Reize und den Naturtrieben zu widerstehn. Dahin gehört zum Beyspiel: wenn in dem Augenblicke des Entschlusses das sinnlich Gute sich sehr klar, und durch starke Bewegung der materiellen Ideen sehr lebhaft, die gegenseitige Beweggründe aber sich eben deswegen nur schwach und blos symbolisch vorstellen, auch wol die üblen Folgen im Zusammenhange noch sehr entfernt, ungewiß und vermeidlich erscheinen; oder auch, wenn der Entschluß schnell gefaßt werden muß, weil die Gelegen|c65|heit zu handeln vorbey eilt, und also zu überlegen nicht Zeit ist: in allen diesen Fällen wird auch der Klügste und Tugendhafteste straucheln, und unter ihnen derjenige am ersten, der die meiste Thätigkeit und Schnellkraft besitzet. Dieser Fehltritte werden von selbst immer weniger, weil man durch die Folgen eines jeden derselben zu mehrerer Vorsichtigkeit erwecket wird. Allein wer blos durch die Menge eigner Erfahrungen die Behutsamkeit erlernen soll, verlieret einen allzu grossen Theil seiner Wohlfart; weil oft eine einzige leidenschaftliche Handlung, eine einzige Uebereilung, uns den Verlust eines sehr ansehnlichen Theils unsres Glücks zuziehen kan. Auch hier muß man daher den Menschen zu Hülfe kommen. Dis geschiehet, indem man theils die moralischen Vorschriften und alle Beweggründe zu ihrer Beobachtung ihnen zum öftern vorhält und hierdurch die Vorstellung derselben bey ihnen habitueller macht; theils wenn man die gewöhnlichsten Beyspiele der leidenschaftlichen Uebereilungen und derselben üble Folgen ins Licht setzt; theils indem man die Veranlassungen zu denselben und die Mittel solche zu vermeiden, und ihnen, wenn sie uns überraschen, dennoch zu entrinnen, bekant macht, und zur täglichen Vorausüberdenkung der Gelegenheiten, die uns zum Uebereilen verleiten könten, erweckt.
Wird das öffentliche Lehramt dazu verwandt, so ist es in die Augen fallend, daß es Klugheit und Vorsichtigkeit befördert, und mithin die Glückseligkeit um so viel vermehre, als es die Uebereilungen zum Nachtheil derselben vermindert.
Es verhält sich mit den Geistesfertigkeiten des Menschen, wie mit den körperlichen. Beyderley Fertigkeiten erwachsen lediglich aus eignen Uebungen. So wie ein Kind, ehe es gehen und laufen lernt, öfters fället, aber eben hierdurch immer vorsichtiger wird, so strauchelt auch unser Geist bey dem ersten selbstthätigen Versuch auf der Laufbahn zur Glück|c66|seligkeit zuvörderst sehr oft, nach und nach immer seltener. Jeder Fehltritt macht uns behutsamer. Und wie ein lebhafter Mensch bey grösserer Schnelligkeit im Laufen öfter in Gefahr komt zu fallen, und wirklich fällt, als ein mit phlegmatischer Langsamkeit alle Schritte abzählender Mensch; der erste aber, ob er gleich öfter fället, doch gewiß viel weiter kommen wird, als der letztere: so können auch die thätigsten Geister durch ihre Lebhaftigkeit zu schwerern Fällen veranlaßt werden, als schwache Köpfe, demohnerachtet aber höhere Grade der Glückseligkeit vor jenen ersteigen.
§. 28.
Zu den Hindernissen des schnellern Fortganges zu höhern Graden der Glückseligkeit gehöret sechstens die Geneigtheit aller Menschen, sich nach andrer Beyspiel zu richten, und sich nach den herrschenden praktischen Meinungen ihrer Nation zu bestimmen. Da die Begierde nachzuahmen ein Naturtrieb ist, so muß an sich mehr Gutes als Böses dadurch bewirkt werden; und dis lehrt auch die Erfahrung, indem unsre Vernunft und Sitten am meisten durch Umgang gebildet werden. Allein da oft schlechte Muster gewählt, und ohne Unterschied das Böse so wol, wie das Gute nachgeahmet wird, so ist offenbar, daß hier abermals auch erwachsene Menschen noch oft der Hülfe des Unterrichts und der Warnungen vor üblen Beyspielen bedürfen. Eben so ist die allgemeine Geneigtheit, sich nach den herrschenden praktischen Meinungen seiner Nation zu richten, mehr vortheilhaft als schädlich, indem alle so genannte Vorurtheile a potiori wahr sind, und also öfter richtig als unrichtig führen; weil sie nur bey der Anwendung auf die wenigen Fälle, von welchen sie nicht abstrahiret sind, auf Abwege leiten. Es ist in dieser Absicht für jede Nation ein grosses Beförderungsmittel der Glückseligkeit, wenn weise Männer in öffentlichen Vor|c67|trägen die herrschenden Maximen berichtigen, das Gute der Vorurtheile benutzen, und die Fälle, wo sie irre führen, deutlich ins Licht setzen.
