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  <div type="chapter" xml:id="bs_f_1">
    <head><pb xml:id="bs_f_page_1" edRef="#f" type="sp" n="1"/>
      <choice>
        <orig>1.<lb/>Was ist christliche <index indexName="subjects-index">
            <term>Religion</term>
          </index>Religion? was ist unter diesem Ausdruck zu verstehen?</orig>
        <supplied reason="toc-title">Was ist christliche Religion? was ist unter
                            diesem Ausdruck zu verstehen?</supplied>
      </choice>
    </head>
    <p>So bekannt und geläufig dieser Ausdruck ist, so sehr unbestimmt und ungleich ist
                    doch immer der <index indexName="subjects-index">
        <term>Religion, Begriff der christlichen</term>
      </index><hi>Begriff</hi>, der damit von denen verbunden wird, welche von der
                    christlichen Religion sich diese oder jene Vorstellung machen. Weder alle <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_1"/><index indexName="subjects-index">
        <term>Liebhaber und Teilnehmer</term>
      </index>Liebhaber oder Theilnemer an christlicher Religion haben einerley
                    Begriff davon, noch alle jene andern Religionsparteyen, welche eine
                        <hi>jüdische, muhamedanische, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_2"/>braminische, – – <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_3"/>natürliche</hi> Religion geradehin und immerfort
                    aller christlichen Religion vorziehen. Diese Frage müste also getheilet werden;
                    was begreift die christliche Religion bey denen, welche selbst <index indexName="subjects-index">
        <term>Liebhaber und Teilnehmer</term>
      </index>Liebhaber und Theilnemer sind? und was für Vorstellung und Begriffe
                    haben hingegen alle jene Anhänger an eine Religion, die das <pb xml:id="bs_f_page_2" n="2" edRef="#f"/> Beiwort <hi>christliche</hi> nicht
                    hat? Nun müste man weiter fragen, woher kommt der stete Unterschied nicht nur
                    der Anhänger der christlichen Religion von allen andern, die daher Unchristen
                    heissen; sondern auch der so vielen christlichen Parteien selbst, die sich von
                    dem Anfange ihrer neuen besondern Religion an bis hieher, weder in dem
                    Hauptinhalte, noch in der Uebung ihrer christlichen Religion haben <index indexName="subjects-index">
        <term>vereinigen</term>
      </index>vereinigen können, oder vielmehr nicht haben vereinigen <hi>wollen</hi>?
                    Diese Frage würde nun wieder dieses in sich fassen: ist der erste und
                    fortdauernde Grund dieses Unterschieds der christlichen und unchristlichen
                    Religion in diesen getheilten Menschen selbst, oder ausser ihnen in äusserlichen
                    Umständen, oder in beiden Quellen zugleich zu suchen? Nun müssen wir die
                    Anhänger dieser so verschiedenen <index indexName="subjects-index">
        <term>Religionsform</term>
      </index>Religionsformen selbst zuerst antworten lassen, was sie von dem ersten
                    Ursprunge und Anfange ihrer Religion, in so fern sie eine <hi>neue</hi> Religion
                    heißt, wissen oder glauben; und nun wird sich zunächst finden, daß überall, oder
                    bey allen Religionsparteien, eine <hi>äussere <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, äußere</term>
        </index>Religion</hi>, oder ein bürgerlich festgesetztes Verhältnis
                    öffentlicher oder gemeinschaftlicher feyerlicher Handlungen das neue besondere
                    Band einer jeden Re<pb xml:id="bs_f_page_3" n="3" edRef="#f"/>ligionspartey
                    ausmacht. Es ist <index indexName="subjects-index">
        <term>bürgerlich</term>
      </index><hi>bürgerlich festgesezt</hi>, daß es so viel öffentliche <index indexName="subjects-index">
        <term>Religionsdiener</term>
      </index>Religionsdiener geben soll, deren öffentliche oder feierliche
                    Verrichtungen und Geschäfte einmal wie allemal, ihnen <choice>
        <sic>zuge theilt</sic>
        <corr type="editorial">zugetheilt</corr>
      </choice> und bestimmt sind; Geschäfte, welche sonst niemand verrichten darf, er
                    mag übrigens noch so sehr von der ungezweifelten Wahrheit des Ursprungs dieser
                    gemeinschaftlichen Religion, und von dem Vorzuge dieser also bestimmten
                    Verehrung der Gottheit, sich selbst überzeugt finden. Diese <index indexName="subjects-index">
        <term>Religionsform, öffentliche</term>
      </index><hi>öffentliche</hi> Religionsform, woran die gemeinen Mitglieder, die
                    nicht selbst Religionshandlungen verrichten, nur <hi>leidender Weise</hi> oder
                    durch vorübergehende <hi>Subordination</hi> an die bestellten Religionsdiener
                    theilnemen, beruhet ganz auf der Einrichtung oder Einwilligung der zusammen
                    gehörigen Gesellschaft, in Absicht der <hi>festgesetzten <index indexName="subjects-index">
          <term>Umstände, festgesetzte</term>
        </index>Umstände</hi>, unter welchen die Mitglieder die jedesmalige
                    gemeinschaftliche Darstellung und Uebung des Betragens wiederholen, welches sie
                    also zur öffentlichen Verehrung der Gottheit rechnen, daß sie es für eine ihnen
                    unerlaubte oder sündliche Aufführung halten, wenn sie nicht diese kentlichen
                    feierlichen Merkmale ihrer gesellschaftlichen oder brüderlichen Verbindung eben
                        <pb xml:id="bs_f_page_4" n="4" edRef="#f"/> so gegen andre darlegen, als von
                    andern annemen wollten. Alle feierliche Handlungen, die von den öffentlichen
                    Religionsdienern einmal wie allemal verrichtet werden, beziehen sich auf die
                        <hi>erste Historie</hi>, auf den ersten Anfang aller Religionsparteyen; und
                    sind in dieser Absicht der <hi>stete Grund</hi> von der Fortdauer dieser
                    besondern Religionsparteien, die neben der neuen Religionsform auch gemeiniglich
                        <hi>einen neuen besondern <index indexName="subjects-index">
          <term>Staat</term>
        </index>Staat</hi> ausmachen; so klein auch die Bedeutung dieses Namens,
                        <hi>neuer Staat</hi>, anfänglich seyn mochte, ehe sein Umfang groß genug zu
                    seyn schien, sich aus der bisherigen Stille und Verborgenheit nun öffentlich
                    aufzustellen, und mit dem übrigen grössern Staat entweder sich zu messen, oder
                    in ein solches Verhältnis zu sezen, durch Verträge oder gute Anerbietungen, als
                    man wirklich zu erlangen zur Zeit hoffen konte.</p>
    <p>Aber neben dieser <hi>öffentlichen Religionsform</hi>, welche alle Mitglieder
                    durch ihre Einwilligung in einer besondern Verbindung mit einander erhält, die
                    mit ihrer bürgerlichen Verfassung immer zusammen hängt: gibt es unter allen
                    Religionsparteien auch eine <hi>innere</hi> oder <index indexName="subjects-index">
        <term>Privatreligion</term>
      </index><hi>Privat-Religion</hi> vieler ein<pb xml:id="bs_f_page_5" n="5" edRef="#f"/>zelnen Menschen, die übrigens immer zu der öffentlichen
                    Religionsform, als öffentliche Mitglieder gehören können; wiewol es auch
                    bürgerlich hie und da (leider unter den Christen am wenigsten,) frey stund,
                    seine Gegenwart jener öffentlichen feierlichen Versammlung zu entziehen; wenn
                    nur sonst die bürgerlichen oder gesellschaftlichen Abgaben ferner entrichtet
                    wurden, welche zur Erhaltung der öffentlichen <index indexName="subjects-index">
        <term>Religionsdiener</term>
      </index>Religionsdiener, oder Gebäude, oder zu andern legitimen Beyträgen,
                    gehörten. In jedem Staat war eine <index indexName="subjects-index">
        <term>Religionsform, öffentliche</term>
      </index><hi>öffentliche</hi> Religionsform zunächst zum festern Bande der
                    bürgerlichen Gesellschaft <hi>durch Gesetze</hi> eingefüret; ohne die
                    freistehende <index indexName="subjects-index">
        <term>Privatreligion, moralische</term>
      </index><hi>moralische</hi> Privat-Religion den einzelnen Mitgliedern der
                    bürgerlichen Gesellschaft hiemit zu untersagen; sie mußten sie nur der
                        <hi>öffentlichen</hi> Religion nicht entgegen stellen und einen neuen Staat
                    anfangen wollen. Diese <index indexName="subjects-index">
        <term>Privatreligion</term>
      </index><hi>Privat-Religion</hi> so wol unter den Christen als Unchristen war zu
                    allen Zeiten da, neben der öffentlichen oder gesellschaftlichen Religionsform,
                    aber auch immer eben so verschieden, eben so ungleich als diese; wenn gleich
                    alle <index indexName="subjects-index">
        <term>Liebhaber und Teilnehmer</term>
      </index>Liebhaber und Theilnemer ebenfalls darin übereinkommen, daß sie in ihrem
                    Thun und Lassen der <index indexName="subjects-index">
        <term>Gottheit</term>
      </index>Gottheit ihre <index indexName="subjects-index">
        <term>Verehrung Gottes</term>
      </index>Ver<pb xml:id="bs_f_page_6" n="6" edRef="#f"/>ehrung, ihre Danksagung,
                    ihre Zuversicht, in stillem eignen Bewustseyn beweisen wolten; wie alle
                    Theilnemer an einer öffentlichen Religion es voraussetzten, daß diese feierliche
                        <index indexName="subjects-index">
        <term>Ordnung, feierliche</term>
      </index>Ordnung der Gottheit mehr gefalle, als wenn sie eine andre Art der
                    Verehrung einfüren wollten. Bey aller öffentlichen Religionsform ist ein
                    besonderer <hi>Charakter</hi>, der in der wirklichen oder vorausgesetzten
                    Historie einer Nation oder der bürgerlichen Gesellschaft seinen Grund hat, und
                    also gewis nicht zugleich für andere Staaten oder Nationen sich anpassen läßt,
                    so lange diese ihrer ebenfals besondern alten Geschichte den Vorzug noch geben
                    können; oder keine neue Historie erleben, welche ihnen nun wichtiger ist, als
                    die Religionsform, welche sie ehemals vorzogen. Es ist ganz ausgemacht, daß die
                    öffentliche Religionsform nur so lange noch fortgesezt wird, als die
                    Gesellschaft selbst eine solche Einrichtung ihrem übrigen ganzen bürgerlichen
                    Zustande für gemäs und nützlich ansiehet. Denn die <hi>öffentliche</hi>
                    Religionsverbindung ist geradehin auf einer bürgerlichen Einwilligung gegründet,
                    und sie enthält stets kenntliche Merkmale eben dieser besondern Gesellschaft,
                    welche sich <index indexName="subjects-index">
        <term>wissentlich vereinigt</term>
      </index>wissentlich zu einer solchen öffentlichen <pb xml:id="bs_f_page_7" n="7" edRef="#f"/> Religionsform vereiniget. Wie es blos von den <index indexName="subjects-index">
        <term>Umstände, äußerliche</term>
      </index>äusserlichen <index indexName="subjects-index">
        <term>Umstände, lokale</term>
      </index><hi>localen</hi> Umständen einer christlichen Gesellschaft abhängt, ob
                    sie so oder so viel <hi>Religionsdiener</hi> halten kann und will, ob sie
                    schlechte oder prächtige <index indexName="subjects-index">
        <term>Religionsgebäude</term>
      </index>Religionsgebäude unterhalten kann; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_4"/>ob sie 2 oder 3mal an Sontagen und Festtagen sich
                    versammeln will; ob alle Sontage, oder alle Monate Abendmal gehalten werden
                    soll: so ist es überhaupt von der ganzen äußerlichen oder öffentlichen
                    Religionsform wahr, daß sie, weil sie <index indexName="subjects-index">
        <term>lokal</term>
      </index><hi>local</hi> ist und bleibt, nur einen menschlichen, bürgerlichen
                    Ursprung hat und behält. Alle Religionsparteien in alten Zeiten haben zu dem
                        <hi>Anfange</hi> einer Religionsordnung ein göttliches Ansehen
                    vorausgesetzt; weil man in allen Zeiten und in allen Theilen des Erdbodens, wo
                    Menschen wonten, die Gottheit gleich gut als unsichtbare Ursache neuer großen
                    Begebenheiten nennen konnte; aber die besondere <index indexName="subjects-index">
        <term>Lokalität</term>
      </index><hi>Localität</hi> brachte einen steten Unterschied aller
                    Religionsformen mit sich, nach dem steten Unterschied der Völcker, die ihre
                    Gesellschaft nun durch ein gemeinschaftliches Band der Gesammtreligion, oder
                    durch <index indexName="subjects-index">
        <term>Einheit der Religionsform</term>
      </index>Einheit der Religionsform zu einem festen fortdauernden Ganzen
                    vereinigen wolte. Daher eine feierliche Einheit <pb xml:id="bs_f_page_8" n="8" edRef="#f"/> der Merkmale eingefürt worden, wodurch die Mitbürger einander
                    als fernere Theilnemer an einer gemeinschaftlichen öffentlichen Verehrung der
                    Gottheit immer erkennen, und sich auf die Wahrheit und Gewißheit bürgerlicher
                    Verträge verlassen könnten. Die nächste Absicht aller öffentlichen
                    Religionsformen war diese bürgerliche <index indexName="subjects-index">
        <term>Vereinigung</term>
      </index>Vereinigung und Sicherheit alles bürgerlichen Wohlstandes; wenn man auch
                    von Wohlthaten oder vom Zorn der Götter öffentlich redete, verstund man immer
                    bürgerliches oder häusliches Wohlergehen, das zunemen oder abnemen würde; auf
                    moralische <index indexName="subjects-index">
        <term>Privatreligion, moralische</term>
      </index>Privat-Religion, in so fern sie auf fortgehender <hi>eigener</hi>
                    Erkenntnis und ihrer Anwendung beruhet, war die öffentliche oder
                    gemeinschaftliche Religions-Form, welche alle Mitglieder einmal wie allemal
                    zusammen hielte, gar nicht berechnet.</p>
    <p>So bekannt es unter den Christen ist, daß die <index indexName="subjects-index">
        <term>Juden</term>
      </index><hi>Juden</hi> sich von allen andern Nationen so unterschieden, daß
                    diese unter dem allgemeinen Namen <hi><index indexName="subjects-index">
          <term>Goim</term>
        </index>Goim</hi> (<index indexName="subjects-index">
        <term>Heiden</term>
      </index>Heiden) begriffen wurden, sie aber sich als ein <hi>Volck Gottes</hi>
                    mit besonderer stolzer Einbildung ansahen, das allein eine solche Verehrung
                    Gottes <pb n="9" edRef="#f" xml:id="bs_f_page_9"/> kenne, und durch seine <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_5"/>Priester und <index indexName="subjects-index">
        <term>Leviten</term>
      </index>Leviten leiste, die allen andern Völkern, zu ihren Nachtheil, unbekannt
                    sey: so ganz ausgemacht ist doch <seg xml:id="quote_bs_f9"><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_6"/><hi>der allererste
                            Grundsaz</hi> der neuen christlichen Religion, daß ein und derselbe Gott
                        aller Menschen und Völker Herr und Vater sey, daß er nicht auf die
                            <hi>äusserlichen Umstände</hi> sehe, wodurch sich Juden von andern
                        Völkern ganz unmoralisch unterscheiden; sondern das Thun und Lassen der
                        Menschen <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_7"/><choice>
          <sic>nachdem</sic>
          <corr>nach dem</corr>
        </choice> Maße ihrer <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis vom Guten und Bösen</term>
        </index>Erkenntnis vom Guten und Bösen beurtheile.</seg> In <index indexName="persons-index">
        <term>Jesus Christus</term>
        <term type="alternative">Christus</term>
      </index><persName ref="textgrid:255cd">Christo</persName>, oder nach der reinen
                    Lehre Christi von dem allgemeinen gleichen Verhältnis Gottes über alle Menschen,
                    war nun der falsche Unterschied, den die Juden zum Vortheil ihrer Nation
                    eingefürt hatten, ganz aufgehoben; <hi>Jude, <index indexName="subjects-index">
          <term>Hellen</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_8"/>Hellen, <index indexName="subjects-index">
          <term>Skythe</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_9"/>Skythe</hi>,
                        <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_10"/>alle <index indexName="subjects-index">
        <term>Nationen</term>
      </index>Nationen haben eben so wenig schon einen moralischen Vorzug, als Mann
                    und Frau, Herr und Knecht. Dis wissen wir aus den christlichen <index indexName="subjects-index">
        <term>Urkunden, christliche</term>
      </index>Urkunden, welche jetzt das neue Testament oder der neue <index indexName="subjects-index">
        <term>Bund, neuer</term>
      </index>Bund, die Grundstüze der neuen bessern <index indexName="subjects-index">
        <term>Verehrung Gottes</term>
      </index>Verehrung Gottes, heissen, welche nun fast in jedermans Händen sind, und
                    in allen Sprachen gelesen werden können, um einen Inhalt der christlichen
                    öffentlichen oder beson<pb xml:id="bs_f_page_10" n="10" edRef="#f"/>dern <index indexName="subjects-index">
        <term>Privatreligion</term>
      </index>Privat-Religion daraus zusammen zu sezen. Desto sonderbarer und
                    auffallender ist es für uns, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_11"/>daß schon <index indexName="classics-index">
        <term>Tertullian</term>
      </index><hi><persName ref="textgrid:2v8z2">Tertullian</persName></hi> am Ende
                    des 2ten christlichen Jahrhunderts, und nach ihm andere christliche Lehrer, von
                    einer <index indexName="subjects-index">
        <term>Nation, dritte</term>
      </index><hi>dritten Nation</hi> reden; und daß sie die neue <hi>Nation</hi> der
                    Christen neben Juden und Heyden sezen, daß sie also jenen <hi>jüdischen</hi>,
                    blos jüdischen Unterschied, nun fortsezen, und Juden, Heiden und Christen neben
                    einander stellen, um alle Menschen unter diese 3 Hauptklassen zu bringen. Da nun
                    Juden und Heiden eine <hi>öffentliche</hi>
      <index indexName="subjects-index">
        <term>Nationalreligion</term>
      </index>National-Religion hatten, welche mit der bürgerlichen Gesellschaft
                    allemal zusammen hing, und blos eine <hi>politische</hi> Absicht hatte: so legte
                    man eben hiemit den Grund zu einer neuen <hi>politischen</hi> Gesellschaft, und
                    die <hi>ganz andre <index indexName="subjects-index">
          <term>Natur der Religion, moralische </term>
        </index>moralische Natur</hi> der christlichen Religion, welche auf alle
                    einzelne Menschen sich bezog, und eine bessere <index indexName="subjects-index">
        <term>Verehrung Gottes, moralische</term>
      </index>moralische Verehrung des besser erkannten Gottes mit sich brachte, wurde
                    wieder in eine eben so unmoralische blos politische <index indexName="subjects-index">
        <term>Religion, bloß politische</term>
      </index>Religion verwandelt. Wenn man diese neue Religion einer dritten, von nun
                    an sich ausbreitenden <index indexName="subjects-index">
        <term>Nation, dritte</term>
      </index>Nation beschreiben will: so muß man sagen, diese neue christliche
                    Religion begreift <pb xml:id="bs_f_page_11" n="11" edRef="#f"/> neue historische
                        <index indexName="subjects-index">
        <term>Grundsätze, historische</term>
      </index>Grundsätze, welche sich von der politischen Historie der Juden und aller
                    andern Nationen unterscheiden, damit die Menschen durch Vorhaltung grösserer
                    äusserlicher oder sinnlicher <index indexName="subjects-index">
        <term>Wohlfahrt, sinnliche</term>
      </index>Wohlfahrt sich von ihrer bisherigen bürgerlichen Gesellschaft losmachen,
                    und in diese vortheilhaftere Gesellschaft der neuen christlichen <index indexName="subjects-index">
        <term>Parteien</term>
      </index>Partey sich begeben. Daß dieser Endzweck keinesweges in der Lehre <index indexName="persons-index">
        <term>Jesus Christus</term>
        <term type="alternative">Christus</term>
      </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> und seiner Apostel
                    gegründet sey: wissen wir so gleich, weil wir die christliche Urkunden oder
                    neuen Bücher selbst lesen und ihren ganz gemeinnützigen Inhalt gewiß genug
                    ausmachen können. Allein eben diese christliche <index indexName="subjects-index">
        <term>Urkunden, christliche</term>
      </index>Urkunden waren in den ersten 2 und 3 Jahrhunderten noch nicht in den
                    Händen aller der Menschen, welche zu einer neuen christlichen
                    Religionsgesellschaft eingeladen wurden. Der Inhalt dieser Bücher war daher noch
                    lange nicht überall da bekannt, wo es schon christliche Gesellschaften gab; wir
                    könten uns sonst den erstaunlichen <index indexName="subjects-index">
        <term>Unterschied der Grundsätze, erstaunlicher</term>
      </index>Unterschied der Grundsäze und Meinungen eben so wenig erklären, als den
                    gar schlechten moralischen Zustand so vieler Christen, selbst so vieler
                    Personen, die schon zur <index indexName="subjects-index">
        <term>Clerisey</term>
      </index>Clerisey, oder zu den kirchlichen Obern gehören; welchen schlechten,
                    ganz <pb xml:id="bs_f_page_12" n="12" edRef="#f"/> unwürdigen Zustand wir doch
                    theils aus den <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_12"/><hi>elenden Schriftstellern</hi>, theils aus <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_13"/>den lauten Klagen eines
                        <index indexName="classics-index">
        <term>Cyprian von Karthago</term>
      </index><hi><persName ref="textgrid:2v52w">Cyprians</persName>,</hi>
      <index indexName="classics-index">
        <term>Eusebius von Cäsarea</term>
      </index><hi><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_14"/><persName ref="textgrid:3r68h">Eusebius</persName></hi>, (bey der <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_15"/>Verfolgung unter dem
                        <persName ref="textgrid:3r68k"><hi>Diokletian</hi></persName>) <index indexName="classics-index">
        <term>Hieronymus</term>
      </index><hi><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_16"/><persName ref="textgrid:2sjxs">Hieronymus</persName></hi>
      <choice>
        <abbr>etc.</abbr>
        <expan>et cetera</expan>
      </choice> so gewiß kennen, daß die gewönlichen guten <index indexName="subjects-index">
        <term>Vorurteile</term>
      </index>Vorurtheile von dem Vorzug der so genannten <hi>ersten</hi> Christen,
                    uns um so weniger irre machen können, als sie ohnehin nicht eine <index indexName="subjects-index">
        <term>Religionsform, öffentliche</term>
      </index><hi>öffentliche</hi> Religionsform betreffen, sondern blos manche
                    einzelne Christen angehen, deren wirklich gute <index indexName="subjects-index">
        <term>Privatreligion</term>
      </index><hi>Privat-Religion</hi> ihr eigener persönlicher Vorzug ist. Nachdem es
                    wirklich mehr christliche Gesellschaften giebt, welche <hi>eben diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Urkunden, christliche</term>
        </index>Urkunden</hi> der neuen Religion bey sich eingefürt haben: so ist
                    dennoch die <index indexName="subjects-index">
        <term>Religionsform, öffentliche</term>
      </index><hi>öffentliche</hi> Religionsform dieser Gesellschaften keinesweges
                    Eine und dieselbe, wenn sie gleich nur durch das Beiwort <hi>christliche</hi>
                    Religions-Ordnung von der <hi>jüdischen</hi> und allen <hi>heidnischen</hi>
                    öffentlichen Religionsformen allesamt verschieden sind. Diese <index indexName="subjects-index">
        <term>Verschiedenheit</term>
      </index>Verschiedenheit gleichzeitiger neuen Gesellschaften beruhete zwar häufig
                    auf den sehr ungleichen äusserlichen und localen <index indexName="subjects-index">
        <term>Umstände, lokale</term>
      </index>Umständen: es hatte aber auch die Verschiedenheit der <index indexName="subjects-index">
        <term>Talente, Verschiedenheit der</term>
      </index><hi>Talente</hi> und der eigenen Einsicht der ersten Lehrer, einen fast
                    eben so großen, eben so gewissen Einflus. <pb xml:id="bs_f_page_13" n="13" edRef="#f"/> Und eben diese innere <index indexName="subjects-index">
        <term>Ungleichheit</term>
      </index>Ungleichheit der Christen, die eben so wenig von ihnen selbst abhing,
                    als ihre <index indexName="subjects-index">
        <term>Verschiedenheit des menschlichen Daseins, lokale</term>
      </index><hi>locale</hi> Verschiedenheit ihres menschlichen Daseyns, erzeugete
                    unumgänglich eine <index indexName="subjects-index">
        <term>Privatreligion</term>
      </index>Privat-Religion zugleich, neben der <hi>äußerlichen</hi> öffentlichen
                    Religionsordnung, in welche sie selbst mit einander einwilligten. Denn wie alle
                    bürgerlichen Gesetze und öffentliche eingefürte <index indexName="subjects-index">
        <term>Ordnung</term>
      </index>Ordnungen sich nicht auf die <hi>innere</hi> stets ungleiche
                    Fähigkeiten, <index indexName="subjects-index">
        <term>Talente</term>
      </index>Talente, Natur-Gaben oder Anlagen der Mitglieder in der Absicht
                    beziehen, daß alle Bürger nun einander gleich gemacht und alle zu einer einzigen
                    Stufe der Naturgaben erhoben würden, als welches geradehin unmöglich ist, sowohl
                    an sich selbst als auch in Absicht einer gesellschaftlichen Verbindung, welche
                    durchaus schon eine <index indexName="subjects-index">
        <term>Ungleichheit</term>
      </index>Ungleichheit und Verschiedenheit der sich verbindenden mehreren
                    Mitglieder einschlieset, um durch zusammengesetzte ungleiche Kräfte desto
                    gewisser den <index indexName="subjects-index">
        <term>Endzweck</term>
      </index>Endzweck, grösserer und gewisser Wohlthat, für alle Mitglieder zu
                    erreichen: so hat auch alle <hi>öffentliche</hi> Religionsordnung, oder alle
                        <hi>äusserliche</hi> festgesetzte Form eines gemeinschaftlichen
                    Bekenntnisses der christlichen Verehrung Gottes, in einer bürgerlichen
                    Gesellschaft, keines<pb xml:id="bs_f_page_14" n="14" edRef="#f"/>weges die
                    besondere <index indexName="subjects-index">
        <term>Privatreligion</term>
      </index>Privat-Religion aller dazu fähigen Christen aufheben oder vertilgen
                    können und sollen; wenn wir nicht eine rohe Tiranney und Beherrschung des <index indexName="subjects-index">
        <term>Gewissens, Tyrannei des</term>
      </index>Gewissens, oder der inneren Seelenkraft für die beste Verehrung der
                    unendlichen Gottheit gelten lassen wollen, deren Unmöglichkeit wir doch alle
                    schon eingestehen, wenn wir vernünftige würdige Verehrer des höchsten Wesens
                    seyn wollen. So wenig der Eine Staat für alle andre Staaten, die von ihm nicht
                    abhängen, eine allgemeine Regierungsform festsetzen kann: eben so wenig kann
                    irgend eine christliche Religionspartey einen rechtmäßigen Grund haben, für alle
                    andern christlichen Parteien eine allereinzige gemeinschaftliche öffentliche
                        <index indexName="subjects-index">
        <term>Religionsform</term>
      </index>Religionsform einzufüren; und gar niemalen kan sich irgend ein Regent es
                    vorsezen, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_17"/>alle <index indexName="subjects-index">
        <term>Privatreligion</term>
      </index>Privat-Religion durch eine Vorschrift der öffentlichen
                    gesellschaftlichen Religionsform zu hindern oder abzuschaffen. Es gibt kein
                    bürgerliches Gebot und Verbot über die eigene Grösse und Anwendung des <index indexName="subjects-index">
        <term>Verstand</term>
      </index>Verstandes und Urtheils; weil es keine menschliche Gewalt und Macht
                    gibt, welche die <index indexName="subjects-index">
        <term>Gesetze des Verstandes, logische</term>
      </index>logischen unbesieglichen Geseze des Verstandes und Urtheils einschränken
                    könnte. Es gab also und gibt noch <pb xml:id="bs_f_page_15" n="15" edRef="#f"/>
                    immer neben aller äusserlichen Religionsordnung, welche für die Mitglieder einer
                    Parthey auf eine schon bestimmte Zeit gehört, zugleich auch eine
                        <hi>besondere</hi>
      <index indexName="subjects-index">
        <term>Privatreligion</term>
      </index>Privatreligion, so gar als ausgemachte <index indexName="subjects-index">
        <term>Pflicht</term>
      </index>Pflicht aller fähigen Christen; wenn auch viele andere Christen jenes
                    gemeinschaftliche bürgerliche Bekenntnis für die einzige und beste Verehrung der
                    Gottheit ansahen, in so fern die bestalten öffentlichen Diener der Gesellschaft
                    gewisse feierliche Handlungen verrichteten, bey denen andre Christen als
                    Zuschauer und leidentliche Theilnehmer zugegen zu seyn pflegten. Je mehr eine
                    eigene, tägliche, fortgehende <index indexName="subjects-index">
        <term>Verehrung Gottes</term>
      </index>Verehrung Gottes den Christen, welche keine Religionsdiener sind, ganz
                    felet: desto weniger haben sie selbst moralischen eigenen Vortheil von jener
                        <hi>fremden</hi> feierlichen Beschäftigung; sie sezen blos ihre
                        <hi>äusserliche</hi> Rechte fort, wonach sie das öffentliche Amt der <index indexName="subjects-index">
        <term>Religionsdiener</term>
      </index>Religionsdiener in seiner Ordnung einmal wie allemal erwarten, und seine
                    Vollziehung für gerecht und untadelhaft erklären. Hiemit üben sie blos
                    äusserliche gesellschaftliche Rechte aus, wornach sie die Religionsdiener auch
                    wälen, bestallen, oder wieder verabschieden. Diese ganze äusserliche
                    gesellschaftliche Religionsform und gleich<pb xml:id="bs_f_page_16" n="16" edRef="#f"/>förmige Religionsordnung, ist weder zugleich die beste
                    Privatreligion oder besondere Verehrung Gottes, wie sie allen den so ungleichen
                    Christen zukommen mag, welche Mitglieder der Gesellschaft sind: noch hat sie
                    eine <hi>innere</hi>
      <index indexName="subjects-index">
        <term>Unveränderlichkeit</term>
      </index>Unveränderlichkeit, da sie sich auf den steten innern und äussern
                    Unterschied nach Zeit und Ort beziehet, wodurch die Menschen selbst immer schon
                    von andern unterschieden werden. Es ist also auch die <index indexName="subjects-index">
        <term>Absicht</term>
      </index><hi>Absicht</hi> der öffentlichen Religionslehrer, der <index indexName="subjects-index">
        <term>Religionsbeschützer</term>
      </index>Religionsbeschützer, der gemeinen Mitglieder der Religionsgesellschaft,
                    nicht geradehin eine und dieselbe; wenn wir diese Absicht nach dem ersten
                    Anfange, nach dem Fortgange und der Ausbreitung dieser neuen Religion
                    beurtheilen. Selbst der Inhalt der neuen christlichen Urkunden belehret uns von
                    dem grossen Unterschied dieser Absichten; und so weit wir eine Historie der
                    Christen kennen, finden wir die ganz gewissen Folgen der sich ausbreitenden
                    neuen Religion so sehr ungleich und verschieden, daß man gar nicht daran
                    zweifeln kan, welches die wirklichen Absichten der christlichen öffentlichen
                    oder heimlichen Lehrer, der Regenten und Anhänger gewesen seyn. Wenn also gleich
                    immer ein und derselbe Name, christliche Religion, <pb xml:id="bs_f_page_17" n="17" edRef="#f"/> behalten worden ist, bis auf unsre Zeit: so ist es doch
                    ganz ausgemacht, ganz unumgänglich, daß die unzäligen Millionen Christen, die
                    sich auf dem Erdboden nach und nach ausgebreitet haben, weder einen und
                    denselben <index indexName="subjects-index">
        <term>Sachinhalt</term>
      </index><hi>Sachinhalt</hi> in ihren Vorstellungen, Urtheilen und Neigungen
                    einmal wirklich angenommen und beibehalten haben, noch auch eine solche Einheit
                    und Gleichheit zur Pflicht und zum moralischen <index indexName="subjects-index">
        <term>Endzweck, moralischer</term>
      </index>Endzweck haben konnten. Blos in äusserlichen Veränderungen und
                    Handlungen kan es ein und dasselbe <index indexName="subjects-index">
        <term>Maß, einerlei</term>
      </index>Maas geben, sie können nach ihrem Anfang, nach ihrer Dauer bestimmt
                    werden; da aber die Verehrung Gottes eine innere <index indexName="subjects-index">
        <term>Übung, moralische</term>
      </index>moralische Uebung ist, und die <index indexName="subjects-index">
        <term>Verstands, Bewegung des</term>
      </index>Bewegung des Verstandes und Urtheils von gar keiner äusserlichen Gewalt
                    abhängt, so gar von unserm Vorsatz nicht abhängt, sondern unzäliger <index indexName="subjects-index">
        <term>Modifikationen</term>
      </index><hi>Modificationen</hi> fähig bleibt: so ist es freylich eine gar
                    natürliche Begebenheit, daß die so ungleichen Menschen, welche christliche
                    Grundsäze zur Verehrung Gottes annamen, weder in den Vorstellungen eines und
                    desselben Inhalts noch in den daraus hergeleiteten Urtheilen und in der
                    Anwendung überein kommen konnten. Diese stete unaufhörliche <index indexName="subjects-index">
        <term>Ungleichheit</term>
      </index>Ungleichheit <pb xml:id="bs_f_page_18" n="18" edRef="#f"/> und
                    Verschiedenheit ist bei allen Christen, die nicht ganz ein <hi>Echo</hi> und ein
                        <index indexName="subjects-index">
        <term>Widerhall, mechanischer</term>
      </index><hi>mechanischer</hi> Wiederhall todter Töne ihrer Lehrer sind; und sie
                    erstreckt sich auf alle Lehrsätze der Gegenstände, welcher nun
                        <hi>christliche</hi> heissen. Blos ganz dumme, ganz unfähige Menschen
                    wiederholen <hi>alle Worte</hi> ihres Lehrers, so lange sie selbst keine
                        <hi>eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorstellungen</term>
        </index>Vorstellung</hi> ihres Sinns oder Sachinhalts zusammen sezen; in
                    allen fähigern, zum eignen <index indexName="subjects-index">
        <term>Nachdenken</term>
      </index>Nachdenken aufgelegten Menschen erzeuget der <index indexName="subjects-index">
        <term>Unterricht</term>
      </index>Unterricht gleichsam einen unsichtbar, unvertilgbar wirkenden Samen, zur
                    eignen Bewegung des <index indexName="subjects-index">
        <term>Verstands, Bewegung des</term>
      </index>Verstandes. Alle diese <index indexName="subjects-index">
        <term>Ungleichheit</term>
      </index>Ungleichheit und Verschiedenheit der Vorstellungen über die <hi>neuen
                        christlichen Gegenstände</hi>, verändern nichts in der <hi>moralischen</hi>
                    Art, oder in der Natur, und in den steten moralischen guten Folgen dieser neuen
                    Vorstellungen; sie unterscheiden nicht nur eine besondere Uebung und Stufe der
                    Gesinnung und Neigung des Christen, von der Uebung und Gesinnung der Juden und
                    Heiden, so weit sie auf einer besondern Historie beruhet; sondern sie verändern
                    auch die vorige innere <index indexName="subjects-index">
        <term>Gemütsfassung</term>
      </index>Gemütsfassung des Menschen, durch die würdigern Begriffe von dem
                    moralischen Verhältnisse Gottes, <pb xml:id="bs_f_page_19" n="19" edRef="#f"/>
                    daß er nun selbst in unaufhörlicher innerer Verehrung Gottes fortgehet. Diese
                    innere Religion ist für den Christen um seines eigenen moralischen besten
                    Zustandes willen die <index indexName="subjects-index">
        <term>Hauptsache</term>
      </index>Hauptsache; ist für ihn <hi>ganz frey</hi>, und hängt blos von seiner
                    eignen Erkenntnis alles <index indexName="subjects-index">
        <term>moralisch Gutes</term>
      </index>moralisch Guten ab; oder er folgt seinem eigenen <index indexName="subjects-index">
        <term>Gewissen</term>
      </index>Gewissen, in seiner <index indexName="subjects-index">
        <term>Privatreligion</term>
      </index><hi>Privatreligion</hi>; läßt sich aber alle äusserliche oder
                    öffentliche Religionsordnung gern gefallen, wie sie von der grössern
                    Gesellschaft, oder von der Obrigkeit eingerichtet wird, weil der Endzweck
                    derselben sich auf eine große Menge beziehet, die durch einerley feierliche
                    Merkmale sich als Mitglieder einer <index indexName="subjects-index">
        <term>Gesellschaften, lokale</term>
      </index><hi>localen</hi> Gesellschaft immer einander wieder zu erkennen geben
                    wollen, und keinen Grund finden, warum sie zu andern Religionspartheien
                    übergehen sollten. Dis ist wol vorläufig hinlänglich, um auf den steten
                    Unterschied der öffentlichen christlichen <index indexName="subjects-index">
        <term>Religionsform</term>
      </index>Religionsform, die zur äusserlichen Vereinigung einer großen Menge
                    zunächst bestimmt ist, aufmerksam zu machen; da hingegen die Privatreligion der
                    einzeln Christen <hi>nur</hi> für <hi>sie selbst</hi> zu ihrem eigenen <index indexName="subjects-index">
        <term>Wohlsein, moralisches</term>
      </index>moralischen Wohlseyn gehöret, und nur durch ihr eigen Gewissen bestimmt
                    wird. Wenn nun viele so genannte Chri<pb xml:id="bs_f_page_20" n="20" edRef="#f"/>sten selbst keine tägliche immerwärende, innere Verehrung Gottes kennen und
                    bedächtig anwenden, in allem ihren Thun und Lassen: so finden wir daher in allen
                    Religionsparteien so viele Menschen, die einander so gar in allen Lastern, und
                    in allen öffentlichen Bosheiten ganz gleich sind. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_18"/>Es giebt hie und da sehr
                    nützliche <index indexName="subjects-index">
        <term>Verzeichnisse öffentlicher Missetäter</term>
      </index>Verzeichnisse öffentlicher Missethäter, die als Mörder, Räuber,
                    geflissentliche Diebe, als Kindermörderinnen, Giftmischer <choice>
        <abbr>u. s. w.</abbr>
        <expan>und so weiter</expan>
      </choice> hingerichtet worden sind; <choice>
        <abbr>z. E.</abbr>
        <expan>zum Exempel</expan>
      </choice> Seit 100–150 Jahren, sind in diesen Stadt- oder Amtsgerichten
                    öffentlich am Leben gestraft worden, folgende Personen, männlichen und
                    weiblichen Geschlechts: Zwanzig waren katholischer Religion; 17 waren
                    lutherischer Religion; 11 waren reformirter Religion; 30 waren jüdischer
                    Religion. Muß man nicht durchaus erschrecken, über diese Erscheinung? In allen
                    diesen Religionsformen liegt ein Bekenntnis der Verehrung Gottes zum Grunde; die
                    ersten Grundsätze der neuen Religion der Christen brachten es mit sich, daß kein
                    Christ von nun an als Mörder, Dieb, Ehebrecher, Uebelthäter der bürgerlichen
                    Obrigkeit zur Ausrottung aus der Gesellschaft überliefert werden möge; weil <pb xml:id="bs_f_page_21" n="21" edRef="#f"/>
      <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_1_19"/>der Christ durch neue
                    Erkenntnis gleichsam aus Gott geboren ist, der alle vorigen <index indexName="subjects-index">
        <term>unordentliche Lüste und Begierden</term>
      </index>unordentlichen Lüste und Begierden ein für allemal verabscheuet und nun
                    so in einem neuen Leben wandelt, daß er sein Licht in edlem Thun und Lassen zum
                    Vortheil anderer Menschen leuchten läßt, daß auch diese zu eben solcher
                    Verehrung Gottes gereizet werden, durch das anziehende Beyspiel so würdiger
                    Menschen. Nun wiederhole man diese große Frage, was <hi>ist</hi> (jetzt,
                    bisher,) die christliche Religion?</p>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_1"><label>Liebhaber
                        oder Theilnemer</label>
      <p>Semler verwendet diese im 18. Jh. nicht unübliche Wendung mehrfach. Er
                        scheint hier eine unterschiedliche Intensität der Verbundenheit zum
                        Christentum abbilden zu wollen. Interessanterweise kennt die niederländische
                        reformierte Kirche schon im 17. Jh. eine ähnliche Einteilung in Liebhaber
                        (nl. liefhebbers), die zwar zur Kirche gehen, aber ein loses Verhältnis dazu
                        pflegen, und den Mitgliedern (nl. lidmaten), die sich unter die strenge
                        Kirchenzucht stellen und zum Abendmahl zugelassen sind.</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_2"><label>braminische</label>
      <p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_15"/>.</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_3"><label>natürliche
                        Religion</label>
      <p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_v_15"/>.</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_4"><label>ob sie 2
                        oder 3mal an Sontagen und Festtagen sich versammeln will</label>
      <p>Bis ins 18. Jh. hinein war es durchaus üblich, mehrmals am Sonntag zur Kirche
                        zu gehen. Es gehört zu den vielfältigen Reformen im Protestantismus um 1800,
                        diese Nebengottesdienste (etwa Metten, Frühpredigten und
                        Nachmittagsgottesdienste) weitgehend abzuschaffen. In Preußen wurde 1773 die
                        Anzahl der Feiertage reduziert, darunter auch die dritten Feiertage
                        christlicher Hochfeste.</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_5"><label>Priester und
                        Leviten</label>
      <p>Vgl. Joh 1,19. Leviten, benannt nach dem Stammvater Levi (Gen 29,34),
                        erfüllen neben dem Priester (oder Rabbiner) bestimmte Funktionen in der
                        Synagoge, vor allem bei der Thora-Lesung.</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_6"><label>der
                        allererste Grundsaz der neuen christlichen Religion, daß ein und derselbe
                        Gott aller Menschen und Völker Herr und Vater sey</label>
      <p>Anspielung auf z.B. Röm 3,29f.; vgl. aber schon Ps 67 oder Jer
                    32,27.</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_7"><label>nach dem
                        Maße ihrer Erkenntnis vom Guten und Bösen</label>
      <p>Vgl. Gen 3,22.</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_8"><label>Hellen</label>
      <p>D.i. Grieche.</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_9"><label>Skythe</label>
      <p>Angehöriger eines antiken Nomadenvolks, das nördlich des Schwarzen Meers
                        beheimatet war. Der Ausdruck „Skythen“ wurde in der Antike häufig
                        verallgemeinernd auf alle nichtgriechischen Völker Osteuropas und des
                        Kaukasus angewandt.</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_10"><label>alle
                        Nationen haben eben so wenig schon einen moralischen Vorzug, als Mann und
                        Frau, Herr und Knecht</label>
      <p>Anspielung auf Gal 3,28 und Kol 3,18.</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_11"><label>daß schon
                        Tertullian [...] und nach ihm andere christliche Lehrer, von einer dritten
                        Nation reden</label>
      <p>Quintus Septimius Florens Tertullianus (ca. 150–ca. 225) wird häufig als
                        eigentlicher Begründer der christlichen Theologie im lateinischen Sprachraum
                        betrachtet. Semlers Zuschreibung ist irreführend: In seinem Werk <hi>Ad
                            Nationes</hi> I,8 diskutiert Tertullian zwar die zu seiner Zeit offenbar
                        verbreitete (und abschätzig gemeinte) Vorstellung, die Christen seien eine
                        „dritte Nation“ (<hi>genus tertium</hi>), weist sie jedoch scharf zurück.
                        Die Trichotomie von Griechen (Heiden), Juden und Christen setzte sich aber
                        des ungeachtet durch, s. etwa Eusebius und seine <hi>Praeparatio
                            evangelica</hi> (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_n_10"/>).</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_12"><label>elenden
                        Schriftstellern</label>
      <p>Vermutlich benutzt Semler das Adjektiv „elend“ hier nicht, um eine Wertung
                        auszudrücken, sondern gemäß seiner ursprünglichen Bedeutung „fremd, nicht
                        dazugehörig“. Gemeint sein dürften also <hi>heidnische</hi> Kritiker der
                        Missstände im antiken Christentum wie Celsus (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_7_4"/>), Porphyrius (233–301) oder Julian
                        (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_5_8"/>).</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_13"><label>den lauten
                        Klagen eines Cyprians</label>
      <p>Cyprian (ca. 200–258), Bischof von Karthago, Märtyrer und bedeutender
                        lateinischer Autor der frühen Kirche. Semler dürfte sich vor allem auf die
                        Schrift <hi>Über die Gefallenen</hi> (<hi>De lapsis</hi>) beziehen, in der
                        Cyprian nicht nur den Abfall vieler Christen während der Verfolgung unter
                        Kaiser Decius (ca. 200/249–251) beklagt, sondern auch Missstände unter den
                        Bischöfen.</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_14"><label>Eusebius</label>
      <p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_n_10"/>. In seiner
                            <hi>Kirchengeschichte</hi> berichtet Eusebius nicht nur von zahlreichen
                        christlichen Märtyrern unter Diokletian (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_1_15"/>) und Galerius (ca. 250/305–311), sondern auch von
                        Feigheit unter den Amtsträgern (8. Buch, 2f.).</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_15"><label>Verfolgung
                        unter dem Diokletian</label>
      <p>Der römische Kaiser Aurelius Diokletian (284–305) verfügte weitreichende
                        Maßnahmen gegen Christen. Sie gelten als Höchst- und Endpunkt der
                        Christenverfolgungen in der Antike.</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_16"><label>Hieronymus</label>
      <p>Hieronymus (347–420), Kirchenvater, Asket, Verfasser der Vulgata, galt als
                        ein scharfer Kritiker des römischen Klerus. 385 hielt er es für ratsam, Rom
                        auf immer zu verlassen. Vgl. seine kaum verbrämte Kritik an den römischen
                        Zuständen im <hi>Brief an Heliodorus</hi> (epist. 14).</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_17"><label>alle
                        Privat-Religion durch eine Vorschrift [...] abzuschaffen. Es gibt kein
                        bürgerliches Gebot und Verbot über die eigene Grösse und Anwendung des
                        Verstandes und Urtheils; weil es keine menschliche Gewalt [...] einschränken
                        könnte</label>
      <p>Hier klingt eine der Kernideen aus John Lockes <hi>A Letter concerning
                            Toleration</hi> (1689; 7f.) an: „The care of souls cannot belong to the
                        Civil Magistrate, because his Power consists only in outward force; but true
                        and saving Religion consists in the inward perswasion of the Mind, without
                        which nothing can be acceptable to God. And such is the nature of the
                        Understanding, that it cannot be compell’d to the belief of any thing by
                        outward force. Confiscation of Estate, Imprisonment, Torments, nothing of
                        that nature can have any such Efficacy as to make Men change the inward
                        Judgement that they have framed of things. [...] It is only Light and
                        Evidence that can work a change in Mens Opinions.“ Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_v_5"/>.</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_18"><label>Es giebt
                        hie und da sehr nützliche Verzeichnisse öffentlicher Missethäter</label>
      <p>Daten zur Kriminalstatistik lagen der Öffentlichkeit Ende des 18. Jh.s nur
                        spärlich und regional begrenzt vor. Vgl. aber C.G.M. [Christian Gottlieb
                        May], <hi>Geschichtliches Verzeichniß aller öffentlichen Lebensbestrafungen,
                            welche in der oberlausitzischen Sechs Stadt Zittau, an unterschiednen
                            Missethätern, seit Anfange der Stadt, bis auf gegenwärtige Zeiten, sind
                            vollzogen worden</hi> (1774); eine Statistik der Nürnberger Exekutionen
                        vom 15. Jh. bis ins Jahr 1781 liefert: Georg Andreas Will, Nürnbergische
                        Criminal-Parallele, mit Bemerkungen und einem Anhang von allen Statuten,
                            <hi>Historischdiplomatisches Magazin für das Vaterland und angrenzende
                            Gegenden</hi> 2, 2. St. (1782), 218–266.</p></note>
    <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_1_19"><label>der Christ
                        [...] gleichsam aus Gott geboren ist</label>
      <p>Anspielung auf Joh 1,13; 1Joh 3,9 u.a.</p></note>
    <div type="section" xml:id="bs_f_2">
      <head type="question">2. Wie ist diese so ungleiche christliche Religion
                        entstanden? die als eine neue Art oder Stufe der Verehrung Gottes sich von
                        den damals bekanten öffentlichen Religionsgesellschaften mit Recht
                        unterschied, und nun wieder, neben einer verschiedenen öffentlichen
                        christlichen Religionsordnung, eine immer ungleiche innere Privatreligion
                        mit sich brachte?</head>
      <p>Auf die Frage <hi>wie</hi> – kann man nicht so geradehin antworten. Denn sie
                        betrift zunächst zugleich die äussere und innere Historie, oder neue
                        Geschichte der Christen; und einer neuen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsgesellschaft</term>
        </index>Religionsgesellschaft. Von diesem ersten Anfange einer neu<pb xml:id="bs_f_page_22" n="22" edRef="#f"/>en Religionsgesellschaft, giebt
                        es selbst unter den Christen keine eigentliche zuverläßige Nachricht; sie
                        waren <hi>noch nicht <index indexName="subjects-index">
            <term>Gesellschaft, öffentliche</term>
          </index>öffentliche</hi> Gesellschaften, wurden also von Griechen und
                        Römern nicht gelitten; sie hielten sich auch geheim, geraume Zeit. Daher die
                        christlichen von einander noch unabhängigen Gesellschaften, sehr
                        verschiedene Erzählungen, lange Zeit ohne Urkunden, freylich zu ihrer
                        Empfehlung, zusammengesezt und ausgebreitet haben. Es ist aber genug
                        geantwortet, wenn man sagt, die neue Religion der Christen entstund durch
                        die Anname <hi>neuer <index indexName="subjects-index">
            <term>Verehrung Gottes, neue Begriffe der</term>
          </index>Begriffe und jetziger Urtheile</hi> über eine bessere und
                        allgemeinere Verehrung Gottes, als man in der bisherigen öffentlichen
                        Religion der Juden und Heiden antrift. Diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes, neue Begriffe der</term>
        </index><hi>neuen Begriffe und Urtheile</hi> von einer bessern würdigern
                        Verehrung Gottes, haben sich zunächst durch die öffentliche Lehre des <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Jesus</persName> als des rechten
                        Messias oder Christus, und nachher durch seine wahren Schüler, Apostel und
                        Jünger, unter Juden und Heiden, immer unter ungleichen Umständen, in
                        ungleichem Inhalte ausgebreitet. Es gab aber schon vorher manche richtigere
                        moralische Begriffe, sowol unter den Juden als auch unter <pb xml:id="bs_f_page_23" n="23" edRef="#f"/> den Heiden; die <index indexName="subjects-index">
          <term>Liebhaber und Teilnehmer</term>
        </index>Liebhaber und Theilnemer aber hatten sich noch nicht zu einer neuen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesellschaft</term>
        </index>Gesellschaft öffentlich vereiniget. Unter den <index indexName="subjects-index">
          <term>Juden</term>
        </index>Juden selbst kommen <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_2_1"/>in dem so genannten alten Testament sehr viel wahre
                        Begriffe vor, daß die rechte würdige Verehrung Gottes gar nicht darin
                        bestehe, daß jemand den Priestern und <index indexName="subjects-index">
          <term>Leviten</term>
        </index>Leviten gewisse Geschäfte, an seiner Statt aufträgt; sondern in der
                        innern Gesinnung aller Menschen selbst, wodurch sie nun ihr Thun und Lassen
                        so gern selbst bestimmen, um den Absichten Gottes gemäs zu leben. In vielen
                        Psalmen und manchen Stellen der so genannten Propheten findet man auch diese
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, moralische</term>
        </index>moralische eigene Religion. Nun <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_2_2"/>hatten auch <hi>griechische</hi> Juden schon
                        vielerley griechische moralische Aufsätze unter ihren Bekannten
                        ausgetheilet; auch von der bald zu hoffenden Ankunft des Messias manche
                        Vorstellungen aufgebracht und ausgebreitet; wie <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Pharisäer</term>
          </index>Pharisäer, <index indexName="subjects-index">
            <term>Essäer</term>
          </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_2_3"/>Essäer</hi> und <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Sadduzäer</term>
          </index>Sadducäer</hi> schon aus <hi>griechischer <index indexName="subjects-index">
            <term>Philosophie</term>
          </index>Philosophie</hi> von neuen viel genützt hatten zu einer sehr
                        verschiedenen Beurtheilung der alten <hi>öffentlichen</hi> Religion, unter
                        der alle Parteyen begriffen waren. Diese vorausgehenden Stufen werden auch
                        in manchen Büchern des <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice> wieder <pb xml:id="bs_f_page_24" n="24" edRef="#f"/> angefüret;
                        aber es wird auch gefunden, daß diese neue bessere Einsicht von der
                        Allgemeinheit Gottes und seinen steten Absichten zum <index indexName="subjects-index">
          <term>Bestes, moralisch</term>
        </index>moralischen Besten aller Menschen, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_2_4"/>ehedem noch ein <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Mysterium</term>
          </index>Mysterium</hi>, oder unbekannt, nur sehr wenig bekannt gewesen;
                        von nun aber <hi>durch jetzige neue grössere <index indexName="subjects-index">
            <term>Offenbarung</term>
          </index>Offenbarung Gottes</hi>, (oder durch Belehrung, die Gott unter
                        diesen Menschen beförderte) überall ausgebreitet werden solle, ohne
                        Unterschied der <index indexName="subjects-index">
          <term>Nation, ohne Unterschied der</term>
        </index>Nation. Diesen <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Jesus Christus</persName> nennen die
                        Apostel und neuen Lehrer ihren einzigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Herr, moralischer</term>
        </index>moralischen Herrn, weil, <hi>nach ihrer neuen Einsicht</hi>, die
                        Menschen nicht mehr unter dem <index indexName="persons-index">
          <term>Mose</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t7">Moses</persName>, oder unter den <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_2_5"/>vielerley <index indexName="subjects-index">
          <term>Engel</term>
        </index>Engeln und <index indexName="subjects-index">
          <term>Geister</term>
        </index>Geistern stehen, welche die Juden seit der griechischen Uebersezung
                        der so genannten <index indexName="subjects-index">
          <term>Septuaginta (LXX)</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_2_6"/><foreign xml:lang="lat">LXX</foreign>, über die <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Goim</term>
          </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_2_7"/>Goim</hi>,
                        oder <index indexName="subjects-index">
          <term>Heiden</term>
        </index>Heiden, über die (Heiden) <hi>Welt</hi> zu sezen, angefangen hatten.
                        Die Christen wissen es nun, daß alle Menschen unter einem <index indexName="subjects-index">
          <term>Gott, einiger</term>
        </index>Gott stehen, wie die Christen unter Einem Herrn, unter dem rechten
                        Sohn Gottes sind, der alle jene <index indexName="subjects-index">
          <term>Geister</term>
        </index>Geister ihres Gebiets über die Menschen entsezt, und die Menschen
                        von aller bisher vorausgesezten Gewalt des <index indexName="subjects-index">
          <term>Teufel</term>
        </index>Teufels <index indexName="subjects-index">
          <term>physisch erlöst</term>
        </index><hi>physisch</hi> oder <index indexName="subjects-index">
          <term>moralisch erlöst</term>
        </index><hi>moralisch</hi> erlöset hat. Diese <hi>neuen</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_25" n="25" edRef="#f"/>
        <hi>bessern Begriffe</hi> und Urtheile beziehen sich zunächst auf die vielen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorurteile, jüdische</term>
        </index>Vorurtheile und Meinungen, welche nach und nach unter den Juden,
                        durch <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Pharisäer</term>
          </index>Pharisäer</hi> und <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Rabbinen</term>
          </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_2_8"/>Rabbinen</hi>, und durch <hi>griechische</hi>, politische auch wohl
                        fanatische <choice>
          <sic>Schriftenausgebreitet</sic>
          <corr type="editorial">Schriften ausgebreitet</corr>
        </choice> worden waren; wozu selbst der Name und die angebliche Bestimmung
                        des <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias</term>
        </index><hi>Messias</hi> zeither schon gemisbraucht worden war. Je mehr
                        diese jüdischen, allerdings jüngeren <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorurteile, jüdische</term>
        </index>Vorurtheile oder politische Irrtümer der <index indexName="subjects-index">
          <term>Rabbinen</term>
        </index><hi>Rabbinen</hi>, erst gesammlet und zusammen gesetzt werden,
                        welches die meisten ältern Ausleger des <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice> noch nicht thun konnten: desto gewisser und verständlicher werden
                        nun viele Stellen des neuen Testaments, über deren unrechte Mischung und
                        schon lange fortgehende Wiederholung die fähigern Christen zeither wenig
                        gute Anleitung, also manchen Anstos gehabt haben. Eben diese bessern
                        Einsichten und Urtheile, welche den Anfang einer christlichen Religion
                        ausmachen, hätten unter den nunmerigen Christen als <hi>neue itzige
                            christliche <index indexName="subjects-index">
            <term>Vorstellungen</term>
          </index>Vorstellung</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Einsicht</term>
        </index>Einsicht <hi>fortgesezt</hi> und immer mehr als unsre christliche
                        Erkenntnis, befördert werden sollen; dafür aber hat man gar die Christen
                        geradehin angewie<pb xml:id="bs_f_page_26" n="26" edRef="#f"/>sen, alle jene
                            <hi>jüdischen</hi> Meinungen und <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorurteile, jüdische</term>
        </index>Vorurtheile als aus göttlicher Offenbarung hergekommene Lehren, in
                        ihrem eigenen Gemüte vollständig zu bewaren, selbst zu glauben oder für
                            <hi>allgemeine</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionswahrheiten</term>
        </index>Religionswahrheiten zu halten; welches doch der christlichen neuen
                        Religion ganz entgegen ist, daher auch diese anfangende christliche Religion
                        gar als eine unveränderliche Summe von <hi>stillstehenden Kenntnissen</hi>
                        endlich angesehen worden ist. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_2_9"/><hi>Dieser</hi> folglich <hi>blos <index indexName="subjects-index">
            <term>Glaube, historischer</term>
          </index>historische</hi> Glaube von <hi>äusserlichen</hi> ehemaligen
                        Wirkungen hat freylich auch die großen neuen Früchte unter den Christen
                        nicht zunächst ausbreiten können, in welchen gleichwohl die christliche
                        Religion bey jedem Christen bestehen sollte, wenn diese neue Verehrung
                        Gottes nach seinem eignen <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen eben so in ganz andern äusserlichen Umständen entstehet,
                        wie sie damals entstanden.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_2_1"><label>in dem
                            so genannten alten Testament</label>
        <p>Es nicht klar, ob Semler hier mittels des Ausdrucks „so genannten“ eine
                            Distanzierung vornehmen will (vgl. auch unten „so genannte Propheten“).
                            Zu Semlers Auffassung, die (meisten) Bücher des Alten Testaments seien
                            nicht als Quelle von Heilswahrheiten anzusehen, vgl. <ref target="#bs_b_page_91">b91</ref>, <ref target="#bs_d_page_114">d114</ref>. Nicht nur hier (s.
                            weiterer Text) nimmt Semler von diesem Verdikt vor allem die Psalmen und
                            manche der Propheten aus, vgl. z.B. <hi>Versuch einer freiern
                                theologischen Lehrart</hi> (1777), 92.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_2_2"><label>hatten
                            auch griechische Juden schon vielerley griechische moralische Aufsätze
                            unter ihren Bekannten ausgetheilet</label>
        <p>Anspielung auf das hellenistische Judentum, vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_n_9"/> (Philo); s. auch <ref target="#bs_f_page_119">f119</ref>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_2_3"><label>Pharisäer, Essäer und Sadducäer</label>
        <p> Gemeint sind führende Religionsparteien des antiken Judentums, wie sie
                            etwa Flavius Josephus (37/8–nach 100) in seinem <hi>Bellum Judaicum</hi>
                            (75–79) und rabbinische Quellen nennen. „Pharisäer“ (hebr. Peruschim
                            „Abgesonderte“) wurde im 18. Jh. teils von hebr. Parasch („auslegen“)
                            hergeleitet; man verstand darunter eine Schule von Schriftgelehrten.
                            Essener (Essäer) lebten abgeschieden in klosterähnlicher asketischer
                            Gemeinschaft, weshalb heutzutage die Gemeinschaft von Qumran zu dieser
                            Partei gerechnet wird. Sadduzäer (wahrscheinlich benannt nach Sadok, dem
                            Priester Davids) formten eine Priestergruppe, die den dynastischen
                            Anspruch erhob, den Hohepriester von Jerusalem zu stellen. Nach der
                            Tempelzerstörung (70) verblasste der Einfluss dieser Gruppen, die mit
                            Ausnahme der Essener auch im Neuen Testament vorkommen, wo sie durchweg
                            negativ konnotiert sind. Vgl. zu zeitgenössischen Deutungen Baumgarten,
                                <hi>Geschichte der Religionspartheyen</hi> (1766),
                        281–295.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_2_4"><label>ehedem
                            noch ein Mysterium</label>
        <p>Semler nimmt in der (Heils-)Geschichte unterschiedliche
                            Offenbarungsstufen im Sinne einer Akkommodationslehre (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_5_15"/>) an.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_2_5"><label>vielerley Engeln und Geistern</label>
        <p>Semler spielt hier auf die rabbinische Dämonologie an, nach der der
                            Erzengel Michael über die Juden wache, die übrigen Menschen jedoch unter
                            dem Joch der Engel und Dämonen stünden. Vgl. dazu ausführlich Semler,
                                <hi>Versuch einer freiern theologischen Lehrart</hi> (1777),
                            326–330.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_2_6"><label>LXX</label>
        <p>Die griechische Übersetzung des hebräischen Alten Testaments, die um die
                            Zeitenwende im griechischsprachigen Ägypten entstand, wird als
                            Septuaginta („Siebzig“) bezeichnet, weil der Überlieferung nach siebzig
                            Übersetzer daran gearbeitet haben, die wortgleich zur selben Übersetzung
                            gekommen sein sollen. Kritisch dazu Semler, Versuch einer neuen Aufgabe
                            des Erdichters der Geschichte von Siebzig in ihren Uebersetzungen des
                            Alten Testaments aufs genaueste miteinander harmonirenden Dolmetschern,
                                <hi>Magazin für das Kirchenrecht[,] die Kirchen- und
                                Gelehrten-Geschichte nebst Beiträgen zur Menschenkenntniß
                                überhaupt</hi> 1 (1787), 385–396.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_2_7"><label>Goim</label>
        <p>Hebr. <foreign xml:lang="hbo">גוים</foreign> bezeichnet alle
                            Nicht-Juden.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_2_8"><label>Rabbinen</label>
        <p>Gemeint sind die Rabbinen (hebr. „Lehrer“), die als Sammelbezeichnung für
                            jüdische Autoren religiöser Schriften nach der Zerstörung des Tempels
                            (70) benutzt werden, etwa für die Verfasser von Mischna, Tosefta, Talmud
                            und Midrasch. Vgl. auch Baumgarten, <hi>Geschichte der
                                Religionspartheyen</hi> (1766), 301–305.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_2_9"><label>Dieser
                            folglich blos historische Glaube</label>
        <p>Siehe z.B. auch Semler, <hi>Vorbereitung auf die Königlich
                                Großbritannische Aufgabe von der Gottheit Christi</hi> (1787),
                            „Ueberaus gern komme ich immer auf den Unterschied der moralischen und
                            der historischen Religion; ich kann das <hi>Wesentliche</hi> der
                            christlichen Religion, das allen Christen unentbehrlich ist zu ihrer
                            christlichen Wohlfahrt und Seligkeit, sonst nicht gehörig unterscheiden,
                            von dem was <hi>seiner Natur nach</hi> unwesentlich, zufällig,
                            unfruchtbar, und also eigentlich <hi>unchristlich, ungeistlich</hi>
                            [...] ist.“ Vgl. ferner die ganz ähnliche Unterscheidung von
                            „historischem“ und „moralischem Glauben“, die Kant wenig später in
                                <hi>Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft</hi>
                            (1793) vornimmt, AA 6, v.a. 102–124.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_3">
      <head type="question">3. Wer ist denn, oder wer war dieser Jesus als wahrer
                        rechter <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias</term>
        </index>Messias im Unterschied der falschen jüdischen Meinung, von einem
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>National-Messias</term>
        </index>National-Messias, oder <hi>politischen</hi> Wohlthäter ihrer
                        Nation?</head>
      <p><pb xml:id="bs_f_page_27" n="27" edRef="#f"/> Diese Frage ist theils
                        historischen theils moralischen Inhalts; daher denn selbst die sehr
                        ungleichen Anhänger dieses <index indexName="subjects-index">
          <term>Stifter</term>
        </index>Stifters einer neuen Religion, gar verschieden antworteten; nachdem
                        sie theils diese oder jene Bücher, die zur neuen Religion gehörten, oder die
                        Urkunden ihrer neuen Religion annamen, theils so oder so, selbst gebrauchten
                        und erklärten. So ungleich die neuen <index indexName="subjects-index">
          <term>Urkunden, christliche</term>
        </index>Urkunden der christlichen Religion so wol an sich selbst sind, als
                        auch von den Lehrern der christlichen Religion erklärt und verstanden
                        werden: so <hi>konnten doch</hi> gewis <hi>alle Christen</hi> aller Zeiten
                        und aller Parteien <hi>darin erkennen</hi>, daß <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Jesus</persName>, als der rechte
                        Messias und Sohn Gottes, der rechtmäßige, annemungswürdige <index indexName="subjects-index">
          <term>Stifter</term>
        </index>Stifter ihrer neuen Religion seie; daß Gott durch die Lehre des
                        Jesus eine bessere <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis Gottes</term>
        </index>Erkenntnis und <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes</term>
        </index>Verehrung des höchsten Wesens aufgestellet habe, als die jüdische
                        und heidnische gewönliche Religion bisher in sich begriff; daß alle Menschen
                        nicht blos eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, öffentliche</term>
        </index><hi>öffentliche</hi> Religion, und bestellete <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsdiener</term>
        </index>Religionsdiener haben, sondern auch eine eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, moralische</term>
        </index>moralische Religion selbst immer besser ausüben müssen, nach dem
                        Inhalt <hi>ihrer eigenen Erkenntnis</hi> des viel grössern und unendlichen
                            Verhält<pb xml:id="bs_f_page_28" n="28" edRef="#f"/>nisses Gottes;
                        welches moralische Verhältnis Gottes weder in der jüdischen noch heidnischen
                        öffentlichen Religion, so gut und richtig schon enthalten war, als es nun
                        die Grundsätze die <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Jesus</persName> lehrete, wirklich
                        immer mehr entwickeln sollten. Diese Grundsätze stunden theils dem ganzen
                        bisherigen Judentum, theils dem jetzigen Heidentum entgegen und empfahlen
                        freylich eine höhere und reinere Moral, bessere Erkenntnis Gottes, <hi>wider
                            alle jene sinnlichen Lüste und Begierden</hi>, welche Juden und Heiden
                        mit ihrer öffentlichen Religion immerfort so gar beschützen und vereinigen
                        konten. Noch für sehr wenige <index indexName="subjects-index">
          <term>Liebhaber</term>
        </index>Liebhaber war diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, moralische</term>
        </index>moralische innere Religion, die keine äusserliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Revolution</term>
        </index>Revolution versprach schon umständlich oder annemlich; sehr viele
                        Zeitgenossen hingen an einen <hi>historischen</hi> politischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias, politischer</term>
        </index>Messias, der bald eine bürgerliche glückliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Revolution</term>
        </index>Revolution nach ihren sinnlichen Wünschen, bewerkstelligen sollte.
                        Die Briefe <index indexName="persons-index">
          <term>Paulus</term>
        </index><persName ref="textgrid:251kf">Pauli</persName> und anderer Apostel
                        lehren und empfehlen die moralische eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, moralische</term>
        </index>Religion, und lassen den äusserlichen <hi>bürgerlichen</hi> Zustand
                        aller Menschen das ferner seyn, was er schon war. Aber es waren schon
                        allerley historische Erzälungen von dem, was der Mes<pb xml:id="bs_f_page_29" n="29" edRef="#f"/>sias zur Vertilgung der Heiden
                        thun werde, ausgebreitet worden nach den Wünschen und Erwartungen der
                        gemeinsten Juden. Wider diese <hi>fanatischen</hi> falschen Beschreibungen
                        des Messias, wozu man auch schon Stellen der Propheten gemisbraucht hatte,
                        sind die noch übrigen 4 griechischen Evangelia damalen gerichtet, worin die
                        algemeine moralische Bestimmung des <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias, moralische Bestimmung des</term>
        </index>Messias der Hauptinhalt ist, der zur Belehrung der damaligen Heiden
                        eine solche Einkleidung bekommen hat, wie sie für diese Zeiten das
                        schicklichste Mittel war, sie endlich zur Veränderung ihrer jüdischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Grundsätze, jüdische</term>
        </index>Grundsätze und <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorurteile, jüdische</term>
        </index>Vorurtheile und eigener neuen Erkentnis und Ueberzeugung zu bringen
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_3_1"/>(<foreign xml:lang="grc">μετανοειν, πιστευειν</foreign>.) Aus solchen neuen
                        Urkunden, aus mehrern oder wenigern, haben die Theilnemer an einem Messias
                        ihren neuen Religionsbegriff von Zeit zu Zeit hergeleitet, und sich immer
                        mehr in neue christliche Parteien oder Familien äusserlich getheilet, die
                        daher auch auf diese Frage: <hi>wer ist</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:255cd">Jesus Christus</persName>?</hi>
                        gar verschiedene Antwort zu geben pflegten; alle aber nur Anhänger einer
                        neuen Religion waren, die von dem <index indexName="subjects-index">
          <term>Stifter</term>
        </index>Stifter Christus, die christliche Religion heißt; ohne daß alle
                        Parteien eben den<pb xml:id="bs_f_page_30" n="30" edRef="#f"/>selben Inhalt
                        oder <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrbegriff, lokaler</term>
        </index>Lehrbegriff der christlichen Religion hatten, der allemal
                            <hi>local</hi> ist, oder in besonderer <index indexName="subjects-index">
          <term>Lokalität</term>
        </index><hi>Localität</hi> ungleich gesammlet wurde.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_3_1"><label>(<foreign xml:lang="grc">μετανοειν,
                            πιστευειν</foreign>.)</label>
        <p>„Den Sinn ändern“; „glauben“; vgl. <ref target="#bs_f_page_218">f218</ref>.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_4">
      <head type="question">4. Welches sind denn die neuen <index indexName="subjects-index">
          <term>Urkunden, christliche</term>
        </index>Urkunden, oder die neuen <index indexName="subjects-index">
          <term>Grundbücher</term>
        </index>Grundbücher der christlichen Religion, durch deren so verschiedene
                        Anname und Erklärung die Christen sich in so viele Parteien immer getheilt
                        haben, da sie nun selbst öffentliche christliche Religionsformen
                        einfürten?</head>
      <p>Sie werden unter den Namen neues Testament, oder neuer <index indexName="subjects-index">
          <term>Bund, neuer</term>
        </index>Bund begriffen; dieser Name bezieht sich auf den alten Bund, oder
                        das alte Testament, welches die öffentlichen Urkunden der jüdischen Religion
                        und ältere Geschichte dieses Volcks begreift. Diese jüdische
                        Religionsordnung <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_4_1"/>hieß
                        ein <index indexName="subjects-index">
          <term>Bund</term>
        </index>Bund, den Gott mit dem Patriarchen <index indexName="persons-index">
          <term>Abraham</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6sz">Abraham</persName> schon gemacht, und
                        nachher durch den <index indexName="persons-index">
          <term>Mose</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t7">Moses</persName> noch mehr wider alle
                        andre Religionsformen aller andern Völker, bestätiget habe. Dieses mosaische
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesetz, mosaisches</term>
        </index>Gesez, welches die ganze Nation der Juden zusammen hielt, wurde nach
                        und nach von der viel <pb xml:id="bs_f_page_31" n="31" edRef="#f"/> bessern
                        eigenen innern Religion, wozu weder Tempel noch Priester gehören, immer mehr
                        unterschieden; daher selbst in jenen spätern Schriften der Juden, die hinter
                        den so genannten Büchern Mosis gesammlet wurden, schon von dieser rechten
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, moralische</term>
        </index>moralischen Religion, oder von dem <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_4_2"/><hi>bessern <index indexName="subjects-index">
            <term>Bund</term>
          </index>Bunde</hi>, als der mit den Vätern und Vorfahren des Volks
                        errichtet worden war, gleichsam von weitem Anzeige und Belehrung vorkommt,
                        wornach einst <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_4_3"/>alle
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Heiden</term>
        </index>Heiden, alle Völker Gott loben und preisen, und ein reines <index indexName="subjects-index">
          <term>Opfer</term>
        </index>Opfer bringen möchten in allen Ländern und Inseln; ohne jüdisches
                        Gesez, oder ohne die jüdische <index indexName="subjects-index">
          <term>Nationalreligion</term>
        </index>Nationalreligion annemen zu müssen. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_4_4"/>Diese Prophezeiungen oder <index indexName="subjects-index">
          <term>Weissagungen</term>
        </index>Weissagungen reden zuweilen, (können wenigstens so verstanden
                        werden,) von einem besondern Knecht oder Diener Gottes, von einem rechten
                        König, oder Gesalbten Gottes, <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias</term>
        </index>Messias, durch welchen Gott die Ausbreitung seiner Erkenntnis, und
                        den Wachsthum der <index indexName="subjects-index">
          <term>Welt, moralische</term>
        </index>moralischen Welt befördern würde; wenn gleich viele zumal
                        griechische Juden in einer engen patriotischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Denkungsart, patriotische</term>
        </index>Denkungsart dergleichen Stellen blos von einer <hi>politischen</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, politische</term>
        </index>Wohlfahrt und Erhebung ihrer Nation durch einen <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias, politischer</term>
        </index>politischen Messias zu verstehen pfleg<pb xml:id="bs_f_page_32" n="32" edRef="#f"/>ten. In allen Büchern des neuen Testaments werden
                        daher solche ältere jüdische Anzeigen, um dieser Juden willen, welche eine
                        höhere moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesinnung, moralische</term>
        </index>Gesinnung nach und nach annemen solten, häufig eingemischt mit der
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_4_5"/>Nachricht, daß
                        dieses nun erfüllet seie, oder eintreffe an diesem <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Jesus</persName> als Christus; alle
                        andern schon gewönlichen Erwartungen aber keinen vorzüglichen Grund hätten.
                        Durch solche <hi>jetzige neue Urtheile</hi> wurden immer mehrere damalige
                        Juden in eigenem Nachdenken, überzeugt; sie verliessen also nach und nach
                        die alten jüdischen Grundsätze, und ergriffen diese neue bessere Religion;
                        freylich noch in sehr ungleichen Stufen; daher auch diese Bücher des <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice> einen sehr ungleichen Inhalt haben. Die historische Existenz
                        dieser nun erst anfangenden neuen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsgesellschaft</term>
        </index>Religionsgesellschaft der Christen wird durch diese Bücher so
                        beurkundet, daß über diese neue Begebenheit gar kein Zweifel statt finden
                        kann. Es entstehen mehrere neue Religionsgesellschaften im ganzen römischen
                        Reich, und in andern bekannten Ländern; man muste viele Mitglieder nun auch
                        thätig unterstützen, da sie bey den Juden keinen Unterhalt mehr fanden,
                        daher entstund eine <hi>gesellschaft</hi><pb xml:id="bs_f_page_33" n="33" edRef="#f"/><hi>liche Einrichtung</hi>, wo es an Verschiedenheit nicht
                        fehlen konnte. Diese Verschiedenheit und Vielheit der neuen
                        Religionsparteien wird durch diese neuen christlichen Schriften selbst immer
                        mehr vergrössert; indem auch aus manchen Gründen oder Absichten, einige
                        Lehrer oder Urheber neuer Gesellschaften so und so viel aus der jüdischen
                        Religion, oder aus anderer Völker Gebrauch oder Cultur, mit in diese
                        Religionsformen einmischten; wie hingegen andre Christen alles
                            <hi>jüdische</hi> ganz absonderten, durch ihre bessere Erkenntnis;
                        nachher hat man <hi>alle</hi> neuen Bücher und <hi>alle</hi> neuen <index indexName="subjects-index">
          <term>Tradition</term>
        </index><hi>Traditionen</hi> zu vereinigen gesucht, um desto mehr eine
                            <hi>einige</hi> grosse Gesellschaft zu verschaffen.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_4_1"><label>hieß ein
                            Bund, den Gott mit dem Patriarchen Abraham schon gemacht, und nachher
                            durch den Moses [...] bestätiget habe</label>
        <p>Vgl. Gen 15,18; 17,7 und Ex 19,5.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_4_2"><label>bessern
                            Bunde</label>
        <p>Anspielung auf Jer 31,31–34; vgl. auch Hebr 8,6.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_4_3"><label>alle
                            Heiden, alle Völker Gott loben und preisen, und ein reines Opfer
                            bringen</label>
        <p>Anspielung auf Ps 117,1; Mal 1,11; vgl. auch Röm 11,25.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_4_4"><label>Diese
                            Prophezeiungen [...] reden zuweilen [...] von einem besondern Knecht
                            oder Diener Gottes, von einem rechten König, oder Gesalbten Gottes,
                            Messias</label>
        <p>Anspielung auf die Gottesknechtslieder (Jes 42; 49; 50 u. 52f.); auf den
                            „rechten König“ (Sach 9,9 u. Jes 9,1–6); auf den „Gesalbten Gottes“ (Jes
                            11,1–16).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_4_5"><label>Nachricht, daß dieses nun erfüllet seie, oder eintreffe an
                            diesem Jesus als Christus</label>
        <p>Anspielung auf die typologische Deutung der alttestamentlichen
                            Weissagungen im Christentum, etwa in Hebr 8,5.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_5">
      <head type="question">5. Ist denn ein jedes Buch dieses neuen Testaments <hi>dem
                            Inhalte</hi> nach den übrigen gleich, daß also eins so gut als das
                        andere eine Urkunde der neuen oder christlichen Religion abgeben
                        kann?</head>
      <p>Wenn auf den neuen Grund und <index indexName="subjects-index">
          <term>Inhalt</term>
        </index>Inhalt gesehen wird, wie er dem unmoralischen Juden- und Heidentum
                        entgegen stehet, kan man diese <pb xml:id="bs_f_page_34" n="34" edRef="#f"/>
                        Frage wirklich bejahen. Denn diese neue Religion hat noch nicht ihre ganze
                        Ausbreitung und <hi>bestehet nicht in einer einzigen</hi> gleich grossen
                        Summe der neuen <index indexName="subjects-index">
          <term>Einsicht</term>
        </index>Einsichten und Urtheile von einer bessern <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottesverehrung</term>
        </index>Gottesverehrung, als bisher die gemeinste jüdische und heidnische
                        Religion enthielt. Die 3 <hi>neuen <index indexName="subjects-index">
            <term>Grundbegriffe</term>
          </index>Grundbegriffe</hi> der christlichen Religion, die sich auf
                        Vater, Sohn und Geist Gottes beziehen, kommen in allen diesen Büchern vor;
                        aber ohne eine feststehende Bestimmung der <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorstellungen</term>
        </index>Vorstellungen, die dazu gehören. Daher sich eben die Christen am
                        allermeisten über diese 3 Grundbegriffe und ihre Verknüpfung, wenn sie
                        gleich nun zur christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionssprache</term>
        </index>Religionssprache, einmal wie allemal gehören, getheilt haben. Das
                            <hi>Allgemeine</hi> davon könnte wol so angegeben werden. 1) Es ist ein
                        einiger <index indexName="subjects-index">
          <term>Gott, einiger</term>
        </index>Gott, aller Menschen, sowol Juden als Heiden, gemeinschaftlicher
                        Vater und Oberherr. 2) Es ist kein solcher <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias</term>
        </index>Messias, wie ihn die Juden beschreiben, zu erwarten. Dem Sohne
                        Gottes muß man ein eben so <hi>allgemeines Verhältnis</hi> über die ganze
                        unsichtbare <index indexName="subjects-index">
          <term>Welt, moralische</term>
        </index><hi>moralische Welt</hi> beilegen, als das Verhältnis des Vaters
                        ist, daß er aller Heiden <index indexName="subjects-index">
          <term>Herr, moralischer</term>
        </index>moralischer Herr und Wohlthäter <pb xml:id="bs_f_page_35" n="35" edRef="#f"/> ist. Der Sohn Gottes und Messias, lehrt die allgemeine
                        Gnade und <index indexName="subjects-index">
          <term>Liebe Gottes</term>
        </index>Liebe Gottes zum moralischen Besten aller Menschen; ihr moralischer
                        unglücklicher Zustand mag so oder so von ihm beschrieben werden. 3) Der
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Geist Gottes</term>
        </index>Geist Gottes wirket nicht blos unter den Juden in ihren Propheten,
                        sondern unter allen Menschen, zur Beförderung der Absichten Gottes in der
                        ganzen moralischen Welt. Da aber diese einzelnen Bücher eine <index indexName="subjects-index">
          <term>lokal</term>
        </index>lokale, historische besondere <hi>Veranlassung</hi> hatten, und ihre
                        erste Leser sich unter sehr ungleichen Umständen befanden: so ist auch der
                        Inhalt und seine Einkleidung in einem verschiedenen Maase, mit damaliger
                        Einschränkung abgefaßt, und nicht in allen gleich viel von dem Sohn und
                        Geist Gottes gesagt worden. Manche Leser oder erste Schüler der neuen
                        Religion hatten schon eine andere Uebung und Vorbereitung, als viele andre
                        noch nicht hatten; zumal durch den Gebrauch der griechischen Uebersezung und
                        anderer moralischen Schriften, die von <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_5_1"/><hi>alexandrinischen</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Juden, alexandrinische</term>
        </index>Juden herkommen. Daher selbst die Beschreibungen, die den Sohn
                        Gottes angehen, in diesem N. T. nicht einander gleich sind; wenn in manchen
                        Schriften so gar jüdische Traditionen und Mei<pb xml:id="bs_f_page_36" n="36" edRef="#f"/>nungen von <index indexName="subjects-index">
          <term>Engel</term>
        </index>Engeln vorkommen, ohne hiemit Vorschriften für alle ganz andern
                        Christen zu werden. Der Unterschied zwischen <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_5_2"/>moralischen Kindern,
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Unmündige</term>
        </index>Unmündigen, oder fleischlichen, sehr unfähigen, sinnlichen Christen,
                        wird selbst in diesen Büchern angezeigt, die <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_5_3"/>starke Speise, oder
                        allgemeine Begriffe noch nicht alle vertragen können; die von dem <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> noch immer manche
                        äusserliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Revolution</term>
        </index>Revolutionen, oder ein <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_5_4"/>tausendjähriges <index indexName="subjects-index">
          <term>Reich, tausendjähriges</term>
        </index>Reich auf Erden, erwarten; weil sie unter dem Subjekt, Christus,
                        Sohn Gottes <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> einen kleinern halbjüdischen Begriff hatten <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice></p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_5_1"><label>alexandrinischen Juden</label>
        <p>Das ägyptische Alexandria war der Mittelpunkt des hellenistischen
                            Judentums, es beheimatete etwa Philo(n) von Alexandrien (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_n_9"/>) und die
                            Übersetzer der Septuaginta (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_2_6"/>).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_5_2"><label>moralischen Kindern, Unmündigen, oder fleischlichen, sehr
                            unfähigen, sinnlichen Christen</label>
        <p>Anspielung auf 1Kor 3,1; vgl. z.B. Röm 8,5–9.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_5_3"><label>die
                            starke Speise</label>
        <p>Anspielung auf 1Kor 3,2 und Hebr 5,12–14.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_5_4"><label>tausendjähriges Reich auf Erden</label>
        <p>In Offb 20,1–7 ist davon die Rede, dass vom Tode auferstandene Märtyrer
                            sowie wahrhaft Gläubige zusammen „mit Christus“ eine tausendjährige
                            Regierung auf Erden errichten. Erst anschließend komme es zum Jüngsten
                            Gericht am Rest der Menschheit. Solche millenaristischen Vorstellungen
                            erfreuten sich im frühen Christentum großer Beliebtheit und waren im 18.
                            Jh. etwa bei Quäkern oder radikalen Pietisten verbreitet.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_6">
      <head type="question">6. Da es also ausser diesen Büchern des N. T. damalen noch
                        manche andre Schriften gegeben hat, die schon ihre Liebhaber hatten; als
                        eben diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Septuaginta (LXX)</term>
        </index><foreign xml:lang="lat">LXX</foreign> und so genannte <index indexName="subjects-index">
          <term>Apokrypha</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_6_1"/><foreign xml:lang="lat">Apocrypha</foreign>, oder ihres Inhalts wegen <hi>geheim
                            gehaltenen</hi> Bücher: aus was für Grunde hat man nun nachher so
                        verschiedene sehr ungleiche Schriften, gleichwohl in ein zusammengehöriges
                            <hi>Ganzes</hi> vereiniget, und sie unter dem Einen Namen <hi>neues
                            Testament</hi> allesamt begriffen? Sie gehörten nicht gleich gut <hi>für
                            alle Christen</hi>, wie moralische Kinder und Er<pb xml:id="bs_f_page_37" n="37" edRef="#f"/>wachsene oder Männer sehr
                        ungleiche moralische Narung haben müssen?</head>
      <p>Dieser Name, neu <index indexName="subjects-index">
          <term>neu Testament, der Name</term>
        </index>Testament, als Inbegrif oder Anzal neuer Bücher der Christen, ist
                        wie das Wort <index indexName="subjects-index">
          <term>Evangelium, das Wort</term>
        </index>Evangelium für Historie <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> in Palästina, ein
                        jüngerer <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprachgebrauch</term>
        </index>Sprachgebrauch, der unter den Christen aufgekommen ist, da sie schon
                        sich weit ausgebreitet und Kentnis von vielen solchen Büchern hatten. Einen
                            <hi>neuen <index indexName="subjects-index">
            <term>Bund, neuer</term>
          </index>Bund</hi>, neue bessere <index indexName="subjects-index">
          <term>Grundsätze innerer Verehrung Gottes</term>
        </index>Grundsäze von innerer Verehrung Gottes, ohne mosaisches Gesez, das
                        nur für Juden gehörte, hatte Jesus, als rechter Christus, zu empfehlen
                        angefangen; und durch seinen Tod bestätigt. Nun konte man kein weltlich
                        Reich des Messias weiter erwarten. Diese neuen Grundsäze <hi>an sich
                            selbst</hi>, ohne die und jene <index indexName="subjects-index">
          <term>Einkleidung</term>
        </index>Einkleidung, machten den neuen Bund, oder den Grund einer bessern
                        Religion aus. In allen diesen freylich sehr ungleichen Büchern gehört die
                        Einkleidung oder <hi>die Lehrart</hi> nicht selbst, einmal für allemal, zu
                        dem <index indexName="subjects-index">
          <term>Sachinhalt</term>
        </index><hi>Sachinhalte</hi> dieser bessern Religion, oder zur Vorschrift
                        einer einzigen Vorstellung; sondern ist eine damalige, vorübergehende <index indexName="subjects-index">
          <term>Modifikationen</term>
        </index><hi>Modification</hi> des Unterrichts, nach der <pb xml:id="bs_f_page_38" n="38" edRef="#f"/> ungleichen Fähigkeit dieser
                        Zeitgenossen. Da sie nemlich durch manche Schriften oder Traditionen bisher
                        schon allerley Gedanken und Meinungen angenommen hatten von einer Historie
                        des Messias: so musten die Lehrer der bessern Religion auf diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Denkungsart</term>
        </index>Denkungsart so weit sehen, um sie, ohne jetzigen Anstos, wirklich
                            <hi>auszubessern</hi>, das nur <index indexName="subjects-index">
          <term>moralisch</term>
        </index>moralisch oder <hi>durch eigenes <index indexName="subjects-index">
            <term>Nachdenken</term>
          </index>Nachdenken</hi> dieser Schüler nach und nach erst statt finden
                        und die vorigen Ideen auslöschen sollte. Es waren also diese Aufsäze
                        freylich <hi>so ungleichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Inhalt</term>
          </index>Inhalts</hi>, als die Fähigkeiten der ersten Schüler ungleich
                        waren, für welche sie bestimmt wurden. Diese Schriften waren also auch nicht
                        an mehr als <hi>Eine Gesellschaft</hi> in Einer Stadt oder Provinz zuerst
                        gerichtet; erst mit der Zeit wurden diese verschiedenen Gesellschaften mit
                        einander bekannt, und fanden also auch andere mehrere neue christliche
                        Schriften oder einzelne Urkunden, die ihnen bisher noch nicht bekannt waren.
                        So wenig Ein gemeinschaftliches Oberhaupt aller dieser erst entstehenden
                        neuen Gesellschaften da war, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_6_2"/>wie denn aus der Apostelgeschichte und dem Briefe
                            <index indexName="persons-index">
          <term>Paulus</term>
        </index><persName ref="textgrid:251kf">Pauli</persName> an die Christen in
                        Galatien schon die <hi>grose erste <index indexName="subjects-index">
            <term>Teilung, erste christliche</term>
          </index>Theilung</hi> ersehen wird, <pb xml:id="bs_f_page_39" n="39" edRef="#f"/> der Christen aus den Hebräern, und aus den
                            <hi>Hellenen</hi>: eben so wenig stunden alle diese Christen schon in
                        einer Verbindung, die ja auch, wegen Entfernung der Christen von einander
                        und fortgehender Ausbreitung dieser neuen Grundsäze in mehr Länder eben so
                        wenig möglich war, als wenig eine solche <hi>immer nur äusserliche <index indexName="subjects-index">
            <term>Vereinigung</term>
          </index>Vereinigung</hi> zur eignen bessern und richtigen Religion der
                        einzelnen immer ungleichen Christen, irgend etwas beitragen konnte. Es
                        entstund also erst später im 4ten Jahrhunderte, daß die <choice>
          <sic>Versteher</sic>
          <corr type="editorial">Vorsteher</corr>
        </choice> der <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesellschaften, lokale</term>
        </index>localen Gesellschaften besonders die Bischöfe, in eine nähere
                            <hi>äusserliche</hi> Vereinigung traten, und auf eine besondere neue
                        gleichförmige <hi>Regierungsart aller Christen</hi> dachten, durch eine
                        äusserliche Vereinigung unter sich selbst. Diese <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_6_3"/><hi>Verbrüderung</hi>
                        der <hi>Bischöfe</hi> gehört blos zu einer äusserlichen Absicht; <hi>gar
                            nicht zur vorzüglichen christlichen Religionsform</hi> in Absicht aller
                        Christen, oder zu ihrer <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion. Die Bischöfe tauschten also die bisher einzeln
                        daseienden Urkunden <hi>gegen einander ein</hi>, und so entstund eine
                        Sammlung aller jener zerstreueten <index indexName="subjects-index">
          <term>Urkunden, christliche</term>
        </index>Urkunden, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_6_4"/>unter dem Namen <index indexName="subjects-index">
          <term>Kanon</term>
        </index><hi>Canon</hi>; oder ein kirchliches Verzeichnis aller der <pb xml:id="bs_f_page_40" n="40" edRef="#f"/> Schriften, welche die Bischöfe
                        als rechtmäsige Urkunden der (öffentlichen, gemeinschaftlichen) christlichen
                        Religion von nun an in ihren kirchlichen oder <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesellschaften, lokale</term>
        </index>localen Gesellschaften gelten lassen wolten; nur aus solchen Büchern
                        wurden die vorzulesenden Texte durch die <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsdiener</term>
        </index>Religionsdiener von nun an genommen. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_6_5"/>Es wurden daher sehr
                        viel andre bisher freistehende Schriften, allerley Evangelia, Geschichten
                        und Briefe der Apostel, Offenbarungen (Prophezeiungen) <hi>von nun an den
                            Kirchenbedienten, oder Clericis, untersagt</hi>, und nur unsre 4
                        Evangelia, Eine Apostelgeschichte des Lucas, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_6_6"/>13 oder 14 Briefe
                            <index indexName="persons-index">
          <term>Paulus</term>
        </index><persName ref="textgrid:251kf">Pauli</persName>, 7 oder 4 Briefe
                        anderer Apostel, und eine Offenbarung Johannis, zum neuen Testamente, bey
                        der katholischen bischöflichen Partey endlich gerechnet; und hiedurch eine
                            <hi>äusserliche Vereinigung</hi> der sonst einander noch nicht
                        unterworfenen Kirchen und ihrer Obern, zu Stande gebracht, also der Grund
                        sehr sicher gelegt, <hi>zu einer Herrschaft der kirchlichen Obern</hi> über
                        die bisher äusserlich noch freien Christen; welches der Grund einer
                        äusserlich sehr gleichförmigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsform</term>
        </index>Religionsform worden ist, wodurch die an sich freie christliche
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion, die auf der eigenen noch so <pb xml:id="bs_f_page_41" n="41" edRef="#f"/> unterschiedenen Erkenntnis
                        immer beruhet, immer mehr verdunkelt, und selbst das <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Religion</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_6_7"/>Wesen der
                        christlichen Religion, die innere heilige Wirksamkeit zur täglichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Besserung</term>
        </index>Besserung und <index indexName="subjects-index">
          <term>Vollkommenheit</term>
        </index>Vollkommenheit der einzelnen Christen, gar sehr unterdrückt worden
                        ist.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_6_1"><label>Apocrypha, oder ihres Inhalts wegen geheim gehaltenen
                            Bücher</label>
        <p>Gemeint sind alle frühjüdischen und frühchristlichen Texte, die nicht im
                            Alten oder Neuen Testament kanonisiert (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_6_4"/>) wurden. Vgl. auch Semler, <hi>Abhandlung von
                                freier Untersuchung des Canon</hi> I (1771), 10.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_6_2"><label>wie denn
                            aus der Apostelgeschichte und dem Briefe Pauli an die Christen in
                            Galatien schon die grose erste Theilung ersehen wird</label>
        <p>Gemeint ist der Konflikt zwischen sog. Juden- und Heidenchristen, der
                            u.a. auf dem Apostelkonzil in Jerusalem (ca. 48 n. Chr.) ausgetragen
                            wurde, vgl. Apg 15,1–29; Gal 2,1–21.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_6_3"><label>Verbrüderung der Bischöfe</label>
        <p>Gemeint sind etwa die Kanonisierungsbemühungen auf der Synode von
                            Karthago (397). Vgl. Semler, <hi>Abhandlung von freier Untersuchung des
                                Canon</hi> I (1771), 14: „daß daher 4) einige Bischöfe sich wegen
                            des <hi>Canons</hi> eben nun vereiniget haben; daß 5) namentlich die
                                <hi>africanische catholische</hi> Parthey sich mit der
                                <hi>römischen</hi> Kirche ausdrücklich verabredet und vereiniget
                            hat, nur so und so viel Bücher als <hi>canonische</hi> zum Vorlesen
                            gelten zu lassen“.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_6_4"><label>unter
                            dem Namen Canon</label>
        <p>Ab dem 2. Jh. wurden erste Versuche unternommen, die unterschiedlichen
                            Überlieferungen verbindlich zusammenzustellen. Um 200 taucht auch der
                            Begriff „novum testamentum“ für diesen Kanon (gr. „Richtschnur“)
                            heiliger Schriften auf. Vgl. dazu auch Semlers <hi>Abhandlung von freier
                                Untersuchung des Canon</hi> I (1771), 110–113[!] statt
                        129.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_6_5"><label>Es
                            wurden [...] allerley Evangelia, Geschichten und Briefe der Apostel,
                            Offenbarungen (Prophezeiungen) [...] untersagt</label>
        <p>Gemeint sind etwa das <hi>Thomas-</hi> und <hi>Petrusevangelium</hi>, die
                                <hi>Andreas-</hi> und <hi>Johannesakten</hi>, der
                                <hi>Barnabasbrief</hi> oder die <hi>Petrusapokalypse</hi> und
                                <hi>Hirte des Hermas</hi>. Die ausführlichste Liste solcher
                            Schriften bietet ein wohl späterer Zusatz zum <hi>Decretum
                                Gelasianum</hi> (382).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_6_6"><label>13 oder
                            14 Briefe Pauli, 7 oder 4 Briefe anderer Apostel</label>
        <p>Das <hi>Corpus Paulinum</hi> umfasst traditionell 13 Briefe, die Alte
                            Kirche zählte noch häufig Hebr dazu. Während die Synode von Karthago
                            (397) sieben weitere Briefe: 1/2Petr, 1–3Joh, Jud und Jak als kanonisch
                            ansah, qualifizierte Luther viele dieser Schriften als deuterokanonisch
                            (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_d_4_1a"/>).