Vorurtheile sind partikuläre wahre Sätze, welche aber, in so fern sie als allgemeine Wahrheiten zu Prämissen unsrer Schlüsse gebraucht werden, bisweilen einen falschen Schlußsatz veranlassen. Z. B. der Satz: was ein gelehrter und frommer Mann versichert, das ist wahr; wird diejenigen, die nicht selbst die innern Gründe des wahren und falschen einer Behauptung prüfen können, in den meisten Fällen richtig und nur bisweilen irre führen. Aber eben diese Leute würden bey dem Unvermögen selbst zu untersuchen ganz ohne Einsichten bleiben, wenn sie nicht geneigt wären, diesen Satz für allgemein wahr zu halten. Im Ganzen sind daher Vorurtheile mehr nützlich als schädlich, besonders in praktischen und in solchen Fällen, wo keine Suspension des Urtheils und Entschlusses statt findet. Nur Gelehrte müssen in dem Felde der menschlichen Kentnisse, darin sie Führer der Layen seyn wollen, alles selbst erforscht haben, und sich nicht von ihren Vorgängern blindlings leiten lassen.
§. 29.
Zuletzt und siebentens gehören zu den allgemeinen Hindernissen der höhern Glückseligkeit die falschen Religionsbegriffe, durch welche theils die richtige Anleitungen des natürlichen Gewissens vereitelt, theils ungegründete moralische Beängstigungen veranlasset werden. Ich rechne alle falsche Religionsbegriffe insgesamt, ob sie gleich bey den verschiednen Nationen und Religionspartheyen sehr verschieden sind, doch unter die natürlichen allen Menschen gemeinen Hindernisse höherer Glückseligkeit; weil sie alle darauf hinauslaufen, daß man der Gottheit eine willkührliche Denkart zuschreibt, und sich daher überredet, daß sie den Menschen willkührliche Gesetze vorschreibe, und willkührliche Strafen mit |c68| deren Uebertretung verbinde. Auf diese Begriffe aber kommen die Menschen alle auf einem und demselben Wege, indem wir alle natürlicher Weise nur durch analogische Schlüsse zu Erkentnissen der Gottheit gelangen können. Der erste Grundbegrif von dem höchsten Wesen, worinnen alle Völker übereinkommen, ist der Begrif von einer alles überwältigenden Macht. Nun abstrahirt sich ein jeder entweder von der Handlungsart der Mächtigsten seines Landes die Denkart, welche er der Gottheit beymißt, oder er urtheilt nach seinem eignen Charakter, und glaubt, die Gottheit handle so, wie er selbst handeln würde, wenn er eine allgewaltige Kraft besässe. Es ist hier der Ort nicht, ausführlich vorzustellen, was für unbeschreiblichen Schaden alle Begriffe von etwas willkührlichem in der Denkart und dem Verfahren der Gottheit gegen die Menschen von je her angerichtet haben. Wem kan es aber auch aus der Geschichte unbekant seyn, wie die Menschen, um sich der Gottheit wohlgefällig zu machen, bald sich des Genusses der unschuldigsten Vergnügungen des Lebens beraubt, bald sich den Geschäften in der Gesellschaft ganz entzogen, und durch allerley lächerliche Uebungen und Selbstpeinigungen ihr Leben für sich und andre unnütz und elend gemacht; bald Schandthaten zur Ehre der Gottheit begangen; und endlich sogar über Lehrformeln in der Religion gegen einander gewütet haben. Hier ist nur überhaupt der sehr wichtige Satz zu recht genauer Prüfung und allgemeinen Anwendung allen öffentlichen Lehrern zu empfehlen: daß Gott nach seiner höchsten Weisheit den Plan in der Natur so vollkommen gemacht habe, daß es keiner Abänderung oder Zusätze zu dem Naturgesetze bedarf, sondern alle wahre göttliche Offenbarungen nur dazu nöthig sind und wirklich abzielen, uns auf den Plan Gottes in der natürlichen Einrichtung unsrer selbst, und der ausser uns vorhandenen Dinge aufmerksam zu machen, solchen ins Licht |c69| zu setzen, und gleichsam näher, und in gerader Linie uns vor die Augen zu stellen. Alles willkührliche führt von dem natürlichen wahren Wege zur Glückseligkeit ab, verwirret die Gewissen, und bringt nothwendig eine Menge Kollisionen, und daraus erwachsender moralischer Beängstigungen hervor. Ich trage daher kein Bedenken geradehin zu behaupten, daß das öffentliche Lehramt nach dem Maaß nützlich oder schädlich sey, nach welchem es die Begriffe von willkührlichen Forderungen Gottes verringert, oder vervielfältiget, und daß es ein Hauptzweck der christlichen Religion sey, die Begriffe von aller Willkühr in Gottes Verhalten gegen uns völlig zu vertilgen. Dieses wird im folgenden Abschnitt zu immer größrer Deutlichkeit entwickelt werden.
Dis ist das πρωτον ψευδος, die Urquelle aller Unrichtigkeiten und aller Verwirrung im theologischen System, daß man von einer göttlichen Offenbarung Entdeckungen solcher Begriffe und Sätze erwartet, die nicht in der Natur der Dinge gegründet sind; daher hascht man nach Geheimnissen und Unbegreiflichkeiten, welche den Verstand doch mehr verfinstern als aufklären, und kein Licht über den Weg zur Glückseligkeit verbreiten können.