                            Unterschiedliche historische Beispiele der Kanonisierung bietet Semler,
                                <hi>Abhandlung von freier Untersuchung des Canon</hi> I (1771),
                            9–15.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_6_7"><label>Wesen
                            der christlichen Religion, die innere heilige Wirksamkeit zur täglichen
                            Besserung und Vollkommenheit der einzelnen Christen</label>
        <p>Hier klingen zwei für das Denken der Aufklärung charakteristische Ideen
                            an: 1) Vervollkommnungsfähigkeit (Perfektibilität) als zentrales Merkmal
                            der Natur des Menschen; vgl. dazu etwa Spaldings <hi>Bestimmung des
                                Menschen</hi> (1748) und Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778)
                                <hi>Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi
                                les hommes</hi> (1755); 2) Identifikation des Wesens religiöser
                            Praxis mit dem Streben nach Moralität, beispielhaft ausgeführt in Kants
                            Religionsschrift (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_2_9"/>),
                            vorweggenommen im Werk der meisten Neologen, freilich – im Gegensatz zu
                            Kant – unter Betonung des irreduzibel <hi>christlichen</hi> Charakters
                            moralischer Religion. Vgl. auch <ptr type="page-ref" target="#erl_f_2_9"/>.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_7">
      <head type="question">7. Haben denn alle diese Bücher bei den Christen einerley
                        Göttlichkeit, oder eine gleiche göttliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Auktorität</term>
        </index>Auktorität für alle nachherigen Christen, daß der Inhalt
                            <hi>aller</hi> dieser Bücher von <hi>allen</hi> Christen als Theile
                        ihrer eigenen Erkenntnis, <hi>einmal wie allemal</hi> behalten und
                        unverändert fortgesezt werden muß?</head>
      <p>Wenn diese Frage historisch ist, ob die Bischöfe und Lehrer der christlichen
                        öffentlichen Religion dieses bejahet und alle Christen dazu angehalten
                        haben, diesen schlechten Gebrauch dieser Bücher als ihre christliche
                        vornehmste Pflicht anzusehen: so muß man die Frage bejahen. Die Bischöfe
                        haben allen diesen Büchern und ihrem ganzen Inhalte geradehin einerley
                        göttliches Ansehen beigelegt, und allen Christen <hi>diesen ganzen
                            Inhalt</hi>, so ungleich er ist, als eine von Gott herkommende
                        allgemeine <index indexName="subjects-index">
          <term>Belehrung</term>
        </index>Beleh<pb xml:id="bs_f_page_42" n="42" edRef="#f"/>rung immer fort zu
                        denken und zu behalten anempfolen; damit sie selbst gar keine <hi>neuen
                            christlichen jetzigen Einsichten und Urtheile</hi> anfangen solten, als
                        wodurch sie geradehin ewig verdammt würden. Indes, obgleich die meisten
                        Christen sich dieser bischöflichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenordnung</term>
        </index>Kirchenordnung unterworfen haben, da sie noch dazu weder griechisch,
                        noch auch die ältern Uebersezungen verstunden, weil sie eine jüngere <index indexName="subjects-index">
          <term>Landessprache</term>
        </index>Landessprache hatten, also über den Inhalt der Bücher gar nicht
                        selbst in ihren ganz andern Umständen nachdenken konnten: so stunden doch
                        oft einzelne fähigere Lehrer auf, welche diese Last erleichterten. Die
                        Bischöfe <hi>hatten die irrige Meinung</hi> (wol von griechischen
                        fanatischen Juden) daß jene so genannte <index indexName="subjects-index">
          <term>Septuaginta (LXX)</term>
        </index><foreign xml:lang="lat">LXX</foreign> Uebersezung aus <hi>einer
                            göttlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Inspiration</term>
          </index>Inspiration</hi> ihrem Inhalte nach entstanden seie; und <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_7_1"/>schon <index indexName="classics-index">
          <term>Justin</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:3r68n">Justinus</persName></hi> und nach
                        ihm mehrere bis noch auf den <index indexName="classics-index">
          <term>Augustinus von Hippo</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:2r5hd">Augustinus</persName></hi>,
                        glaubten, diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Septuaginta (LXX)</term>
        </index><foreign xml:lang="lat">LXX</foreign> enthielten durch <index indexName="subjects-index">
          <term>Inspiration</term>
        </index>Inspiration ihrer Verfasser den <hi>wahren Grund</hi> aller
                        christlichen Religion <hi>so gar durch solche Stellen</hi>, die im
                        Hebräischen Texte <hi>gar nicht</hi> oder <hi>ganz anders stunden</hi>. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_7_2"/>Daher sich unter den
                        Christen eben diese Meinung auch <hi>in Absicht der Bücher des</hi>
        <choice>
          <abbr><hi>N.</hi></abbr>
          <expan><hi>Neuen</hi></expan>
        </choice>
        <pb xml:id="bs_f_page_43" n="43" edRef="#f"/>
        <choice>
          <abbr><hi>T.</hi></abbr>
          <expan><hi>Testaments</hi></expan>
        </choice> geradehin ausbreitete; und sich bis kurz vor unserer Zeit bei den
                        meisten Theologis, oder Verfassern theologischer grosser und kleiner
                        Lehrbücher für Kandidaten des Lehramts erhalten hat, daß so gar <hi>alle
                            Worte</hi> und <hi>alle Wortfügungen</hi> aus göttlicher <index indexName="subjects-index">
          <term>Inspiration</term>
        </index><hi>Inspiration</hi> herkämen, und also einen Stillestand
                            <hi>eigener jetzigen <index indexName="subjects-index">
            <term>Erkenntnis</term>
          </index>Erkentnis</hi> mit sich brächten, durch blose
                            <hi>Wiederholung</hi> alles jenes Inhalts in diesen Büchern. Nun man
                        aber nach und nach die Geschichte des Textes des <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice> etwas genauer zu sammeln angefangen hat: so sind wenig christliche
                        Lehrer ferner so unwissend, daß sie Gottes unaufhörliche Wirkung oder <index indexName="subjects-index">
          <term>Inspiration</term>
        </index><hi>Inspiration</hi> ferner an jene <hi>griechische</hi> Worte und
                        ihren dortigen Inhalt fesseln wolten, da diese Worte geradehin allesamt in
                        vielerley Veränderungen und Umtauschungen angetroffen werden, also auch
                        nicht eine feststehende Summe der Gedanken enthalten können. Gottes <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung in den Aposteln oder Verfassern dieser Schriften, auf ihren
                        Verstand und Urtheil zu einer neuen Erkenntnis ist uns nun genug. Es
                        behalten aber alle Christen es frey, ihrer eignen Erkenntnis auch hier zu
                        folgen; und die göttliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Auktorität</term>
        </index>Auctorität aller dieser Bücher gerade<pb xml:id="bs_f_page_44" n="44" edRef="#f"/>hin zu behalten; alle Worte für göttlich eingegeben
                        zu halten; so lange sie jene Historie des Textes nicht wissen, oder aber nur
                            <hi>auf den <index indexName="subjects-index">
            <term>Inhalt</term>
          </index>Inhalt und <index indexName="subjects-index">
            <term>Wert der Wahrheiten</term>
          </index>Werth der Wahrheiten</hi> vornemlich zu sehen, welche in allen
                        Sprachen nun eben dasselbe Verhältnis haben, und die christliche Religion
                        immer über das Juden- und Heidentum erheben, wenn auch nicht aller sogar
                        wörtlich verschiedner Inhalt dieser Bücher zu den Bestandtheilen dieser
                        bessern Religion in Absicht aller und jeder Christen gehören kan.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_7_1"><label>schon
                            Justinus [...] bis auf den Augustinus, glaubten, diese LXX enthielten
                            durch Inspiration</label>
        <p>Justin der Märtyrer (ca. 100–165) beruft sich zwar in seinem <hi>Dialog
                                mit dem Juden Tryphon</hi> wiederholt auf die Septuaginta (LXX; vgl.
                                <ptr type="page-ref" target="#erl_f_2_6"/>) als einer verlässlichen
                            Übersetzung des hebräischen Texts, die unzweifelhaft auf Christus
                            vorausdeute, behauptet aber <hi>nicht</hi>, sie sei göttlich inspiriert
                            o.Ä. In der <hi>Ersten Apologie</hi>, 31, liefert Justin zudem eine von
                            der Legende des <hi>Aristeasbriefs</hi> abweichende Erklärung der
                            Entstehung der Septuaginta, die ohne Rekurs auf übernatürliche Vorgänge
                            auskommt. Anders Augustinus (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_71"/>), der sich im
                                <hi>Gottesstaat</hi> (<hi>De Civitate Dei</hi>), 18,42, besagter
                            Legende anschließt und u.a. von „göttlicher Übereinstimmung“ und
                            „nicht-menschlichen, göttlichen Schriften“ spricht; vgl. auch <hi>De
                                doctrina christiana</hi>, 2,15. Zum Entstehungsmythos der
                            Septuaginta äußert sich Semler ausführlich in: Versuch einer neuen
                            Aufgabe (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_2_6"/>).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_7_2"><label>Daher
                            sich unter den Christen eben diese Meinung [...] ausbreitete</label>
        <p>Vgl. <ref target="#bs_a_page_21">a21</ref>, <ref target="textgrid3cwnc#bs_b_104">b104</ref>.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_8">
      <head type="question">8. Aber muß denn der Inhalt des Einen Buches mit dem
                        Inhalte aller andern Bücher als ein vollständiges Ganzes zusammen gesezt
                        werden? Haben die Christen würklich in Absicht der christlichen Religion,
                        oder neuen moralischen Verehrung Gottes, vorzüglichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Nutzen</term>
        </index>Nutzen davon, wenn sie aus allen diesen Büchern alles zu einem
                        ganzen <index indexName="subjects-index">
          <term>System</term>
        </index>System oder Lehrbegriff, einmal wie allemal, für sich zusammen
                        sezen?</head>
      <p><pb xml:id="bs_f_page_45" n="45" edRef="#f"/> Man muß wol den so ungleichen
                        Christen, deren Lehrer sogar ebenfals sehr ungleich waren, es frey lassen,
                        hierüber für sich zu entscheiden, sowol in Ansehung der öffentlichen als der
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion. Freilich hat <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> selbst nur
                        vornemlich <hi>mit <index indexName="subjects-index">
            <term>Juden</term>
          </index>Juden zu thun gehabt</hi>, und es gab den Unterricht damals noch
                        nicht vor dem Ende der Historie Christi, den die Apostel nachher, ebenfals
                        stufenweise, bekannt machten. Kein Apostel hat die Vorschrift gegeben, daß
                        alle nachherigen Schüler, die keine solche Juden waren, eben so behandelt
                        werden solten als die damaligen Juden. Es waren auch diese vielerley
                        Schriften vom Anfange an, über 300 Jahre lang, nicht alle zusammen
                        gesammlet, daß man aus allen alles hätte zusammen sezen können. Da nun alle
                        Christen ihre eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis</term>
        </index>Erkenntnis und <index indexName="subjects-index">
          <term>Glaube</term>
        </index>Glauben an Vater, Sohn und heiligen Geist immer mehr erweitern,
                        nicht aber die Meinung der damaligen Juden schon gar ihrer christlichen
                        Religion einrechnen sollen, die bey den Juden noch gar nicht anzutreffen
                        war: so kann es wenigstens nicht eine allgemeine Vorschrift für alle
                        Christen heissen, wenn auch manche Christen eine solche <hi>Mischung</hi>
                        jener Erzälungen und Anzeigen, <pb xml:id="bs_f_page_46" n="46" edRef="#f"/>
                        würklich zum festen Grunde und Inhalte <hi>ihrer eigenen jetzigen
                            Religion</hi> rechneten. Der Grund der christlichen neuen Religion
                        begreift nicht die jüdischen Meinungen von <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Engel</term>
          </index>Engeln, <index indexName="subjects-index">
            <term>Dämonen</term>
          </index>Dämonen</hi>, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_8_1"/>Schoos <index indexName="persons-index">
          <term>Abraham</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6sz">Abrahams</persName>
        <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> sondern neue, freie, moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Wahrheiten, freie moralische</term>
        </index>Wahrheiten, welche <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> freilich im
                        Umgange mit Juden also eingekleidet hat, daß er ihren Eingang bei den Juden
                        nicht selbst erschwerte. Die Absicht aller dieser Bücher war doch wirklich,
                        daß nun <hi>neue Gedanken</hi> und <hi>Urtheile</hi>, und eine <hi>neue
                            jetzige Erkenntnis</hi> immer weiter entstehen sollte, in den
                        Theilnemern an einer neuen moralischen Religion. Diese eigene neue
                        Erkenntnis, <hi>wodurch man jetzt selbst ein Christ wird und bleibt</hi>,
                        stehet noch nicht in diesen Büchern in einer entschiedenen und ausgemachten
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorschriften</term>
        </index>Vorschrift oder Verknüpfung da; wenn gleich die damalige Meinungen
                        der Juden, welche Christus oder die Apostel besser belehren wollten, oft
                        vorkommen und gemeldet werden mußten. Die <index indexName="subjects-index">
          <term>Denkungsart der Juden</term>
        </index>Denkungsart der Juden konnte nicht so gleich in eine neue schon ganz
                            <hi>christliche</hi> verwandelt werden, weil sie an eine jüdische Farbe
                        gewönet waren; aber es stehet nun bei den Lehrern und Christen, was sie von
                            <hi>dieser dama</hi><pb xml:id="bs_f_page_47" n="47" edRef="#f"/><hi>ligen <index indexName="subjects-index">
            <term>Modifikation, lokale</term>
          </index>localen Modification</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrart, lokale</term>
        </index>Lehrart jetzt zur christlichen neuen Erkenntnis rechnen wollen. Es
                        gehet nun nach der Abtheilung <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_8_2"/>in jener <hi>Parabel</hi>; ein Acker trägt 10–20,
                        ein andrer 60 fältig; oder die Fähigkeit der neuen Christen ist sehr
                        ungleich; sie müssen wenigstens nicht alle in ein <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, einerlei</term>
        </index>einziges Maas gestellt werden, was ihre Privat-Religion betrifft.
                        Sie mögen diese aus diesen Büchern in freier Wahl und <choice>
          <sic>Beurtheiluug</sic>
          <corr type="editorial">Beurtheilung</corr>
        </choice> sich gewissenhaft aussuchen; wenn auch die öffentliche
                        gesellschaftliche Religionsübung einer feststehenden <index indexName="subjects-index">
          <term>Ordnung</term>
        </index>Ordnung folget, welche sie in Absicht auf den öffentlichen Gebrauch
                        dieser Bücher, bei einer großen Gesellschaft, so oder so angenommen hat.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_8_1"><label>Schoos
                            Abrahams</label>
        <p>Abrahams Schoß (vgl. Lk 16,23) gilt im Judentum als Ort der Seligkeit
                            oder aber als ruhevoller Ort, wo die Verstorbenen das Kommen des Messias
                            erwarten.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_8_2"><label>in jener
                            Parabel; ein Acker trägt 10–20, ein andrer 60 fältig</label>
        <p>Anspielung auf das Gleichnis vom Sämann (auch „Gleichnis vom vierfachen
                            Ackerfeld“) und Jesu Deutung desselben; vgl. Mt 13,3–9.18–23; Mk 4,3–20;
                            Lk 8,4–8.11–15 .</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_9">
      <head type="question">9. Warum haben aber die Christen aller Parteien aus allen
                        diesen Büchern für ihre öffentliche Religionsform eine <hi>feststehende
                            Summe</hi> von <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrsätze</term>
        </index>Lehrsäzen zusammen getragen, von welcher Summe jede Partey die wahre
                        christliche Religion und die ewige Seligkeit aller Christen oder Menschen
                        abhängen läßt?</head>
      <p><pb xml:id="bs_f_page_48" n="48" edRef="#f"/> Diese lezte Meinung kan zwar
                        auf dem Gewissen der Lehrer beruhen, und folglich auch die <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen solcher Christen verbinden, welche keine andere Einsicht
                        haben. Im Grunde aber haben alle diese so ungleichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrbegriffe, ungleiche</term>
        </index>Lehrbegriffe <hi>nur eine äusserliche Absicht</hi>; nemlich die
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Vereinigung</term>
        </index>Vereinigung einer großen Menge zu einer besondern christlichen
                        Religionsgesellschaft zu Stande zu bringen, und nun fortzusezen. Die
                        jedesmaligen Urheber einer solchen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsparteien</term>
        </index>Religionspartei hatten über diese Bücher oder Urkunden der
                        christlichen Religion <hi>nicht einerley <index indexName="subjects-index">
            <term>Grundsätze, einerlei</term>
          </index>Grundsätze</hi>, und konnten sie nicht haben; sie waren aber
                        immer die Anfänger einer besondern christlichen Gesellschaft, und sezten
                        also den gemeinschaftlichen Lehrbegriff feste, <hi>der ihre Gesellschaft von
                            andern unterschied</hi>, und alle ihre Mitglieder immer durch einen
                            <hi>gleichförmigen <index indexName="subjects-index">
            <term>Unterricht</term>
          </index>Unterricht</hi> in eben dieser Gesellschaft erhielt, und die
                        Mitglieder anderer christlichen öffentlichen Parteien ganz gewis immer
                        absonderte, um <hi>äusserlicher <index indexName="subjects-index">
            <term>Umstände, äußerliche</term>
          </index>Umstände</hi> willen, die schon voraus lagen. Es wurde also eine
                        gleichförmige Erklärung und <index indexName="subjects-index">
          <term>Anwendung</term>
        </index>Anwendung dieser Bücher <hi>in jeder besondern Gesellschaft</hi>
                        eingefüret mit jetziger Einwilligung der Mitglieder; wo<pb xml:id="bs_f_page_49" n="49" edRef="#f"/>durch diese einmalige
                        Verbindung einer Religionsgesellschaft immer fortgesezt, und die Vermischung
                        mit einer andern Religionspartey oder die tägliche Spaltung und Zerrüttung
                        nun verhütet wurde. Diese <hi>allererste äusserliche Absicht</hi> der immer
                        neuen Anfänger christlicher Gesellschaften, ist <hi>historisch gewis</hi>;
                        und diese Vereinigung durch eine gleichförmige öffentliche Lehrordnung war
                        ganz rechtmäßig, da es eine allereinzige allgemeine <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrordnung</term>
        </index>Lehrordnung <hi>weder gab noch geben konnte</hi>, die eines
                        göttlichen Ursprungs wegen, oder wegen ausgemachter höchster Vollkommenheit,
                        für alle Christen aller Zeiten schon gehöret hätte. Wenn aber nun Lehrer gar
                        behaupteten, eben diese ihre Lehrartikel in ihrer Religions-Gesellschaft,
                        die sie aus dem <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> gesammlet hatten, enthielten <hi>allein und <index indexName="subjects-index">
            <term>ausschliessungsweise</term>
          </index>ausschliessungsweise</hi> den wahren Grund der christlichen
                        Verehrung Gottes, und der Wohlfart und Seligkeit, welche <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> wider alle blos
                        äusserliche Religionsordnung so deutlich aufgestellet, gelehret und zuerst
                        für Christen möglich gemacht hat: so ist diese Behauptung schon eine
                        kentliche Abweichung von dem unendlichen Grunde und freien Umfange der
                        christlichen Wohlfart, in besserer <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis Gottes</term>
        </index>Erkenntnis <pb xml:id="bs_f_page_50" n="50" edRef="#f"/> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes</term>
        </index><choice>
          <sic>Verehrnng</sic>
          <corr type="editorial">Verehrung</corr>
        </choice> des unendlichen Gottes. Denn <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_9_1"/>die <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis Gottes</term>
        </index>Erkenntnis und Verehrung Gottes im <index indexName="subjects-index">
          <term>Geist und Wahrheit</term>
        </index>Geist und in der Wahrheit oder die immer vollkommener wird, und
                        stets ohne äusserliche Einschränkung ist, kan von keinen Bischöfen und
                        Lehrern oder Befehlshabern in ein einzelnes <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, einerlei</term>
        </index>Maas gefasset werden, ohne eben diese vollkommnere fortgehende
                        eigene Erkentnis durch menschliches abermaliges Ansehen unrechtmäßig zu
                        hindern, und in einem einzelnen Kreise herum zu schieben, daß also der
                        Christen eigene freie moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Verschiedenheit, freie moralische</term>
        </index>Verschiedenheit geradehin aufgehoben würde. Der <index indexName="subjects-index">
          <term>Unterricht</term>
        </index>Unterricht <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> und der Apostel
                            <hi>hatte kein vorausliegendes festgesetztes <index indexName="subjects-index">
            <term>Maß</term>
          </index>Maas</hi>, sondern wurde <hi>nach den Fähigkeiten der
                            Zuhörer</hi> eingerichtet, um sie alle, jeden in besonderer Stufe zu der
                            <hi>eigenen, gegenwärtigen, und fortwachsenden</hi> Religion anzuleiten.
                        Daher ist auch keine Vorschrift, kein Model oder fester Maasstab für alle
                        Lehrer abgegeben worden; weil ihre Zuhörer nicht immer eben dieselben und
                        unter eben denselben Umständen seyn <choice>
          <sic>konnten,</sic>
          <corr type="editorial">konnten.</corr>
        </choice> So bald aber eine grössere Menge von Schülern sich angab, die
                        allesamt zur christlichen Gesellschaft aufgenommen werden wolten: so konnte
                        der Lehrer <hi>nicht</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_51" n="51" edRef="#f"/>
        <hi>mit allen einzelnen handeln</hi>; und es entstunden nun <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrformen</term>
        </index>Lehrformen, <hi>wodurch viele oder alle Schüler</hi> als wirkliche
                        Glieder dieser Gesellschaft einander <hi>erkennen solten</hi>; es blieb aber
                            <hi>ihre <index indexName="subjects-index">
            <term>Ungleichheit, moralische</term>
          </index>moralische Ungleichheit</hi>, wie sie war, wenn sie nicht
                        gesellschaftliche Zusammenkünfte hatten. Da es nun immer mehr viel so
                        genannte <index indexName="subjects-index">
          <term>Clerici</term>
        </index>Clericos gab, oder <hi>Kandidaten</hi>, die in den öffentlichen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrstand</term>
        </index>Lehrstand treten oder öffentliche Religionsdiener werden wollten: so
                        wurden auch den Clericis von den Obern oder Vorstehern, dergleichen
                        Vorschriften <hi>ihres öffentlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Lehramt, öffentliches</term>
          </index>Lehramts</hi>, das sie <hi>für mehrere Mitglieder zugleich
                            öffentlich füreten</hi>, gegeben. Wenn diese Christen ihre grössere
                        innere Volkommenheit von eben dieser neuen christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache, christliche</term>
        </index>Sprache, oder buchstäblichen Lehrartikeln schon erwarteten, ohne
                        eigene fortgehende moralische Uebung und Fertigkeiten: so irrten sie
                        freylich, sogar im Grunde einer eigenen besondern Verehrung Gottes; wenn
                        gleich leider die Clerisey sich durch solche ganz falsche Behauptung immer
                        mehr, nicht als Lehrer, sondern als Gebieter und Befehlshaber geltend
                        machte. Aller Erfolg von solchen Lehrformen war in jeder Partei zunächst
                            <hi>nur ein äusserlicher</hi>; die Fortse<pb xml:id="bs_f_page_52" n="52" edRef="#f"/>zung der gemeinschaftlichen Rechte dieser
                        Religionsgesellschaft. Wenn Christen wirklich innerlich bessere Menschen,
                        bessere Verehrer Gottes selbst wurden, <hi>so entstund dis durch ihre eigene
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Übung</term>
          </index>Uebung</hi>, nicht durch die Lehrartikel, wie sie in der
                        kirchlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache, kirchliche</term>
        </index>Sprache <hi>unverändert</hi> von allen Mitgliedern gemeinschaftlich,
                            <hi>öffentlich wiederholet werden</hi>. Alle Lehrartikel, deren Inhalt
                        eine Religionspartey jezt bestimmt und festsezt und bei ihren Lehrern und
                        Mitgliedern öffentlich, gemeinschaftlich darauf hält: <hi>haben durchaus nur
                            einen äusserlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Endzweck</term>
          </index>Endzweck</hi>; auf den die grössere Gesellschaft freylich bei
                        den versamleten Gliedern halten kann; weil jede äusserliche durch Vertrag
                        errichtete Religionsform, der Maasstab seyn kann, wornach die Gesellschaft
                        ihre Lehrer und Mitglieder beurtheilt, ob sie dem Vertrage noch entsprechen.
                        Ueber die <hi>innere</hi> Religion aber kan die Gesellschaft nichts
                        verordnen; sie gehört in die unsichtbare moralische Welt, nicht in die
                        bürgerliche.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_9_1"><label>die
                            Erkenntnis und Verehrung Gottes im Geist und in der Wahrheit</label>
        <p>Anspielung auf Joh 4,24.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_10">
      <head type="question">10. So haben also die so vielen Parteien der Christen
                        lange Zeit die öffentliche gesellschaftliche Religionsform, die von Menschen
                        eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Ordnung</term>
        </index>Ordnung bekommt, der fernern gesellschaft<pb xml:id="bs_f_page_53" n="53" edRef="#f"/>lichen Verbindung wegen <hi>gar verwechselt</hi> mit
                        der eigenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion aller fähigern Christen, oder aller verständigen
                        Menschen; die eine stets ungleiche Uebung und Fertigkeit mancher einzelnen
                        Christen seyn und immer besser werden kann. Die so sehr ungleichen Folgen
                        der Privat-Religion sind ja nicht schon in der Absicht der öffentlichen
                        Religion enthalten, wenn gleich die Absicht der Lehrformen durch diese
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Einheit der Lehrordnung</term>
        </index>Einheit der Lehrordnung einmal wie allemal, gleichsam mechanisch
                        erhalten wird. Denn bey allem gleichförmigen Gebrauche der äusserlichen
                        festen Religionsordnung sind doch die einzelnen Christen einander sehr
                        ungleich in Absicht der eigenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Übung</term>
        </index>Uebung der ihnen <hi>immerfort Tag und Nacht</hi> obliegenden
                        eigenen Religion; die öffentliche gesellschaftliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsübung</term>
        </index>Religionsübung aber <hi>ist an eine gewisse Zeit, Ort und Reihe oder
                            Ordnung</hi>, in Absicht <hi>aller jezt versammleten</hi> Christen,
                        gebunden; ohne auf ihre einzelne Privat-Religion in so viel verschiedenen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Stufen</term>
        </index>Stufen eben so vorschriftlich schon einzufließen?</head>
      <p><pb xml:id="bs_f_page_54" n="54" edRef="#f"/> Freilich haben die Obern oder
                        Vorsteher der öffentlichen Religion diese <hi>grobe <index indexName="subjects-index">
            <term>Vermischung (privat/öffentlich)</term>
          </index>Vermischung</hi> meist wissentlich und bedächtig eingefüret,
                        wenn auch viele gemeine einfältige Christen von selbst dahin geraten konten,
                        die <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes</term>
        </index>Verehrung Gottes in einer festen <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewohnheit</term>
        </index>Gewonheit oder Hof-Ordnung gleichsam und Etiquette, christlicher
                        Gesänge, Gebete, und kirchlicher gemeinschaftlicher Handlungen zu sezen,
                        ohne eigene wachsende Erkentnis über das Algemeine, neben der ersten
                        historischen Kentnis des neuen Inhalts dieser <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion</term>
        </index>Religion: der sich freilich durch neue Vorstellungen und Urtheile
                        von dem alten Inhalt der vorigen Gedanken von Gott und seiner Verehrung gar
                        sehr unterscheiden muste. <index indexName="subjects-index">
          <term>Rabbinen</term>
        </index>Rabbinen und jüdische Religionslehrer hatten bis dahin von ihrem
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Jehova</term>
        </index><hi>Jehova</hi>, von seinem <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias</term>
        </index><hi>Messias</hi>, von dem sie als Juden <hi>politische</hi> Erhebung
                        über alle Nationen hofften, und von dem Geiste Gottes, der solches Reich des
                        Messias durch die Propheten geweissaget haben solte, sehr geringe, sehr
                        niedrige Vorstellungen ausgebreitet und <index indexName="subjects-index">
          <term>patriotisch</term>
        </index>patriotisch genug unterhalten, die sich nur auf die jüdische Nation,
                        auf ihr heiliges Land, auf Jerusalem, und den Tempel bezogen. Der Stand der
                        grossen jüdischen <pb xml:id="bs_f_page_55" n="55" edRef="#f"/> Clerisey,
                        die ganze politische Lage des <choice>
          <sic>Vokls</sic>
          <corr type="editorial">Volks</corr>
        </choice>, das unter Heiden lebte, und doch Gottes Volk wäre, war in dieser
                        jüdischen Religion vornemlich berechnet; und der würdige Begriff von der
                        Allgemeinheit Gottes, und seinem gleichen moralischen Verhältnis über alle
                        Menschen, also die unendliche freie Verehrung Gottes, wie sie von einzelnen
                        Menschen <index indexName="subjects-index">
          <term>privatim</term>
        </index><foreign xml:lang="lat">privatim</foreign> geleistet wird, in immer
                        verschiedenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes, Stufen der</term>
        </index>Stufen war ganz verloren oder unbekannt worden, durch <index indexName="subjects-index">
          <term>Übertreibung der äußerlichen Religion</term>
        </index>Uebertreibung der äusserlichen Religion, welche die ganze Nation,
                        als einen <hi>politischen</hi> Körper zusammen hielt; ohnerachtet in jenen
                        alten Büchern der <index indexName="subjects-index">
          <term>Juden</term>
        </index>Juden von dieser eigenen freien <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion fähiger Menschen so viel Belehrungen und Beispiele
                        gefunden wurden. Durch die Bischöfe ist eben <hi>diese blos politische
                            Beherrschung</hi> der Christen wieder so erneuert worden, als sie unter
                        den Juden je gewesen ist; daher auch der reine edle freie Geist der neuen
                        Religion, die doch von einem ganz andern moralischen Christus gestiftet, und
                        worinn der offene Zugang zu Gott ohne <index indexName="subjects-index">
          <term>Leviten</term>
        </index>Leviten allen Christen gewiesen war, <hi>durch die <index indexName="subjects-index">
            <term>Übertreibung der äußerlichen Religion</term>
          </index>Uebertreibung der <index indexName="subjects-index">
            <term>Religion, kirchliche</term>
          </index>kirchlichen Religion</hi>, und durch zu grossen Einflus <pb xml:id="bs_f_page_56" n="56" edRef="#f"/> der Religionsdiener ganz
                        unterdrückt worden. Es giebt aber doch immer fähigere Menschen, die ihre
                        eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis</term>
        </index>Erkentnis sich selbst nicht untersagen lassen, wornach sie jene
                        Verehrung Gottes im Geiste und in der Wahrheit selbst innerlich unaufhörlich
                        leisten: wenn auch viele andre Christen dazu nicht aufgelegt sind, und nur
                        die öffentliche Religion mit machen. Alles, was die öffentlichen
                        Religionsdiener, oder <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchendiener</term>
        </index>Kirchendiener, dem ihnen zugetheilten Amte nach, so verrichten, daß
                        die andern Christen <hi>diese Handlungen nicht selbst thun können, gehört
                            zur gesellschaftlichen verabredeten <index indexName="subjects-index">
            <term>Religionsordnung</term>
          </index>Religionsordnung</hi>. Wenn in den Christen ein <index indexName="subjects-index">
          <term>Nutzen, moralischer</term>
        </index>moralischer Nuzen dadurch entstehen sol, so gehören nun <hi>ihre
                            eigenen besondern Uebungen noch dazu</hi>. Durch jene Beschäftigungen
                        oder Verrichtungen der Religionsdiener allein <hi>wird der Mensch noch nicht
                            seiner christlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Wohlfahrt</term>
          </index>Wohlfart</hi> schon theilhaftig; noch weniger ist der Erfolg
                        davon in allen Christen eines und desselben Umfanges. Hier haben aber die
                        Bischöfe diese ganz unentberliche freie, <hi>ihnen gar nicht unterworfene
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Privatreligion</term>
          </index>Privat-Religion</hi>, für unnötig, ja gar für unerlaubt erklärt,
                        und haben den <hi>feierlichen öffent</hi><pb xml:id="bs_f_page_57" n="57" edRef="#f"/><hi>lichen</hi> Handlungen, die sie selbst immer verrichten,
                        oder durch ihre Unterbediente verrichten lassen, ausschliesender Weise
                            <hi>alle <index indexName="subjects-index">
            <term>Gottes Wirkung</term>
          </index>Wirkung und Kraft Gottes beigelegt</hi>, wodurch alle andre
                        Christen nun ganz gewis schon selig würden. Unfähige, unwissende <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenglieder</term>
        </index>Kirchenglieder haben dieses leicht und willig geglaubt; wenn man
                        aber dieses geradehin für die wahre christliche Verehrung Gottes halten
                        soll: so wird denen Christen die <hi>eigene <index indexName="subjects-index">
            <term>Erkenntnis Gottes</term>
          </index>Erkenntnis und <index indexName="subjects-index">
            <term>Verehrung Gottes</term>
          </index>Verehrung Gottes eben so wieder entzogen</hi>, und einer
                        menschlichen Autorität einmal für allemal unterworfen, als es durch <index indexName="subjects-index">
          <term>Rabbinen</term>
        </index>Rabbinen und <index indexName="subjects-index">
          <term>Pharisäer</term>
        </index>Pharisäer geschehen ist; als es aber unter keinem heidnischen Staate
                        in der ganzen Menschenwelt nicht angetroffen wird. Diese Tiranney der
                        Bischöfe <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_10_1"/>unter dem
                        Namen <hi>der allein wahren <index indexName="subjects-index">
            <term>Kirche, einzig wahre</term>
          </index>Kirche</hi> ist von allen verständigen Christen jederzeit
                        eingesehen und verabscheuet worden; indem es eine <hi>vorsezliche
                            Verleugnung</hi> der wahren Grundsäze der christlichen Verehrung des
                        unendlichen Gottes einschliesset. Die unendliche moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Herrlichkeit Gottes, moralische</term>
        </index>Herrlichkeit Gottes wird durch die wahre christliche Religion zu
                        allernächst, vorzüglich, unmittelbar bejahet und behauptet. Ein solcher Sohn
                            Got<pb xml:id="bs_f_page_58" n="58" edRef="#f"/>tes und <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName>, der selbst es so
                        oft sagt, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_10_2"/>daß er Gott
                        unter den Juden <hi>verklären, verherrlichen</hi> wolle und solle, wider die
                        bisherige jüdische <index indexName="subjects-index">
          <term>Mikrologie</term>
        </index><hi>Mikrologie</hi> ist eben das unendliche moralische allgemeine
                        Mittel zu dieser immer fortgehenden Erkentnis und bessern Verehrung Gottes.
                        Aber die Bischöfe und Pfaffen haben die christliche Religion, deren Diener
                        sie <hi>nur in Absicht der größern immer ungleichen Gesellschaft seyn
                            sollen</hi>, um ihrer eignen Ehre und Vorzüge willen gerade in das
                        Hindernis verwandelt: daß diese unendliche grosse <index indexName="subjects-index">
          <term>Herrlichkeit Gottes</term>
        </index>Herrlichkeit Gottes ja nicht weiter von den Christen selbst erkant
                        werden dürfe oder könne, als sie selbst es vorschreiben. Diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Übertreibung der äußerlichen Religion</term>
        </index>Uebertreibung der viel kleinern Absicht der gesellschaftlichen
                        öffentlichen Religion, die sich stets auf die daseiende grosse und immer
                        ungleiche Menge der Bürger beziehet, ist für alle billige und <index indexName="subjects-index">
          <term>unparteiisch</term>
        </index>unparteiische Beobachter ganz ausgemacht; und kan nicht anders
                        verhütet und gehörig eingeschränkt werden, als durch das wahre <choice>
          <sic>rechtmässiige</sic>
          <corr type="editorial">rechtmässige</corr>
        </choice> Verhältnis der öffentlichen Religionsordnung; das keinesweges ein
                        und eben dasselbe <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, einerlei</term>
        </index>Maas der Privat-Religion für fähige und unfähige Christen mit sich
                        bringen kan, ohne gar eine noch unerträglichere <pb xml:id="bs_f_page_59" n="59" edRef="#f"/> Tiranney von <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christo</persName> und den Aposteln
                        herzuleiten, als sie schon von den damaligen Pfaffen ausgeübet worden. Es
                        muß also die gesellschaftliche Bestimmung der Religionsdiener, nicht auf
                        aller Mitglieder gleiche blos leidentliche <hi>Theilnemung</hi> ausgedehnet
                        werden; sondern die Talente und Fähigkeiten der privat Christen, oder der
                        Christen, wenn sie ausser dieser gesellschaftlichen Theilnemung an der
                        feierlichen oder gemeinschaftlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsbeschäftigung</term>
        </index>Religionsbeschäftigung privatim Gott verehren, <hi>müssen alle ihre
                            rechtmäßige, ihre selbst <index indexName="subjects-index">
            <term>moralisch nützlich</term>
          </index>moralisch-nüzliche Tätigkeit und Wirksamkeit frey behalten</hi>;
                        ohne doch durch diese immer ungleiche Privat-Religion das rechtmäßige
                        bürgerliche Verhältnis der öffentlichen gemeinschaftlichen Religionsform
                        jemalen vorsezlich zu stören, denn hier ist ein <hi>anderer <index indexName="subjects-index">
            <term>Endzweck</term>
          </index>Endzweck</hi>; eine gesellschaftliche <hi>Verbindung</hi>. Die
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion hat aber jedes Mitglied, <hi>um seines eigenen
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Bestes, moralisch</term>
          </index>moralischen</hi> Besten willen, <hi>unaufhörlich in innerlicher
                            Uebung</hi>, ohne andre Mitglieder, ohne Abtheilung der Handlungen und
                        Geschäfte. Es mus immer bei dem grössern Theil der Religionsgesellschaft
                        stehen, ob sie eine Veränderung der öffentlichen Religionsform für gut und
                        nötig <pb xml:id="bs_f_page_60" n="60" edRef="#f"/> halten kan; sonst wird
                        der Vertrag, den die Gesellschaft sowol mit den Religionsdienern als mit
                        allen ihren Gliedern errichtet hat, täglich von einzelnen Personen
                        zerrissen, und es wird also das Band der Gesellschaft, das eben wider
                        tägliche Zerrüttung und Spaltung geknüpft worden war, immer aufgelöset. Das
                            <hi>Gute</hi> oder <hi>Nötige</hi> behält immer seine ungleiche Relation
                        in der <index indexName="subjects-index">
          <term>Lokalität</term>
        </index><hi>Localität</hi>; daher sind die so verschiedenen christlichen
                        Religionsparteien in den verschiedenen Staaten, Ländern und Zeiten, worin
                        sich diese Menschen befanden, da sie zur christlichen Gesellschaft gebracht
                        wurden, auf eine unwiderstehliche Weise entstanden. Die <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit der Menschen in ganz andern Umständen bringt eine
                        Ungleichheit ihrer Gesellschaften, also auch der Religionsgesellschaft mit
                        sich, wobei gleichwol das <hi>Prädikat</hi>, eine <hi>gute nötige</hi>
                        Religionsordnung für eine große Menge wirklich statt findet. Diese von Gott
                        selbst herrürende <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit haben die Päbste und Bischöfe durch ihre neue jüdische
                            <hi>Theokratie</hi> und <hi>Hierarchie</hi>, so viel sie konnten,
                        aufgehoben, und für alle Christen auch privatim, eine allereinzige blos
                            <hi>äusserliche</hi> Religionsform eingefüret mit wissentlicher
                            Unterdrü<pb xml:id="bs_f_page_61" n="61" edRef="#f"/>kung der freien
                        geistlich eigenen Religion der einzelnen fähigern Menschen; daher sind auch
                        die meisten <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenglieder</term>
        </index>Kirchenglieder in einem Zustande geblieben, der freilich von
                        Verehrung Gottes immer weit entfernet ist.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_10_1"><label>unter
                            dem Namen der allein wahren Kirche</label>
        <p>Anspielung auf das Cyprian v. Karthago (3. Jh.) zugeschriebene Diktum
                                <hi>extra ecclesiam nulla salus</hi> („außerhalb der Kirche kein
                            Heil“), das katholischerseits häufig in Abgrenzung zum Protestantismus
                            bemüht wurde.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_10_2"><label>daß er
                            Gott unter den Juden verklären, verherrlichen wolle und solle</label>
        <p>Das Motiv des Verherrlichens (<foreign xml:lang="grc">δοξάζειν</foreign>)
                            Gottvaters durch Jesus findet sich im Johannesevangelium, vgl. etwa Joh
                            17. Luther übersetzt „verkleren“.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_11">
      <head type="question">11. Da sich aber alle diese verschiedenen christlichen
                        Religionsparteien die wahre christliche Religion ausschliessender Weise
                        durch besondere <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrartikel</term>
        </index>Lehrartikel beilegen, und sogar einander zur Ehre Gottes –
                        verfluchen und verdammen, oder dafür öffentlich ansehen, daß sie an dem
                        unendlichen Gott und seiner moralischen unermeslich herrlichen Gnade keinen
                        Antheil haben könten: wo ist denn nun <hi>die wahre christliche
                            Religion</hi> bei so vielerley <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsform</term>
        </index>Religionsformen?</head>
      <p><hi>Sie ist durchaus in den <index indexName="subjects-index">
            <term>Gemüt</term>
          </index>Gemütern aller wahren Christen</hi> unter allen Parteien. Blos
                        die <index indexName="subjects-index">
          <term>Vermischung (privat/öffentlich)</term>
        </index>Vermischung der <hi>äusserlichen</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsordnung</term>
        </index>Religionsordnung, welche freilich in jeder Gesellschaft <hi>immer
                            nur eine einzige</hi> ist, aber nur durch gesellschaftliche Verabredung,
                        zu gesellschaftlicher Absicht und Verbindung aller dieser Mitglieder eine
                        solche <index indexName="subjects-index">
          <term>Ordnung</term>
        </index>Ordnung <pb xml:id="bs_f_page_62" n="62" edRef="#f"/> worden ist,
                        mit der <hi>innern stets</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>relativ wahr</term>
        </index>relative <hi>wahren christlichen Religion</hi>, (welche den <index indexName="subjects-index">
          <term>Stufen</term>
        </index>Stufen nach immer grössere oder kleinere, also <hi>nie eine
                            allereinzige</hi>, sondern immer gleiche Fertigkeit und ohne
                            <hi>äusserliche</hi> Einheit ist,) hat jenen falschen Eifer unter den
                        Christen ausgebreitet und eben so lange unterhalten, als diese
                            <hi>Vermischung</hi> dauert. Wenn auch der Vorsaz listiger Menschen, den
                        schon die Apostel damalen neben sich fanden, dis politische gemischte <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionssystem, politisches</term>
        </index>Religionssystem erschaffen hat: so haben sie doch ihren Schülern
                        eben diesen Geist des Hasses und Neides unter der Gestalt der wahren
                        Religion mittheilen müssen, um durch einen grossen Haufen, der zu eignen
                        Kentnissen nicht fähig oder geneigt ist, ihren politischen Zweck immer ganz
                        leicht zu erreichen. <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_11_1"/><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> hatte sich und das <index indexName="subjects-index">
          <term>Reich Gottes, moralisches</term>
        </index>moralische Reich Gottes von allen Königen und Fürsten in äusserlich
                        politischen Staaten, gar sehr unterschieden; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_11_2"/>er machte es seinen
                        Schülern zur Pflicht, alles selbst für sich zu <index indexName="subjects-index">
          <term>prüfen</term>
        </index>prüfen, und <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_11_3"/>für falschen Propheten sich zu hüten, die immer die wahre Religion
                        vorgeben und ihre eigene Prüfung ausschließen würden. Man würde sagen, hie
                        ist Christus, da ist Christus. Eben <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_11_4"/>so liessen die Apo<pb xml:id="bs_f_page_63" n="63" edRef="#f"/>stel alle bürgerliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Obrigkeit</term>
        </index>Obrigkeit, alle äusserliche Ordnung stehen, und drangen sich nirgend
                        auf, um <hi>alle</hi> Menschen zu Einer und derselbigen christlichen
                        Religion, noch dazu in äusserlicher Form und Vorschrift zu zwingen. Es ist
                        also ganz ausgemacht, daß die Bischöfe nach und nach <hi>einen ganz andern
                            neuen <index indexName="subjects-index">
            <term>Endzweck</term>
          </index>Endzweck</hi> sich vorgesezt, und durch Einwilligung des Staats,
                        dessen Nuzen sie vorspiegelten, immer mehr erreicht haben: als der große
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Zweck, großer moralischer</term>
        </index>moralische Zweck war, den <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> und die Apostel
                        wirklich allein vor Augen hatten, da sie eine bessere, vollkommnere, eigene
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatverehrung</term>
        </index><hi>Privat</hi>-Verehrung Gottes lehreten, welche alle Menschen als
                        Kinder Eines unendlichen Vaters ansiehet, und in der Lehre und Historie
                        Christi den freien unendlichen Grund findet, daß alle Menschen, Juden und
                        Heiden von ihnen <hi>dafür angesehen werden müssen</hi>, daß sie an der
                        moralischen Gnade und Güte Gottes eben so Antheil haben können, als an den
                        Wohlthaten in der physischen Welt, obgleich immer in eben so ungleichen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Stufen</term>
        </index>Stufen und Verhältnissen; daß eben derselbe unendliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Geist Gottes</term>
        </index>Geist Gottes in allen Menschen diesen moralischen guten Zustand,
                        ebenfalls in ungleichem Maase befördern könne; daß <pb xml:id="bs_f_page_64" n="64" edRef="#f"/> der nun besser erkante Gott keine äusserliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Opfer, äußerliche</term>
        </index>Opfer oder einerley <index indexName="subjects-index">
          <term>Zeremonien, einerlei</term>
        </index>Ceremonien, <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache, einerlei</term>
        </index>Sprache und <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorstellungen, einerlei</term>
        </index>Vorstellung der Menschen, in seiner Verehrung fordere und erwarte;
                        sondern die Menschen sich selbst ihm zu Ehren in grösserer Bedeutung ganz
                        aufopfern, und <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_11_5"/>einander alle als Brüder ältere oder jüngere lieben können. Wenn man also
                        irgend eine äusserliche Religionsform schon für die allein <hi>wahre
                            christliche Religion selbst angiebt</hi>, die doch eines jeden Christen
                            <hi>besondere <index indexName="subjects-index">
            <term>Privatübung</term>
          </index>Privatübung</hi>, und immer ungleiche Fertigkeit erst werden und
                        seyn mus: <hi>so begehet man einen groben Irtum</hi>, der so gar dem <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Religion</term>
        </index>Wesen und dem unendlichen Gegenstande dieser wahren Religion ganz
                        entgegen ist. Die <hi>äusserliche</hi> Religionsordnung beziehet sich stets
                            <hi>auf eine <index indexName="subjects-index">
            <term>öffentlich versammelt</term>
          </index>öffentliche versammlete Menge</hi>, die in einer <hi>einzelnen
                            Zeit</hi>, und an <hi>Einem</hi> Orte, jetzt zusammen kommt, um
                            <hi>gemeinschaftliche</hi> Handlungen <hi>mit einander vorzunemen</hi>,
                        welche immerfort feierliche öffentliche <hi>Merkmale</hi> der allgemeinen
                        christlichen Religion sind. Diese gemeinschaftliche Religionsform macht nun
                        für die Christen selbst keinesweges <hi>schon ihre <index indexName="subjects-index">
            <term>Privatreligion</term>
          </index>Privat-Religion aus</hi>; als welche sie selbst, <hi>zu aller
                            Zeit</hi>, <pb xml:id="bs_f_page_65" n="65" edRef="#f"/> in allen ihrem
                        bürgerlichen und Privat Verhalten, jeder in seinem schon daseienden Maase
                        und Unterschied unaufhörlich allein ausüben, ohne daß <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsdiener</term>
        </index>Religionsdiener nun dazu gehörten, wie zu jenen
                            <hi>öffentlichen</hi> Geschäften. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_11_6"/>Diese eigene Religionsübung kann <hi>an ihrer
                            Stelle kein Bischof oder Priester</hi>, oder Religionsbedienter
                        vornemen. Denn er ist eben nur <hi>zu allen feierlichen und
                            gemeinschaftlichen</hi> Religionsgeschäften bestalt, <hi>welche kein
                            anderer Christ zu besorgen oder zu leisten hat</hi>, da er nicht zum
                        Diener der öffentlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsordnung</term>
        </index>Religionsordnung bestelt ist. Aber die <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion gehört durchaus allen Christen, <hi>und hat kein
                            vorgeschriebenes <index indexName="subjects-index">
            <term>Maß</term>
          </index>Maas</hi>; der Christ, Lehrer und Zuhörer übt sie nach seinem
                        eignen Gewissen. Wenn es nun also gleich gar <hi>vielerley</hi> christliche
                        Religionsgesellschaften und also auch öffentliche Religionsformen gibt,
                        wegen der immer grössern Ausbreitung dieser Religionslehren in so vielen
                        Ländern, die nicht einem einzigen Oberherrn bürgerlich unterworfen sind, wie
                        es schon ehedem Christen gab, die nicht unter das römische, griechische,
                        teutsche Reich gehörten, also <choice>
          <sic>ar</sic>
          <corr type="editorial">gar</corr>
        </choice> nicht einerley Umstände zu Einrichtung einer öffentlichen <pb xml:id="bs_f_page_66" n="66" edRef="#f"/> christlichen
                        Religionsgesellschaft vor sich fanden: so sind doch diese vielerley
                        Religionsgesellschaften, <hi>dem wesentlichen Grunde und <index indexName="subjects-index">
            <term>Inhalt</term>
          </index>Inhalte nach</hi>, der dem Juden- und Heidentum sowol als der
                        eigenen moralischen Zerrüttung entgegen stehet, nicht ganz andre oder
                            <hi>unchristliche</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsparteien</term>
        </index>Religionsparteien, sondern <hi>alle mit einander bleiben christliche
                            Religionsparteien</hi>, die Gott nach der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel erkennen und verehren. Es ist vielmehr eben dieselbe neue
                        christliche Religion durch die Ausbreitung unter mehrere Völker und Staaten,
                        die von einander schon verschieden waren, <hi>unumgänglich</hi> mit einer
                        solchen Ungleichheit und Verschiedenheit der <index indexName="subjects-index">
          <term>Modifikationen</term>
        </index><hi>Modification</hi> in der Anwendung verbunden, als in der <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit der schon vorausliegenden menschlichen oder
                        bürgerlichen Gesellschaften angetroffen wird. Die neuen öffentlichen
                        Religionshandlungen sind den vorigen jüdischen und heidnischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionshandlungen</term>
        </index>Religionshandlungen immer geradehin entgegen gesezt bei allen
                        Parteien. Ausser dieser <hi>öffentlichen</hi> politischen, oder historischen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Wahrheit, historische</term>
        </index><hi>Wahrheit</hi> dieser nun eingefürten christlichen Religion,
                        welche mit der <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit der jedesmaligen bürgerlichen Verfassung immer zusammen
                        hängt, und daher eine unvermeidliche <pb xml:id="bs_f_page_67" n="67" edRef="#f"/> Verschiedenheit annimt: kan es nun zu gleicher Zeit,
                            <hi>nach der eben so grossen <index indexName="subjects-index">
            <term>Ungleichheit, moralische</term>
          </index>Ungleichheit des moralischen</hi> Zustandes dieser bürgerlichen
                        Christen, <hi>bei ihnen allen auch eine wahre christliche</hi> eigene
                            <hi>Privatreligion</hi> geben, wenn sie selbst der neuen christlichen
                        Erkentnis, die sie von Vater, Sohn und Geist Gottes sammlen, praktisch
                        ergeben sind. Denn die christliche Religion bestehet für einen jeden
                        Christen in einer solchen thätigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes</term>
        </index>Verehrung Gottes, die seiner <hi>christlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Erkenntnis</term>
          </index>Erkentnis immer gleich ist</hi>. Diese Erkentnis aber hat kein
                        Christ auf einmal und unveränderlich schon beisammen, sondern er kan und sol
                        täglich darin wachsen. Dieses <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, ungleiches</term>
        </index>ungleiche Maas der <hi>eigenen</hi> christlichen Religion, kan gar
                        nicht durch die öffentliche gemeinschaftliche Religion vorgeschrieben oder
                        festgesezt werden; weil diese gemeinschaftliche sichtbare Religionsform
                            <hi>immer einerley ist</hi>, um <hi>eben denselbigen <index indexName="subjects-index">
            <term>Zweck, lokaler</term>
          </index>localen Zweck</hi>, der blos an eine feierliche Zeit und Ordnung
                        gebunden ist, durch die gleiche Verbindung aller dieser Christen, immer
                        wieder zu erhalten. Wie nun die ganze Gesellschaft über die vorzügliche
                        feststehende, öffentliche, äusserliche, sichtbare Religionsform <hi>sich
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>wissentlich vereinigt</term>
          </index>wissentlich vereiniget hat</hi>, und kein einzelnes Mitglied
                        darin etwas ohne <pb xml:id="bs_f_page_68" n="68" edRef="#f"/> die andern
                        wieder ändern kan: so ist <choice>
          <sic>umgekehr</sic>
          <corr type="editorial">umgekehrt</corr>
        </choice> die <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion allen fähigern Christen <hi>stets frei</hi>; denn
                        die öffentliche Religionsform <hi>betrift nur alle feierlichen oder
                            gemeinschaftlichen</hi> Religionshandlungen, die zwischen den
                        öffentlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsdiener</term>
        </index>Religionsdienern und den übrigen Mitgliedern dieser Gesellschaft,
                            <hi>einmal wie allemal bestimmt und festgesezt sind</hi>. Wenn nun diese
                        Mitglieder ihre eigene Religions-Erkentnis und Uebung zu Hause, oder ausser
                        der Versammlung hintansezten, und jene gemeinschaftliche Religionshandlung
                        dafür ansähen, daß die höchste Stufe der christlichen Verehrung Gottes darin
                        enthalten und von ihnen <hi>öffentlich schon</hi> geleistet seie: <hi>so
                            wäre dieses <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_11_7"/>der
                            alte <index indexName="subjects-index">
            <term>Irrtum, jüdischer</term>
          </index>jüdische Irtum</hi>; dem doch die neue bessere Erkentnis Gottes,
                        die jeder Christ sich selbst schaffen mus, als der wahre Grund einer bessern
                        Verehrung Gottes, entgegen stehet. Es ist also ausser Zweifel, daß alle
                        festgesezte <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrformen</term>
        </index>Lehrformen, oder Summen der christlichen öffentlichen Lehre, und der
                        feierlichen Handlungen, wie sie einer ganzen Gesellschaft gehört,
                            <hi>niemalen den Grund und <index indexName="subjects-index">
            <term>Inhalt</term>
          </index>Inhalt der christlichen Religion überhaupt ausschliessender
                            Weise begreifen kann</hi>; es gäbe <pb xml:id="bs_f_page_69" n="69" edRef="#f"/> sonst keine christliche Verehrung Gottes <hi>ausser den
                            Versammlungen in feierlicher Zeit</hi>, sondern daß es immer mehrere
                        Lehrformen und Summen der öffentlichen Religion geben kan, welche alle das
                        Prädikat, <hi>christlich</hi>, in der That, und mit Recht haben, und bei
                        allen Theilnemern in noch so entlegenen Städten und Ländern, <hi>eine wahre
                            christliche Religion</hi>, also auch christliche moralische Wolfart, in
                        vielerley <index indexName="subjects-index">
          <term>Stufen</term>
        </index>Stufen, mit sich bringen können. Die <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit der Menschen, welche schon vorausgehet und immer
                        fortdauert, bringt eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit in der christlichen sowol öffentlichen als
                        Privat-Religion bei den Menschen, mit sich. Da nun weder <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> noch ein Apostel
                        ein allgemeines <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß</term>
        </index>Maas der christlichen Religion für alle Christen festgesetzt und
                        vorgeschrieben hat, theils weil sie nicht Monarchen über alle Menschen und
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesellschaft, bürgerliche</term>
        </index>bürgerliche Gesellschaften waren, theils weil dieses <hi>in sich
                            selbst unmöglich ist</hi>, wenn die Verehrung Gottes eine moralische
                        Natur behalten und der Theilung und Verschiedenheit der Menschen angemessen
                        seyn soll: so kan es auch <choice>
          <sic>hiuter</sic>
          <corr type="editorial">hinter</corr>
        </choice> und <hi>nach den Aposteln</hi> keine solche allgemeine
                            <hi>allereinzige</hi> Religionsform für alle Christen geben, welche alle
                            <pb n="70" edRef="#f" xml:id="bs_f_page_70"/> andern christlichen
                        Religionsformen nun für ganz falsche <hi>unwahre</hi> christliche
                        Religionsformen erklärte. <hi>Unter allem Volk</hi>, wer recht thut, oder
                        seiner <choice>
          <sic>Erentnis</sic>
          <corr type="editorial">Erkentnis</corr>
        </choice> von Gott ehrlich folget, ist Gott angenem: <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_11_8"/>muste auch <index indexName="persons-index">
          <term>Petrus</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t8">Petrus</persName> endlich lernen und
                        einsehen. Die immer grössere Vielheit und <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit der Menschen, die nun Christen werden, blos äusserliche
                        oder auch innerliche, macht es unmöglich, daß sie über den Begriff und das
                        Verhältnis Gottes, <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>, des Geistes
                        Gottes <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> über allen wirklich neuen Inhalt des neuen Testamentes <hi>eine
                            und dieselbe Summe von <index indexName="subjects-index">
            <term>Vorstellungen</term>
          </index>Vorstellungen</hi> und Urtheilen annemen und immer behalten
                        solten. Zu irgend einer einzigen Stufe christlicher eigenen moralischen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Besserung</term>
        </index>Besserung und <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt</term>
        </index>Wohlfart, ist auch dergleichen völlige <index indexName="subjects-index">
          <term>Einheit der Religionsform</term>
        </index>Einheit einer Religionsform gar nicht nötig; zu einer und derselben
                        Stufe eigener christlicher Religion sind alle jene so ungleichen Menschen
                        von dem unendlichen Gott nicht berufen oder verpflichtet. Die Bischöfe
                            <hi>haben also sehr unrecht die wahre christliche Religion nur an ihre
                            katholische Partei gebunden</hi>. Wenn der Zahl nach mehrere Christen
                        eine einzige Religionsordnung bei sich einfürten, so war diese stets <choice>
          <sic>änsserliche</sic>
          <corr type="editorial">äusserliche</corr>
        </choice>
        <hi>Ein</hi><pb n="71" edRef="#f" xml:id="bs_f_page_71"/><hi>heit</hi> durch
                        ihre Verabredung und Einwilligung, ganz recht, um ihrer gesellschaftlichen
                        Verbindung willen, entstanden; und der <hi>Zweck</hi> hievon war eben diese
                        äusserliche genauere <index indexName="subjects-index">
          <term>Verbindung</term>
        </index>Verbindung, die nun zum Unterschied von andern christlichen Familien
                        auch immer äusserlich, zu äusserlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Endzweck</term>
        </index><choice>
          <sic>Endzwe- ken</sic>
          <corr type="editorial">Endzwecken</corr>
        </choice> fortgesezt werden solte. Wenn nun auch die Lehrer oder Vorsteher
                        dieser Gesellschaft gar behaupten, sie hätten ganz allein die <hi>wahre</hi>
                        christliche Religion in ihrer <index indexName="subjects-index">
          <term>Parteien</term>
        </index>Partey, und also auch ganz allein das Recht, eine ewige Seligkeit
                        von Gott zu erwarten; alle andern Menschen aber, auch alle andern
                        christlichen Familien oder Parteien, hätten keine wahre christliche
                        Religion, keinen Anspruch an Gottes moralische Liebe und Gnade; <hi>so ist
                            diese Behauptung weiter nichts als eine sehr rohe ganz unmoralische
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Anmaßung</term>
          </index>Anmasung</hi>, an welche verständige Menschen und Christen sich
                        gar nicht kehren. Es ist dis ein so grober Irtum, eine so grobe Unwissenheit
                        der allerersten christlichen Grundsäze, daß solcher Christen so unrichtige
                        Meinung von der Verehrung des unendlichen Gottes gar keine moralische
                        Empfehlung haben kan. Wenn sie aber gar andre Christen zu eben dieser
                        Religionsform mit äus<pb xml:id="bs_f_page_72" n="72" edRef="#f"/>serlicher
                        Gewalt zwingen wollen; weil es hiezu moralische Gründe für die andern
                        Christen, als ihren eigennützigen Absichten hinderlich, gar nicht geben kan:
                        so beweisen sie, daß sie selbst die wahre geistliche oder vollkommnere
                        Verehrung Gottes, wissentlich verleugnen, und unterdrücken wollen.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_11_1"><label>Christus hatte sich [...] von allen Königen und Fürsten [...]
                            gar sehr unterschieden</label>
        <p>Vgl. etwa Mk 12,17 oder Joh 18,36.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_11_2"><label>der
                            machte es seinen Schülern zur Pflicht, alles selbst für sich zu prüfen </label>
        <p>Anspielung auf 1Thess 5,21; vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_a_1_45"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_11_3"><label>für
                            falschen Propheten sich zu hüten [...] hie ist Christus, da ist
                            Christus</label>
        <p>Anspielung auf Mt 24,23f.; vgl. auch Mt 7,15; Mk 13,22f.; 1Joh
                        4,1.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_11_4"><label>so
                            liessen die Apostel alle bürgerliche Obrigkeit, alle äusserliche Ordnung
                            stehen</label>
        <p>Vgl. etwa Röm 13,1–7.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_11_5"><label>einander alle als Brüder ältere oder jüngere lieben
                            können</label>
        <p>Anspielung auf das biblische Gebot der Brüderliebe; s. etwa 1Joh 3, wo
                            u.a. auch Kains Mord an seinem „jüngeren“ Bruder angesprochen wird (1Joh
                            3,12); vgl. außerdem Joh 13,34; Jak 2,8.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_11_6"><label>Diese
                            eigene Religionsübung kann an ihrer Stelle kein Bischof oder Priester,
                            oder Religionsbedienter vornemen</label>
        <p>Siehe auch Semler, Versuch einer neuen Aufgabe (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_2_6"/>), 394: „der <hi>kindische Begrif von
                                Priestern</hi>, welche zwischen Gott und Menschen die steten
                            unumgänglichen Mittler wären, [ist] ganz und gar durch Christum und
                            durch die Apostel, zumal durch den Brief an die Hebräer, aufgehoben
                            worden“.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_11_7"><label>der
                            alte jüdische Irtum</label>
        <p>Vermutlich Anspielung auf die <hi>Apologie der Confessio Augustana</hi>,
                            Art. 13: „Das ist aber stracks ein jüdischer Irrtum, so sie halten, daß
                            wir sollten durch ein Werk und äußerliche Zeremonie gerecht und heilig
                            werden ohne Glauben“ (BSLK 295).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_11_8"><label>muste
                            auch Petrus endlich lernen und einsehen</label>
        <p>Anspielung auf Apg 10,34f.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_12">
      <head type="question">12. Kan es also wahre christliche Religion oder <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes, habituelle</term>
        </index><hi>habituelle</hi> reine <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes</term>
        </index>Verehrung Gottes, den die Christen aus dem <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> sich anschreiben, bey einzelnen Christen geben, wenn diese gleich
                        nicht eben dieselbe <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrformen</term>
        </index>Lehrformen, in so und so bestimmten Artikeln haben, die bey
                        einzelnen Religionsparteien unter den Christen eingefürt worden sind, zu
                        ihrer gesellschaftlichen Verbindung? Kan es also unter den so verschiedenen
                        Parteien, die durch öffentliche Lehrformeln sich bedächtig bürgerlich
                        unterscheiden, wahre christliche Religion, und also christliche moralische
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>Wohlfart geben, wenn gleich jene äusserliche verschiedene
                        Religionsform ferner die Christen äusserlich in besondere Gesellschaften
                        theilet?</head>
      <p><pb xml:id="bs_f_page_73" n="73" edRef="#f"/> Hieran werden wol verständige,
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>unparteiisch</term>
        </index>unparteiische wahre Christen nicht zweifeln, wenn gleich die grosse
                        katholische Kirche es durchaus nicht eingestund, sondern allen so genannten
                        Ketzern, oder nicht in ihre gesellschaftliche Verbindung gehörigen Christen,
                        die wahre christliche Religion und christliche Wohlfart abzusprechen, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_12_1"/>sogar zum <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchengesetz</term>
        </index>Kirchengesez gemacht hat. Dieses bischöfliche, päbstliche Gesez ist
                        der Grund einer neuen kirchlichen Monarchie und Tiranney; <hi>es ist der
                            allgemeine <index indexName="subjects-index">
            <term>Gift</term>
          </index>Gift</hi>, wovon die wahre christliche Religion, die in allen
                        Christen so frey ist, als die gesellschaftliche Ordnung mit Recht
                        vorgeschrieben wird, nach und nach fast ganz ausgestorben ist. Es ist
                        gleichwol die neue eigene gewisse <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis</term>
        </index>Erkentnis, daß Gott aller Menschen gnädiger und heiliger,
                        unendlicher Gott ist, und nur auf Thun und Lassen der Menschen siehet, so
                        weit sie das Gute erkennen, der neue Grund einer solchen vollkommnen
                        Verehrung Gottes. Dis ist die wirkliche wahre <index indexName="subjects-index">
          <term>Offenbarung</term>
        </index><hi>Offenbarung der Herrlichkeit Gottes</hi>, der moralischen Gnade
                        und <index indexName="subjects-index">
          <term>Liebe Gottes</term>
        </index>Liebe Gottes, worin das christlich erkannte allgemeine <index indexName="subjects-index">
          <term>Reich Gottes</term>
        </index><hi>Reich Gottes</hi> bestehet. Alle Heiden können ohne jüdisches
                        geschriebenes <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesetz, jüdisches</term>
        </index>Gesez, dessen <pb xml:id="bs_f_page_74" n="74" edRef="#f"/>
                        Modifikation diese Allgemeinheit aufhub, durch <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_12_2"/>das Gesez, das Gott
                        ebenfals gleichsam selbst in ihre Herzen schreibt, wie ehedem in <index indexName="persons-index">
          <term>Mose</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t7">Moses</persName> Tafeln, das Gute
                        erkennen, und ihn zu ehren, in der und jener Stufe zu leisten sich
                        bestreben. Die ganze christliche Religion beruhet wirklich auf dieser nun
                        erkannten und wider das Judentum <hi>geretteten Wahrheiten der moralischen
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Würde Gottes, moralische</term>
          </index>Würde Gottes</hi>. Der Sohn Gottes selbst hat diese grössere
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis</term>
        </index>Erkentnis angefangen, oder <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_12_3"/>das jüdische kleinere Gesez erfüllet, die der
                        Inhalt der Verehrung Gottes völliger, grösser, gelehret, als der Buchstabe
                            <index indexName="persons-index">
          <term>Mose</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t7">Mosis</persName> enthielt; und nun
                        wird auch <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_12_4"/>der falsche
                        Begriff der Juden von einem Sohn Gottes moralisch aufgehoben. Nun finden die
                        Menschen auch <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_12_5"/>eine
                            <hi>andere vollkommnere <index indexName="subjects-index">
            <term>Beschneidung</term>
          </index>Beschneidung</hi>; eine <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_12_6"/>Verehrung Gottes im <index indexName="subjects-index">
          <term>Geist und Wahrheit</term>
        </index>Geist und Wahrheit; wozu weder Jerusalem, noch der <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_12_7"/>Tempel in Samaria,
                        weder Priester noch <index indexName="subjects-index">
          <term>Leviten</term>
        </index>Leviten, keine <index indexName="subjects-index">
          <term>Opfer</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_12_8"/>Opfer und
                        äusserliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Reinigung</term>
        </index>Reinigung weiter gehören. Diese eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, moralische</term>
        </index>moralische Religion ist ganz frey, entstehet durch stete <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_12_9"/>Anwendung <hi>des
                            ganzen <index indexName="subjects-index">
            <term>Gemüt</term>
          </index>Gemüts und aller <index indexName="subjects-index">
            <term>Seelenkräfte</term>
          </index>Seelenkräfte des Menschen</hi>; und diese eigene Uebung und
                        Fertigkeit <hi>bekomt keine abermalige</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_75" n="75" edRef="#f"/>
        <hi>Vorschrift</hi> von Bischöfen oder Kirchendienern, wird auch <hi>von
                            ihnen nicht statt andrer Menschen geleistet</hi>; ist daher immer und
                        stets <hi>ungleich</hi>; kan gar nicht, ohne Irtum, in einem einzigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, einerlei</term>
        </index>Maase angesezt oder vorgeschrieben werden. Weil aber der
                            <hi>äusserliche</hi> erste <index indexName="subjects-index">
          <term>Unterricht</term>
        </index>Unterricht von der christlichen Religion, zunächst historisch ist,
                        und auf die äusserliche gesellschaftliche Religion gehet, wozu die
                        öffentlichen Religionsdiener in Absicht der mit dem Unterricht verbundenen
                        feierlichen Handlungen bestellt sind: so gibt es eine Lehrart oder Lehrsumme
                            <hi>zur <index indexName="subjects-index">
            <term>Vereinigung</term>
          </index>Vereinigung der Mitglieder der einzelnen Christen oder
                            Glieder</hi>. Die nächste Absicht dieser <index indexName="subjects-index">
          <term>Gleichförmigkeit</term>
        </index>Gleichförmigkeit, ist nicht, die innere eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>praktische Religion in eine und dieselbe Einheit zu fassen: sondern
                        ist allemal, <hi>diese Gesellschaft</hi> durch neue Mitglieder zu vermehren,
                        und die kirchliche oder bürgerliche Fortdauer ihres gesellschaftlichen
                        Verhältnisses, gegen andre Mitglieder kentlich an den Tag zu legen. Dis ist
                        ganz gewis die erste und nächste Absicht aller der Handlungen, wozu <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsdiener</term>
        </index>Religionsdiener bestellt und angenommen worden. Sie sollen den
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrunterricht, öffentlicher</term>
        </index><hi>öffentlichen</hi> Lehrunterricht zur Vereinigung aller
                        Mitglieder besorgen, wie sie die <pb xml:id="bs_f_page_76" n="76" edRef="#f"/> feierlichen Handlungen in dieser Religionsgesellschaft einmal wie allemal
                        verrichten soll. Diese Beschäftigung ist ihnen durch eine Vorschrift oder
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenordnung</term>
        </index>Kirchenordnung aufgetragen. Diese Vorschrift hat zum Zweck, eben
                        diese Religionsgesellschaft als solche kentlich, sichtbar fortzusezen; deren
                        Mitglieder durch einerley öffentliche Religionsordnung sich <hi>gegen
                            einander ferner als Mitglieder</hi> öffentlich zu erkennen geben. Wenn
                        nun aber neben und mit dieser öffentlichen Religionsordnung, (die sehr
                        gleichförmig ist, um eben denselben öffentlichen äusserlichen Endzweck immer
                        gewis und kentlich zu erreichen,) in diesen Mitgliedern <hi>auch noch eigene
                            innere Bewegung</hi> ihres <index indexName="subjects-index">
          <term>Verstands, Bewegung des</term>
        </index>Verstandes, Urteils und ihrer Neigung gegen Gott und <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd"><choice>
            <sic>Christnm</sic>
            <corr type="editorial">Christum</corr>
          </choice></persName>, und Geist Gottes, entstehen: so <hi>gehören diese
                            innern Bewegungen nicht zu der öffentlichen gemeinschaftlichen
                            Religion</hi>; sie haben auch keine <index indexName="subjects-index">
          <term>Einförmigkeit</term>
        </index>Einförmigkeit oder ein vorgeschriebenes <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß</term>
        </index>Maas, wie es <hi>für eine Menge und Vielheit</hi> eins gibt; sondern
                        sind und bleiben ganz frey, immer ungleich nach der <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit und Unabhängigkeit der eignen Seelenkräfte der
                        Christen; sie befördern aber in allen Christen eine neue moralische
                        Fertigkeit, Gott <pb xml:id="bs_f_page_77" n="77" edRef="#f"/> immer mehr
                        thätig zu verehren. Blos in dieser eigenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion entstehet und bestehet die moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>Wolfart der einzelnen Christen, die freilich auch die öffentliche
                        Wolfart der ganzen Religionsgesellschaft ihres Theils gern befördern,
                        wenigstens niemalen vorsezlich hindern; weil ihre eigene moralische Wolfart
                        durch die gemeinschaftliche öffentliche Religionsordnung, welche die Lehrer
                        mit den übrigen Mitgliedern einmal wie allemal äusserlich verbindet, <hi>gar
                            nicht gestöret wird</hi>. Wenn also dieser ganz ausgemachte
                            <hi>Unterschied, das sehr verschiedne Verhältnis</hi> und der sehr
                            <hi>ungleiche <index indexName="subjects-index">
            <term>Endzweck</term>
          </index>Endzweck</hi> der gemeinschaftlichen Religionsübung, (die blos
                        in gleicher Fortsezung der <hi>feierlichen</hi> Theilnemung an der
                        Religionsgesellschaft bestehet, und an <hi>einzeln Zeiten</hi> und
                            <hi>vorübergehenden Versammlungen</hi> gebunden ist,) wirklich
                        eingesehen und vor Augen behalten wird: so kan die <hi>bisherige <index indexName="subjects-index">
            <term>Vermischung (privat/öffentlich)</term>
          </index>Vermischung der freien <index indexName="subjects-index">
            <term>Privatreligion</term>
          </index>Privat-Religion</hi>, welche immerfort eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit der eignen Erkenntnis und ihrer Anwendung zu
                            <hi>innerer moralischen</hi> Veränderung voraussezt und erfodert, wol
                        nicht ferner also Statt finden: daß die öffentlichen christlichen
                            Religionsgesellschaf<pb xml:id="bs_f_page_78" n="78" edRef="#f"/>ten
                        diese Verschiedenheit ihrer öffentlichen Lehrartikel und der
                        gesellschaftlichen Religionsformen, (die allemal nur auf die äusserliche
                        Fortsezung der angefangenen Religionsgesellschaft gehet) ferner dafür
                        ansehen, daß die praktische christliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>Religion mit allen ihren moralischen neuen Folgen, <hi>allen andern
                            Gesellschaften darum fele</hi>, dieweil sie nicht eben dieselben <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrformeln</term>
        </index>Lehrformeln und eben dieselbe äusserliche Ordnung und Form der
                        feierlichen feststehenden Merkmale einer Religionsgesellschaft angenommen
                        haben. Denn die eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>praktische Religion der einzelnen Christen kann durchaus nicht
                        einerley <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, einerlei</term>
        </index>Maas und Summe haben, weil die christliche Privat Verehrung Gottes
                        eine moralische Fertigkeit aller Christen ist, die <hi>an keine Zeit, an
                            keinen Ort, an keine <index indexName="subjects-index">
            <term>Ordnung, lokale</term>
          </index>locale Ordnung</hi> anderer Mitchristen gebunden seyn kann. Der
                        einzelne Christ kann seine <hi>innere Verehrung Gottes</hi>, den er
                        christlich immer mehr zu erkennen sucht, zu seiner eigenen moralischen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>Wohlfart, im ganzen völligen Gebrauch aller seiner Seelenkräfte
                        ausüben; sein eigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen, seine eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Erfahrung</term>
        </index>Erfarung regirt diese Privat-Religion, ohne auf den Sontag und
                        Festtag, oder auf eine grosse und kleine <pb xml:id="bs_f_page_79" n="79" edRef="#f"/> Versammlung mehrerer Mitglieder der <hi>öffentlichen</hi>
                        Religionsgesellschaft zu warten; wie er selbst und sonst niemand für ihn,
                        weder Prediger noch Gesellschafter, unaufhörlich Gott anbetet, lobet und
                        preiset, Gott täglich in allen Umständen frey und unabhängig vertrauet, und
                        hiezu an keine öffentliche Vorschrift, oder an keine Formel eines
                            <hi>Hymnus</hi> oder Gebetes schon gebunden ist; als welche durchaus
                        allemal sich auf <hi>eine Versammlung vieler Christen</hi> beziehet, deren
                        Vielheit <hi>durch diese <index indexName="subjects-index">
            <term>Ordnung</term>
          </index>Ordnung, auf etliche Zeit</hi> an einem und demselben
                        Versammlungsorte, <hi>zu einer Gleichförmigkeit</hi> ihres
                        gemeinschaftlichen Betens, Singens, Zuhörens, oder ihrer Theilnemung an
                        einer Taufhandlung, am Abendmal etc. vereiniget seyn muste, wenn nicht ein
                        jeder etwas anders singen, beten, kurz etwas nur wider diese Feierlichkeit
                        vornemen, und also alle einander stören solten. Es ist und bleibt ein grober
                        Irtum, wenn man die Absicht und die äusserlichen <hi>Folgen</hi> einer
                        Religionsordnung so verkennet oder übertreibet, daß die moralischen
                        christlichen Fertigkeiten an irgend eine solche äusserliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsform</term>
        </index>Religionsform ein für allemal von Gott durch die neuen Grundsäze der
                        christlichen Religion <pb xml:id="bs_f_page_80" n="80" edRef="#f"/> gebunden
                        seien. Es ist eine fast wissentliche Verunehrung und Verleugnung des
                        unendlichen herrlichen und moralisch wirkenden Gottes. <index indexName="subjects-index">
          <term>Protestanten</term>
        </index>Protestanten können am wenigsten eine solche <hi>sichtbare <index indexName="subjects-index">
            <term>Pfafferei</term>
          </index>Pfafferey</hi> stehen lassen, die gerade durch <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_12_10"/>eine Nachahmung der
                        ehemaligen politischen römischen Regierung über den großen Staat, entstanden
                        ist.</p>
      <p>Es verhält sich eben so mit der andern, oder anders ausgedrückten Frage. Es
                        mögen noch so viel einzelne Parteien sich in die neu entstehende christliche
                        Religion theilen durch eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit der Lehrartikel von Vater, Sohn, heiligen Geist; von
                            <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christo</persName>, von Taufe,
                        Abendmal <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> so haben sie doch alle mehr oder weniger Antheil an der
                        christlichen Religion, wie sie der jüdischen und heidnischen entgegen
                        stehet. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_12_11"/>Wenn <index indexName="persons-index">
          <term>Paulus</term>
        </index><persName ref="textgrid:251kf">Paulus</persName> sich über jene
                        Spaltung zu Corinth so deutlich heraus läßt, da einige als <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_12_12"/>Anhänger des <index indexName="persons-index">
          <term>Petrus</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t8">Petrus</persName>, des <index indexName="persons-index">
          <term>Apollos</term>
        </index><persName>Apollos</persName>
        <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> sich <hi>vorzüglich</hi> geltend machen wolten, daß er
                            <hi>keinesweges diese <index indexName="subjects-index">
            <term>Ungleichheit</term>
          </index>Ungleichheit selbst für moralisch unrecht erkläret</hi>, sondern
                        als <hi>unvermeidlichen Erfolg</hi> durch die ungleichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionslehrer</term>
        </index>Religionslehrer ansiehet, es geradehin als absurd ansiehet, <pb xml:id="bs_f_page_81" n="81" edRef="#f"/> daß eine Partey um ihres
                        Lehrers willen, der nicht zugleich an mehrern Orten, Lehrer seyn kann, sich
                        für viel bessere Christen halten will, als andre Christen nun wären: so hat
                        gleichwol die bischöfliche Auslegung dieses so klare Urteil <index indexName="persons-index">
          <term>Paulus</term>
        </index><persName ref="textgrid:251kf">Pauli</persName> völlig umgekehrt
                        erklärt, <hi>als solle es gar keine Ungleichheit der neuen
                            Religionsgesellschaften neben einander geben</hi>. Ist etwa <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName>, die christliche
                        Religion und neue Verehrung Gottes, durch den <index indexName="persons-index">
          <term>Petrus</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t8">Petrus</persName>, Apollos, <persName ref="textgrid:251kf">Paulus</persName> in
                        grössere und kleinere Theile abgesondert und nur zum Schaden der andern
                        unrecht getheilet worden? Alle christliche Lehrer sind <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_12_13"/>Arbeiter an demselben
                        neuen Anbau, den Gott angefangen hat, und aller moralische gute Erfolg
                        entstehet weder durch den Petrus noch durch den Apollos, sondern durch den
                        ungehinderten Einflus Gottes, den die Christen nun alle besser erkennen, und
                        nach ihrer Erkentnis verehren. Es ist und bleibt von nun an eben derselbe
                        Grund, <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_12_14"/><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName>, als <index indexName="subjects-index">
          <term>Eckstein</term>
        </index>Eckstein einer moralisch freien Religion, deren Absicht stets
                            <hi>auf die Theilnemer selbst</hi> gehet, ohne eine Unterwerfung aller
                        Christen an <persName ref="textgrid:2z6t8">Petrum</persName> oder <persName ref="textgrid:251kf">Paulum</persName>. Diese neuen Lehrsäze von Einheit und <index indexName="subjects-index">
          <term>Allgemeinheit</term>
        </index>Allgemeinheit Got<pb xml:id="bs_f_page_82" n="82" edRef="#f"/>tes
                        widerstehen eben der <index indexName="subjects-index">
          <term>Übertreibung der äußerlichen Religion</term>
        </index>Uebertreibung aller äusserlichen Religionsform, die zeither bey
                        Juden und Heiden nur zu politischen Absichten bestimmt war, ohne <hi>in den
                            Menschen eigene freie moralische <index indexName="subjects-index">
            <term>Bewegung, moralische</term>
          </index>Bewegungen</hi> im Verhältnis auf die <index indexName="subjects-index">
          <term>Würde Gottes, moralische</term>
        </index>moralische Würde Gottes anzurichten. Wenn nun aber die Partey des
                            <index indexName="persons-index">
          <term>Petrus</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t8">Petrus</persName>, oder irgend eine
                        christliche Religionsgesellschaft ihre Lehrartikel, die <hi>zur äusserlichen
                            Unterscheidung</hi> von andern christlichen Gesellschaften nach den
                        Umständen festgesezt worden, dafür ansiehet, daß alle andere christliche
                        Parteien nun gar keine wahren Christen seyn, und Gott gar nicht christlich
                        verehren könnten, dieweil sie nicht eben diese Lehrartikel hätten, ob sie
                        gleich wirklich lauter christliche Lehrartikel haben: so ist ja dieses ein
                        gerader Widerspruch gegen die neue vollkomnere Lehre, <hi>von moralischer
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Verehrung Gottes, moralische</term>
          </index>Verehrung des moralisch erkannten Gottes</hi>. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_12_15"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Geist und Wahrheit</term>
        </index>Geist und Wahrheit, oder eine vollkommnere Stufe der eigenen
                        Verehrung Gottes, hat <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> so gelehret, daß
                        sie <hi>für alle Menschen</hi> gehören könne; er hat keine Lehrartikel
                        aufgesezt, weil er noch keine öffentliche große Gesellschaft gestiftet hat,
                        für welche ganz allein bestimmte Lehrartikel gemacht werden, <pb xml:id="bs_f_page_83" n="83" edRef="#f"/> um sie als eine solche
                        Gesellschaft neben andern fortzusezen. Wenn Christen also diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Vermischung (privat/öffentlich)</term>
        </index>Vermischung der gesellschaftlichen und der ganz einzelnen
                        Privat-Religion, und diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Übertreibung der äußerlichen Religion</term>
        </index>Uebertreibung der gesellschaftlichen öffentlichen Religionsordnung,
                        fortsezen: so entfernen sie sich in der That von der <hi>wahren, ächten,
                            christlichen Verehrung Gottes, und fallen wieder in das <index indexName="subjects-index">
            <term>Judentum</term>
          </index>Judentum zurück</hi>. Ist aber auch unter den Christen von einer
                        gewissen Zeit an eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Nationalreligion</term>
        </index><hi>Nationalreligion</hi> da; so ist sie doch nur <hi>eine
                            äusserliche politische Ordnung</hi>, welche keinesweges sich für die
                        allereinzige <hi>wahre</hi> christliche Verehrung Gottes ansehen kann, ohne
                        eine ganz grobe Tiranney über die Christen für das Mittel anzunehmen,
                        wodurch die gröste christliche Verehrung Gottes, ohne moralische Theilnemung
                        der Christen, geleistet würde. Dis ist doch <index indexName="subjects-index">
          <term>Atheismus</term>
        </index>Atheismus.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_12_1"><label>sogar
                            zum Kirchengesez gemacht hat</label>
        <p>Anspielung auf die Häretikerverfolgung durch die Inquisition, vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_15_2"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_12_2"><label>das
                            Gesez, das Gott ebenfals gleichsam selbst in ihre Herzen schreibt, wie
                            ehedem in Moses Tafeln</label>
        <p>Anspielung auf 2Kor 3,3; vgl. auch Jer 31,33; Röm 2,15; Hebr 8,10 („ins
                            Herz geschriebenes Gesetz“) und Ex 31,18 („Moses Tafeln“).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_12_3"><label>das
                            jüdische kleinere Gesez erfüllet</label>
        <p>Anspielung auf Mt 5,17–20.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_12_4"><label>der
                            falsche Begriff der Juden von einem Sohn Gottes</label>
        <p>Gemeint ist die Vorstellung vom Sohn Gottes oder Messias als einem
                            politischen Befreier oder Heilsbringer (vgl. oben <ref target="#bs_f_page_36">f36</ref>.<ref target="#bs_f_page_54">54</ref>).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_12_5"><label>eine
                            andere vollkommnere Beschneidung</label>
        <p>Anspielung auf die „Beschneidung des Herzens“ in der christlichen Taufe
                            (Röm 2,29 und Kol 2,11; vgl. auch Jer 4,4).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_12_6"><label>Verehrung Gottes im Geist und Wahrheit</label>
        <p>Anspielung auf Joh 4,24.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_12_7"><label>Tempel
                            in Samaria</label>
        <p>Semler erwähnt den Tempel aufgrund des biblischen Kontexts der von ihm
                            zitierten Phrase aus Joh 4,24 (Gespräch mit der Samariterin, vgl. v.a.
                            4,20). – Vermutlich Ende des 6. vorchristlichen Jh.s kam es zu einer Art
                            innerisraelitischem Schisma zwischen Juden und Samaritanern. Letztere
                            errichteten Mitte des 5. Jh.s auf dem Berg Garizim (Westjordanland)
                            einen Tempel, der bis zu seiner Zerstörung durch den jüdischen
                            Hasmonäerkönig Johannes Hyrkanos I. (164/34–104) im Jahre 111 v. Chr.
                            bestand.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_12_8"><label>Opfer
                            und äusserliche Reinigung</label>
        <p>Gemeint sind hier vor allem die im Alten Testament genannten Tieropfer
                            und rituellen Waschungen.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_12_9"><label>Anwendung des ganzen Gemüts und aller Seelenkräfte des
                            Menschen</label>
        <p>Anspielung auf Mt 22,37; Mk 12,33; Lk 10,27.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_12_10"><label>eine
                            Nachahmung der ehemaligen politischen römischen Regierung</label>
        <p>Semler insinuiert hier eine Kontinuität zwischen dem antiken römischen
                            Reich und der römischen Papstkirche.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_12_11"><label>Wenn
                            Paulus sich über jene Spaltung zu Corinth so deutlich heraus
                            läßt</label>
        <p>Anspielung auf 1Kor 3,3.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_12_12"><label>Anhänger des Petrus, des Apollos</label>
        <p>Anspielung auf 1Kor 3,4.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_12_13"><label>Arbeiter an demselben neuen Anbau</label>
        <p>Im Neuen Testament häufig benutzte Metapher für die Anhänger Jesu und
                            Verkünder des Evangeliums, vgl. Mt 9,37f., Lk 10,2; 2Tim 2,15, s. auch
                            die Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_12_14"><label>Christus, als Eckstein</label>
        <p>Anspielung auf Eph 2,20; vgl. auch Ps 118,22; Mt 21,42; Apg 4,11; 1Petr
                            2,7.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_12_15"><label>Geist
                            und Wahrheit</label>
        <p>Vgl. Joh 4,23f.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_13">
      <head type="question">13. Hienach gibt es also auch eine wahre Verehrung Gottes,
                        ausser der Bibel, oder eine so genannte <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, natürliche</term>
        </index>natürliche Religion; wenn sie gleich nicht die historisch neuen
                        Vorstellungen von Gott begreift, welche die Christen <hi>zu ihrer <index indexName="subjects-index">
            <term>Verehrung Gottes</term>
          </index>christlichen</hi> Verehrung Gottes aus dem <pb xml:id="bs_f_page_84" n="84" edRef="#f"/>
        <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> oder aus der ganzen Bibel sammlen. Welches sind denn nun die
                        vorzüglichen Grundartikel der <hi>christlichen</hi> Verehrung Gottes, da es
                        auch noch andre Stufen der <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes, Stufen der</term>
        </index>Verehrung Gottes gibt, denen das Beiwort <hi>christlich</hi> nicht
                        zukomt?</head>
      <p>Freilich gibt es auch bei vielen Menschen eine natürliche Religion, in welche
                        auch ehedem verständigere Menschen sich getheilt haben, neben der
                        politischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Volksreligion, politische</term>
        </index>Volksreligion. Sie kan und muß auch <hi>eine wahre Verehrung
                            Gottes</hi> seyn, nach der Erkentnis, die sich Menschen vom höchsten
                        Wesen sammlen konnten. Da aber die christliche Religion Lehrsäze begreift,
                        welche aus der Bibel gesammlet worden sind, in welcher auch allgemeine
                        moralische Begriffe vorkommen, und also nicht allein dem öffentlichen Juden-
                        und Heidentum, sondern auch der eigenen moralischen Verderbnis sinnlicher
                        Menschen noch mehr entgegen stehen, als mancher bisherige Inbegriff der
                        natürlichen Religion, und das Judentum immer mehr unter andern Völkern sehr
                        verdorben worden war: so ist die christliche Religion <hi>ihrem
                            ausdrücklichen neuen oder grössern</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_85" n="85" edRef="#f"/>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Inhalt</term>
        </index><hi>Inhalte nach</hi>, von aller sowol jüdischen als blos
                        natürlichen Religion ganz gewis immer unterschieden; man mag die christliche
                        Religion in einer Sammlung öffentlicher Lehrartikel, oder bey einzelnen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatchristen</term>
        </index>Privat-Christen damit vergleichen. Wenn man also nach den
                        vorzüglichen Grundartikeln der christlichen Religion fragt, so verstehet man
                        es entweder von dem <hi>öffentlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Lehrbegriff</term>
          </index>Lehrbegriff</hi> besonderer christlichen Parteien; oder von der
                        praktischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion, praktische</term>
        </index>Privat-Religion geübter Christen. In der ersten Bedeutung gibt es
                        mehr besondre Grundartikel der <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsform, öffentliche</term>
        </index><hi>öffentlichen</hi> verschiedenen Religionsform, weil es mehr
                        christliche Gesellschaften gibt, die im Gebrauche der Bibel einander nicht
                        schon unterworfen seyn konten. Diese öffentlichen Lehrartikel, es mögen mehr
                        oder weniger gezält werden, <hi>machen allemal den Grund und Boden einer
                            jeden christlichen Gesellschaft, als Gesellschaft aus</hi>; ob sie aber
                        alle gleich gut zum <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Religion</term>
        </index>Wesen der christlichen Religion bey allen Christen aller Zeiten
                        gehören, kan von keiner solchen Gesellschaft so entschieden werden, daß alle
                        Christen aller andern Zeiten immer eben diese Artikel annemen müsten, oder
                        das <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Religion</term>
        </index>Wesen der christlichen Religion nicht gekannt hätten. <pb xml:id="bs_f_page_86" n="86" edRef="#f"/> Denn alle <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis</term>
        </index>Erkentnis aller Menschen, also auch der Christen, ist <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis, sukzessive</term>
        </index><hi>successiv</hi>, und hat nie eine unveränderliche Ausdenung oder
                        Vollkommenheit. So waren gleich im Anfange dieser neuen Gesellschaft zwo
                        große Parteien, die gar sehr von einander in den Grundartikeln abgingen,
                        wodurch sie schon als neue Parteien entstanden waren; nemlich 1) Christen
                        aus den Juden; 2) Christen aus den so genannten Heiden; beide Parteien waren
                        Anfänger einer neuen Religionsgesellschaft, die von den besondern
                        Grundsäzen, wornach sie einen Christus oder Messias beschrieben, <index indexName="subjects-index">
          <term>Christianer</term>
        </index><hi>Christianer</hi>, oder Anhänger des <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> hiessen.
                        Juden-Christen, behielten Gesez <index indexName="persons-index">
          <term>Mose</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t7">Mosis</persName>, <index indexName="subjects-index">
          <term>Beschneidung</term>
        </index>Beschneidung, <index indexName="subjects-index">
          <term>Sabbat</term>
        </index>Sabbat <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> mit in ihren Grundartikeln; namen auch keine Schriften oder
                        Lehrsäze <index indexName="persons-index">
          <term>Paulus</term>
        </index><persName ref="textgrid:251kf">Pauli</persName> an, keine Geschichte
                        der Apostel, worin <persName ref="textgrid:251kf">Paulus</persName> so viel ausgerichtet hat; kein Evangelium auch
                        keinen Brief Johannis, und hofften auf ein bald entstehendes sichtbares
                        Königreich in Palästina, das <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> nun wider die
                        Heiden aufrichten würde, worin sie an allen sinnlichen Freuden tausend Jahre
                        lang einen Ueberflus haben würden. Nie war diese Partey mit den andern
                        Christen in der äusserlichen Religions<pb xml:id="bs_f_page_87" n="87" edRef="#f"/>form vereiniget, und so sehr schlecht auch die moralische
                        Erkentnis und Uebung dieser Juden-Christen war, hat doch <index indexName="persons-index">
          <term>Paulus</term>
        </index><persName ref="textgrid:251kf">Paulus</persName> ihnen diesen
                        geringen Stand völlig frey gelassen, und sich nicht zum Oberhaupt oder
                        Censor über sie gemacht; weil jede öffentliche Gesellschaft ihre eigene
                        gesellschaftliche Einrichtung frey hat, wenn auch andre Zeitgenossen Mängel
                        darin finden, und lieber eine neue Gesellschaft für ihres Gleichen
                        errichten. Eben so wenig machten die Christen aus den Heiden eine
                        Gesamtgesellschaft aus unter einem einzigen Oberhaupte; und bis in den
                        ersten Theil des 4ten Jahrhunderts waren alle Bischöfe oder Oberhäupter über
                        mehrere kleine christliche Gesellschaften der verschiedenen Städte <hi>von
                            einander ganz unabhängig</hi>; wenn gleich der eine grössere Theil schon
                        es auf eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesamtkirche</term>
        </index><hi>Gesamtkirche</hi> oder Verbindung aller Christen angefangen
                        hatten, die sich durch den Namen die <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirche, katholische</term>
        </index><hi>katholische</hi> oder grössere Kirche ganz eigenmächtig aufwarf,
                        um alle kleinere Gesellschaften mit sich zu vereinigen. Diese nun neue
                            <hi>politische</hi> Einrichtung eines christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Nebenstaat, christlicher</term>
        </index><hi>Nebenstaats</hi>, neben dem ältern bürgerlichen Staat hat es
                            <hi>geradehin und allein mit einer äusserlichen</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsordnung</term>
        </index>Religionsordnung zu thun, <pb xml:id="bs_f_page_88" n="88" edRef="#f"/> und gehet blos auf die Vergrösserung und gewissere
                        Fortsezung dieser Partey, wider alle andern christlichen Religionsfamilien,
                        hängt also auch durchaus mit dem großen Staate so oder so weit zusammen.
                        Alle Verordnung der <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_13_1"/><hi>Concilien</hi>, oder mehrerer Bischöfe betreffen die
                            <hi>äussere</hi> Religionsordnung, die Vorrechte der <index indexName="subjects-index">
          <term>Clerisey</term>
        </index>Clerisey, die Vorschrift über die kentlichen Merkmale, wodurch
                        Christen ferner in der katholischen Kirche bleiben, oder diese äusserlichen
                        Rechte verlieren. Wenn also auch die Bischöfe nun <hi>immer mehr <index indexName="subjects-index">
            <term>Lehrartikel</term>
          </index>Lehrartikel bestimmen</hi>, in einer rechtmäßigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchensprache</term>
        </index>Kirchen- oder <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionssprache</term>
        </index>Religionssprache über den Sohn Gottes, Geist Gottes, über <index indexName="subjects-index">
          <term>Zwei Naturen</term>
        </index>2 Naturen <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>
        <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> so gehören diese bischöflichen Lehrartikel doch <hi>nicht zu dem
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Wesen der christlichen Verehrung Gottes</term>
          </index>Wesen der christlichen Verehrung Gottes</hi> überhaupt, welche
                        alle Christen immer nach ihrer eigenen Erkentnis ausüben müssen, neben aller
                        öffentlichen oder gemeinschaftlichen Teilnemung an den feierlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>lokal</term>
        </index><hi>localen</hi> Zusammenkünften vieler beisammen lebenden Christen;
                        sondern alle diese Kirchenartikel machen den <hi>besondern localen Grund
                            einer einzeln</hi> ausdrücklich vereinigten
                            <hi>Religionsgesellschaft</hi> aus, deren Mitglieder nicht zu andern
                        christlichen Religions<pb xml:id="bs_f_page_89" n="89" edRef="#f"/>gesellschaften gehören können, wenn sie ihre hiesigen äusserlichen
                        einmaligen Rechte behalten wollen; denn Christen sind und bleiben zugleich
                            <hi>locale</hi> Bürger, <index indexName="subjects-index">
          <term>Professionisten</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_13_2"/>Professionisten <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> Da nun fast alle christliche Religionsparteien diesen Fehler
                        begingen, daß sie ausser den öffentlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Rechte, lokale</term>
        </index>localen Rechten ihrer Religionsverwandten, auch so gar die größte
                        und einzig gewisse moralische oder innere <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>Wohlfart der Menschen an ihre öffentlichen Lehrartikel, und an ihre
                        öffentliche Religionsform banden, da doch die innere moralische christliche
                        Seligkeit auf dem eigenen moralischen Verhalten der so verschiedenen
                        Christen ganz allein beruhet, oder eine stete Folge der praktischen, <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes, habituelle</term>
        </index><hi>habituellen</hi>, eigenen Verehrung Gottes ist für alle Menschen
                        nach dem Maas ihrer Erkentnis: so ist der wahre Grund dieses
                        gemeinschaftlichen Fehlers leicht zu entdeken; nemlich die <hi>neue besondre
                            Absicht</hi> aller Obern in den besondern Religionsparteien, ihr eigen
                        Ansehen zur steten Beherrschung aller Christen, auch aller Obrigkeiten,
                        desto gewisser zu erweitern, wenn alle Christen ihre moralische jezige und
                        ewige <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>Wohlfart <hi>nur von diesen kirchlichen Artikeln</hi>, und von der
                        Gemeinschaft <pb xml:id="bs_f_page_90" n="90" edRef="#f"/> mit solchen
                        Kirchen, abhängen liessen. Da der wirkliche Gebrauch der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel, Gebrauch der</term>
        </index>Bibel (die lange Zeit nur in den Händen der Clerisey war) noch nicht
                        für alle Christen statt fand, und der große Haufe, wenn es auch Uebersezung
                        gab, nicht lesen konte, auch überhaupt die öffentlichen Religionshandlungen
                        ganz allein der Clerisey gehörten, den Clericis aber von den Bischöfen eben
                        alle Lehrartikel zunächst vorgeschrieben wurden: so ist in jenen Zeiten es
                        sehr begreiflich, daß die meisten so genannten <index indexName="subjects-index">
          <term>Christen</term>
        </index>Christen <hi>ohne alle eigene Erkentnis</hi> die Rechtmäßigkeit und
                        ausschliessende Wahrheit ihrer bisherigen öffentlichen Religionsform ganz
                        leicht und fest geglaubet, also alle andere Christen ja alle Menschen, die
                        nicht mit ihm in kirchlicher Brüderschaft stunden, für geradehin von Gott
                        verdamte gottlose Leute gehalten, sie also ernstlich gehasset, verfolget,
                        und hiemit die ganz falsche Gewalt ihrer Clerisey so anerkant haben, daß sie
                        an eigene, besondre, innere Verehrung Gottes weiter gar nicht gedacht haben.
                        Es ist gleichwohl ganz ausgemacht wahr, daß die öffentliche Religionsordnung
                        die daseienden moralischen ungleichen Fähigkeiten der Christen nicht
                        aufheben und unter<pb xml:id="bs_f_page_91" n="91" edRef="#f"/>drücken sol;
                        und daß die öffentlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsdiener</term>
        </index>Religionsdiener durchaus nicht diejenige christliche Verehrung
                        Gottes <hi>durch ihre gewönlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Amtsverrichtungen</term>
          </index>Amtsverrichtungen schon leisten und bewerkstelligen können</hi>,
                        welche von allen einzelnen Christen selbst innerlich, unaufhörlich nach
                        ihrem ganzen Vermögen, geleistet werden kann und sol. Daher sind auch wahre
                        Christen, die ihrem Gewissen täglich geradehin zur Verehrung Gottes folgten,
                        von diesen Bischöfen als gottlose Kezer eben so verfolget worden, als die
                        moralisch rohen zornigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Juden</term>
        </index>Juden den <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christum</persName> und seine Schüler
                        verfolget haben. Bei aller <hi>Verehrung also der kirchlichen
                            Lehrartikel</hi>, ist die wahre christliche Religion in den einzelnen
                        Christen, wie sie ihre eigene christliche Verehrung Gottes ausmachen sollte,
                        immer mehr verdunkelt, und durch die feierliche äusserliche Religionsform
                        meist aufgehoben worden. Hier war die natürliche Religion, was die <index indexName="subjects-index">
          <term>Moralität</term>
        </index>Moralität betrift, besser und würdiger, als eine solche
                        Kirchenreligion, unter den politischen neuen Oberherren, und doch hatten
                        viele <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatchristen</term>
        </index>Privat-Christen ihre <hi>eigentümliche</hi> christliche Religion,
                        die nicht die natürliche heissen kann; denn sie sammleten sie aus der
                        Bibel.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_13_1"><label>Concilien</label>
        <p>Gemeint sind die seit der frühen Kirche abgehaltenen Versammlungen (lat.
                                <hi>concilia</hi>; gr. <foreign xml:lang="grc">σύνοδοι</foreign>)
                            der Bischöfe, auf denen versucht wurde, strittige Punkte zu klären und
                            Lösungen allgemeinverbindlich festzulegen.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_13_2"><label>Professionisten</label>
        <p>Menschen, die einen Beruf ausüben, eine Profession betreiben;
                            insbesondere Handwerksleute.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_14">
      <head type="question"><pb xml:id="bs_f_page_92" n="92" edRef="#f"/> 14. Die
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrer, protestantische</term>
        </index>protestantischen Lehrer rechnen ja aber eben diese Bischöflichen
                        Lehrartikel von <index indexName="subjects-index">
          <term>Dreieinigkeit</term>
        </index>Dreieinigkeit, von <index indexName="subjects-index">
          <term>Zweinaturenlehre</term>
        </index>2 Naturen <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>
        <choice>
          <sic>uud</sic>
          <corr type="editorial">und</corr>
        </choice> ihrer Vereinigung etc. mit <hi>zu den allgemeinen Grundartikeln
                            der allein wahren christlichen Religion</hi>; und <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_14_1"/>beweisen alle diese
                        Kirchenlehren mit gar häufigen Stellen der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel; da doch die römischkatholischen Gelerten selbst behaupteten
                        die Bibel sey <hi>ohne <index indexName="subjects-index">
            <term>Tradition</term>
          </index>Tradition</hi> unvollständig; wozu sie eben diese Artikel
                        anfüreten, daß sie in der Bibel feleten, oder nur mangelhaft und
                        unvollständig darin gefunden würden; die katholische große Kirche bauet eben
                        auf diese katholische Artikel <hi>die Nothwendigkeit eines Oberhauptes</hi>
                        aller Christen, das über alle so <hi>verschiedenen</hi> Erklärungen der
                        Bibel immer <hi>den richterlichen Ausspruch thun</hi>, und also die <index indexName="subjects-index">
          <term>Einheit der christlichen Lehre</term>
        </index><hi>Einheit der christlichen Lehre</hi> und Einheit der Religion,
                        (oder den <hi>Stillstand</hi> eigener <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis, Stillstand eigener</term>
        </index>Erkentnis) erhalten muß, durch die entschiedene Verdammung aller
                        andern Menschen, die nicht zu dieser <hi>Einen</hi> Religionsform gehören.
                        Es kann also die <hi>natürliche</hi> Reli<pb xml:id="bs_f_page_93" n="93" edRef="#f"/>gion auch jezt einer so unrichtigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenreligion</term>
        </index>Kirchenreligion vorgezogen werden.</head>
      <p>Dieser Vortrag ist nun historisch richtig; es ist leider die bisherige
                        Geschichte der öffentlichen Religionsordnung, wodurch eben die katholische
                        Kirche die wahre unendliche christliche Religions-Erkentnis und ihre
                            <hi>vielfältige</hi> Anwendung, also ihren gewissen innern Unterschied
                        von <hi>aller blos</hi> natürlichen oder unchristlichen Religion sehr
                        unrecht in ein feststehendes <hi>Formular</hi>, in eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Einheit, gesellschaftliche</term>
        </index>gesellschaftliche Einheit, in eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Observanz</term>
        </index><hi>Observanz</hi>, in eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Unterwerfung</term>
        </index>Unterwerfung an die kirchlichen Obern, oder an die <index indexName="subjects-index">
          <term>Clerisey</term>
        </index>Clerisey, nach und nach verwandelt, und in eine feierliche,
                        gemeinschaftliche blos äusserliche Gewohnheit und Ordnung der Gesellschaft
                        verkehret hat, wobei für die Christen <hi>keine innere eigene freie <index indexName="subjects-index">
            <term>Verehrung Gottes</term>
          </index>Verehrung Gottes weder natürliche noch eigene christliche, übrig
                            bleiben solte</hi>. Hiedurch sind auch die Regenten so gar der Kirche,
                        oder der Clerisey eben so unterworfen worden, wie alle gemeinen Christen;
                        und so ist jene freie Erkentnis, die eigene Beurtheilung alles dessen, was
                        mit der <index indexName="subjects-index">
          <term>Herrlichkeit Gottes, geoffenbarte</term>
        </index><hi>geoffenbarten Herrlichkeit Gottes</hi> bei jedem ein<pb xml:id="bs_f_page_94" n="94" edRef="#f"/>zelnen Christen einstimmig ist,
                            <supplied>(</supplied>welches die Ehre und den Vorzug der christlichen
                        Religion und ihren Unterschied von aller menschlichen äusserlichen Ordnung
                        ausmachte,) geradehin aufgehoben worden. Aus der neuen Wohlthat für alle
                        Menschen, daß sie alle Gott immer mehr selbst erkennen und zu eigener
                        moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>Wohlfart ganz frei, im Gebrauche ihrer ganzen <index indexName="subjects-index">
          <term>Seelenkräfte</term>
        </index>Seelenkraft, anwenden können, haben die Bischöfe ein neues
                        unerträgliches Joch gemacht, welches viel drückender ist, als je die
                        jüdische Religion war, wie schon <index indexName="classics-index">
          <term>Augustinus von Hippo</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_14_2"/><hi><persName ref="textgrid:2r5hd">Augustinus</persName></hi> zu seiner Zeit
                        ehrlich sagte und doch selbst zu noch mehr Unterdrückung half. Gleichwol ist
                        die neue Grundlage der christlichen Verehrung Gottes, eben diese, <hi>daß
                                <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_14_3"/>der alte
                            Geist der Furcht und Knechtschaft</hi>, der Gott nicht kannte,
                        ausgetrieben ist; daß Christen <hi>keiner menschlichen Sazung jemalen
                            selbst, ihrem neuen Bewußtseyn nach, unterworfen seyn können</hi>, wenn
                        man sie auch mit noch so viel Vorschriften äusserlicher Handlungen oder
                        Ordnungen einschränkt: behalten sie doch innerlich alle <index indexName="subjects-index">
          <term>Freiheit</term>
        </index>Freiheit, eine bessere <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis Gottes</term>
        </index>Erkentnis Gottes <hi>für sich selbst vorzuziehen</hi>, um die wahre,
                        bessere Verehrung Gottes gewis<pb xml:id="bs_f_page_95" n="95" edRef="#f"/>senhaft zu behalten. Gott ist es selbst, der die innerliche Wohlfart der
                        einzelnen Christen für jeden Christen, immer mehr täglich schaft und
                        befördert, durch seinen alles wirkenden Geist, den kein Concilium, keine
                        kirchliche Vorschrift, auch keine Spötterey und kein böses Exempel falscher
                        Christen, unwirksam machen kann. Wenn nun die Bischöfe diese innere freie
                        Wohlfart der Christen an ihre <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrformeln</term>
        </index>Lehrformeln binden wollen: so weiß jeder verständige Christ für
                        sich, daß sie dieses gar nicht im Stande sind; weil die eigenen
                        Vorstellungen der Christen, und ihr freier Zugang zu dem ihnen immer mehr
                        bekanten Gott, weder Pabst noch <hi>Concilium</hi>, weder Engel noch Teufel,
                        auch keine blos natürliche Religion, geradehin aufhalten, hemmen oder
                        unterbrechen kann. Es ist also <choice>
          <sic>sichtdar</sic>
          <corr type="editorial">sichtbar</corr>
        </choice>, daß die Bischöfe mit ihren Lehrartikeln nicht auf diese innere
                        freie Religion zu derselben leichtern Beförderung, gesehen haben; sondern
                        daß sie blos die äussere <index indexName="subjects-index">
          <term>Unterwerfung</term>
        </index>Unterwerfung ihrer kirchlichen Unterthanen, und die feste Verbindung
                        eines großen Kirchenstaats zur Absicht gehabt haben; und das war doch weder
                            <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> noch seiner treuen
                        Schüler Absicht. Nur ganz unwissende Menschen, oder ein<pb xml:id="bs_f_page_96" n="96" edRef="#f"/>verstandene Theilnemer an
                        dieser politischen Beherrschung der Menschen konnten es gelten lassen, daß
                        Gott und <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName>
        <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_14_4"/>durch einen so gar
                        zweideutigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Papst</term>
        </index>Pabst, als durch einen Vicarium, oder durch ein Concilium die ewige
                        Seligkeit der Menschen austheilen oder absagen lasse. Eine
                        leichtbegreifliche <hi>Convenienz</hi> hat viel Regenten ehedem oder auch
                        noch jezt hie und da dazu gebracht, den großen Beistand der einmal so
                        mächtigen Kirche zu <hi>politischen</hi> Absichten zu nuzen. Die ganze nach
                        und nach erwachsene <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchentheologie</term>
        </index><hi>Kirchentheologie</hi>, wohin alle jene spizigen Lehrmethoden
                        gehören, war das Eigentum der Clerisey, und hatte blos diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenregierung, monarchische</term>
        </index><hi>monarchische</hi> Kirchenregierung zum täglichen nächsten
                        Endzweck; die ganze öffentliche Religionsform wurde durch diese Theologie
                        immerfort bestimt; und der erste nächste gewisseste Erfolg war, daß die
                        Mitglieder oder Unterthanen der Kirche nun alle <hi>die <index indexName="subjects-index">
            <term>Rechte, öffentliche</term>
          </index>öffentlichen Rechte</hi> genossen und behielten, welche die
                        Regenten an diese Religionsform bürgerlich gebunden hatten. Wer davon
                        öffentlich oder deutlich abwich, <hi>verlor diese Rechte</hi>, wurde
                        ausgestoßen, und fiel in die Strafen, die auf so genante Kezerey gesezt
                        waren. Aber durch alle diese <hi>äus</hi><pb xml:id="bs_f_page_97" n="97" edRef="#f"/><hi>serlichen</hi> Veränderungen wurde der <hi>innere
                            Zustand</hi> des Christen, sein eigenes <index indexName="subjects-index">
          <term>Verhältnis gegen Gott, habituelles</term>
        </index><hi>habituelles</hi> Verhältnis gegen Gott, nicht im allergeringsten
                        verändert. Es sind ganz thörichte Anmassungen, wenn Bischöfe von ihrem
                        kirchlichen <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_14_5"/><hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Anathema</term>
          </index>Anathema</hi> nun sogar die ewige Unseligkeit dieser
                        ausgestossenen Christen als eine Folge abhängen lassen wollten. Man mus es
                        so gar eine grobe <index indexName="subjects-index">
          <term>atheistisch</term>
        </index><hi>atheistische Vermessenheit</hi> nennen, und eine ausgemachte
                        Beleidigung aller Moralität, daß die Kirche gar alle Christen mit
                        bürgerlicher Gewalt verfolget hat, welche nicht die von Zeit zu Zeit
                        eingefürte <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchensprache</term>
        </index><hi>Kirchensprache über die öffentlichen Lehrartikel</hi>, auch
                        dafür ansehen, daß ihre eigene rechte Verehrung Gottes in der buchstäblichen
                        Bejahung schon enthalten seie; und es wusten, daß ihr eigener immer
                        wachsender Glaube an Vater, Sohn und heiligen Geist zu ihrer moralischen
                        Wohlfart <hi>durchaus daneben noch nötig seie</hi>, daß jene Lehrformeln nur
                        einen Erfolg ausser ihnen in der äusserlichen Gesellschaft hervorbringen
                        können; daher lehrten die Protestanten so eifrig, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_14_6"/>allein durch den
                        eigenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Glaube, allein der</term>
        </index>Glauben hat der Mensch seine christliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Seligkeit</term>
        </index>Seligkeit. Es ist also gewis, daß die Bischöfe nur auf <hi>die
                            Ein</hi><pb xml:id="bs_f_page_98" n="98" edRef="#f"/><hi>heit einer
                            gesellschaftlichen Religionsform gesehen haben</hi>, zu welcher
                        Religionsform eben die glänzenden Stufen der Clerisey und die Nothwendigkeit
                        eines so zahlreichen kirchlichen Hofstaats immerfort gegründet waren. Blos
                        in einer solchen <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirche, monarchische</term>
        </index><hi>monarchischen</hi> Kirche ist ein allgemeines Oberhaupt, ein
                        Richter über alle christliche Vorstellungen und Urtheile, und ein (sehr übel
                        erdichteter) Statthalter <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> nötig; damit alle
                        Christen einmal wie allemal Unterthanen dieser Religionsherrschaft bleiben,
                        und so viel an weltlichen Gold und Silber bezalen, als die große Pracht der
                        Kirche immer <choice>
          <sic>uötig</sic>
          <corr type="editorial">nötig</corr>
        </choice> hat. In den <index indexName="subjects-index">
          <term>Gemüt</term>
        </index>Gemütern aber der Christen ist entweder moralische Unwissenheit und
                        ruhige Finsternis noch vielmehr da, als unter Juden und Heiden; oder
                        wirkliche geheime Misbilligung dieser <index indexName="subjects-index">
          <term>atheistisch</term>
        </index><hi>atheistischen</hi> Tiranney, und eine stille ganz andere eigene
                        Verehrung Gottes; wie es so gar an vielen Christen nicht gefelet hat, die
                        ihre ganz andre gewissenhafte Erkentnis auch öffentlich an den Tag gelegt,
                        und gern mit Verlust ihrer Güter, sogar mit großer Quaal und Marter, endlich
                        auch mit ihrem Tode bestätiget haben. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_14_7"/>Es ist jezt die Rede nicht davon, ob <choice>
          <sic>die se</sic>
          <corr type="editorial">diese</corr>
        </choice> Christen <pb xml:id="bs_f_page_99" n="99" edRef="#f"/> wirklich
                        hiezu verbunden gewesen sind; genug so gottlos handelte die sogenannte
                        Kirche, wenn Landesherrn den Pfaffen nachgaben. Die <hi>schmalkaldischen
                            Artikel</hi> haben diesen Unterschied der freien eigenen christlichen <choice>
          <sic>Religion.</sic>
          <corr type="editorial">Religion,</corr>
        </choice> die blos auf der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel beruhet, wenn auch der Inhalt noch so ungleich gesamlet wird,
                        von der äusserlichen Religionsform, worin es <hi>nach menschlichen
                            Rechten</hi> einen Pabst und Bischöfe und Lehrformen geben möchte, so
                        deutlich an den Tag gelegt, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_14_8"/>und die Entberlichkeit eines <index indexName="subjects-index">
          <term>Concilium</term>
        </index><hi>Concilium</hi>, in Absicht der lutherischen Religionsform so gut
                        dargethan, als je etwa hundert Jahre vorher <index indexName="persons-index">
          <term>Gerson, Jean</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_14_9"/><hi><persName ref="textgrid:30b92">Gerson</persName></hi> in der Schrift de
                        auferibilitate papae<ptr type="bibliographic-object" target="textgrid:3rnrq"/>, es schon mit Bewilligung des <hi>französischen</hi> Staats, gethan
                        hatte. Nimmermehr wird jene alte kirchliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Finsternis, kirchliche</term>
        </index>Finsternis und falsche Macht wieder zu der alten Grösse kommen, und
                        doch wird die <hi>wahre rechte</hi> Verehrung Gottes unter den Christen
                        immer mehr wachsen; wenn sie gleich von vielen für <index indexName="subjects-index">
          <term>Torheit</term>
        </index><hi>Thorheit</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Schwärmerei</term>
        </index><hi>Schwärmerey</hi> gehalten wird.</p>
      <p>Was aber diese Aufgabe betrift, von <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel, Zulänglichkeit der</term>
        </index><hi>Zulänglichkeit</hi> oder <hi>Unvollkommenheit der <index indexName="subjects-index">
            <term>Bibel, Unvollkommenheit der</term>
          </index>Bibel</hi>, <choice>
          <sic>zn</sic>
          <corr type="editorial">zu</corr>
        </choice>
        <pb xml:id="bs_f_page_100" n="100" edRef="#f"/> den Grundartikeln der
                        christlichen Religion; so beruhet die ehedem so große Streitigkeit zwischen
                        Protestanten und Papisten eben <hi>auf dieser <index indexName="subjects-index">
            <term>Zweideutigkeit</term>
          </index>Zweideutigkeit des Namens, <index indexName="subjects-index">
            <term>Grundartikel</term>
          </index>Grundartikel</hi> der christlichen Religion. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_14_10"/>Die papistischen
                        Gelerten rechneten auch jene <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>apokryphisch</term>
          </index>apocryphischen</hi> Bücher im <choice>
          <abbr>A. T.</abbr>
          <expan>Alten Testament</expan>
        </choice> mit zu <hi>canonischen</hi> Büchern; und dis thaten sie nach
                            <hi>ihrem besondern Kirchenrecht</hi>; da aber Protestanten durchaus
                        nicht ein solches Ansehen der römischen Kirche ferner zugaben, sondern sich
                        selbst zu einer besondern Religionspartey machten, wozu sie ebenfalls alles
                        Recht hatten, nach der Bibel: so felen hier manche Lehrartikel noch, welche
                        in der römischen Kirche wirklich da sind; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_14_11"/>wie im Colloquio zu Regensburg die papistischen
                        Theologen es als <hi>einen <index indexName="subjects-index">
            <term>Glaubensartikel</term>
          </index>Glaubensartikel</hi> ansezten, das Hündlein (<foreign xml:lang="lat">Tobiae</foreign>) wedelte mit dem Schwanze. Wenn nun die
                        Rede war, von <foreign xml:lang="lat">articulis fidei (catholicae, latinae)
                            de trinitate, persona et duabis naturis <index indexName="persons-index">
            <term>Jesus Christus</term>
            <term type="alternative">Christus</term>
          </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName></foreign>;
                        welche die römischen Gelehrten dafür ansehen, daß sie <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_14_12"/>nur <foreign xml:lang="lat">ex traditione</foreign> oder <foreign xml:lang="lat">per
                            auctoritatem ecclesiae</foreign> ihre Gewisheit und Daseyn hätten, in
                        der Bibel aber nicht enthalten wären; (gleichwol aber allen Christen zur <pb xml:id="bs_f_page_101" n="101" edRef="#f"/> Seligkeit, und zur
                        christlichen, besten Verehrung Gottes einmal für allemal nötig wären:) so
                        hätten die Protestanten diese lezte, in ( ) eingeschlossene Behauptung,
                            <hi>geradehin leugnen sollen</hi>. Denn <hi>diese</hi> Artikel in jener
                        Reduplication <hi>sind nicht allgemeine</hi> Artikel der christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottesverehrung</term>
        </index>Gottesverehrung; sondern sind <hi>besondere</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrartikel</term>
        </index>Lehrartikel der so genanten katholischen oder gar nur
                            <hi>lateinischen</hi> Kirche, welche eben <hi>zur Unterscheidung dieser
                            Kirche</hi> von allen daseienden andern christlichen Parteien, durch
                        katholische Bischöfe erst nach und nach festgesezt worden sind; nicht aber
                        zur Seligkeit aller Christen von <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christo</persName> oder den Aposteln
                        festgesezt worden sind. Die katholischen Christen finden kein Hindernis an
                        ihrer christlichen Seligkeit, durch diese Lehrformeln; aber andre Christen
                        finden keinen Grund, diese katholischen bischöflichen Lehrartikel, in diesen
                        Formeln und Worten, <hi>zu ihrer <index indexName="subjects-index">
            <term>Seligkeit</term>
          </index>Seligkeit zu rechnen</hi>; da sie nur zur Theilnemung an der
                        katholischen Gesellschaft gehören, in welche jene andre Christen mit
                        einzutreten keine Ursache finden, die mit ihrer christlichen Seligkeit
                        zusammen hinge. Die <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel behält also ihre Zulänglichkeit <hi>zur eignen Selig</hi><pb xml:id="bs_f_page_102" n="102" edRef="#f"/><hi>keit</hi> aller
                        gewissenhaften Christen; wenn die Christen gleich sehr ungleiche,
                        verschiedene Summen der öffentlichen und <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privatreligion aus der Bibel sammlen. Denn die Ueberzeugung der
                        Christen von der moralischen Güte und Liebe Gottes, wonach er selbst in
                        ihnen alle <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>moralische Wohlfart befördern will, gibt ihnen den steten Grund
                        ihrer innern fortgehenden Wohlfart; ihre <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache, moralische</term>
        </index>moralische Sprache darüber ist ihnen ganz frey, so lange sie nicht
                        mit andern sich <hi>äusserlich vereinigen</hi>. Diese unaufhörliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes hängt aber nicht an einer und derselben Summe oder
                        Reihe von Gedanken und Lehrsäzen, wodurch sich ja die Christen immer von
                        einander als verschiedene Menschen unumgänglich unterscheiden müssen. Vater,
                        Sohn und Geist Gottes werden also von den ungleichen Christen <hi>wirklich
                            auf christliche Art verehret</hi>, und diese neue <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesinnung</term>
        </index>Gesinnung bringt die Christen zu immer mehr moralischer eigener
                        Wohlfart und Seligkeit. Alle christliche neue <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis</term>
        </index>Erkenntnis also vom Vater, Sohn und Geist, ist an sich wirklich in
                        und aus der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel möglich, und für den Glauben und die eigene innere Religion
                        der Christen hinlänglich; aber in der Beschreibung und Erzälung <pb xml:id="bs_f_page_103" n="103" edRef="#f"/> dieser christlichen
                        Vorstellung können die Christen nicht übereinkommen, weil sie von einander
                        immer innerlich und äusserlich schon verschieden sind. Wenn aber solche
                        Beschreibungen festgesezt werden für eine Menge von Christen, so geschiehet
                        diese Bestimmung allemal zum äusserlichen Beweise einer daseienden <index indexName="subjects-index">
          <term>Vereinigung</term>
        </index><hi>Vereinigung dieser Gesellschaft</hi>, in Absicht der Theilnemung
                        an einer gemeinschaftlichen öffentlichen Religionsübung. Diese oder jene
                        Bestimmung aber zum gemeinschaftlichen öffentlichen Zweck verändert nichts
                        in der christlichen Gesinnung, worin der einzelne Christ seine Seligkeit von
                        Vater, Sohn und Geist immer privatim in einer verschiedenen Stufe, <hi>ohne
                            alle andere Privat Christen</hi>, sich aneignet. Diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion wird durch alle gemeinschaftliche oder
                        gesellschaftliche nicht verändert; wie jeder Privat-habitus bleibt, bey
                        aller Gesellschaft. Eben in dieser freien Privatübung bestehet der
                            <hi>wesentliche Charakter</hi> der christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion, welche durchaus nicht an irgend eine einzige
                        äusserliche gleichförmige Ordnung gebunden werden kann; indem alle
                        äusserliche Ordnung nur einen äusserlichen <hi>immerfort gleichen
                            Erfolg</hi> haben kann; <pb xml:id="bs_f_page_104" n="104" edRef="#f"/>
                        die <hi>individuelle</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit aber bleibt durchaus <choice>
          <sic>dn</sic>
          <corr type="editorial">an</corr>
        </choice> der christlichen Privat-Verehrung Gottes, daß diese Christen in
                        ihrer <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion wirklich immer Christen sind und bleiben, und keine
                            <hi>Naturalisten</hi> werden können, verstehet sich offenbar ganz von
                        selbst. Sie lassen sich hier <hi>Fanatiker</hi>, wie dort von den Pfaffen
                            <hi>Häretiker</hi> nennen. Die Bischöfe haben freilich diesen innern
                        steten Unterschied <hi>der wahren christlichen Verehrung Gottes in den
                            einzelnen Menschen durchaus unterdrückt</hi>, weil sie sonst hätten
                        gestehen müssen, daß auch <hi>Arianer, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_14_13"/><index indexName="subjects-index">
            <term>Photinianer</term>
          </index>Photinianer</hi>, und alle so genannten <hi>Ketzer</hi> in der
                        That eine Stufe der christlichen Verehrung Gottes, also auch eine Stufe
                        wahrer christlicher Seligkeit haben könnten; und da wäre die angebliche
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Einheit</term>
        </index><hi>Einheit</hi>, <index indexName="subjects-index">
          <term>Unveränderlichkeit</term>
        </index>Unveränderlichkeit, <index indexName="subjects-index">
          <term>Infallibilität</term>
        </index><hi>Infallibilität</hi> der katholischen Kirche sogleich in den
                        Augen aller <index indexName="subjects-index">
          <term>Christen, nachdenkende</term>
        </index>nachdenkenden Christen weggefallen, und man hätte diese äusserliche
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenregierung</term>
        </index>Kirchen-Regierung, <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenpolizey</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_14_14"/>Kirchen-Polizey, ganz gewis nur als eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Ordnung, menschliche</term>
        </index><hi>menschliche Ordnung</hi> erkannt, an welche Gott freilich seine
                        beste Verehrung und die <choice>
          <sic>christiche</sic>
          <corr type="editorial">christliche</corr>
        </choice> eigene Wohlfart, in Absicht aller Christen keinesweges selbst
                        gebunden hatte. So rechtmäßig <pb xml:id="bs_f_page_105" n="105" edRef="#f"/> es also ist, daß jede grössere christliche Religionsgesellschaft, <hi>zur
                            kentlichen Unterscheidung ihrer einstimmigen Glieder</hi>, eine
                        öffentliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrformeln</term>
        </index>Lehrformel durch die Religionslehrer zur öffentlichen
                        gemeinschaftlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Unterweisung</term>
        </index>Unterweisung festsezt und beibehält: so falsch ist es doch, wenn
                        irgend eine christliche Religionspartey <hi>die innere tausendfach
                            verschiedene christliche <index indexName="subjects-index">
            <term>Privatreligion</term>
          </index>Privat-Religion</hi> in eben dieses blos äusserliche Maas
                        einfassen wil; und es ist gar empörend, wenn sie behauptet, die ganze
                        moralische Wohlfart und Seligkeit aller Menschen, habe Gott selbst an eine
                        einzige jüngere Lehrformel eben so gebunden, wie die öffentlichen Rechte in
                        der bürgerlichen Gesellschaft an diese gesellschaftliche Religionsform durch
                        die Obrigkeit so oder so gebunden worden. Man müste alle christliche
                        Begriffe von <index indexName="subjects-index">
          <term>Gott, christliche Begriffe von</term>
        </index>Gott geradehin leugnen oder heimlich verspotten, welche Begriffe
                        doch durchaus nun von allen Christen aus der Bibel nach eigenem Gewissen
                        gesammlet werden, was die <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissheit</term>
        </index>Gewisheit ihrer eigenen Ueberzeugung und Wohlfart betrift: wenn man
                        bejahet, Gott, den sonst die Juden <hi>für ihren Gott hielten</hi>, (weil
                        alle Heiden unter Engeln stunden, nach den jüngern Grundsäzen der <pb xml:id="bs_f_page_106" n="106" edRef="#f"/> politischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Rabbinen</term>
        </index>Rabbinen) seie nun der Christen Gott exclusive worden, und zwar nur
                        der großen katholischen Partey. Es ist der erste Grundsaz der christlichen
                        Gottesverehrung, <hi>Gott ist und bleibt aller Menschen Gott und Vater in
                            einem und demselben allerhöchsten unendlichen Verhältnis</hi>. Nun wird
                        ferner eben so der jüdische falsche Begriff von einem politischen Könige
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias, König</term>
        </index>Messias, der auch nur der Juden Wohlthäter seie, weggeworfen, und
                        ein unendlicher, ganz besonderer <hi>Sohn Gottes, als moralischer Oberherr
                            aller Menschen</hi>, auch wider die Juden, bejahet, dessen <index indexName="subjects-index">
          <term>Erlösung</term>
        </index><hi>Erlösung</hi> ebenfals allen Menschen in <hi>moralischer</hi>
                        Ordnung zu gut komme, nach der Einsicht fähigerer Christen; wenn auch manche
                        Beschreibung sich auf den <index indexName="subjects-index">
          <term>Teufel</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_14_15"/>Teufel, als
                        bisherigen Herrn der heidnischen Welt <foreign xml:lang="grc">Κοσμοκρατωρ</foreign>, oder sonst auf kleinere jüdische Begriffe
                        beziehen. Eben so wird der <index indexName="subjects-index">
          <term>Geist Gottes</term>
        </index><hi>Geist Gottes</hi> in Absicht moralischer Wirkung von den
                        Christen ganz anders praktisch erkannt. Hier mus nun der besondere eigene
                        Glaube der einzelnen Christen durchaus nach ihren Gewissen Statt finden;
                        denn <hi>durch die menschliche Lehrform</hi> wird nur die
                            <hi>äusserliche</hi> Theilnemung <pb xml:id="bs_f_page_107" n="107" edRef="#f"/> an der öffentlichen Religionsgesellschaft bewirket, die
                        freilich einen feststehenden Sprachgebrauch zu den öffentlichen feierlichen
                        Religionsmerkmalen mit sich bringt. Es können auch die so vielen Christen,
                        wenn sie zu eigener Erkentnis und Verehrung Gottes noch nicht fähig sind,
                        ihre Privatreligion nach eben diesen Lehrbeschreibungen ein für allemal
                        annoch abmessen oder einrichten. Aber diese Wiederholung oder Nachahmung der
                        öffentlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionssprache</term>
        </index>Religionssprache, die nur zu allen <hi>gemeinschaftlichen</hi>
                        feierlichen Religionshandlungen gehörete, ist nicht das einzige oder beste
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß</term>
        </index>Maas <hi>für die besondere eigene <index indexName="subjects-index">
            <term>Verehrung Gottes</term>
          </index>Verehrung Gottes</hi> in Absicht aller Christen, die an
                        Fähigkeiten andere übertreffen. Noch vielweniger aber hat Gott alle Menschen
                        aller Zeiten zu einer und derselben christlichen öffentlichen Religionsform
                        oder zum <hi>gleichen</hi> Gebrauch der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel, Gebrauch der</term>
        </index>Bibel verbinden wollen, welches ohnehin sogar unmöglich ist.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_14_1"><label>beweisen alle diese Kirchenlehren</label>
        <p>Semler bezieht sich im Folgenden auf den Gegensatz zwischen dem
                            protestantischen <hi>sola scriptura</hi>-Prinzip und der katholischen
                            Auffassung, wie sie klassischerweise in Melchior Canos (1509–1560)
                                <hi>De locis theologicis</hi> (postum 1563) formuliert wurde, wonach
                            neben der Bibel auch Tradition und Lehramt unverzichtbare Quellen
                            theologischer Erkenntnis sind.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_14_2"><label>wie
                            schon Augustinus zu seiner Zeit ehrlich sagte und doch selbst zu noch
                            mehr Unterdrückung half</label>
        <p>Semler spielt auf eine Spannung im Werk (und Leben) Augustinus’ an. Auf
                            der einen Seite beruft sich Augustinus verschiedentlich auf das
                            Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–30), betont, dass die
                            Kirche aus einer Mischung aus beidem bestehe, und fordert zur Toleranz
                            auf, vgl. etwa seine 73. Predigt, 4 (PL 38, 472): „Sowohl unter den
                            Spitzen der Kirche ist Weizen und Unkraut, als auch im Volk ist Weizen
                            und Unkraut. Lasst die Guten die Schlechten tolerieren; lasst die
                            Schlechten sich ändern und die Guten nachahmen.“ Auf der anderen Seite
                            kämpfte Augustinus aber nicht nur mit harten Bandagen gegen Juden und
                            Manichäer, sondern auch gegen innerkirchliche Gegner wie die Donatisten
                            und Pelagianer (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_71"/> und <ptr type="page-ref" target="#erl_b_2_12"/>). Etwa ab dem Jahre 407
                            interpretierte er das Gleichnis vom großen Gastmahl, Lk 14,23 (Nötige
                            sie hereinzukommen; „Compelle intrare“), im Sinne einer Rechtfertigung
                            von Gewalt gegen tatsächliche oder vermeintliche Häretiker, vgl. Brief
                            185 (<hi>De correctione Donatistarum liber unus</hi>), 10f.: „Falls sie
                            [die Donatisten] denken, dass niemand im Gebrauch von Gewalt
                            gerechtfertigt sein kann [...]. Es gibt eine ungerechte Verfolgung der
                            Kirche Christi durch die Gottlosen, und eine gerechte Verfolgung der
                            Gottlosen durch die Kirche Christi. Letztere ist daher gesegnet, wenn
                            sie um der Gerechtigkeit willen leidet; doch jene sind nichtswürdig,
                            wenn sie um der Ungerechtigkeit willen leiden. Außerdem verfolgt die
                            Kirche aus Liebe, sie hingegen aus Grausamkeit.“ Siehe ähnlich auch
                            Brief 93.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_14_3"><label>der
                            alte Geist der Furcht und Knechtschaft</label>
        <p>Anspielung auf 2Tim 1,7 („Geist der Furcht“) und Röm 8,15 („Geist der
                            Knechtschaft“).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_14_4"><label>durch
                            einen so gar zweideutigen Papst, als durch einen Vicarium</label>
        <p>Die Päpste verstanden sich seit dem 13. Jh. als <hi>vicarius</hi>
                            („Stellvertreter“) Christi, was Semler klassisch durch die Anspielung
                            auf das Schisma in der lateinischen Christenheit (1378–1417),
                            währenddessen es mehrere Päpste in Rom und in Avignon gleichzeitig gab,
                            als nichtigen Anspruch entlarvt.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_14_5"><label>Anathema</label>
        <p>In Anlehnung an Gal 1,8f. (<foreign xml:lang="grc">ἀνάθεμα
                            ἔστω</foreign>) benutzten seit der Synode von Elvira (52) kirchliche
                            Lehrentscheidungen diese Bannformel zum Ausschluss (Exkommunikation) aus
                            der Kirche.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_14_6"><label>allein
                            durch den eigenen Glauben hat der Mensch seine christliche
                            Seligkeit</label>
        <p>Semler rekurriert auf das reformatorische <hi>sola fide</hi>-Prinzip, für
                            das es Vorläufer bei Kirchenvätern und -lehrern gibt: Der Mensch ist vor
                            Gott allein gerechtfertigt durch den Glauben, nicht durch Werke (vgl.
                            Gal 2,16; Röm 3,28).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_14_7"><label>Es ist
                            jezt die Rede nicht davon, ob diese Christen wirklich hiezu verbunden
                            gewesen sind</label>
        <p>Hintergrund dieser Bemerkung ist der Streit um die Frage, ob es
                                <hi>supererogatorische</hi> Akte gibt, d.h. gute Handlungen, die
                            über das moralisch Gebotene hinausgehen. Thomas von Aquin (z.B.
                                <hi>Summa Theologiae</hi> I-II, q.108, a.4) unterschied, wie vor ihm
                            andere Theologen, zwischen moralisch verbindlichen Geboten
                                (<hi>praescripta</hi>) und bloßen Ratschlägen (<hi>consilia</hi>),
                            deren Befolgung für die ewige Seligkeit zwar nicht notwendig, aber
                            förderlich sei. Viele römisch-katholische Autoren nahmen entsprechend
                            an, dass ein weltliches Leben mit Familie und Besitz zwar moralisch
                            nicht beanstandet werden könne, einem mönchischen Leben in Armut,
                            Keuschheit und Gehorsam aber gleichwohl nicht an Wert gleichkomme. Eine
                            solche Konzeption ließ auch Raum für die Ansicht, große Nachteile oder
                            gar den Tod für den Glauben auf sich zu nehmen, sei unter bestimmten
                            Umständen zwar ein supererogatorischer oder heiliger Akt, aber keine
                            moralische Pflicht. Dieser Auffassung wurde von den Reformatoren heftig
                            widersprochen, für sie ist der Begriff einer supererogatorischen
                            Handlung in sich widersprüchlich. In der Erläuterung zu seiner 58.
                            Ablassthese schreibt Luther: „Jeder Heilige ist verpflichtet, Gott so
                            sehr zu lieben, wie er kann, ja mehr, als er kann, doch niemand hat das
                            je geleistet, noch konnte er es je leisten. [...] Die Heiligen tun in
                            ihren vollkommensten Werken durch Tod, Martyrium, Leiden nicht mehr als
                            verlangt ist. Tatsächlich tun sie [nur], was sie verbunden sind zu tun,
                            und kaum das“ (<hi>Resolutiones disputationem de indulgentiarum
                                virtute</hi> [1518], WA 1, 606 [Übers. Hgg.]).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_14_8"><label>und die
                            Entberlichkeit eines Concilium [...] dargethan</label>
        <p>Bereits in der Vorrede zu den <hi>Schmalkaldische[n] Artikel[n]</hi>
                            (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_10_12"/>)
                            verwirft Luther die Notwendigkeit eines Konzils.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_14_9"><label>Gerson
                            in der Schrift de auferibilitate papae</label>
        <p>Semlers Bezugnahme auf Jean Gersons (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_d_5_7"/>) Schrift <hi>De auferibilitate
                                papae ab ecclesia</hi> (1409) ist rätselhaft, denn in ihr streitet
                            Gerson gerade entschieden für die <hi>Unentbehrlichkeit</hi> von
                            Konzilien. Dabei richtet er sich nicht nur gegen einen Provinzialismus,
                            gemäß dem jeder Bischof sein eigener Papst sei (consideratio 8), sowie
                            gegen die Auffassung von der Unabsetzbarkeit und unumschränkten Macht
                            des Papstes (considerationes 10–12), sondern auch gegen einen u.a. von
                            Ockham (ca. 1285–1347) ins Spiel gebrachten religiösen Individualismus,
                            gemäß dem prinzipiell denkbar sei, dass der wahren Kirche nur eine
                            einzige Person angehört (consideratio 7). Ein solcher Individualismus
                            mache das <hi>sakramentale</hi> christliche Leben unmöglich. Umso
                            merkwürdiger erscheint es, dass Semler Gerson hier zum Gewährsmann
                            seiner Konzeption von Privatreligion machen will. – Vgl. allerdings auch
                                <hi>Versuch eines fruchtbaren Auszugs der Kirchengeschichte</hi> III
                            (1778), 192: Semler referiert dort die Ansicht, bestimmte altkirchliche
                            Autoren von Tertullian bis Gerson „setz[t]en die Schrift über den Pabst
                            und über ein algemeines Concilium“. Für <hi>diesen</hi>
                            Prioritätenstreit wäre allerdings nicht das von Semler angegebene Werk
                            einschlägig, sondern <hi>De sensu litterali Sacrae Scripturae</hi>
                            (1413/14).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_14_10"><label>Die
                            papistischen Gelerten rechneten auch jene apocryphischen Bücher</label>
        <p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_6_1"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_14_11"><label>wie im
                            Colloquio zu Regensburg [...] das Hündlein (Tobiae) wedelte mit dem
                            Schwanze</label>
        <p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_10_8"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_14_12"><label>nur ex
                            traditione oder per auctoritatem ecclesiae ihre Gewisheit [...]
                            hätten</label>
        <p>Die katholische Kirche erkennt neben der Bibel auch andere theologische
                            Erkenntniswege wie die Lehrtradition an; vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_14_1"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_14_13"><label>Photinianer</label>
        <p>Benannt nach Bischof Photin von Sirmium (gest. 376), dessen Lehre zu
                            Lebzeiten mehrfach als häretisch verurteilt wurde. Photinianer betonen
                            die Einpersönlichkeit Gottes und lehnen deshalb sowohl die göttliche
                            Fleischwerdung in Christus als auch eine Präexistenz Christi
                        ab.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_14_14"><label>Kirchen-Polizey</label>
        <p>„Polizey“ von gr. <foreign xml:lang="grc">πολιτεία</foreign> meint hier
                            noch nicht die „Ordnungsinstanz“, sondern in der älteren Bedeutung des
                            Wortes die „Verfasstheit“ und „Ordnung“ der Kirche; vgl. auch <ref target="#bs_f_page_146">f146f.</ref></p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_14_15"><label>Teufel, als bisherigen Herrn der heidnischen Welt <foreign xml:lang="grc">Κοσμοκρατωρ</foreign>, oder sonst auf kleinere
                            jüdische Begriffe</label>
        <p>Der Ausdruck „<foreign xml:lang="grc">κοσμοκράτωρ</foreign>“
                            (Weltenherrscher) kommt im Neuen Testament einmal (im Plural) vor, Eph
                            6,12: „Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit
                            Mächtigen und Gewaltigen, mit den Herren der Welt [<foreign xml:lang="grc">πρὸς τοὺς κοσμοκράτορας</foreign>], die über diese
                            Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.“
                            Parallelen zu gnostischen Vorstellungen (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_3_8"/>) sind augenfällig: Sowohl
                            Anhänger des Valentinus (ca. 100–160) als auch des Markion (ca. 85–160)
                            bezeichneten den Teufel (Demiurgen, das böse Prinzip) als Kosmokrator. –
                            Zu Semlers Auffassung von Teufeln, Dämonen, vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_8_2"/>, <ptr type="page-ref" target="#erl_d_3_8"/>; zu (bösen) Geistern und Engeln
                            im Judentum vgl. <ref target="#bs_f_page_24">f24</ref>.<ref target="#bs_f_page_36">36</ref>.<ref target="#bs_f_page_46">46</ref>.<ref target="#bs_f_page_244">244</ref>.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_15">
      <head type="question">15. Was ist nun für ein Unterschied zwischen der
                            <hi>eigenen christlichen</hi> und der so genannten <hi>natürlichen</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, natürliche</term>
        </index>Religion? da es unter den Christen selbst <hi>nicht einerley
                            öffentliche</hi> Re<pb xml:id="bs_f_page_108" n="108" edRef="#f"/>ligionsform gibt, und keine christliche Religionsform ohne moralisches
                        besonderes eigenes Verhalten der <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatchristen</term>
        </index>Privat-Christen, eine ware würdige Verehrung oder Verherrlichung
                        Gottes dadurch ausmacht, daß die <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsbediente</term>
        </index>Religionsbedienten festgesezte feierliche Cerimonien in Gesellschaft
                        oder auch in Theilnemung der versammleten Christen, einmal wie allemal,
                        ihrem <index indexName="subjects-index">
          <term>Amt</term>
        </index>Amte nach verrichten, oder in der öffentlichen gemeinschaftlichen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionssprache</term>
        </index>Religionssprache reden?</head>
      <p>Freilich ist ein wirklicher nicht blos historischer Unterschied da; sonst
                        wären alle Christen zugleich <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten, und diese könten sich ja nicht wider die Christen so
                        bedächtig erklären wollen, um eben Naturalisten und keine Christen zu seyn.
                        Es kan aber keine Partey wider die andere <hi>eine solche Entscheidung
                            aufstellen</hi>, daß der Unterschied oder die Einheit wirklich so
                        eingesehen würde, daß nun alle <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten den Vorzug einer bestimten christlichen Religionsform
                        anerkennten; oder alle Christen sich verbunden hielten, aus bisherigen
                        Christen nun lieber <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten in dem oder jenem <pb xml:id="bs_f_page_109" n="109" edRef="#f"/> Umfange zu werden, um ja eine grössere moralische Wohlfart,
                        in einer vollkommneren Verehrung Gottes, sich zu schaffen; dieses ist wol an
                        sich selbst klar. Es wird immer eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit der christlichen Religionsform geben, wenn auch alle
                        Christen ihre christliche Verehrung Gottes durch ihr immer würdigeres
                        moralisches Verhalten, in allem Thun und Lassen, an den Tag legten, oder
                        neben der bürgerlichen öffentlichen Religionsordnung sich auch der <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion nach allem ihrem Vermögen selbst befleißigten. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_15_1"/>Umgekehrt mus es eine
                        öffentliche gemeinschaftliche Religionsform geben, so bald <hi>eine große
                            Menge schon eine besondere Gesellschaft ausmacht</hi>, und daher eine
                        gemeinschaftliche feierliche Uebereinstimmung in <hi>festgesezten
                            Merkmalen</hi> verabredet oder bey sich einfüret. Durch welche Merkmale
                        diese Menge ihre fortgehende Religionsgesellschaft immer wieder erkennet,
                        und andre nicht zu ihr gehörige Zeitgenossen unterscheidet. Durch diese
                        festen Merkmale einer daseienden Verbindung dieser immer verschiedenen Menge
                        zu einer gemeinschaftlichen feierlichen Beschäftigung, wird zunächst nur die
                        jedesmalige Versamlung äusserlich, kentlich regirt oder einge<pb xml:id="bs_f_page_110" n="110" edRef="#f"/>schränkt, in Absicht der Art
                        und des Maßes der Theilnemung an der eingefürten öffentlichen
                        gemeinschaftlichen Religionsform; wobey die Theilnemer <hi>nach ihrer
                            innerlichen Thätigkeit und <index indexName="subjects-index">
            <term>Beschäftigung, moralische</term>
          </index>moralischen Beschäftigung immer unkentlich oder ungewis
                            bleiben</hi>; wenn sie auch alle sichtbaren Handlungen in der
                        öffentlichen Form, wirklich mit machen. Denn es ist und bleibt unbekant, wie
                        viel ihr eigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Gemüt</term>
        </index>Gemüt und inneres <choice>
          <sic>Bewnßtseyn</sic>
          <corr type="editorial">Bewußtseyn</corr>
        </choice> an diesen äusserlichen Merkmalen Theil nimmt. Es kan bloße
                        Gewohnheit, oder eine besondere Absicht <choice>
          <sic>seyn.</sic>
          <corr type="editorial">seyn,</corr>
        </choice> wenn jemand alle solche feierliche Versamlung in äusserlicher
                        Sitsamkeit, oder gar merklicher Andacht, fleißig besucht, und sich
                        auszeichnet, blos um sich zu empfelen, und seine häuslichen Vortheile
                        dadurch leichter zu vergrössern. Es können also auch Naturalisten, in blos
                        politischen periodischen Absichten, sich als Theilnemer <choice>
          <sic>au</sic>
          <corr type="editorial">an</corr>
        </choice> der öffentlichen christlichen Religionsform darstellen, und sind
                        doch selbst weit genug entfernt von der christlichen Privat-Religion;
                        zufrieden mit einer sogenannten natürlichen Religion. Den innern Zustand des
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten kennen freilich <choice>
          <sic>bie</sic>
          <corr type="editorial">die</corr>
        </choice> Christen eben so wenig, als wenig er die eigentlichen <pb xml:id="bs_f_page_111" n="111" edRef="#f"/> christlichen Uebungen und
                        Erfarungen kennt, die er wol gar für <hi>fanatische</hi> Verirrungen und für
                        seinen Nachtheil ansiehet, und desto mehr sich selbst von der christlichen
                        innern Religion abwenden zu müssen urtheilet. Dieses ist <index indexName="subjects-index">
          <term>Historie</term>
        </index>Historie der Christen und <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten; <hi>es gab immer beide Classen unter den
                        Menschen</hi>, wenn sie auch nicht immer durch diese Namen unterschieden
                        wurden. In so fern aber <hi>die <index indexName="subjects-index">
            <term>Religionsform, öffentliche</term>
          </index>öffentliche <index indexName="subjects-index">
            <term>Religionsform</term>
          </index>Religionsform ganz gewis ein rechtmäßiges Band der bürgerlichen
                            Gesellschaft ist</hi>; müsten sowol Christen ihre eigene ganze oder
                        beste Verehrung Gottes nicht blos in die Theilnemung an der öffentlichen
                        Religionsform sezen; als auch Naturalisten ihre eigene Privat-Religion, die
                        sie die <hi>natürliche</hi> nennen, nicht der gesellschaftlichen
                        öffentlichen Religionsform ausdrücklich entgegen stellen, und das
                        bürgerliche gesellschaftliche Verhältnis aufheben, da ihre eigene besondere
                        Verehrung Gottes ihnen durch die öffentliche Religionsform eben so wenig
                        genommen wird, als wenig die felende christliche Privat-Religion durch die
                        öffentliche Religionsordnung allen Mitgliedern derselben gleich gut
                        eingehaucht wird. Wenn uns nun die Historie leh<pb xml:id="bs_f_page_112" n="112" edRef="#f"/>ret, daß leider beides von Zeit zu Zeit geschiehet:
                        so müssen wir auch aus der Historie lernen, was dieses beyderseits
                        unrichtige Verhalten für Folgen in der großen bürgerlichen Gesellschaft
                        gehabt habe. So nachtheilig es für die moralische Welt ist, wenn die
                        öffentliche Religionsform über ihren bürgerlichen gesellschaftlichen Zweck
                        hinausgehet, und gar die innere moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>Wohlfart aller Zeitgenossen schon ausmachen will, welche <index indexName="subjects-index">
          <term>Pfafferei</term>
        </index>Pfafferey freilich die guten Christen Jahrhunderte lang vor Augen
                        sehen: so wenig hat doch wirklich die bürgerliche Gesellschaft <index indexName="subjects-index">
          <term>Nutzen</term>
        </index>Nuzen und sichern Vortheil davon, wenn die öffentliche
                        Religionsordnung überhaupt verspottet und verächtlich gemacht wird. Jeder
                        weise Regent hat daher dieses nicht gestattet; denn es gehört gar nicht zu
                        der noch so vollkommnen eignen <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatverehrung</term>
        </index>Privat-Verehrung der Gottheit, daß (gesezt auch einfältiger)
                        unwissender Menschen gute Meinung und moralische Gesinnung aufgehoben oder
                        verächtlich werde. Wenn jede öffentliche Religionsform eben darum eine
                        gewisse feste Summe begreift, von Formeln und Handlungen, wodurch eine große
                        ungleiche Menge der Mitglieder sich als eine zusammengehörige Gesellschaft
                            <hi>immer wieder</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_113" n="113" edRef="#f"/>
        <hi>gegen einander zu erkennen gibt</hi>: so ist für alle moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Stufen, moralische</term>
        </index>Stufen dieser Mitglieder vom Staate rechtmäßig und hinlänglich
                        gesorgt, ohne daß eine einzige Stufe für alle Menschen eingefürt werden
                        müsse, nach dem Gutdünken einiger Mitbürger, welche durchaus die natürliche
                        Religion vorziehen wollen. Die ruhige Verbindung der ganzen immer
                            <hi>ungleichen</hi> Gesellschaft läßt dennoch so thätigen Mitgliedern
                            <hi>den Privat-Gebrauch</hi> aller <hi>ihrer <index indexName="subjects-index">
            <term>Seelenkräfte</term>
          </index>Seelenkraft zur besondern Verehrung</hi> Gottes, wenn sie gleich
                        aus Liebe zu ihren Mitbürgern auch die öffentliche Religionsordnung
                        wehrtschäzen, und die unfähigeren Christen können ihre ganze <index indexName="subjects-index">
          <term>Andacht</term>
        </index>Andacht aufbieten, da sie doch allen andern Nebenmenschen nicht ins
                        Herz sehen können, und ihre eigene Andacht dadurch nicht gestört wird, daß
                        manche nicht so oft in die Kirche oder zum Abendmal kommen, als sie es so
                        gern thun. Ueber die besondere <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion gibt es sonst nirgend eine <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Inquisition</term>
          </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_15_2"/>Inquisition</hi> als noch in manchen Ländern, die der päbstlichen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenzucht</term>
        </index>Kirchenzucht mehr Platz lassen. Daß hiemit Gott recht vorzüglich
                        verehret werde, wenn Menschen zu einer <index indexName="subjects-index">
          <term>Einheit</term>
        </index><hi>äusserlichen Einheit</hi>, in <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsmerkmale</term>
        </index>Religionsmerkmalen gar mit Gewalt gezwungen werden: <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_15_3"/>haben schon alle <pb xml:id="bs_f_page_114" n="114" edRef="#f"/> verständige Heiden ehrlich
                        geleugnet, und ernstlich gemisbilliget, selbst ein <index indexName="classics-index">
          <term>Julian (Kaiser)</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:3r68m">Julian</persName></hi>. <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> aber hat am
                        allerwenigsten eine solche Religions-Curie oder Inquisitions-Kammer
                        gestiftet. Es komt alles auf weise Regenten an, das Verhältnis der
                        daseienden öffentlichen Religionsform so zu beschüzen: daß gleichwol die
                        besondere Privat-Religion aller fähigen Zeitgenossen nicht zu ihrem
                        moralischen Nachtheil, geschwächt wird; daß aber auch die innere Ruhe und
                        Zufriedenheit der so vielen andern Menschen, die viel mehr zu ihrer
                        Verehrung Gottes rechnen, nicht für geringer angesehen wird als das Recht
                        jener fähigern Zeitgenossen.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_15_1"><label>Umgekehrt mus es eine öffentliche gemeinschaftliche
                            Religionsform geben, so bald eine große Menge schon eine besondere
                            Gesellschaft ausmacht</label>
        <p>Vgl. dazu <ptr type="page-ref" target="#erl_f_20_5"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_15_2"><label>Inquisition</label>
        <p>Im frühen 13. Jh. entwickelte die Papstkirche das Inquisitionsverfahren
                            als neue Prozessform, bei der keine Anklagepartei (Akkusationsverfahren)
                            nötig war, sondern das Gericht von Amts wegen (<hi>ex officio</hi>) eine
                            „Befragung“ (lat. <hi>inquisitio</hi>) einleiten konnte. Ursprünglich
                            zur Verfolgung innerkirchlicher Missstände gegründet, entwickelte sich
                            die Inquisition im Verlauf des Spätmittelalters schnell zum Instrument
                            gegen Häretiker, deren persönliche Glaubensüberzeugungen überprüft und
                            deren Verstöße gegen die Rechtgläubigkeit geahndet wurden.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_15_3"><label>haben
                            schon alle verständige Heiden ehrlich geleugnet, [...] selbst ein
                            Julian</label>
        <p>Zu Kaiser Julian vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_5_8"/>. Obwohl er ein entschiedener
                            Gegner des Christentums war, gewährte Julian allen Religionen im
                            römischen Reich Toleranz und (weitgehend) gleiche Rechte. Er ließ sogar
                            unter seinem arianischen Vorgänger Constantius II. (317/353–361) ins
                            Exil verbannte Häretiker wieder zurückholen – wenn auch wohl in der
                            Hoffnung, damit innerchristlichen Zwist zu säen.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_16">
      <head type="question">16. Es gibt also zunächst diesen Unterschied, zwischen der
                            <hi>christlichen</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, natürliche</term>
        </index><hi>natürlichen</hi> Religion, daß jene überal unter christlichen
                        Nationen schon <hi>die <index indexName="subjects-index">
            <term>Religion, öffentliche</term>
          </index>öffentliche</hi> ist, als das öffentliche Band der christlichen
                        großen Gesellschaften; die <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, natürliche</term>
        </index><hi>natürliche</hi> Religion ist aber ohne eine gemeinschaftliche
                        öffentliche Form und gesellschaftliche besondere Verfassung; die freilich
                        allemal eine <hi>besondere, verschiedene</hi> große Gesellschaft voraussezt,
                        wenn ein <pb xml:id="bs_f_page_115" n="115" edRef="#f"/> öffentliches
                        kentliches Band, durch eine fest immer kentliche Religionsform da seyn soll.
                        In einer so genannten natürlichen Religion <hi>gibts aber keinen
                            historischen <index indexName="subjects-index">
            <term>Anfang</term>
          </index>Anfang</hi>, auf den sich neue besondre <index indexName="subjects-index">
          <term>Symbole</term>
        </index><hi>Symbola</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Zeremonien</term>
        </index>Cerimonien, oder feierliche <hi>Merkmale</hi> beziehen könten. Man
                        könte also wol den <hi>Unterschied</hi> der christlichen und natürlichen
                        Religionsform noch genauer bestimmen; sonst könte ja die natürliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion, natürliche</term>
        </index>Privat-Religion wirklich neben der christlichen öffentlichen
                        Religionsform zugleich bestehen?</head>
      <p>Ich habe es schon gesagt, daß dieses ganz gewis gar oft als Historie, Statt
                        gefunden haben mag, und wol häufig noch jetzt so ist; da ja <hi>viele
                            Christen ihre Lehrsäze so wenig selbst bejahen und hochschäzen</hi>, als
                        die Naturalisten es thun. Es kan jemand ein <hi>äusserlicher</hi> Christ
                        seyn, und Theil nemen an allen Merkmalen, woran die christliche äusserliche
                        Gesellschaft sich immer kent, und einander äusserliche Rechte
                        gesellschaftlich gewäret; er ist aber hiemit noch nicht innerlich oder <pb xml:id="bs_f_page_116" n="116" edRef="#f"/> mit Einstimmung seines
                        eigenen Verstandes und Willens in innerer Uebung einer christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes</term>
        </index>Verehrung Gottes beschäftiget. Diese eigene innere freie Verehrung
                        Gottes <hi>war der neue Grund und <index indexName="subjects-index">
            <term>Inhalt</term>
          </index>Inhalt</hi> dieser christlichen neuen Religion, der einen neuen
                        Begriff, neuen historischen Sachinhalt aufstellete, welcher <hi>neue <index indexName="subjects-index">
            <term>Sachinhalt</term>
          </index>Sachinhalt</hi> sich weder im Judentum noch Heidentum bisher
                        befand. Dieser neue Sachinhalt verringerte theils den vorigen Inhalt der
                        jüdischen Religion, theils bestimmte er den Vorzug dieser neuen viel
                        gemeinern oder über die jüdische Nation hinausgehenden Religion, durch
                        Erweiterung des Begrifs einer periodischen besondern moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Offenbarung, moralische</term>
        </index>Offenbarung oder Belehrung Gottes, welche die <index indexName="subjects-index">
          <term>Juden</term>
        </index>Juden <hi>nur ihrer Nation beigebracht hatten</hi>; die aber nun als
                            <hi>fortgehend</hi> vorausgesezt wird, zur fortgehenden <hi>freien
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Erkenntnis Gottes</term>
          </index>Erkentnis</hi> und Verehrung Gottes, statt der Einschränkung, so
                        nach <index indexName="persons-index">
          <term>Mose</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t7">Mosis</persName> Geseze bisher durch
                        Priester und <index indexName="subjects-index">
          <term>Leviten</term>
        </index>Leviten statt fand. Die christliche Religion, oder Verehrung Gottes,
                        wie sie von Christen fortgesezt wird, <hi>sezt also stets diese vorige
                            jüdische Religion als die unvollkomnere voraus</hi>, und entstehet
                        wirklich <hi>durch neue grös</hi><pb xml:id="bs_f_page_117" n="117" edRef="#f"/><hi>sere Begriffe von Gott</hi>, und durch ihre freie innere
                        Anwendung. Die Juden sagen, Gott hat sich unsern Vätern und Vorfahren so
                        geoffenbaret, daß wir eben hiemit eine bessere Verehrung Gottes leisten,
                        wenn wir <index indexName="persons-index">
          <term>Mose</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t7">Mosis</persName> Geseze immer
                        beobachten; als wenn andre Völker, (ohne unsre Schriften,) Gott mit andern
                        Gebräuchen, in Wiederholung einer ganz andern Historie ihrer Vorfaren, oder
                        in Betrachtung des Reichs der Natur, in eigener innerer Bewegung ihres
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Gemüts, Bewegung des</term>
        </index>Gemüts, zu verehren meinen. Die Christen sagen, die jüdische
                        Religion <hi>ist noch nicht die allerbeste Verehrung Gottes</hi>, der ja
                        aller Menschen Gott so gut ist, als ihr ihn zum <index indexName="subjects-index">
          <term>Gott einer Nation</term>
        </index>Gott einer Nation durch eine besondere <index indexName="subjects-index">
          <term>Nationalsprachen</term>
        </index>Nationalsprache machen wolt. Er hat sich auch nicht blos unter euren
                        Vorfaren, sondern in den Herzen und Gemütern aller Menschen geoffenbaret,
                        aber nicht auf einerley Weise, in einer unveränderlichen Stufe; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_1"/>so wenig er alle
                        Menschen in einerley oder gar unveränderlichen Zustand und Verhältnis ihres
                        Menschenlebens gesezt hat, welches schon die physische Beschaffenheit und
                        stete Veränderlichkeit des Erdbodens unmöglich macht, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_2"/>auf dem Menschen sich
                        nach Gottes Ordnung und Wil<pb xml:id="bs_f_page_118" n="118" edRef="#f"/>len, immer mehr ausbreiten sollen, ohne allein in Palästina wahre und
                        glückliche Menschen zu seyn. Wenn nun gleich die immer verschiednen Menschen
                        so vielerley <index indexName="subjects-index">
          <term>Nationen</term>
        </index>Nationen ausmachen, und diese von Gott sehr ungleiche Vorstellungen
                        haben: so ist es doch nicht wahr, was ihr zeither so eigenliebig denket, daß
                        andere Völker unter dem Gebiet mancher <index indexName="subjects-index">
          <term>Engel</term>
        </index>Engel und <index indexName="subjects-index">
          <term>Geister, böse</term>
        </index>böser Geister stünden; und von Gott ganz und gar abgerissen und
                        entfernet wären. Eure eigenen alten Bücher enthalten so gar den Samen und
                        Stoff zur offenbaren Bestätigung unserer neuen bessern Verehrung Gottes,
                        wenn es anders euch um diese immer bessere Verehrung Gottes zu thun ist. Ihr
                        hoffet auf <hi>eine neue Periode</hi>, auf einen <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias</term>
        </index>Messias, aus diesen und jenen Stellen eurer alten Bücher. Sehr gut;
                        vergesset nur nicht, daß Gott aller Menschen Gott gleich gut in einerley
                        moralischen Verhältnis ist; berechnet nicht eure bürgerliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, bürgerliche</term>
        </index>Wohlfahrt nach Träumen müssiger eigennüziger <index indexName="subjects-index">
          <term>Rabbinen</term>
        </index>Rabbinen, die jene alte Historie misbrauchen. Wo solte ein Grund
                        herkommen, daß Juden die Oberherrn und Beherrscher aller Völker würden,
                        darunter wol manche besser als ihr Juden bisher, sind. Eure frommen wei<pb xml:id="bs_f_page_119" n="119" edRef="#f"/>sen alten Lehrer waren nicht
                        so kindisch; ihr müßt <hi>einen grössern erhabnern Sinn jener Stellen</hi>
                        von moralischer <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>Wohlfart der Menschen, zu einer moralischen Ehre und <index indexName="subjects-index">
          <term>Herrlichkeit Gottes, moralische</term>
        </index>Herrlichkeit Gottes, verstehen lernen! Warum denkt ihr einen so
                        fabelhaften <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias, fabelhafter</term>
        </index>Messias? <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_3"/>Aus
                        der Unterwerfung an Römer und an andre heidnische Oberherrn, die so gut
                        Menschen sind, als ihr, wird euch ein Sohn Gottes gewis nicht erlösen; der
                        kan ja über die Menschen <hi>keine andern Grundsäze haben</hi>, als <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_4"/>sein Vater, den ihr
                        den Hochgelobten immer nent; aber auch in Absicht aller Menschen, so
                        verschieden sie von Juden sind, mus er der Hochgelobte eben so gut heissen,
                        als in Rücksicht auf eure Nation. Diese Ausbreitung der Erkentnis der Ehre
                        und <index indexName="subjects-index">
          <term>Herrlichkeit Gottes</term>
        </index>Herrlichkeit Gottes ist schon in euren alten Schriften, aber
                        freilich noch nicht so helle und deutlich <hi>versprochen, versichert,
                            enthalten</hi>, als ihr nun durch die neuere Geschichte eurer Zeit es
                        immer mehr einsehen könt. Wie viel <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_5"/>gelerte Juden haben nicht schon zeither aus
                        griechischen, wie ihr sagt, heidnischen Schriftstellern, ganz gern ihre
                        moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis, moralische</term>
        </index>Erkentnis erweitert? <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_6"/>Wenn ihr auch gar sagt, die Heiden haben es aber
                        aus unsern <pb xml:id="bs_f_page_120" n="120" edRef="#f"/> Büchern ehedem
                        entwendet: so sehet ihr doch, daß Gott die moralische Erkentnis nicht euch
                        zum Eigentum machen wil. Leset die Klagen und Bestrafungen in euren alten
                        Büchern, über die blos <hi>äusserlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Religionsgeschäfte</term>
          </index>Religionsgeschäfte</hi>; es ist ja klar, daß es noch eine
                        bessere Verehrung Gottes gibt für alle einzelne Menschen, als ihr blos durch
                        Priester und <index indexName="subjects-index">
          <term>Leviten</term>
        </index>Leviten einmal wie allemal besorgen lasset. Da ihr nun so gerne in
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>patriotisch</term>
        </index>patriotischen Stolze glaubt, daß Gott euch durch <index indexName="persons-index">
          <term>Abraham</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:2z6sz">Abraham</persName>,</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Mose</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:2z6t7">Mosen</persName></hi> und
                        Propheten ehedem belehret habe: warum wollt ihr es uns wehren, <hi>daß wir
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>glauben</term>
          </index>glauben</hi>, eben derselbe Gott habe diesen <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Jesus</persName> zum rechten Christus
                        und allgemeinen moralischen Herrn unter uns aufgestellet, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_7"/>der keinesweges ein
                        König und Monarch der Juden auf Erden seyn solte; darum ist er von den
                        Todten auferweckt und gen Himmel erhoben worden, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_8"/>wo der Sohn Gottes ja
                        ohnehin schon immer gewesen ist, in dem unendlichen Schooße des Vaters. Ihr
                        müßt also einen viel höhern Begriff vom Sohne Gottes annemen; wonach er auch
                        über alle Engel und Geister erhaben ist; und wir können so kein Gebiet der
                        Engel über die Heiden ferner glauben; es kan kein <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_9"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Finsternis, Reich der</term>
        </index>Reich der <pb xml:id="bs_f_page_121" n="121" edRef="#f"/>
        <choice>
          <sic>Fnsternis</sic>
          <corr type="editorial">Finsternis</corr>
        </choice> oder des <index indexName="subjects-index">
          <term>Teufels, Reich des</term>
        </index>Teufels ferner so geben, als eure <index indexName="subjects-index">
          <term>Rabbinen</term>
        </index>Rabbinen, spät genug es erdacht haben, um euch desto mehr von allen
                        andern Völkern abzusondern und unter ihrer schlechten <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsbotmäßigkeit</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_10"/>Religionsbotmäßigkeit zu erhalten. Es gibt auch <hi>andre <index indexName="subjects-index">
            <term>Sünde</term>
          </index>Sünden</hi>, als wider <index indexName="persons-index">
          <term>Mose</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t7">Mosis</persName> Gesez; wider <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_11"/>ein ungeschriebenes,
                        in dem <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen der Menschen bekantes <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesetz, ungeschriebenes</term>
        </index>Gesez; dieses hat Gott durch seinen Sohn weit über jene kleine
                        Gesezgebung Mosis erheben lassen, aber durch eben den <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> ist uns auch die
                            <hi>neue Erkenntnis der Gnade und Vollkommenheit Gottes so geoffenbaret
                            worden</hi>, daß wir keine so geringen <index indexName="subjects-index">
          <term>Opfer</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_12"/>Opfer mehr
                        nötig haben, als ihr bisher bestellen lasset. An diesem Christus haben wir
                        Opfer, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_13"/>Hohenpriester
                        in dem allerhöchsten Verstande; ohne diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Mikrologie</term>
        </index><hi>Mikrologie</hi> zu behalten, die bisher unter Menschen mit
                        diesen Namen ausgedrückt worden. So kennen wir auch <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_14"/>eine <hi>ganz andre
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Beschneidung</term>
          </index>Beschneidung</hi>, wozu wir eure Religionsdiener nicht weiter
                        brauchen; Gott reiniget selbst unsre Herzen durch unsern eignen Glauben,
                        worin wir immer mehr wachsen und zunemen, also auch ganz andre Früchte
                        dieser neuen Einsicht zur rechten Ehre Gottes bringen. Ihr habt auch jene
                        alte <pb xml:id="bs_f_page_122" n="122" edRef="#f"/> Macht und bürgerliche
                        Gewalt nicht mehr, daß ihr die jüdische Religion uns aufzwingen köntet;
                        einer daseienden bessern Erkentnis aber müssen wir, <hi>eben zur Ehre
                            Gottes</hi>, folgen. So entstehen also unsere christlichen
                        Gesellschaften, worin eure <index indexName="subjects-index">
          <term>Beschneidung</term>
        </index>Beschneidung und <index indexName="subjects-index">
          <term>Osterlamm</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_15"/>Osterlam,
                        eure <index indexName="subjects-index">
          <term>Sabbat</term>
        </index>Sabbate gewis nicht fortgesezt werden können, weil euer alter
                        historischer Zusammenhang nur eine jüdische <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, partikuläre</term>
        </index><hi>partikuläre</hi> Religion mit sich bringt, die wir durchaus
                        nicht für die bessere Verehrung Gottes halten können <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> Ich habe hiemit nur zeigen wollen, daß die christliche neue
                        Religion vom Anfange an die historische jüdische Religion voraussezt, und
                            <hi>in einem steten Verhältnis</hi> der <hi>Ausbesserung</hi> oder
                            <hi>Berichtigung</hi> dagegen stehet; also nicht in der gemeinen
                        Bedeutung die <hi>natürliche</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, natürliche</term>
        </index>Religion heissen kann, welche die Naturalisten jezt vorziehen
                        wollen. Jene ersten Lehrer der neuen bessern Religion brauchen also in ihren
                            <hi>neuen <index indexName="subjects-index">
            <term>Urkunden, christliche</term>
          </index>Urkunden</hi>, (auf denen ihre neue freie sehr ungleiche
                        Religionsform beruhet, weil nicht alle diese Schriften auf einmal da, und
                        nicht schon in aller Lehrer Händen waren) allerley <hi>damalige</hi>
                        griechische Schriften, die schon mehreren Juden gemein waren, zu einer <pb xml:id="bs_f_page_123" n="123" edRef="#f"/> noch bessern Belehrung eben
                        dieser Juden. <hi>Sie erweitern also den Grundsaz von <index indexName="subjects-index">
            <term>Offenbarung</term>
          </index>Offenbarung Gottes</hi> an einzelne Menschen, der vorher meist
                        auf Prophezeiung äusserlicher bürgerlicher Begebenheiten unter Juden und
                        benachbarten Völkern ging; <hi>daß er nun auf moralische <index indexName="subjects-index">
            <term>Belehrung</term>
          </index>Belehrung jeziger Zeitgenossen gehet</hi>, und sie verweisen
                        ihre Schüler <hi>auf diese nun bekanten Wirkungen des <index indexName="subjects-index">
            <term>Geistes Gottes, Wirkungen des</term>
          </index>Geistes Gottes in ihnen selbst</hi>. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_16"/>Der Geist Gottes wird
                            <hi>zeugen</hi>, wie es Luther übersezt; oder <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_17"/>euch immer mehr
                            <hi>lehren, unterweisen</hi>, versicherte <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> selbst. Diesen
                        Grundsaz einer <hi>erweiterten <index indexName="subjects-index">
            <term>Offenbarung</term>
          </index>Offenbarung</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index><hi>Wirkung Gottes</hi>, leugnen aber alle Naturalisten, und denken
                        nicht einmal daran, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_18"/>daß die <hi>natürlichen</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Seelenkräfte</term>
        </index>Seelenkräfte der Menschen schon von vorneher, oder von ihrer
                            <hi>localen</hi> Anwendung eine so ungleiche Stimmung haben: daß
                        durchaus ihr eigen Nachdenken über das Verhältnis Gottes einen ungleichen
                        Gang behalten mus; wie die Entschliessung zu dem und jenen Grad ihrer
                        äusserlichen Beschäftigung, zu der oder jener Profession, Unternemung und
                        Lebensart, ganz ausgemacht immer ungleich ist und bleibt; wenn sie gleich
                            <hi>eine und dieselbe <index indexName="subjects-index">
            <term>Natur des Menschen</term>
          </index>Natur</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_124" n="124" edRef="#f"/>
        <hi>als Menschen hatten</hi>. Und dis wirklich zum grössern Besten andrer
                        Menschen neben und nach ihnen, wie zu ihrer eigenen grössern Zufriedenheit.
                        Nie werden also <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten <hi>den Begriff von <index indexName="subjects-index">
            <term>Gottes Wirkung</term>
          </index>Gottes Verhältnis und Wirkung auf die Seelenkräfte mancher
                            Menschen, ganz und gar abschaffen oder aufheben, ausrotten können</hi>;
                        am wenigsten aber die wirkliche moralische Historie dieser ungleichen ersten
                        Christen, zu einem bloßen <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalismus</term>
        </index><hi>Naturalismus</hi> machen können. Es bleibt allen andern
                        Zeitgenossen frey über jene moralische Geschichte der Christen ganz anders,
                        eben zur Ehre Gottes, zu denken; wie es ihnen auch ferner frey und
                        unbenommen bleibt, <hi>eben jezt in sich selbst Gottes moralische Einwirkung
                            ernstlich zu erwarten und zu finden</hi>. Mögen Naturalisten immer
                        dieses eine <hi>fanatische</hi> Verirrung nennen; mögen sogar spotten über
                        diese guten Menschen, die Gott so ernstlich verehren, und sich gern spotten
                        lassen! Genug, immer gab es auch <hi>diese besondere Classe Menschen, und
                            sie kann nie unter den Menschen felen</hi>. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_19"/>Im <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> wird sie wirklich als eine fortgehende <hi>moralische</hi>
                        Familie, von den andern Menschen unterschieden, die im<pb xml:id="bs_f_page_125" n="125" edRef="#f"/>mer <foreign xml:lang="grc">Κοσμος</foreign> heissen, weil diese vornemlich sich nur mit der
                            <hi>sinnlichen, sichtbaren Welt</hi> beschäftigen; der <index indexName="subjects-index">
          <term>Geist Gottes</term>
        </index><hi>Geist Gottes</hi> wirket nicht in diesen Menschen, oder die
                        übrige Menschenwelt hat diesen Geist Gottes noch nicht, durch welche Gott
                        manche Menschen nun belehret von ihrem grössern moralischen Vortheil. Dieses
                        ist damalige und jezige Historie; die <hi>Naturalisten</hi> können diese
                        Historie durch alle ihre ganz andere moralische Historie nicht umwerfen. Auf
                        diesem Grundsaze <hi>von steten <index indexName="subjects-index">
            <term>Geistes Gottes, Wirkungen des</term>
          </index>Wirkungen des Geistes Gottes</hi> in manchen Menschen,
                            <hi>beruhet die neue christliche Religion</hi>. Diesen <index indexName="subjects-index">
          <term>Geist Gottes</term>
        </index>Geist Gottes hatten die Apostel und damaligen Lehrer der neuen, ganz
                        gewis viel bessern, würdigern, eigenen, freien <hi>Verehrung Gottes</hi>;
                        sie ist also <hi>ihrer Natur nach</hi> immer in dem Gebrauche der
                        Seelenkräfte der Christen, wie je die Naturalisten ihre Seelenkräfte
                        gebrauchen; und wenn sie in den Christen felet, so haben die Christen nun
                        blos eine <hi>äusserliche</hi> neue Religionsform, wodurch sie unter
                        einander zu einer neuen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsgesellschaft</term>
        </index>Religionsgesellschaft verbunden sind. In dieser <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit der Theilnemung an dieser <index indexName="subjects-index">
          <term>Geistes Gottes, Wirkungen des</term>
        </index>Wirkung des Geistes Gottes, oder in der Ungleich<pb xml:id="bs_f_page_126" n="126" edRef="#f"/>heit der Beschreibung und der
                        Anwendung dieses neuen Grundsazes, ist alle jene <index indexName="subjects-index">
          <term>Verschiedenheit</term>
        </index>Verschiedenheit der alten und neuen christlichen Religionsparteien
                        ferner gegründet, und es bleibet doch bey dieser <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit, bey allen Parteien eine wirkliche christliche
                        Verehrung Gottes, welche einen besondern Charakter hievon behält, den die
                        jüdische und alle heidnische und natürliche Religionsform niemalen hat, und
                        nicht haben kann. Die Juden gehen durchaus nicht über die äusserliche
                        Historie ihrer Vorfaren oder Nachkommen hinaus; sie erwarteten vielmehr eine
                        noch herrlichere politische <hi>Wiederholung</hi>; daher kann die jüdische
                        und christliche Religionsform durchaus nicht vereiniget werden; die Juden
                        warten auf <index indexName="subjects-index">
          <term>Revolution</term>
        </index><hi>Revolution</hi> und sinnliche Freuden. Wenn aus Juden Christen
                        wurden, <hi>so verliessen sie den vorigen jüdischen Grundsaz</hi>, daß die
                        jüdische väterliche Religion überhaupt die beste und Gott anständigste sey;
                        sie namen <hi>den neuen Grundsaz an</hi>, von nicht blos ehemaliger <index indexName="subjects-index">
          <term>Offenbarung, historische</term>
        </index>historischer, sondern <hi>fortgehender</hi> moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Offenbarung, moralische</term>
        </index>Offenbarung und <index indexName="subjects-index">
          <term>Belehrung</term>
        </index>Belehrung Gottes durch seinen Geist. Die neuen Christen behielten
                        und behalten alle diesen Grundsaz, wenn sie gleich weder einer<pb xml:id="bs_f_page_127" n="127" edRef="#f"/>ley oder gleichviel neue
                        christliche Urkunden hatten, noch auch in der Auslegung und Anwendung
                        derselben übereinkamen. Eben jener neue Grundsaz brachte diese
                            <hi>fortgehende <index indexName="subjects-index">
            <term>Verschiedenheit</term>
          </index>Verschiedenheit</hi> der immer mehreren Parteien mit sich; weil
                        der Umfang des vorausgehenden Grundsazes (fortgehende von Menschen nicht
                        eingeschränkte Belehrung Gottes durch seinen Geist in manchen Menschen) ganz
                        frey und unabhängig von den christlichen Lehrern und Zuhörern angewendet
                        werden konte. Man konte nun allen mündlichen und geschriebenen Unterricht
                        der Apostel und ihrer Schüler eben so wohl <hi>ganz buchstäblich</hi> in
                        sein Gemüt aufnemen, welches meist der Fall war, worinn unfähigere Lehrer,
                        Schüler und Theilnemer sich befanden; als man die unmittelbare <index indexName="subjects-index">
          <term>Einkleidung</term>
        </index>Einkleidung und <hi>damalige <index indexName="subjects-index">
            <term>Beschreibung, lokale</term>
          </index>locale, modificirte</hi> Beschreibung von <hi>der eigenen
                            jezigen Erkentnis der Sachen</hi> und Wahrheiten, in allem Ernst, in
                        würdiger Verehrung Gottes, unterscheiden konte. Beide behielten den neuen
                        Grundsaz, Gott belehret uns in moralischer Absicht durch seinen Geist besser
                        als wir von den <index indexName="subjects-index">
          <term>Rabbinen</term>
        </index><hi>Rabbinen</hi>, oder durch uns selbst im Gebrauche jüdischer
                        Grundsäze belehret wurden; <pb xml:id="bs_f_page_128" n="128" edRef="#f"/>
                        dieser bessern Erkentnis müssen wir folgen. Diese neue eigene Uebung brachte
                        unfelbar eine neue fortgehende moralische ganz gewisse <index indexName="subjects-index">
          <term>Erfahrung</term>
        </index>Erfarung. Wenn auch die grössere Kirche nach und nach den heiligen
                        Geist nur ihren Bischöfen, und den von diesen geweiheten Religionsdienern
                        beilegte, und allen so genannten Kezern den heiligen Geist gar absprach,
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_20"/>woher eben
                        ehedem viele so gar die von Kezern ertheilte <index indexName="subjects-index">
          <term>Taufe</term>
        </index>Taufe nicht für gültig hielten: so behielten doch alle verständige
                        Christen es ganz frey, diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Geistes Gottes, Wirkungen des</term>
        </index>Wirkung des uneingeschränkten Geistes Gottes <hi>für allgemein</hi>,
                        also auch <hi>ihnen nicht entstehend</hi>, anzusehen; und so erweiterte sich
                        die gleich große eigene Ueberzeugung <hi>von der <index indexName="subjects-index">
            <term>Wahrheit</term>
          </index>Wahrheit</hi> aller besondern <index indexName="subjects-index">
          <term>Stufen</term>
        </index>Stufen und Classen der christlichen Religion in allen immer neuen
                        Parteien, gleichsam von selbst, wirklich in aller Unschuld und Ehrlichkeit,
                        wenn auch listige Absicht und politischer Vorsaz nicht dazu gekommen wäre,
                        die freilich schon im ersten Anfange nicht felete und in der Menschenwelt
                        nie felen wird. Wenn nun auch Naturalisten auf ihrer ganz andern Meinung
                        bleiben, (welches ihnen gewis frey stehet, <hi>und andern Christen
                            wenigstens</hi> an ihrer eigenen christlichen <pb xml:id="bs_f_page_129" n="129" edRef="#f"/> Verehrung Gottes <hi>gar nicht hinderlich
                        ist</hi>,) <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_21"/>und
                        sagen, daß dieses nur ein <hi>orientalischer <index indexName="subjects-index">
            <term>Sprachgebrauch, orientalischer</term>
          </index>Sprachgebrauch sei</hi>, oder ein Ueberbleibsel aus der <index indexName="subjects-index">
          <term>Kindheit, moralische</term>
        </index>Kindheit der moralischen Welt; es sei nicht wirklich in den Christen
                        ein besonderer neuer Grund, oder eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes da: so gestehen sie ja hiemit den <hi>ganz gewissen
                            Unterschied einer solchen Religion</hi>, die auf dem Grundsaze beruhet,
                        (es gibt eine fortgehende <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes zur grössern moralischen Wohlfart der Menschen); oder
                        den Unterschied dieser christlichen Religion, von derjenigen Religion, die
                        man die <hi>natürliche</hi> nent. Nicht einmal den christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprachgebrauch, christlicher</term>
        </index>Sprachgebrauch behält der Naturalist, weil er alle jene christlichen
                        Begriffe nicht annimt, welche so vielerley christliche Parteien durch
                        verschiedene öffentliche Religionsformen und besondern biblischen
                        Sprachgebrauch theilen. Er ziehet daher eine <hi>natürliche</hi> Religion
                        vor, als wenn die christliche Religion auf einem Grundsaze beruhete, <hi>der
                            wider die allgemeine Natur der Menschen ansties</hi>, dieweil sie Gott
                        als den Oberherrn der so genannten Natur in ein grösseres fortwärendes
                        Verhältnis gegen einige Menschen sezte, als diese Naturalisten selbst
                            beja<pb xml:id="bs_f_page_130" n="130" edRef="#f"/>hen. Dis ist doch
                        eine stete <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_22"/><foreign xml:lang="lat">petitio principii</foreign>, welche verständige Christen
                        nicht für einen besondern Grund, der ihre eigene moralische Ordnung schon
                        völlig widerlege, ansehen können. Die <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_23"/>moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Welt, moralische</term>
        </index>Welt ist ganz gewis nicht weniger in sehr <hi>ungleiche <index indexName="subjects-index">
            <term>Klima</term>
          </index>Climata</hi>, oder unabänderliche Einflüsse schon getheilt, als
                        die Lage der Erdkugel, durch welche die Arten der <hi>physischen
                            Produkte</hi> immerfort verschieden sind. Es konnte also an <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten so wenig felen, als an einer ihnen immer entgegen
                        stehenden Partey; und <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_24"/>da der Ertrag der <index indexName="subjects-index">
          <term>Welt, moralische</term>
        </index>moralischen Welt eben so unendlich ungleich seyn kann, ohne Schaden
                        der einzelnen Subjekte, wie wir es in der körperlichen Welt, bey aller immer
                        großen Unwissenheit einsehen: so kann kein Grund angegeben werden, warum es
                        nicht eben so wol unter den Menschen ernstliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Liebhaber</term>
        </index>Liebhaber einer fortgehenden moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes ferner geben möge, die ihre Verehrung Gottes und die
                        Erfarung ihrer grössern moralischen Wohlfart immer weiter selbst darauf
                        bauen: als es <hi>Naturalisten</hi> immer gibt und geben wird, welche den
                        Grundsaz von <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Gottes moralischer steten Wirkung im Menschen zur besondern
                        Regierung ihrer Seelenkräfte, für sich nie bejahen. <pb xml:id="bs_f_page_131" n="131" edRef="#f"/> Eigensinn, Anmassung, Stolz,
                        Ueberhebung mus es durchaus heissen, wenn der eine Theil von diesen 2
                        Parteien den andern <hi>neben sich nicht dulten, und menschlicher Rechte und
                            Pflichterweisungen nicht wehrt oder fähig halten wil</hi>. Es ist
                        ausgemacht unwahr, daß die Ehre und Grösse Gottes durch <hi>die <index indexName="subjects-index">
            <term>Einheit</term>
          </index>Einheit eines Grundsazes</hi> unter den Menschen viel mehr
                        befördert werde, zum Besten der so ungleichen Menschen, als durch <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index><hi>Ungleichheit</hi>, die wir dafür erkennen, ohne ihre Folgen zu
                        wissen. Es ist unerträglich, wann das <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Proselytenmachen</term>
          </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_16_25"/>Proselytenmachen</hi> und Annötigen zu einer einzigen Religionsform,
                        als eine große Wohlthat für die moralisch von einander unabhängigen
                        Menschen, und als die allerhöchste, reinste Stufe der Verehrung Gottes,
                        anempfolen werden sol: mögen Christen oder Naturalisten diesem Irtum
                        anhängen.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_1"><label>so
                            wenig er alle Menschen in einerley oder gar unveränderlichen Zustand und
                            Verhältnis ihres Menschenlebens gesezt hat, welches schon die physische
                            Beschaffenheit und stete Veränderlichkeit des Erdbodens unmöglich
                            macht</label>
        <p>Semler referiert hier und im Folgenden so etwas wie den kleinsten
                            gemeinsamen Nenner der zeitgenössischen Klima- und Rassetheorien, wie
                            sie von Montesquieu (1689–1755), Carl von Linné (1707–1778), Kant,
                            Christoph Meiners (1747–1810) oder Johann Friedrich Blumenbach
                            (1752–1840) vertreten wurden. Anders als die meisten der genannten
                            Autoren (Ausnahme: Blumenbach) stellt Semler jedoch nirgendwo eine
                            intellektuelle oder charakterliche Rangliste von Völkern oder
                            Menschenrassen auf – auch wenn er im Folgenden konstatiert, dass manche
                            Völker „wol [...] besser als ihr Juden bisher, sind“. Vgl. auch <ref target="#bs_f_page_123">f123f.</ref>, <ref target="#bs_f_page_130">f130</ref> und <ptr type="page-ref" target="#erl_b_4_7"/> (moralische
                        Geographie).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_2"><label>auf dem
                            Menschen sich nach Gottes Ordnung und Willen, immer mehr ausbreiten
                            sollen</label>
        <p>Anspielung auf Gen 1,28.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_3"><label>Aus der
                            Unterwerfung an Römer und an andre heidnische Oberherrn [...] wird euch
                            ein Sohn Gottes gewis nicht erlösen</label>
        <p>Vgl. z.B. oben <ref target="#bs_f_page_74">f74</ref>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_4"><label>sein
                            Vater, den ihr den Hochgelobten immer nent</label>
        <p>Anspielung auf Ps 18,4; 35,27. Vgl. auch Mk 14,61f. („Da fragte ihn der
                            Hohepriester abermals und sprach zu ihm: Bist du der Christus, der Sohn
                            des Hochgelobten? Jesus aber sprach: Ich bin’s“).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_5"><label>gelerte
                            Juden haben [...] aus griechischen [...] Schriftstellern [...] ihre
                            moralische Erkenntnis erweitert</label>
        <p>Anspielung auf das hellenistische Judentum, vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_n_9"/> (Philo); <ptr type="page-ref" target="#erl_f_2_2"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_6"><label>Wenn
                            ihr auch gar sagt, die Heiden haben es aber aus unsern Büchern ehedem
                            entwendet</label>
        <p>Vgl. etwa den jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus, <hi>Contra
                                Apion</hi>, 281–286, der behauptet, griechische Philosophen und
                            Stadtväter hätten die Juden in ihrer Treue zum Gesetz, Ansicht über
                            Gott, Lehre von einfacher Lebensweise und sozialer Gemeinschaft,
                            Einhaltung eines wöchentlichen Ruhetags u.v.w.m. nachgeahmt; vgl. auch
                            168; 257. Semler hatte Auszüge der Schrift übersetzt und kommentiert
                                (<hi>Samlung von Erleuterungsschriften und Zusätzen zur algemeinen
                                Welthistorie. Fünfter Theil</hi> [1761], Anhang 59–84).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_7"><label>der
                            keinesweges ein König und Monarch der Juden auf Erden seyn solte</label>
        <p>Absage an einen politischen Messias; vgl. Joh 18,36.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_8"><label>wo der
                            Sohn Gottes ja ohnehin schon immer gewesen ist</label>
        <p>Anspielung auf die Lehre von der Präexistenz Christi (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_5_2"/>).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_9"><label>Reich
                            der Finsternis oder des Teufels [...], als eure Rabbinen, spät genug es
                            erdacht haben</label>
        <p>Für Semler ist erst im alexandrinischen Judentum (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_5_1"/>) etwa durch die Übersetzung
                            der Septuaginta (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_2_6"/>) eine
                            Lehre des Teufels und seiner Macht über die Menschen ins Alte Testament
                            eingedrungen. Vgl. Semler, <hi>Abfertigung der neuen Geister und alten
                                Irtümer</hi> (1760), 212. Er hofft, man möge erkennen, „daß ich mit
                            gutem Gewissen mehr nicht auf die <hi>griechische Uebersetzung</hi> und
                            diese <hi>apocryphischen</hi> Bücher jetzt bauen kan, da die Rede ist
                            von einem wirklich <hi>biblischen</hi> Grunde und Beweise der gemeinen
                            Meinungen von der leiblichen Gewalt des Teufels, und von
                            Zaubereien.“</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_10"><label>Religionsbotmäßigkeit</label>
        <p>D.i. religiöse Gerichtsbarkeit oder Herrschaft.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_11"><label>ein
                            ungeschriebenes, in dem Gewissen der Menschen bekantes Gesez</label>
        <p>Anspielung auf Röm 2,14f., wo Paulus seinerseits auf die etwa bei
                            Aristoteles (384–324 v. Chr.; rhet. 1368b 7–9) oder Philo (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_n_9"/>; decal. 1) zu
                            findende Vorstellung eines ungeschriebenen Gesetzes (<foreign xml:lang="grc">ἄγραφος νόμος</foreign>; <hi>ius naturale</hi>)
                            zurückgreift.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_12"><label>Opfer</label>
        <p>Anspielung auf Hebr 9.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_13"><label>Hohenpriester in dem allerhöchsten Verstande</label>
        <p>Anspielung auf Hebr 7.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_14"><label>eine
                            ganz andre Beschneidung</label>
        <p>Vgl. Röm 2,29 und Kol 2,11.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_15"><label>Osterlam</label>
        <p>Gemeint ist das Pessachlamm, das an den Auszug der Israeliten aus Ägypten
                            erinnern soll (Ex 12). Durch die johanneische Identifikation von
                            Christus als dem „Lamm Gottes“ (Joh 1,29.36, vgl. auch Jes 52,13ff.) und
                            der überlieferten Kreuzigung und Auferstehung Christi in einer
                            Pessachwoche kommt es zu der Gleichsetzung des jüdischen Pessachfestes
                            mit dem christlichen Ostern; vgl. dazu auch den Eintrag „Oster-Fest,
                            oder Ostern der Jüden“ in: Zedler, <hi>Universal-Lexicon</hi> 25 (1749),
                            2269–2276.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_16"><label>Der
                            Geist Gottes wird zeugen, wie es Luther übersezt</label>
        <p>Luther übersetzt <foreign xml:lang="grc">μαρτυρήσει</foreign> in Joh
                            15,26 mit „zeugen“.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_17"><label>euch
                            immer mehr lehren, unterweisen, versicherte Christus selbst</label>
        <p>Anspielung auf Joh 14,26.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_18"><label>daß
                            die natürlichen Seelenkräfte der Menschen schon von vorneher, oder von
                            ihrer localen Anwendung eine so ungleiche Stimmung haben</label>
        <p>Vgl. <ref target="#bs_f_page_118">f118</ref>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_19"><label>Im N.
                            T. wird sie wirklich als eine fortgehende moralische Familie, von den
                            andern Menschen unterschieden, die immer <foreign xml:lang="grc">Κοσμος</foreign> heissen, weil diese vornemlich sich nur mit der
                            sinnlichen, sichtbaren Welt beschäftigen</label>
        <p>Der Ausdruck „<foreign xml:lang="grc">κόσμος</foreign>“ bezeichnet im
                            Neuen Testament nicht nur das physische Universum, sondern – analog zur
                            Verwendung des Ausdrucks „Welt“ im Deutschen – auch die Gemeinschaft der
                            menschlichen Bewohner der Erde. „<foreign xml:lang="grc">κόσμος</foreign>“ wird dabei, wie Semler hier feststellt, häufig
                            verwendet, um den moralischen Gegensatz zwischen Anhängern Jesu und (dem
                            Rest) der „Welt“ zu betonen, vgl. z.B. Joh 1,10 (hier beide
                            Verwendungsweisen von „<foreign xml:lang="grc">κόσμος</foreign>“ [!]);
                            7,7; 1Kor 1,21; 11,32; 2Petr 2,20; 1Joh 3,1.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_20"><label>woher
                            eben ehedem viele so gar die von Kezern ertheilte Taufe nicht für gültig
                            hielten</label>
        <p>In der antiken Kirche war die Frage, ob von Häretikern vollzogene Taufen
                            Gültigkeit haben, umstritten. Sowohl Tertullian (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_1_11"/>), de bapt. 15, als auch
                            Cyprian (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_1_13"/>), z.B. ep.
                            69,11, verneinten dies entschieden, während die Synode von Arles (314)
                            und Augustinus (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_71"/>; <ptr type="page-ref" target="#erl_f_14_2"/>), z.B. ep. 93,46, in Auseinandersetzung mit
                            den Donatisten die gegenteilige Ansicht vertraten. Die Auffassung, dass
                            der rechte Ritus und die rechte Absicht über die Gültigkeit einer Taufe
                            entscheiden, nicht jedoch die Rechtgläubigkeit des Spenders, setzte sich
                            schließlich durch, wurde von mehreren Konzilien bestätigt und in der
                            Neuzeit ausschließlich von den Taufgesinnten (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_17_4"/>) in Frage gestellt.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_21"><label>und
                            sagen, daß dieses nur ein orientalischer Sprachgebrauch sei, oder ein
                            Ueberbleibsel aus der Kindheit der moralischen Welt</label>
        <p>Während Semler selbst durchaus eine Akkommodationslehre vertritt (vgl.
                                <ptr type="page-ref" target="#erl_b_5_15"/>), führt er
                            hier die Aporien einer solchen Lehre bei den Naturalisten vor, wenn
                            diese jede Religion nur als historische und letztlich nicht notwendige
                            Überformung der eigentlichen natürlichen Religion ansehen. – Zur Idee
                            einer moralischen Kindheit in der Menschheitsentwicklung vgl. Lessing,
                                <hi>Die Erziehung des Menschengeschlechts</hi> (1777/80), v.a. §
                            16.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_22"><label>petitio principii</label>
        <p>Im nachklassischen Latein bedeutet der Ausdruck in etwa „Postulieren des
                            Beweisgrundes“; gemeint ist damit eine Argumentationsfigur, bei der das,
                            was eigentlich zur Debatte steht, vom Sprecher bereits (in trivialer
                            Weise) vorausgesetzt wird, z.B.: „Das Universum hat einen Anfang, weil
                            alles einen Anfang hat“; hier: „Natürliche Religion ist dem Christentum
                            vorzuziehen, da Letzteres gegen die Natur des Menschen verstößt“. – Der
                            Ausdruck „petitio principii“ geht vermutlich auf eine mittelalterliche
                            Übersetzung von Phrasen aus den logischen Schriften (<hi>Organon</hi>)
                            des Aristoteles zurück, vgl. Aristot. an. pr. 64b 29: <foreign xml:lang="grc">Τὸ δ᾿ ἐν ἀρχῇ αἰτεῖσθαι καὶ λαμβάνειν</foreign> („den
                            ursprünglichen Punkt zu fordern oder vorauszusetzen“) und soph. el. 166b
                            25.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_23"><label>Die
                            moralische Welt ist ganz gewis nicht weniger in sehr ungleiche Climata,
                            oder unabänderliche Einflüsse schon getheilt, als die Lage der
                            Erdkugel</label>
        <p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_4_7"/> (moralische
                            Geographie) und <ptr type="page-ref" target="#erl_f_16_1"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_24"><label>da der
                            Ertrag der moralischen Welt eben so unendlich ungleich seyn kann</label>
        <p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_17_2"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_16_25"><label>Proselytenmachen</label>
        <p>Als „Proselyten“ (gr. <foreign xml:lang="grc">Προσήλυτοι</foreign>,
                            „Hinzugekommene“) bezeichnete man ursprünglich Anhänger des Judentums
                            aus anderen Völkern (Apg 2,11). Der Ausdruck „Proselytenmachen“ steht
                            für das häufig negativ bewertete Abwerben von Gläubigen aus anderen
                            Religionen.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_17">
      <head type="question">17. Aber solte es denn in der That nicht <hi>besser,
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>nützlich</term>
          </index>nüzlicher</hi> für die Menschen seyn, wenn der Unterschied der
                        öffentlichen Religionsformen aufgehoben würde, und alle Menschen entweder
                        eine christliche ganz gleiche oder eine <pb xml:id="bs_f_page_132" n="132" edRef="#f"/> natürliche Religion zur gemeinschaftlichen Verbindung
                        annämen?</head>
      <p>Das würde eigentlich heissen, ob nicht manche Köpfe und Liebhaber der eignen
                        Verdienste auf diesen Vorschlag wol kommen möchten, oder schon lange
                        gekommen sind? Ob nicht manche Menschen sich es herausnemen, sich <hi>an die
                            Stelle Gottes zu sezen</hi>, und sich zuzutrauen, daß sie das moralisch
                            <hi>Gute</hi> und <hi>Bessere</hi> in Absicht der unzäligen immer
                        ungleichen Menschen, aus ihrem einzelnen Kopfe ganz richtig zu übersezen,
                        und <hi>nun ein neues <index indexName="subjects-index">
            <term>Grundgesetz</term>
          </index>Grundgesez</hi> für die ganze moralische Menschenwelt
                            <hi>abzufassen</hi>, gar wohl im Stande seien? Dergleichen ganz und gar
                        eigenliebige und eigensinnige <index indexName="subjects-index">
          <term>Projektmacher</term>
        </index>Projektmacher hat es in der Menschenwelt immer gegeben, von denen
                        endlich die Päbste und <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_17_1"/>die sogenannte einzige wahre Kirche es schon gelernt haben, die freie
                        immer ungleiche christliche Religion eben so <hi>zur allereinzigen</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion</term>
        </index>Religion für alle Menschen ein für allemal in eine unveränderliche
                        Form zu fassen, und für alle Menschen ein viel grösseres Glück und
                        Wohlergehen in diesem Leben, ja gar eine ewige Seligkeit hiemit zu
                            <hi>assecu</hi><pb xml:id="bs_f_page_133" n="133" edRef="#f"/><hi>riren</hi>; wobey auch die so genannte Kirche, oder <index indexName="subjects-index">
          <term>Clerisey</term>
        </index>Clerisey, gewis an allem menschlichen bürgerlichen Guten, an Ehre,
                        Macht und Reichtum viel weniger einen Mangel gehabt hat, als an moralischen
                        gemeinnüzigen Vorzügen, worin Heiden und Muhamedaner diese christlichen
                        Gestalten häufig zum wahren Besten anderer Menschen, und zur Rettung der
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Moralität</term>
        </index>Moralität, und Ehre Gottes, sehr übertroffen haben. Je mehr die
                        ehrliche Geschichte dieser Päbste und Bischöfe ins wahre Licht gestellet
                        wird, desto weniger finden unsre Zeitgenossen eine Ursache zu wünschen, daß
                        sie doch in jenen Jahrhunderten möchten gelebt haben. Wenn nun hingegen sehr
                        viel Naturalisten eben diesen alten ganz falschen Grundsaz, von gröster
                        steter <index indexName="subjects-index">
          <term>Einheit der moralischen Menschenwelt</term>
        </index><hi>Einheit</hi> der moralischen Menschenwelt aufstellen, und durch
                        eine <hi>natürliche</hi> Religion alle übrigen historischen Religionsformen
                        ganz abschaffen wollen: so treten sie ja völlig an die Stelle jener Päbste,
                        welche die stete unabhängige Freiheit der moralisch eigenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion, moralische</term>
        </index>Privat-Religion durchaus aufgehoben haben. <hi>Sie wiederholen also
                            eine blos politische Aufgabe</hi>, in Absicht der <index indexName="subjects-index">
          <term>Einheit der Religionsform</term>
        </index>Einheit aller öffentlichen Religionsform für alle Menschen. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_17_2"/>Es ist <pb xml:id="bs_f_page_134" n="134" edRef="#f"/> aber eine <hi>unendliche
                            Aufgabe</hi>, worin das gröste Wohlergehen aller so verschiednen
                        Menschen, bürgerlich und moralisch bestehe, das nun <hi>an die bisherige
                            Stelle des gegenwärtigen Wohlergehens</hi> mit vorzüglichem Rechte
                            <hi>gesezt werden sol</hi>? Bescheidene Menschen solten nicht so
                        übereilt um sich greifen und über das gröste Wohl <hi>der ganzen
                            Menschenwelt</hi> absprechen, darin sie kaum einem kleinen sehr
                        eingeschränkten <index indexName="subjects-index">
          <term>Ameishaufen</term>
        </index>Ameishaufen selbst ausmachen. Nach der christlichen Hauptlehre <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_17_3"/>sollen alle Menschen
                        Gott lieben von ganzen Herzen, nach allen <hi>ihren</hi> Kräften, deren
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit immer fortdauern mus; und nun soll jeder seinen
                        Nächsten in allen Fällen lieben, als sich selbst, wo die <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit, lokale</term>
        </index><hi>locale</hi> Ungleichheit ebenfals immer da ist, und nicht
                        aufgehoben werden kann. Diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>praktische Religion kann nun immer da seyn, bey noch so groser
                        Verschiedenheit der Kräfte des <index indexName="subjects-index">
          <term>Verstand</term>
        </index>Verstandes; und wenn diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>praktische Religion sich unter den Christen (die Wirkungen Gottes
                        annehmen glauben und gelten lassen,) immer mehr ausbreitet, so ungleich auch
                        ihre Theorien und Lehrformen sind: so ist die <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt</term>
        </index>Wohlfart der Nebenmenschen so gewis schon berechnet, daß eine
                            <hi>allgemeine</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_135" n="135" edRef="#f"/>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsform, öffentliche</term>
        </index><hi>öffentliche <index indexName="subjects-index">
            <term>Religionsform</term>
          </index>Religionsform</hi> weiter gar kein <index indexName="subjects-index">
          <term>Projekt</term>
        </index>Projekt werden kann. Die <hi>bürgerlichen Namen</hi>,
                        römischkatholisch, lutherisch, reformirt, Jude, <index indexName="subjects-index">
          <term>Mennoniten</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_17_4"/>Mennonit <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> beziehen sich auf die <hi>politische</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit, politische</term>
        </index>Ungleichheit der öffentlichen Gesellschaften; wenn diese eine
                        bürgerliche gute Verbindung haben, so können sie jedem Staate ganz
                        gleichgültig seyn, und der <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion, die noch weniger ein einziges <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, einerlei</term>
        </index>Maas haben kann, ist die öffentliche Religionsordnung nie
                        hinderlich. Zu welchem großen Endzweck solten nun alle öffentlichen
                        Religionsparteien in den einzigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalismus</term>
        </index>Naturalismus übergehen? Sollen die Staaten mehr Macht und Sicherheit
                        wider innerliche Unruhen dadurch erhalten? das werden weise Regenten
                        schwerlich bejahen, da sie auch den Naturalisten nicht ins Herz sehen
                        können. Sollen die bisherigen Zeitgenossen bürgerlich glücklicher werden?
                        Man müste sie also schon als sehr <hi>unzufrieden</hi> voraussezen oder
                        machen; und wer kann alle Privat-Wünsche befriedigen, wenn die Menschen
                        nicht eine unsichtbare Regierung höher sezen über alle ihre Veränderung? Sol
                        mehr Moralität gewis alsdenn wirksam werden? Es bleibt aber eben die
                        bisherige innere und äussere Ungleich<pb xml:id="bs_f_page_136" n="136" edRef="#f"/>heit der Menschen, wie sie seit Jahrtausenden gewesen
                        ist.</p>
      <p>Aber es ist wohl wahr; wenn der <hi>bisherige</hi> öffentliche kirchliche
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrstand</term>
        </index><hi>Lehrstand</hi> unter den Christen mehr um einer bequemen oder
                        geehrten <index indexName="subjects-index">
          <term>Lebensart</term>
        </index>Lebensart willen ergriffen wird, als um die Zuhörer in eigner freier
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion ernstlich zu befördern, an welcher ohnehin so viel
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Prediger</term>
        </index>Prediger viel weniger selbst Theil nemen, als an ihrem Stande und
                        Rechten in der Gesellschaft, und wenn Naturalisten immer mehr aufmerksam
                        sind auf diese Mängel des Lehrstandes, als daß sie die vielen thätigen, wenn
                        auch einfältigen Christen in Rechnung sezen, wenn die Rede ist von dem
                        wirklichen bisherigen Nuzen der christlichen Religion für den Staat: so
                        werden beide Parteien einander ferner zu verkleinern und verächtlich zu
                        machen fortfaren, und die grössere Ehre Gottes dort, und den grössern Nuzen
                        der Zeitgenossen hier, so aufstellen, daß in der That das gemeinschaftliche
                        Wohl des Staats, worin Christen und Naturalisten frey und ungehindert leben,
                        durch solchen eigenliebigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Wortstreit</term>
        </index>Wortstreit sichtbar zerrüttet wird. Dieser Zerrüttung aber
                        abzuhelfen, <pb xml:id="bs_f_page_137" n="137" edRef="#f"/> ist weder die
                        Abschaffung aller christlichen Religion, noch die gewaltthätige
                        Unterdrückung des Naturalismus, ein würdiges und sicheres Mittel. Wie
                        Naturalismus durch eine christliche Religionsform <hi>anderer
                            Zeitgenossen</hi> gar keine solche Gewalt leidet, die sein eigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen für ihn selbst unthätig mache; Naturalisten also, <hi>ihres
                            eigenen moralischen Vortheils wegen</hi>, gar nicht auf die Abschaffung
                        der öffentlichen christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsform</term>
        </index>Religionsform antragen können, ohne sehr stolze Verachtung der viel
                        grössern Gesellschaften: so haben auch christliche Lehrer es nicht zur
                        vorzüglichen Pflicht, die öffentliche Religionsform, deren bestalte Diener
                        sie sind, so falsch zu empfelen, daß Haß und Verachtung derjenigen
                        Zeitgenossen, die Naturalisten sind oder heissen, zum ersten und gewissesten
                        Merkmal eines <hi>wahren Christen</hi> angenommen würde. Die innere eigene
                        Religion ist gar keiner menschlichen Lehrform, sondern Gotte und dem <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen allein unterworfen. Hier haben alle christlichen Parteien
                        einerley Feler wider einander begangen, und sogar ihren Vorzug in der <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes</term>
        </index>Verehrung Gottes <hi>darein gesezt</hi>, daß sie einander geradehin
                        alle wahre Verehrung Gottes abgespro<pb xml:id="bs_f_page_138" n="138" edRef="#f"/>chen haben, weil sie nicht eben denselben Begriff mit den
                        christlichen Lehrartikeln verbunden haben; welches doch so gar unmöglich
                        ist, da es bey den Christen keine Knechtschaft und Unterwerfung des <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissens, Knechtschaft des</term>
        </index>Gewissens an das Gewissen anderer Christen geben kann.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_17_1"><label>die
                            sogenannte einzige wahre Kirche [...] ja gar eine ewige Seligkeit hiemit
                            zu assecuriren</label>
        <p>Vgl. z.B. die von Papst Eugen IV. (1383/1431–1447) auf dem Konzil von
                            Florenz 1442 erlassene Bulle <hi>Cantate Domino</hi>: „Sie [die Kirche]
                            glaubt fest, bekennt und verkündet, daß niemand, der sich <hi>außerhalb
                                der katholischen Kirche</hi> befindet, nicht nur [keine] Heiden,
                            sondern auch keine Juden oder Häretiker und Schismatiker des ewigen
                            Lebens teilhaft werden können, sondern daß sie in das ewige Feuer
                            wandern werden [...]. Und niemand kann, wenn er auch noch so viele
                            Almosen gibt und für den Namen Christi sein Blut vergießt, gerettet
                            werden, wenn er nicht im Schoß und in der Einheit der katholischen
                            Kirche bleibt“ (DH 1351); vgl. auch <ptr type="page-ref" target="#erl_f_10_1"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_17_2"><label>Es ist
                            aber eine unendliche Aufgabe, worin das gröste Wohlergehen aller so
                            verschiednen Menschen, bürgerlich und moralisch bestehe</label>
        <p>Das Bild einer für den menschlichen Geist unerschöpflichen „unendlichen
                            moralischen Welt“ taucht seit Beginn der 1780er Jahre immer wieder in
                            Semlers Schriften auf. Vgl. als ein Beispiel unter vielen: „Wenn aber
                            der Sohn Gottes kein weltlicher König ist, sondern in viel grösserm
                            Begriff, Gott, Urheber und Herr der unendlichen moralischen Welt; wenn
                            er die innere moralische Wohlfahrt und Seligkeit offenbaren, schaffen
                            und an seinem Beispiel kenntlich machen sollte: so war eine
                                <hi>allereinzige</hi>, eine <hi>unveränderliche</hi> Summe und
                            Stuffe der Erkenntniß, welche nun die immer ungleichen Menschen aus
                            seiner Lehre und Historie sammlen sollten, nicht möglich“
                                (<hi>Vorbereitung auf die Königlich Grossbritannische Aufgabe von
                                der Gottheit Christi</hi>, 1787, 34); vgl. auch <ref target="bs_f_page_130">f130</ref>.<ref target="bs_f_page_203">203</ref>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_17_3"><label>sollen
                            alle Menschen Gott lieben von ganzen Herzen</label>
        <p>Anspielung auf Dtn 6,5; Mt 22,37; Mk 12,30; Lk 10,27.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_17_4"><label>Mennonit</label>
        <p> Benannt nach Menno Simons (1496–1561), zunächst Priester, nach dem Fall
                            des Münsteraner Täuferreichs (1535) führender Ältester der
                            niederländischen Täufer (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_10_24"/>) und Autor einflussreicher
                            täuferischer Schriften (<hi>Fundamentbuch</hi>, 1539). Schon früh
                            avancierte Menno zum Namensgeber für unterschiedliche
                            Sammlungsbewegungen friedfertiger Täufer und deshalb auch insgesamt zum
                            Synonym für die Nachfahren kleinerer radikalreformatorischer
                            Gruppierungen.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_18">
      <head type="question">18. Aber warum haben denn die Christen <hi>so vielerley,
                            so verschiedne <index indexName="subjects-index">
            <term>Lehrbücher, vielerlei</term>
          </index>Lehrbücher</hi>, Katechismen, Glaubens- oder Lehrbekenntnisse,
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>symbolische Bücher</term>
        </index>symbolische Bücher, <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesangbücher, vielerlei</term>
        </index>Gesangbücher <choice>
          <abbr>etc<supplied>.</supplied></abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice>? Diese so <hi>verschiednen Bücher</hi>, die oft auch gar wider
                        einander gerichtet sind, können doch nicht zur Erleichterung und Beförderung
                        der praktischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsübung</term>
        </index>Religionsübung dienen, welche doch ganz allein die beste und wahre
                        Verehrung Gottes für alle Menschen ausmacht?</head>
      <p>Man könnte eben so fragen, warum gibt es so verschiedne, so ungleiche
                        bürgerliche Regierungsformen, Statuten, Stadt- und Landrechte, die oft
                        einander entgegen sind? Bey allen diesen ungleichen politischen Verfassungen
                        gibt es überall gute glückliche Bürger und Unterthanen; indem <pb xml:id="bs_f_page_139" n="139" edRef="#f"/> die besondere einzele
                        Wohlfart gerade in der Beobachtung der daseienden wirklichen, jezigen
                        bürgerlichen Verfassung bestehet. Wie an dieser <index indexName="subjects-index">
          <term>Verschiedenheit</term>
        </index>Verschiedenheit nicht die Bosheit, der wilde Vorsaz, der bloße
                        Eigensinn, Schuld ist, sondern eine nicht aufzuhebende <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit solcher Umstände, die ausser dem Willen der Einwoner
                        der und jener Gegenden da war, und nicht weggeschaft werden konnte: so ist
                        es auch mit der <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit der äusserlichen christlichen Religionsformen
                        beschaffen. Die Menschen waren schon verschieden nach innern und äussern
                        Umständen, da sie die christliche Religion zur neuen, öffentlichen,
                        gemeinschaftlichen Verbindung annamen, und die vorige jüdische oder
                        heidnische oder <hi>papistische</hi>, bischöfliche verliessen. Eben so waren
                        die Lehrer verschieden, welche den christlichen Unterricht zum ersten
                        ausbreiteten. Es wurde also immer der Inhalt der öffentlichen Religionsform
                        ungleich angenommen; und so blieben mehrerley öffentliche Religionsformen
                            <hi>neben einander stehen</hi>, so bald es mehrere christliche
                        Gesellschaften neben einander gab, die einander auch hierin durchaus nicht
                        unterworfen seyn konten, wie sie in der öffentlichen politischen
                        Regierungsform <pb xml:id="bs_f_page_140" n="140" edRef="#f"/> einander
                        nicht unterworfen waren. Um ihre gleichen Rechte ferner gewis zu genießen
                        und zu behaupten, machte jede <index indexName="subjects-index">
          <term>Parteien</term>
        </index>Partey ihre besondere Lehrbücher, wodurch die eine Gesellschaft als
                        solche von den andern immer unterschieden blieb. Wenn Christen in einem
                        Staate öffentlich Schutz geniessen wolten, musten sie den Inhalt ihrer
                        Religionssäze der Obrigkeit vorlegen, und dabey nun zu beharren versprechen;
                        denn <choice>
          <sic>dle</sic>
          <corr type="editorial">die</corr>
        </choice> Obrigkeit hielt sich nun an diese Bekentnisse, und die neuen
                        Religionsverwandten musten sich solche Schranken gefallen lassen als die
                        Ruhe und Wohlfart des Staats, der die neuen Schutzverwandten, <hi>unter
                            dieser Bedingung</hi> aufnam, es jedesmal mit sich brachte; daher selbst
                        unter christlichen Kaisern, Königen und Regenten die Duldung mehrerer
                        christlicher Parteien keinesweges von gleichem Umfange war. Es haben also
                        alle diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Bekenntnisschriften</term>
        </index><hi>Bekentnisschriften</hi> zunächst eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Absicht, bürgerliche</term>
        </index><hi>bürgerliche äusserliche Absicht</hi>, damit der Staat darin
                        gewis ist, daß dieses auch gute, ruhige, nüzliche Bürger sind und bleiben
                        wollen; und zugleich gehen alle solche Lehrbekentnisse auf das eigene
                        Gewissen, auf das daseiende Maas der Erkentnis der Mitglieder einer Partey,
                        in Absicht <pb xml:id="bs_f_page_141" n="141" edRef="#f"/> der
                            <hi>gemeinschaftlichen</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes, gemeinschaftliche</term>
        </index>Verehrung Gottes <hi>in ihren Versamlungen</hi>. Diese christliche
                        Religion läßt übrigens die bürgerlichen Geseze und Verordnungen des Staats
                        stehen. Daher stehen auch alle diese neuen Familien die der Staat beschüzt,
                        immer unter der Oberaufsicht des Staats, daß sie ihre Lehrformeln <hi>nicht
                            heimlich verändern</hi>, und die erlangten Rechte zum Nachtheil anderer
                        Nebenparteien, und zur Zerrüttung des Staats, nicht überschreiten dürfen. Es
                        war also auch diesen Parteien das <hi>Proselyten</hi> werben ohne Vorwissen
                        des Staats, verboten. Es ist und bleibt dieses alles eigentlich eine
                            <hi>politische Aufgabe</hi>, oder ein bürgerlicher Gegenstand, wenn
                        christliche Familien so gros wurden, daß sie der vorigen ältern
                        Religionsform merklichen Abbruch hiemit thaten; daher die ältere <index indexName="subjects-index">
          <term>Partei, katholische</term>
        </index>katholische Partey jederzeit solche neue Religionsfamilien durchaus
                        unterdrückt, und ihre Lehrformeln als kezerische niemalen erlaubet hat. Es
                        waren ganz besondere <hi>äusserliche</hi> Umstände, die im 16ten Jahrhundert
                        es mit sich brachten, daß beide <index indexName="subjects-index">
          <term>protestantisch</term>
        </index>protestantische Parteien <hi>wider die bisherige päbstliche
                            Religionsform</hi>, sich eine besondere eigene Religionsform wälen
                        konten. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_18_1"/>Die
                            <hi>Augspurgische Confession</hi> heißt auch an<pb xml:id="bs_f_page_142" n="142" edRef="#f"/>fänglich eine
                            <hi>Apologie</hi> und <hi>Schuzschrift</hi> wider die vielen
                        Lästerungen, als ob die Lutheraner gar von der christlichen Religion und
                        aller bürgerlichen Ordnung abgefallen wären. Die Protestanten sezen, nach
                        ihrer Ueberzeugung, zum Grunde, <hi>daß bey ihnen eine bessere christliche
                            Verehrung Gottes, und der ächte Inhalt der christlichen Lehre seie</hi>;
                        welches freilich die härtern Papisten durchaus nicht zugeben wolten. Die
                        nächste Absicht solcher Bekentnisse ist also wirklich immer <hi>in
                            Verhältnis auf andre daseiende christliche Parteien</hi> noch jezt zu
                        beschreiben. Protestanten wolten nicht mehr den bisherigen Lehrbegriff der
                        römischen Kirche, als die beste Lehrform behalten; <hi>Lutheraner</hi>
                        wolten auch von der <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_18_2"/><hi>zürchischen</hi> Partei sich unterscheiden, die im teutschen
                        Reiche noch nicht gedultet wurde. Der neue protestantische Lehrbegriff ist
                        bestimt diese neue Partey <hi>als solche</hi> fortzusezen, wider die spätern
                        Kirchensazungen der Päbste und Bischöfe; alle Lehrer sind also daran
                        gewiesen <hi>was ihr öffentliches <index indexName="subjects-index">
            <term>Amt</term>
          </index>Amt betrift</hi>, und alle andern Mitglieder haben sich daran
                        gebunden <hi>in allen feierlichen Versammlungen und gemeinschaftlichen
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Religionshandlungen</term>
          </index>Religionshandlungen</hi>; damit <pb xml:id="bs_f_page_143" n="143" edRef="#f"/> die Gesellschaft einander als gleich gute
                        Mitglieder <hi>immer erkennen kann</hi>. Allein nun ist und bleibt die freie
                        ungleiche <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion eines jeden einzelnen Christen <hi>in jeder
                            Gesellschaft, immerfort in der besondern Stufe</hi>, worin ein Christ
                        neben den andern Christen <hi>wirklich selbst stehet</hi>; und eben
                        dieselben <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkungen des unendlichen uneingeschränkten Gottes befördern die
                        besondere moralische Wohlfart in allen Christen, welche der eigenen innern
                        Religion ergeben sind; ohne daß der Unterschied, der die grossen
                        Gesellschaften der Christen <hi>bürgerlich, äusserlich</hi> so wol
                        abtheilet, als ihre Mitglieder ebenfals <hi>äusserlich</hi> vereiniget,
                        dieser eigenen innern Religionsübung irgend einen moralischen Nachtheil
                        bringe; wie hingegen die äusserliche Vereinigung vieler Christen in einer
                        gemeinschaftlichen Religionsform <hi>gar keinen innerlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Nutzen</term>
          </index>Nuzen für sich selbst schaft</hi>, wenn diese Christen ohne alle
                        innere Religionsübung solche feierliche, gesellschaftliche Handlungen eben
                        so blos äusserlich verrichten, als sie in der öffentlichen Form enthalten
                        sind. Hier haben freilich die kirchlichen Obern fast aller Parteien einerley
                        Feler begangen, wie schon berürt worden, daß sie die innern guten <pb xml:id="bs_f_page_144" n="144" edRef="#f"/>
        <choice>
          <sic>Folgeu</sic>
          <corr type="editorial">Folgen</corr>
        </choice>, welche eines und desselben Gottes <hi>unsichtbare</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkungen einschlossen, welche also stets <index indexName="subjects-index">
          <term>moralisch</term>
        </index>moralischer Natur, und <hi>nie gesellschaftlicher oder bürgerlicher
                            Art sind</hi>, eben an ihre öffentliche Religionsform gebunden haben; da
                        doch die christliche Theilnemung an den moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohltaten Gottes</term>
        </index>Wohlthaten Gottes, die sie <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christo</persName> und dem Geiste
                        Gottes danken, <hi>durchaus nicht von menschlichen, bürgerlichen
                            Gesellschaften weiter eingeschränkt werden können</hi>. Wenn diese
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>praktische Religion unter den Christen <hi>aller Parteien immer die
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Hauptsache</term>
          </index>Hauptsache wäre</hi> und sich immer mehr in allen Gegenden
                        ausbreitete: so würden die Naturalisten ihre meisten Einwürfe verlieren, und
                        blos jene <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes bezweifeln; das stünde ihnen freilich ganz frey; aber
                        die gewissen grossen Folgen der christlichen innern Religion blieben in den
                        Christen, ohne bei Naturalisten vorzüglich gefunden zu werden.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_18_1"><label>Die
                            Augspurgische Confession heißt auch anfänglich eine Apologie und
                            Schuzschrift</label>
        <p>Die CA (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_a_1_21"/>)
                            war zunächst als kursächsische Schutzschrift geplant, wandelte sich im
                            Verlauf des 16. Jahrhunderts aber immer stärker zu einer
                            Bekenntnisschrift.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_18_2"><label>zürchischen Partei</label>
        <p>Gemeint sind die Anhänger von Zwingli (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_131"/>).</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_19">
      <head type="question">19. Warum wird es aber den Christen selbst so schwer
                        gemacht, über ihre Religion frei zu denken und zu <index indexName="subjects-index">
          <term>frei urteilen</term>
        </index>urtheilen, daß daher eben die Naturalisten über <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionszwang</term>
        </index>Religionszwang klagen kön<pb xml:id="bs_f_page_145" n="145" edRef="#f"/>nen, daß man von lauter <index indexName="subjects-index">
          <term>Heuchler</term>
        </index>Heuchlern redet, die ihre eigene Erkentnis nicht öffentlich lehren
                        wolten, oder dürften; woher eben für die ganze christliche Religion der
                        Vorwurf von <index indexName="subjects-index">
          <term>Priesterbetrug</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_19_1"/>Priester- und
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Pfaffenbetrug</term>
        </index>Pfaffenbetrug – schon so lange Zeit und so bitter gemacht
                        wird?</head>
      <p>Es ist wahr, daß in manchen Ländern oder so genannten Kirchenordnungen selbst
                        der Protestanten, von Zeit zu Zeit <hi>zu hart und streng über die <index indexName="subjects-index">
            <term>symbolische Bücher</term>
          </index>symbolischen Bücher</hi>, und eine schon eingefürte <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrordnung</term>
        </index>Lehrordnung <hi>gehalten worden ist</hi>; theils schon gegen das
                        Ende des 16ten <choice>
          <sic>Jahrhnnderts</sic>
          <corr type="editorial">Jahrhunderts</corr>
        </choice>, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_19_2"/>bis
                        nachher der öffentliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsfriede</term>
        </index>Religionsfriede auch auf die <index indexName="subjects-index">
          <term>Reformierte</term>
        </index>Reformirten im teutschen Reiche erstrekt worden; theils auch aus
                        Herrschsucht und Stolz mancher Theologen, die sich wirklich zu Gebietern
                        über den Verstand anderer Gelerten und Ungelerten aufwarfen, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_19_3"/>daher schon <index indexName="persons-index">
          <term>Spener, Philipp Jakob</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:2shbv">Spener</persName></hi> über
                        solchen Misbrauch der <index indexName="subjects-index">
          <term>symbolische Bücher</term>
        </index><hi>symbolischen Bücher</hi> ernstlich geklagt hat. An sich selbst
                        aber behalten alle <index indexName="subjects-index">
          <term>Christen, denkende</term>
        </index>denkende Christen den freien <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissens, freier Gebrauch des</term>
        </index>Gebrauch ihres Gewissens zu ihrer eigenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privatreligion, wenn sie auch die öffentliche Lehrformen und
                        Religionsordnungen nicht <pb xml:id="bs_f_page_146" n="146" edRef="#f"/>
                        nach ihren besondern Einsichten ändern können, (die ja auch nicht blos um
                        der verständigern Glieder willen da sind;) sondern die gesellschaftliche
                        Absicht und eine kirchliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Polizey, kirchliche</term>
        </index>Polizey gern gelten lassen, in allem, was zur feierlichen,
                        gemeinschaftlichen Theilnemung an Gesängen, Gebeten, Predigten, Formularen
                        zur Taufe, Abendmal gehöret. Die eigene Privatreligion aber behält alle
                        Mittel frey, zur immer grössern eignen Kentnis und Anwendung zur gewissen
                        und grössern christlichen Wohlfart des Menschen; <choice>
          <sic>nnd</sic>
          <corr type="editorial">und</corr>
        </choice> weil jene öffentliche Religionsform <hi>nur auf einige Zeiten, und
                            auf Zusammenkünfte vieler Christen</hi> sich beziehet, kan kein
                        verständiger Christ sagen, diese gleichförmige Theilnemung in der <choice>
          <sic>Versamlnng</sic>
          <corr type="editorial">Versamlung</corr>
        </choice> in der und der Zeit, <hi>hindere ihn gar an seiner innern
                            Privatreligion</hi>. Es gibt daher häufig <hi>unruhige Köpfe,
                            eingebildete Alleswisser</hi>, und selbstsüchtige Leute, welche so
                        leicht über die gemeinschaftliche Religionsform, als über eine unleidliche
                        Knechtschaft immer Klagen erheben. Alle <hi>öffentliche</hi> Einrichtung
                            <hi>beziehet sich auf eine große sehr ungleiche Menge</hi>; und kein
                        guter Bürger übereilt sich mit Tadel solcher öffentlichen <pb xml:id="bs_f_page_147" n="147" edRef="#f"/> Einrichtungen, die ihm
                        selbst nichts schaden, und vielen andern sehr nüzlich sind, ja wol so lieb
                        sind, daß sie durchaus nichts geändert wissen wollen. Hierauf beziehen sich
                        alle öffentlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenordnung</term>
        </index>Kirchenordnungen, und sezen es voraus, daß verständige Christen,
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_19_4"/><hi>die sich
                            selbst berichten können</hi>, wie <index indexName="persons-index">
          <term>Luther, Martin</term>
        </index><persName ref="textgrid:254tm">Luther</persName> redet, um so vieler
                        andern willen sich auch nachgebend fügen, wenn es gleich <hi>für sie
                            selbst</hi> einer Anordnung <choice>
          <sic>uicht</sic>
          <corr type="editorial">nicht</corr>
        </choice> bedurft hätte. Es sol Anstand und Würde zumal für den großen
                        Haufen unterhalten werden; hiezu gehört eine gleiche <index indexName="subjects-index">
          <term>Ordnung</term>
        </index>Ordnung, der sich alle, ohne Ausname, um eben ihrer Verbindung sich
                        bewußt und öffentlich, merklich geständig zu seyn, unterwerfen. Die Vornemen
                        und noch so verständigen Glieder sollen eben <hi>durch ihre <index indexName="subjects-index">
            <term>Gleichförmigkeit</term>
          </index>Gleichförmigkeit</hi> diese willige Subordination befördern;
                        weil der grössere Haufe einen sinlichen gleichen Eindruck zum ersten
                        erwartet, bis sich nach und nach eigne Fähigkeit und Uebung reget.</p>
      <p>Diese weise Einrichtung, worin durchaus auch manche <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenpolizey</term>
        </index>Kirchenpolizey befindlich war, haben selbst Prediger entweder nicht
                        gekant, oder als ihrer Be<pb xml:id="bs_f_page_148" n="148" edRef="#f"/>quemlichkeit und ihrem Ansehen dienlich, selbst unrichtich angewendet;
                        haben der öffentlichen Religionsform, die meist durch sie allein
                        ausgerichtet wird, <hi>einen zu großen Einflus beigelegt auf die <index indexName="subjects-index">
            <term>Seligkeit</term>
          </index>Seligkeit ihrer Zuhörer</hi>; als wenn die christliche Seligkeit
                        statt finden könne, <hi>ohne eigene</hi> stets fortgehende <hi>innere <index indexName="subjects-index">
            <term>Übung</term>
          </index>Uebung</hi> der Zuhörer; haben daher einerley Glauben und Beifal
                        der Zuhörer gefordert, ohne in ihnen <hi>eigene immer freie <index indexName="subjects-index">
            <term>Erkenntnis</term>
          </index>Erkentnis</hi> zu befördern. Durch diese Gewohnheit und
                        Anhänglichkeit an die äusserliche Kirchenordnung wird aber eben jener
                            <hi>Religionshaß</hi> und <hi>falsche Eifer</hi> erzeuget und
                        fortgesezt, wider alle Christen, die daneben sich einer eigenen fortgehenden
                        Erkentnis befleißigen; und ihre eigene innere Verehrung Gottes <hi>in
                            Absicht ihrer selbst</hi>, höher achten als die feststehende äusserliche
                        Religionsordnung, wodurch nur eine gesellschaftliche Verbindung fortgesezt
                        wird. Da aber alle öffentliche Religions- oder Kirchenordnung menschlich ist
                        und bleibet, und nur zur äusserlichen guten Ordnung, in großen Versammlungen
                        gehöret, die immer aus sehr ungleichen Mitgliedern bestehen, welche eben
                        jezt <hi>ihre <index indexName="subjects-index">
            <term>Vereinigung</term>
          </index>Vereinigung und Verbindung an den</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_149" n="149" edRef="#f"/>
        <hi>Tag legen sollen</hi>, wozu durchaus <hi>äusserliche feste gleiche
                            kentliche Merkmale gehören</hi>: so müsten Prediger diesen großen steten
                        Unterschied der äusserlichen und innerlichen christlichen Religionsübung,
                        immer mehr erklären, wenn die rechte würdigste Verehrung Gottes den Christen
                        wirklich mehr bekant werden soll. Es ist ganz unmöglich, daß alle Christen
                        des ganzen Erdbodens eine allereinzige öffentliche Gesellschaft ausmachen,
                        und einerley <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrform, einerlei</term>
        </index>Lehrform und <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsform, einerlei</term>
        </index>Religionsform haben und behalten solten; es ist auch nicht nötig zu
                        der moralisch eigenen Wohlfart aller Christen, denn die Verehrung des
                        unendlichen Gottes kann nur durch das eigne Gewissen eingeschränkt werden.
                        Es war also <index indexName="subjects-index">
          <term>Parteigeist</term>
        </index>Parteygeist, und nicht die wahre beste Verehrung Gottes, wenn eine
                        Partey ihre Einrichtung und Ordnung der gesellschaftlichen Religionsübung,
                        ihre Lehrform und Lehrart, allen andern Christen <hi>als unentberlich zur
                            christlichen Seligkeit aufdringen wollte</hi>; denn Gott ist es selbst
                        der uns selig macht durch <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christum</persName>; gewis nicht
                        durch unsre Formeln darüber; sondern in moralischer eigener Uebung. Alle
                        Lehrformeln, wenn sie auch einen Unterschied der christlichen Gesellschaft
                        mit sich <pb xml:id="bs_f_page_150" n="150" edRef="#f"/> brachten und
                        fortsezten, waren hiemit <hi>nicht von dem neuen allgemeinen Grunde der
                            christlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Verehrung Gottes</term>
          </index>Verehrung Gottes abgewichen</hi>, der wahrhaftig aller
                        christlichen eigenen innern Religion gemein bleibet; wie ja sogar alle
                        christlichen Parteien wirklich auch die Bibel oder das apostolische Symbolum
                        zum gemeinschaftlichen Lehrgrunde und Lehrbegriff immer behalten. Es war
                        aber ein ganz falscher Grundsaz, daß alle Christen zu der christlichen sowol
                        öffentlichen als eigenen besondern wahren Verehrung Gottes <hi>einerley</hi>
        <choice>
          <sic><hi>änsserliche</hi></sic>
          <corr type="editorial"><hi>äusserliche</hi></corr>
        </choice>
        <hi>schriftliche Formeln</hi>, Gesänge, Cerimonien haben und behalten
                        müsten. Daher entstehet alle fernere unchristliche Begegnung gegen einander.
                        Die christliche Verehrung Gottes ist <hi>so unendlich in <index indexName="subjects-index">
            <term>Verehrung Gottes, Stufen der</term>
          </index>Stufen</hi> und im Inhalte, <hi>als die Gegenstände es alle
                            sind</hi>, welche das Nachdenken der so verschiedenen Christen immer
                        mehr entwikeln kann. In allen christlichen Gesellschaften aber wird zum
                        Anfange und zur Fortdauer der Gesellschaft eine gemeinschaftliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionssprache</term>
        </index>Religionssprache öffentlich eingefüret und festgesezt; weil in
                        keiner <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesellschaften, lokale</term>
        </index><hi>localen</hi> Gesellschaft alle andern auch localen
                        Gesellschaften begriffen und eingeschlossen werden können. Es ist ganz <pb xml:id="bs_f_page_151" n="151" edRef="#f"/> gewis, daß in jeder
                        christlichen Religionsgesellschaft eine christliche Verehrung Gottes da seyn
                        kann; es ist eben so gewis, daß Christen eine eigene innere Verehrung Gottes
                        daneben sich schaffen können und müssen, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_19_5"/>wenn sie ihre <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>moralische Wohlfart nicht als eine <hi>physische</hi> Folge ihrer
                        gesellschaftlichen Religionsform ansehen sollen; welches eine grobe
                        äusserliche Beherrschung der Christen mit sich brächte. Es ist aber freilich
                        sehr bald eine solche Beherrschung aller Christen von den vielerley Urhebern
                        christlicher Religionsparteien beabsichtiget worden; sie haben daher
                            <hi>einen solchen physischen Erfolg</hi> ihrer eingefürten Cerimonien,
                        ja gar ihrer Formeln von christlichen Worten, immer mehr bejahet und
                        aufgestellet; und nun konten sie durch immer neue Erfindung ihrer <index indexName="subjects-index">
          <term>Parteien</term>
        </index>Partey einen Vorzug geben wollen, da doch aller Vorzug der Christen
                        als Christen allein in moralischen Fertigkeiten bestehen solte, wodurch sie
                        die grössere Verehrung Gottes leisteten. Freilich trat nun christliche
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Superstition</term>
        </index><hi>Superstition</hi> von Zeit zu Zeit an die Stelle der jüdischen
                        und heidnischen; wir wollen es entschuldigen mit den <index indexName="subjects-index">
          <term>Stufen</term>
        </index>Stufen der moralischen christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Kindheit, moralische</term>
        </index>Kindheit. Es mus aber der wahre Charakter der christlichen <pb xml:id="bs_f_page_152" n="152" edRef="#f"/> Verehrung Gottes ernstlichst
                        behauptet werden, wonach der <hi>mögliche gewissenhafte Gebrauch des eigenen
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Verstand</term>
          </index>Verstandes aller fähigen Christen</hi>, zur <index indexName="subjects-index">
          <term>freie Betrachtung</term>
        </index>freien Betrachtung und Anwendung aller christlichen Begriffe und
                        Gegenstände, <hi>ihre <index indexName="subjects-index">
            <term>Privatreligion</term>
          </index>Privat-Religion ausmacht</hi>. Wenn daher Prediger geradehin die
                        Anwendung der <index indexName="subjects-index">
          <term>Vernunft, schelten auf die</term>
        </index>Vernunft schelten und verwerfen, und einerley Glauben fordern für
                        das was sie öffentlich, gut oder schlecht, vortragen: so vergessen sie
                            <index indexName="persons-index">
          <term>Paulus</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_19_6"/><persName ref="textgrid:251kf">Pauli</persName> Vorschrift, der eine treue <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrgeschicklichkeit</term>
        </index><hi>Lehrgeschicklichkeit</hi> zur eignen freien <index indexName="subjects-index">
          <term>Überzeugung, freie</term>
        </index>Ueberzeugung der Zuhörer von Lehrern fordert; <foreign xml:lang="grc">διδακτικος</foreign> soll der Lehrer seyn. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_19_7"/>Die Christen würden zu
                        todten <index indexName="subjects-index">
          <term>Maschinen, tote</term>
        </index>Maschinen gemacht, wenn die öffentliche Religionsform, die nur zur
                        gesellschaftlichen Ordnung gehört, in so viel tausend Zuhörern <hi>einen und
                            eben denselben Erfolg ihrer Seligkeit hätte</hi>, durch Anwendung des
                        Gedächtnisses, ohne eigenes individuelles <index indexName="subjects-index">
          <term>Nachdenken</term>
        </index>Nachdenken. Die Zuhörer würden also sich als todte Materialien von
                        den Lehrer verarbeiten lassen; und diese knechtische <index indexName="subjects-index">
          <term>Unterwerfung</term>
        </index>Unterwerfung hatten freilich Pfaffen und Mönche ehedem wissentlich
                        zur rechten christlichen Verehrung Gottes eingefüret; die Zuhörer wurden
                        wirklich <pb xml:id="bs_f_page_153" n="153" edRef="#f"/>
        <hi>als Christen das Eigentum der Kirche</hi>; sie durften nicht selbst
                        christlich nachdenken. Gleichwol müssen umgekehrt die Zuhörer nur durch den
                        öffentlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Unterricht</term>
        </index>Unterricht dazu angeleitet werden, <hi>sich mit freien Gebrauche
                            ihres <index indexName="subjects-index">
            <term>Gewissens, freier Gebrauch des</term>
          </index>Gewissens ein <index indexName="subjects-index">
            <term>Eigentum, moralisches</term>
          </index>moralisches Eigentum zu schaffen</hi> und zu erwerben, das zu
                        ihrer besondern christlichen immer bessern Verehrung Gottes bestünde. Die
                        öffentliche Religionsform aber kann <hi>nie das Eigentum</hi> eines <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatchristen</term>
        </index>Privat-Christen werden, <hi>sie gehört der ganzen Gesellschaft</hi>
                        und nur diese kann Aenderungen darin machen; daher müssen auch <foreign xml:lang="lat">privati</foreign> sich nicht anmaßen sie zu verändern;
                        oder sie geben schon geheime Absichten zu erkennen, denen dieses <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_19_8"/><foreign xml:lang="lat">jus publicum sacrorum communium</foreign> noch im Wege
                        stehet.</p>
      <p>Der Vorwurf von <index indexName="subjects-index">
          <term>Heuchler</term>
        </index><hi>Heuchlern</hi> wird gar unrecht hieher gebracht. Er würde alle
                            <hi>eigene <index indexName="subjects-index">
            <term>Unterwerfung</term>
          </index>Unterwerfung</hi> an jede <hi>öffentliche gesellschaftliche</hi>
                        Ordnung aufheben. Lehrer in den öffentlichen gesellschaftlichen
                        Versammlungen <hi>sind nicht bestellet ihre <index indexName="subjects-index">
            <term>Privateinsichten</term>
          </index>Privat-Einsichten</hi> aufzustellen; um sich gar wider die
                        Grundsäze ihrer Gesellschaft zu erklären, <pb xml:id="bs_f_page_154" n="154" edRef="#f"/> und <hi>einen neuen <index indexName="subjects-index">
            <term>Inhalt</term>
          </index>Inhalt</hi> zu empfelen, der sogar den historischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, lokaler Charakter der</term>
        </index>localen Charakter der christlichen Religion auslöschen müste. Eine
                        große Gesellschaft gab <hi>den Auftrag, Diener ihrer öffentlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Religionsordnung</term>
          </index>Religionsordnung</hi> zu seyn. Diese gesellschaftliche
                        Religionsordnung ist <hi>über den angesezten Prediger</hi>, was seine
                            <hi>öffentliche</hi> Amtsfürung betrift. Er hat hier <hi>keine
                            Freiheit</hi>, wenn die Gesellschaft sie nicht bewilligt. Die
                        Gesellschaft ist Herr über ihre Verbindung, die gar nicht
                            <hi>philosophisch</hi>, sondern ganz <hi>bürgerlich</hi> ist, und
                        bürgerlichen Vertrag zum Grunde hat. Die <index indexName="subjects-index">
          <term>Besoldung</term>
        </index>Besoldung ist und bleibt eine <hi>bürgerliche Prämie</hi> für den
                        Lehrer in der Religionsgesellschaft; sie wird nur ertheilt, so lange der
                        Religionslehrer den Vertrag hält. <hi>Unsichtbare</hi> Eigenschaften,
                            <hi>Einstimmung</hi> des eignen Gewissens bey dem Lehrer, konte die
                        Gesellschaft nie in Rechnung nemen. Wenn er also seinem <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen folgen, und so gar den Grundsäzen dieser Gesellschaft
                        entgegen handeln wil, als Lehrer: so kündigt er selbst den bisherigen
                        Vertrag auf; ob er als Naturalist ein moralisch würdiger Mensch sei, gehet
                        diese öffentliche Gesellschaft gar nichts an; sie beruhet hier auf äus<pb xml:id="bs_f_page_155" n="155" edRef="#f"/>serlichen feststehenden
                        Merkmalen, die <hi>eben wider dergleichen Eingriffe</hi> und
                            <hi>Verwechselung</hi> des Verhältnisses, das im Vertrage bestimt war,
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_19_9"/><hi>sanciret</hi>
                        sind.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_19_1"><label>Priester- und Pfaffenbetrug</label>
        <p>Die Auffassung, die Entstehung und/oder Gestalt positiver Religionen gehe
                            auf einen „Priesterbetrug“ zurück, ist antiken Ursprungs und findet sich
                            schon bei dem Sophisten Kritias (ca. 460 v. Chr.–403 v. Chr.), DK B25.
                            Im 18. Jh. war die Theorie vor allem unter radikalen Aufklärern in
                            Frankreich populär. Siehe exemplarisch den von Baron d’Holbach
                            (1723–1789) verfassten <hi>Encyclopédie</hi>-Artikel „Prêtres“
                            [Priester], <hi>Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des
                                arts et des métiers</hi> 13 (1765), 340f. In zuvor unerreichter
                            Breite wurde die Betrugstheorie in Bezug auf Juden- und Christentum von
                            Reimarus verfochten – freilich nur in Auszügen („Fragmenten“) postum und
                            anonym publiziert (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_e_2_10"/>). Bahrdt verarbeitete das Thema
                            literarisch in seinen Ideenromanen <hi>Geschichte des Prinzen
                                Yhakanpol</hi> (1790) und <hi>Ala Lama</hi> (1790; s. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_31_5"/>).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_19_2"><label>bis
                            nachher der öffentliche Religionsfriede auch auf die Reformirten im
                            teutschen Reiche erstrekt worden</label>
        <p>Gemeint ist die Duldung der Anhänger der CA im Augsburger
                            Religionsfrieden (1555), der dann 1648 offiziell auch auf die
                            Reformierten ausgeweitet wurde.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_19_3"><label>daher
                            schon Spener über solchen Misbrauch der symbolischen Bücher ernstlich
                            geklagt hat</label>
        <p>Spener (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_n_18"/>)
                            äußerte sich dazu mehrmals, vgl. seine unpaginierte Vorrede zu Balthasar
                            Köpke, <hi>Sapientia Dei in mysterio crucis Christi abscondita</hi> I
                            (1700), § 29, sowie Spener, <hi>Auffrichtige Ubereinstimmung mit der
                                Augsp. Confession</hi> (1695), 67.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_19_4"><label>die
                            sich selbst berichten können, wie Luther redet</label>
        <p>Das Verb „berichten“ wird bei Luther (auch) mit der Bedeutung „das
                            Abendmahl reichen/mit einem Sakrament versehen“ verwendet; vgl. z.B.
                                <hi>Vom mißbrauch der Messen</hi> (1521), WA 8, 514f.: „Do man aber
                            fur das brechen und außteylen der sacrament selbst behalden und genommen
                            hatt und den diener priester geheyssen, do ist das opffer erfunden
                            wurden, auff das der heylige priester auff dem alltar ettwas tzu thun
                            hette und nicht müssig stünde. Wenn aber yemandt sich selbst berichten
                            wollt, ßo nehm erß doch nicht alleyn, sunder breche es und gebe den
                            andern auch, das er doch etwas thu, das dem exempel unnd der eynsatzung
                            Christi gemeß sey.“ Vgl. auch Zedler, <hi>Universal-Lexicon</hi>,
                            Supp.-Bd. 3 (1752), 827.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_19_5"><label>wenn
                            sie ihre moralische Wohlfart nicht als eine physische Folge [...]
                            ansehen sollen</label>
        <p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_6_9"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_19_6"><label>Pauli
                            Vorschrift, der [...] fordert; <foreign xml:lang="grc">διδακτικος</foreign> soll der Lehrer seyn</label>
        <p>Anspielung auf 1Tim 3,2; siehe auch 2Tim 2,24; <foreign xml:lang="grc">διδακτικός</foreign>, „geschickt im Lehren“.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_19_7"><label>Die
                            Christen würden zu todten Maschinen gemacht</label>
        <p>Das Bild des „maschinenmäßigen Christen“ könnte Semler aus Predigten von
                            Spalding (1765; SpKA II/1, 278) oder Herder (1768; <hi>Sämtliche
                                Werke</hi> 31 [1889], 120) entlehnt haben. Vgl. auch Gottlieb
                            Wilhelm Rabener (1714–1771), <hi>Satiren</hi> IV (1755), 105:
                            „maschinenmäßige Andacht“.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_19_8"><label>jus
                            publicum sacrorum communium</label>
        <p>Gemeint ist der auf Religionsgemeinschaften bezogene Teil des
                            öffentlichen Rechts.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_19_9"><label>sanciret</label>
        <p>Vom lateinischen <hi>sancire</hi>; wörtlich „heiligen“, im übertragenen
                            Sinne: „etwas unverbrüchlich festsetzen“, vgl. auch <ref target="#bs_f_page_292">f292</ref>.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_20">
      <head type="question">20. Ist denn aber diese immer gleiche öffentliche,
                        gesellschaftliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsordnung</term>
        </index>Religionsordnung allen einzelnen Mitgliedern gleich gut, einmal wie
                        allemal, notwendig zu ihrer eigenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion?</head>
      <p>Diese Frage gehört für die <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatchristen</term>
        </index>Privat-Christen selbst und kann nicht durch andre so entschieden
                        werden, daß jeder Christ nun selbst in Absicht seiner eben so entscheiden
                        und sich einem fremden Ausspruche unterwerfen müste. Es war ein politischer
                        Misbrauch der <index indexName="subjects-index">
          <term>Clerisey</term>
        </index>Clerisey, daß sie diese Frage bejahete, wenn auch die öffentliche
                        Religionsform noch so eigennüzig für sie selbst eingerichtet war. Hiemit hat
                        sich die Clerisey eigenmächtig <hi>aus dem ganzen bürgerlichen,
                            gesellschaftlichen Verhältnis herausgehoben</hi>, und ihren Stand
                            <hi>als allein</hi> oder doch vorzüglich <hi>göttlich ansehen</hi>
                        lassen, der doch ohne bürgerliche Gesellschaft, zu welcher <pb xml:id="bs_f_page_156" n="156" edRef="#f"/> er selbst in wahrer <index indexName="subjects-index">
          <term>Abhängigkeit</term>
        </index><hi>Abhängigkeit</hi> immer gehöret, gar nicht da wäre. Hiemit hat
                        sie auch die Geschäfte oder Dienste, welche nur durch die Clerisey allein
                        verrichtet werden nach dem Auftrage der Gesellschaft, ungebürlich an sich
                        gerissen, und sie viel zu wichtig und gros gemacht. Diese alten Irtümer oder
                        Künste müssen ernstlich entblößet werden. Jeder Stand der Menschen, die
                        Christen sind, worin einer den andern nach Gottes so kentlicher <index indexName="subjects-index">
          <term>Ordnung</term>
        </index>Ordnung, bürgerlich, häuslich, moralisch nüzlich ist, <hi>mus eben
                            so <index indexName="subjects-index">
            <term>göttlich</term>
          </index>göttlich heissen</hi>, als der Stand der so genannten Clerisey
                        oder Geistlichkeit, oder Kirchendiener. Jeder Diener der öffentlichen
                        Religionsverfassung kann die Wichtigkeit seines <index indexName="subjects-index">
          <term>Beruf</term>
        </index>Berufes <hi>ihm selbst</hi> immer sehr ernstlich vorhalten, um sich
                        immer mehr zu großer <index indexName="subjects-index">
          <term>Treue</term>
        </index>Treue zu ermanen; aber andern Menschen muß er nicht blos seinen
                        heiligen Stand an sich schon als götlich vorhalten; sondern wissen, daß er
                        selbst seinen Stand ehren, oder bei andern geringschäzig machen kann. Aber
                        es war auch ungerecht, daß selbst unter Protestanten manche <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Dissidenten</term>
          </index>Dissidenten</hi> die ganze öffentliche Religionsordnung
                        hasseten, und öffentlich verächtlich machten, als wären alle Kirchendiener
                        blos <pb xml:id="bs_f_page_157" n="157" edRef="#f"/> eigennüzige Pfaffen;
                        daß sie <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_20_1"/>auf das
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Kanzelholz</term>
        </index><hi>Kanzelholz</hi> schmäleten, <index indexName="subjects-index">
          <term>Beichtstuhl, Höllenpfuhl (Wortspiel)</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_20_2"/><hi>Beichtstul</hi> und <hi>Höllenpful</hi> zusammenreimeten, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_20_3"/>ein armes Wortspiel
                        mit <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel, Bubel, Babel (Wortspiel)</term>
        </index><hi>Bibel, Bubel, Babel</hi> aufbrachten <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> Es ist doch ganz unrecht, über die und jene Mängel, die in allen
                        menschlichen Einrichtungen schon sind oder sichtbar werden, wild und zornig
                        zu spotten; es ist wider die <index indexName="subjects-index">
          <term>Pflicht, gesellschaftliche</term>
        </index>Pflichten der Gesellschaft, in welcher man doch auch viel Gutes
                        genießet, das sonst nicht so gewis da wäre. Gute Menschen tragen gern
                        einander, ohne sich selbst zu erheben; jeder behält demnach sein inneres
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Bewusstsein</term>
        </index>Bewußtsein und sein eigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen frey. Der große Unterschied der Zeit, worin Christen sich
                        in eine öffentliche Religionsform vereinigten, brachte allemal auch einen
                        Unterschied des Inhalts der Religionsform, und selbst auch der
                        Privat-Religionsübung mit sich; und dieses <hi>damalige <index indexName="subjects-index">
            <term>Maß</term>
          </index>Maas</hi> war wirklich das Maas das in jene Zeit und für
                        damalige Christen gehörte, es mochte mancher <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatchristen</term>
        </index>Privat-Christ auch zu viel von der öffentlichen Religionsform
                        erwartet haben; besser wuste er es nicht. Wer aber selbst eine <choice>
          <sic>eig ne</sic>
          <corr type="editorial">eigne</corr>
        </choice>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis</term>
        </index>Erkentnis hatte, der behielt sie, und vermehrte sie für sich zu
                        seinem moralischen Vortheil, mochte <pb xml:id="bs_f_page_158" n="158" edRef="#f"/> die öffentliche Religionsform noch so schlecht für ihn
                        heissen. Als äusserliches Mitglied dieser äussern Gesellschaft blieb er doch
                        im Besiz seiner Einsichten, hielt aber nicht für nötig seine <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatübung</term>
        </index>Privat-Uebung <hi>öffentlich aufzustellen</hi>, und gar bürgerliche
                        Zerrüttung damit zu veranlassen. Das moralische Leben, die neue Wohlfart der
                        Christen ist verborgen mit <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christo</persName> in dem unendlichen
                        Gott; wenn Christus in dem Christen lebet, (und das ist ganz frey,) so ist
                        dis <hi>für andre Menschen eine unsichtbare Geschichte</hi>, und ist blos
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>individuell</term>
        </index><hi>individueller</hi> innerer Zustand dieses Christen; wie jeder
                        häusliche Vortheil des fleißigen geschiktern Bürgers sein wahres geheimes
                        Eigentum bleibt. Häufig aber haben die Bischöfe dieses verborgene, freie
                        innere Leben der Christen, das in dem unendlichen Gott verborgen ist,
                        durchaus abschaffen und durch die öffentliche Religionsform ganz hindern
                        wollen; weil alle diese verständigern, moralischen, glückseligen Christen,
                        den falschen übertriebnen Werth der bischöflichen Religionsordnung zu gut
                        kennten, als daß sie ihn für sich selbst, und für ihre ganze Privat-Religion
                        geradehin hätten gelten lassen; daher sind alle jene greulichen tirannischen
                        Auftritte <pb xml:id="bs_f_page_159" n="159" edRef="#f"/> entstanden, welche
                        diese christliche (bischöfliche) Religion <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_20_4"/><hi>geradehin <index indexName="subjects-index">
            <term>stinkend machen</term>
          </index>stinkend gemacht haben</hi>, für alle gute würdige Menschen. Da
                        aber unter Protestanten es keine gewaltthätige Erhebung der öffentlichen
                        Religionsform über die eigene Privatreligion verständiger Christen gibt: so
                        haben diese auch gar keine Ursache, sich über die gesellschaftliche
                        Religionsordnung, wenn sie auch Mängel darin finden, zu beklagen; indem ihre
                        freie <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatverehrung</term>
        </index>Privat-Verehrung Gottes, ihr ganzes inneres Leben <hi>durch gar
                            nichts äusserliches gehindert werden kann</hi>. Es mus demnach eine
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsform, öffentliche</term>
        </index><hi>öffentliche</hi> christliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsform</term>
        </index>Religionsform geben, selbst um der grossen Gesellschaft willen;
                            <hi>noch ehe die Rede ist von <index indexName="subjects-index">
            <term>Privatreligion, moralische</term>
          </index>moralischer Privat-Religion</hi>, die hinter dem öffentlichen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Unterricht</term>
        </index>Unterrichte entstehet. Wenn aber <hi>declarirte <index indexName="subjects-index">
            <term>Naturalisten</term>
          </index>Naturalisten</hi> sich wider alle christliche Religion geradehin
                        aufstellen: so ist gewis, daß sie <hi>diese innere Religion</hi> der wahren
                        freien Christen <hi>gar nicht kennen</hi>; und daß sie also nicht als gute
                        Mitbürger sich betragen, wenn sie die öffentliche Religionsform irgend einer
                        Gesellschaft verspotten, und ihre eigene moralische oder unmoralische
                        Privatübung zur Vorschrift für alle Menschen <pb xml:id="bs_f_page_160" n="160" edRef="#f"/> erheben wollen. Hier müssen <index indexName="subjects-index">
          <term>Obrigkeit</term>
        </index>Obrigkeiten die öffentliche Religionsform aller Parteien, die in
                        ihrem Staate schon da sind, <hi>wider solche Beschimpfungen sicher
                            stellen</hi>. Es ist <hi>gar nicht die Rede von <index indexName="subjects-index">
            <term>Wahrheit</term>
          </index>Wahrheit, von <index indexName="subjects-index">
            <term>Aufklärung</term>
          </index>Aufklärung und <index indexName="subjects-index">
            <term>Privaterkenntnis</term>
          </index>Privat-Erkentnis</hi>, deren Untersuchung allen fähigen Menschen
                        heilige <index indexName="subjects-index">
          <term>Pflicht, heilige</term>
        </index>Pflicht ist und bleibet zur wahren Verehrung Gottes, nach ihrem
                        eignen Gewissen. Es ist blos <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_20_5"/>die Rede <hi>von gesellschaftlichen Rechten und
                            Verträgen</hi>; wohin alle Gedanken oder Grillen von <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturstand</term>
        </index><hi>Naturstande</hi>, von <index indexName="subjects-index">
          <term>Menschenrechte</term>
        </index><hi>Menschenrechten</hi>, von <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>kosmopolitisch</term>
          </index>kosmopolitischen</hi> Anstalten gar nicht gehören. Die
                        öffentliche Religionsordnung beziehet sich, wie schon gesagt worden,
                        zunächst auf eine Gleichförmigkeit in der gemeinschaftlichen <hi>Theilnemung
                            an feierlichen äusserlichen Handlungen, die Merkmale der
                            Religionsordnung ausmachen</hi>, worin sich jezt alle Mitglieder
                        kentlich vereinigen. Hiebei bleibt aber der ganze besondere Unterschied
                        aller Mitglieder, wonach ihr innerer moralischer Zustand ungleich ist. Die
                            <hi>periodische</hi> oder an Zeit und Ort gebundene <index indexName="subjects-index">
          <term>Gleichförmigkeit</term>
        </index>Gleichförmigkeit in diesen feierlichen Merkmalen einer ein für
                        allemal bestimten Gesellschaft <hi>vereiniget</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_161" n="161" edRef="#f"/>
        <hi>eine Menge und Vielheit der Mitglieder für diese Zeit und zu diesen
                            öffentlichen Handlungen in gemeinschaftlicher bürgerlicher Absicht</hi>;
                        denn die Christen bleiben Bürger. Aber sie bleiben <hi>innerlich</hi> sehr
                        verschiedne Christen, und haben nicht <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, einerlei</term>
        </index><hi>einerley Maas</hi> ihrer Privat-Religion, oder der Erkentnis.
                        Protestanten lehren nicht, daß die ganze christliche eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt</term>
        </index>Wohlfart darin bestehe, daß Christen in einer großen Anzal eine
                        äusserliche Ordnung ihrer öffentlichen Religionsbeschäftigung, allesamt so
                        oder so oft beobachten. Pfaffen und Mönche haben ehedem diesen groben Irtum
                        zu befördern gesucht; daher entstund eine äusserliche Tiranney und
                        Herrschaft der Clerisey, die ehemals nur aus <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsdiener</term>
        </index><hi>Religionsdienern</hi> bestund, welche aber nun <hi>Gebieter</hi>
                        wurden, wonach die eigene Seligkeit der Christen gar nicht statt finden
                        solte, wenn die Christen sich nicht durch diese Kirchendiener gar
                        beherrschen liessen. <index indexName="persons-index">
          <term>Luther, Martin</term>
        </index><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_20_6"/><persName ref="textgrid:254tm">Luther</persName> hat im 2ten Theil der
                            <hi>schmalkaldischen</hi> Artikel dieses schändliche Pabsttum sehr gut
                        aufgedekt. Die Protestanten haben keinen Pabst über ihren eigenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Glaube</term>
        </index>Glauben. Dis war List, Unwissenheit und Aberglauben, der freilich
                        alle unfähigen Chri<pb xml:id="bs_f_page_162" n="162" edRef="#f"/>sten
                        bezwingen konte; wir wissen aber, daß eine freie <index indexName="subjects-index">
          <term>Kraft, unsichtbare</term>
        </index>unsichtbare Kraft Gottes, die wir selbst erfaren, uns selig macht
                            <hi>durch</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:255cd">Christum</persName></hi>, es mag
                        diese Bestimmung <hi>durch Christum</hi>, so oder so verstanden werden.
                        Diese <hi>eigene <index indexName="subjects-index">
            <term>Erfahrung</term>
          </index>Erfarung</hi> kann durch die öffentliche Religionsform
                        befördert, aber nie ganz gehindert werden, bey verständigen Christen. Man
                        hat aber leider jezt Christen, die <hi>von dieser Erfarung so wenig
                            wissen</hi>, als Naturalisten. Selbst Lehrer hatten häufig nur den
                        Schein einer christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottseligkeit</term>
        </index>Gottseligkeit; es hies <index indexName="subjects-index">
          <term>Fanaticismus</term>
        </index><hi>Fanaticismus</hi>, was sonst <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_20_7"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Geist und Kraft</term>
        </index><hi>Geist und Kraft</hi> hies. Wie konte nun die <hi>öffentliche
                            todte Religionsform</hi> den wahren Christen ferner lieb seyn? wie konte
                        sie Naturalisten moralisch empfolen werden? Der protestantische Staat hat
                        indes seine Clerisey <hi>einer solchen Vorschrift</hi>
        <choice>
          <sic><hi>nnd</hi></sic>
          <corr type="editorial"><hi>und</hi></corr>
        </choice>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Ordnung</term>
        </index><hi>Ordnung unterworfen</hi>, als jede Religionsgesellschaft selbst
                        eingefürt hat; in dieser äusserlichen Religionsordnung sol jede Gesellschaft
                        frey sich fortsezen. Denn die eigene innere christliche Verehrung Gottes
                        wird durch alle äusserliche Ordnung in öffentlichen feierlichen
                        Zusammenkünften <hi>gar nicht gehindert</hi>, was verständige Christen
                        betrift. <hi>Für den großen Hau</hi><pb xml:id="bs_f_page_163" n="163" edRef="#f"/><hi>fen aber mus es eine solche Ordnung geben, die er immer
                            wieder dafür erkennen kann</hi>, daß es <hi>seine</hi> bisherige
                        Religionsordnung ist, woran <hi>seine Rechte</hi> in der Gesellschaft ganz
                        kentlich hängen.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_20_1"><label>auf das
                            Kanzelholz schmäleten</label>
        <p>Der aus dem Deutschen so gut wie verschwundene Ausdruck „auf etwas
                            schmälen“ bedeutet „über etwas schimpfen, etwas herabsetzen“. Vermutlich
                            will Semler hier sagen, dass die protestantischen „Dissidenten“ die
                            wichtige Funktion der Predigt leugneten. Ein literarisches Vorbild
                            hierfür konnte nicht ermittelt werden.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_20_2"><label>Beichtstul und Höllenpful zusammenreimeten</label>
        <p>Der Ausspruch „Beichtstuhl, Satansstuhl, Höllenpfuhl [auch: Feuerpfuhl]“
                            wird dem pietistischen Berliner Pfarrer Johann Caspar Schade (1666–1698)
                            zugeschrieben, der sich weigerte, nach der Ohrenbeichte routinemäßige
                            Absolution zu erteilen, s. Spener (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_n_18"/>), <hi>Theologische
                                Bedencken</hi> II (1701), 144. Der sog. Berliner Beichtstuhlstreit
                            endete schließlich mit der Freigabe des Abendmahlsbesuchs auch ohne
                            vorherige Einzelabsolution.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_20_3"><label>ein
                            armes Wortspiel mit Bibel, Bubel, Babel aufbrachten etc.</label>
        <p>Der Reformator Johannes Agricola (1494–1566) schreibt die Alliteration
                            „Bibel, Bubel, Babel“ Thomas Müntzer (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_10_20"/>) zu: „Er verachtete und
                            verlachte auch spötlich alle so sich der heyligen schrift annahmen und
                            trösteten/ und sagte/ Wen man sich auff die Bibel berieff. Was Biebel/
                            bubel/ Babel Man mus auff ein Winckel krichen und mit Gott reden“
                                (<hi>Die Episteln durchs gantz Jar. Mit kurtzen summarien</hi>,
                            1544, Bl. P). – In Müntzers erweitertem deutschen „Prager Manifest“ von
                            1521 heißt es jedoch lediglich: „Ich becrefftige unde schwere bey dem
                            lebendigen Goth: wer do nicht horeth auß dem munde Gots das rechte
                            lebendige worth Gots, was bibel und Babe[l], ist nicht anders denn ein
                            todt ding. Aber Gots wort, das durch hertz, hyen [Hirn], haut, haer,
                            gebein, marck, safft, macht, krafft durchdringet, dorff woll anders
                            herdraben dan unser nerrisschen, hodenseckysschen [sic!] doctores
                            tallen.“ (<hi>Thomas Müntzers Schriften und Briefe</hi>, [1968], 501) –
                            Vermutlich handelt es sich bei „Bibel, <hi>Bubel</hi>, Babel“ um eine
                            gegen Müntzer gerichtete Verballhornung Luthers, die dann von Agricola
                            zunächst in seiner <hi>Auslegu[n]g des XIX Psalm</hi> (1525) übernommen
                            und schließlich Müntzer selbst als Zitat zugeschrieben wurde, s. Luther,
                                <hi>Eyn brieff an die Fürsten zu Sachsen von dem auffrurischen
                                geyst</hi> (1524), WA 15, 211: „‚Gottes stym (sagen sie [die
                            Aufrührer]) mustu selbst hören und Gottes werck ynn dyr leyden und fülen
                            wie schweer deyn pfund ist, Es ist nichts mit der schrifft, Ja Bibel
                            Bubel Babel‘ etc.“. – Im 18. Jh. wurde der Ausspruch häufig auch mit den
                            Anhängern Andreas Karlstadts (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_10_21"/>) und der Täuferbewegung (vgl.
                                <ptr type="page-ref" target="#erl_b_10_24"/>)
                            assoziiert; vgl. z.B. Barthold Nicolaus Krohn, <hi>Geschichte der
                                Fanatischen und Enthusiastischen Wiedertäufer</hi> (1758),
                        227.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_20_4"><label>geradehin stinkend gemacht</label>
        <p>Möglicherweise Anspielung auf Luthers <hi>Sendbrief an den Papst Leo
                                X.</hi> (1520), WA 7, 7: „Adeh, liebs Rom. stinck furt an, was da
                            stinckt, und bleyb unreyn fur und fur, was unreyn ist.“</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_20_5"><label>die
                            Rede von gesellschaftlichen Rechten und Verträgen, wohin alle Gedanken
                            oder Grillen von Naturstande, von Menschenrechten, von kosmopolitischen
                            Anstalten gar nicht gehören</label>
        <p>Theoretiker des Gesellschaftsvertrags wie Hobbes, Locke, Rousseau oder
                            Kant teilen bei allen Unterschieden in etwa folgendes Bild: Die
                            Menschheit befand sich unmittelbar nach ihrer Entstehung in einem
                            vorrechtlichen Naturzustand, der geprägt war von großer Freiheit, aber
                            auch großer Unsicherheit. Nach Hobbes (<hi>Leviathan</hi>, 1651, Kap.
                            14) besaß in diesem Zustand jeder „ein Recht auf alles, selbst auf den
                            Körper eines anderen“. Andererseits hatten Menschen immer schon (oder
                            erwarben jedenfalls im Laufe ihrer Geschichte) ein objektives Interesse
                            daran, Freiheit für Sicherheit sowie die Aussicht auf arbeitsteilige
                            Kooperation einzutauschen. Dieser Umstand lässt sich mit der Idee eines
                            (fiktiven) Gesellschaftsvertrags ausdrücken, in dem Bürger natürliche
                            Rechte auf einen Souverän übertragen, der ihnen im Gegenzug Schutz und
                            Rechtssicherheit garantiert. Sowohl für Hobbes als auch für Rousseau
                            ergibt sich aus dem Gesellschaftsvertrag das Recht besagten Souveräns,
                            im Sinne der Staatsräson eine <hi>einheitliche</hi> öffentliche
                            Gottesverehrung (Hobbes, <hi>Leviathan</hi>, Kap. 31) bzw. ein
                            einheitliches „bürgerliches Glaubensbekenntnis“ (Rousseau, <hi>Contrat
                                Social</hi>, 1762, 4. Buch, Kap. 8) vorzuschreiben; vgl. auch <ref target="#bs_f_page_109">f109</ref><ref target="#bs_f_page_114">114</ref>. – Semler will hier betonen, dass, insofern die
                            „öffentliche Religionsordnung“ oder die „gemeinschaftliche Theilnemung
                            an feierlichen äusserlichen Handlungen“ (s.u.) betroffen ist, die
                            Berufung auf den „Naturzustand“ fehlgeht, da der Naturzustand ja eben
                            gerade im Zuge der Vergesellschaftung verlassen wurde – und zwar aus
                            völlig vernünftigen Gründen (vgl. <ref target="#bs_f_page_369">f369</ref>). Ähnliches gilt für die Rede von natürlichen
                            „Menschenrechten“, die (nach Zustandekommen des Gesellschaftsvertrags)
                            dort ihre Grenze haben, wo das Funktionieren des Gemeinwesens in Frage
                            steht; vgl. auch <ref target="#bs_f_page_184">f184</ref>.<ref target="#bs_f_page_368">368</ref>.<ref target="#bs_f_page_375">375</ref>. „Kosmopolitische Anstalten“ oder „Grillen“ (d.i.
                            wunderliche Einfälle/fixe Ideen), wie man sie etwa bei Kant (z.B.
                                <hi>Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher
                                Absicht</hi> [1784], AA 8, 15–31) findet, sind für Semler
                            schließlich solange irrelevant, wie es sich um bloße „Anstalten“ handelt
                            und die Diskutanten mit <hi>nationalen</hi> Rechtsgemeinschaften zu tun
                            haben. Zu Semlers Skepsis bezüglich universalreligiöser Bestrebungen
                            vgl. z.B. <ref target="#bs_b_page_VII">b[VII]</ref>; <ref target="#bs_f_page_6">f6</ref><ref target="#bs_f_page_9">9</ref>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_20_6"><label>Luther
                            hat im 2ten Theil der schmalkaldischen Artikel</label>
        <p>Der vierte Artikel im zweiten Teil der <hi>Schmalkaldische[n]
                                Artikel</hi> (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_10_12"/>) spricht dem Papst die
                            Vormachtstellung über alle Christen ab und nennt ihn „verum
                            Antichristum“ (BSLK 430).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_20_7"><label>Geist
                            und Kraft</label>
        <p>Anspielung auf 1Kor 2,4.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_21">
      <head type="question">21. Was heißt denn bey den Christen <index indexName="subjects-index">
          <term>Seligkeit</term>
        </index><hi>Seligkeit durch</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:255cd">Christum</persName></hi>?
                        Christus hat ihnen die Seligkeit erworben; zur Seligkeit ist notwendig –? Da
                        die Bischöfe diesen Weg der Seligkeit allein zu lehren hatten: <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_1"/>so scheint es ja
                        freilich, daß kein Christ selig werden könne, <hi>ohne durch die Lehrer und
                            Bediente der öffentlichen Religion</hi>; und daß notwendig alle andre
                        Menschen, die nicht Christen heissen, aller Seligkeit entberen! Das wäre
                        doch aber eben keine sonderlich würdige Folge einer <index indexName="subjects-index">
          <term>Offenbarung</term>
        </index><hi>Offenbarung Gottes</hi>, wenn die Christen diesen groben Irtum
                        angenommen hätten!</head>
      <p>Es ist freilich auf diese Frage ehedem zu wenig gesehen, und noch weniger
                        immer gut und richtig geantwortet worden; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_2"/>wenn gleich dieser <pb xml:id="bs_f_page_164" n="164" edRef="#f"/> Ausdruck <foreign xml:lang="grc">σωτηρια</foreign>,
                        Seligkeit oder selig werden, gar oft im teutschen <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> vorkommt, wie das hebräische Wort ebenfalls gar oft gefunden wird,
                        ohne eine bestimte Erklärung der Sache. Menschen werden <hi>errettet</hi>,
                        oder in einen Zustand des <index indexName="subjects-index">
          <term>Heil</term>
        </index>Heils, Wohlseins wieder versezt, den sie verloren hatten: bezog sich
                        zunächst auf allerley <hi>äusserliche Gefar oder Unglük oder Elend</hi>,
                        worin sie sich befunden hatten. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_3"/>Dein <index indexName="subjects-index">
          <term>Glaube</term>
        </index>Glaube hat dir <hi>geholfen</hi>, oder hat dich wieder
                            <hi>gerettet</hi> aus deiner Krankheit, hat in <hi>griechischen</hi>
                        eben dis Wort, das sonst Seligkeit übersezt wird. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_4"/>Er wird sein Volk
                        selig machen von ihren Sünden, verstunden viele <index indexName="subjects-index">
          <term>Juden</term>
        </index>Juden, er wird die Juden erlösen von der bisherigen Herrschaft der
                        Heiden, in welcher sie sich <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_5"/><hi>zur Strafe der <index indexName="subjects-index">
            <term>Sünde</term>
          </index>Sünden</hi> ihrer Väter und ihrer eigenen bisher befunden. Dis
                        war überhaupt die falsche Hofnung der Juden, die von dem Messias die
                        Erlösung von der fremden Oberherrschaft erwarteten. Die neue Lehre <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> und der Apostel
                            <hi>widersprach</hi> dieser <hi>leiblichen politischen <index indexName="subjects-index">
            <term>Seligkeit, politische</term>
          </index>Seligkeit</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, politische</term>
        </index>Wohlfart, die Gott freilich schon an eine allgemeine Ordnung bey
                        allen Menschen gebunden hatte, ohne eine gleich große Stufe des menschlichen
                        Wohlseyns für die <pb xml:id="bs_f_page_165" n="165" edRef="#f"/> Menschen
                        festzusezen. In der ganzen Menschenwelt gab es eine hinlängliche
                            <hi>äusserliche</hi> oder <hi>leibliche <index indexName="subjects-index">
            <term>Wohlfahrt, leibliche</term>
          </index>Wohlfart</hi> für die Menschen, wenn sie die Mittel dazu
                        anwendeten; es war also eine sehr unwürdige <index indexName="subjects-index">
          <term>Denkungsart der Juden</term>
        </index>Denkungsart der Juden, wenn sie gar allein die höchste Stufe eines
                        fröhlichen Lebens im <index indexName="subjects-index">
          <term>Genuss</term>
        </index>Genusse aller sinnlichen Begierden, ohne alle Arbeit, oder eine
                            <hi>solche</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Erlösung</term>
        </index>Erlösung von ihrem Messias erwarteten. Nun sahen die Juden alle
                        andre Menschen (die äusserlich glücklich genug lebten, ohne Juden zu seyn,)
                        oder alle so genannten Heiden dafür an, daß sie unter besonderer Herrschaft
                        des <index indexName="subjects-index">
          <term>Teufel</term>
        </index>Teufels und <index indexName="subjects-index">
          <term>Geister, böse</term>
        </index>böser Geister stünden, wie die Juden allein das Volk Gottes wären.
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_6"/>Es wird also in
                        vielen Stellen des N. T. von nun an die Seligkeit oder Erlösung <hi>der
                            Heiden</hi> bejahet, weil <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> dazu gekommen
                        wäre, als der rechte Sohn Gottes, das bisher durch den <index indexName="subjects-index">
          <term>Teufel</term>
        </index>Teufel gleichsam verengerte Reich Gottes wieder ganz herzustellen,
                        und alle Menschen zu gleichen Theilnemern an diesem moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Reich Gottes, moralisches</term>
        </index>Reiche Gottes zu machen, wenn sie nun <hi>durch neue <index indexName="subjects-index">
            <term>Erkenntnis</term>
          </index>Erkentnis</hi> allesamt <index indexName="subjects-index">
          <term>Kinder Gottes</term>
        </index>Gottes Kinder werden wolten. Es ist eben nicht schwer, die
                            <hi>damalige Relation</hi> solcher Stellen auf jenes jüdi<pb xml:id="bs_f_page_166" n="166" edRef="#f"/>sche alte <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorurteile, jüdische</term>
        </index>Vorurtheil einzusehen; nun konnte ganz recht behauptet werden, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_7"/>Gott, der nun würdiger
                        erkannt wird, will also, daß allen Menschen (moralisch) geholfen werde; (daß
                        sie selig werden, <foreign xml:lang="grc">σωδηναι</foreign> im
                        Griechischen,) und also daß sie immer mehr selbst <hi>zur Erkentnis der
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Wahrheit</term>
          </index>Wahrheit</hi> kommen. Nun wissen es die Schüler der Apostel,
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_8"/>daß <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> dem, der bisher
                        des Todes Gewalt hatte, nach bisheriger schlechter Erkentnis, dem <index indexName="subjects-index">
          <term>Teufel</term>
        </index>Teufel, alle Macht genommen; oder <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_9"/>daß er die bisherigen Werke und Geschäfte des
                        Teufels zerstöret, kurz, alle Menschen aus dem unglückseligen Zustande
                        erlöset habe, den die Juden sonst die Macht des <index indexName="subjects-index">
          <term>Teufel</term>
        </index>Teufels über die heidnische Menschenwelt zu nennen pflegten; und nun
                        können also und <hi>müssen die Christen jenes jüdische <index indexName="subjects-index">
            <term>Vorurteile, jüdische</term>
          </index>Vorurtheil</hi> wider die Heiden <hi>faren lassen</hi>, und sie
                        als eben so gute Kinder Gottes ansehen, wenn sie Gott nach dieser Lehre
                            <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> verehren. Es gibt
                        auch deutlichere Stellen; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_10"/>Christus hat uns erlöset <hi>von aller vorigen
                            Ungerechtigkeit</hi>, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_11"/>oder von <hi>allem vorigen eitlen Wandel</hi>,
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_12"/>von der
                        unwürdigen Herrschaft der sinnlichen Begierden; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_13"/>er ist gestorben um
                        unsrer Sünden willen; oder wenn <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_14"/><index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> sagt: <pb xml:id="bs_f_page_167" n="167" edRef="#f"/> mein Blut wird vergossen zur
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Vergebung der Sünden</term>
        </index>Vergebung der Sünden <foreign xml:lang="lat">proprie</foreign> oder
                            <foreign xml:lang="lat">logice</foreign> verstanden. Alle solche klaren
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Redensarten</term>
        </index>Redensarten beschreiben <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christum</persName> als den Urheber
                            <hi>einer moralischen Wohlfart und Seligkeit</hi> in Absicht anderer
                        Menschen, welche jene jüdischen Vorstellungen vom Reiche des <index indexName="subjects-index">
          <term>Teufels, Reich des</term>
        </index>Teufels unter den Heiden, nicht schon gehabt hatten. Daß nun die
                        Christen nach und nach entweder <hi>alle diese Beschreibungen <index indexName="subjects-index">
            <term>buchstäblich</term>
          </index>buchstäblich</hi> verstanden und immer <hi>zusammengesezt</hi>
                        haben; oder aber das <hi>Algemeine</hi> darin, die Belehrung von der bisher
                        unbekannten moralischen Güte und Gnade Gottes gegen Menschen, die ihren
                        moralischen schlechten Zustand gern mit dem freien Genusse einer moralischen
                        Ordnung, zur wahren Verehrung Gottes, vertauschen wolten: ändert nichts in
                        dem Hauptbegriffe <hi>Seligkeit</hi>, oder <hi>seligen</hi> moralischen
                        bessern Zustande der Christen, den sie <hi>durch</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>                        </index><hi><persName ref="textgrid:255cd">Christum</persName></hi> ganz
                        gewis überkommen können, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_15"/>wenn sie die Gnade und Wahrheit Gottes immer mehr
                        erkennen und sich zueignen. Es stehet allen Forschern des <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice> frey, daß sie eine <hi>Auswahl</hi> solcher <index indexName="subjects-index">
          <term>Redensarten</term>
        </index>Redensarten vornemen, wenn sie einsehen, daß <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_16"/>jene jüdische Meinung
                            <hi>von den unreinen oder verwor</hi><pb xml:id="bs_f_page_168" n="168" edRef="#f"/><hi>fenen Heiden</hi> keinen gültigen Grund hatten, sondern
                        vornemlich aus einigen Stellen der griechischen Uebersezung der <index indexName="subjects-index">
          <term>Septuaginta (LXX)</term>
        </index><foreign xml:lang="lat">LXX</foreign> hergeleitet worden sind, der
                        man unrichtig eine <hi>götliche Eingebung</hi> beigelegt hat. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_17"/>Es haben daher
                        freilich die meisten Kirchenväter <hi>eine solche <index indexName="subjects-index">
            <term>Theorie, lokale</term>
          </index>locale Theorie</hi> beibehalten, <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> habe die Menschen
                        aus der physischen Gewalt des <index indexName="subjects-index">
          <term>Teufel</term>
        </index>Teufels erlöset. Es sezen aber auch manche dazu, <hi>durch bessere
                            Belehrung</hi> von dem <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungrund</term>
        </index>Ungrunde der jüdischen Meinungen. Dis ungegründete Ansehen der
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Septuaginta (LXX)</term>
        </index><foreign xml:lang="lat">LXX</foreign> galt freilich noch lange unter
                        den christlichen Lehrern; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_18"/>die ältere <hi>lateinische</hi> Uebersezung aus
                        ihr hat eben <hi>diesen Zusammenhang aller jüdischen Gedanken</hi> lange
                        fortgepflanzt unter den lateinischen Christen; und nach der lateinischen
                        Lehrart hat sich auch der gemeinste <hi>teutsche <index indexName="subjects-index">
            <term>Unterricht</term>
          </index>Unterricht</hi> sehr gleichförmig gerichtet; aber <hi>alle
                            fähigern Christen</hi> konten ihre <index indexName="subjects-index">
          <term>Privaterkenntnis</term>
        </index>Privat-Erkentnis zu eignem grössern Nutzen selbst samlen, aus jenen
                        Stellen des <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice>, wo die <index indexName="subjects-index">
          <term>Hauptsache</term>
        </index><hi>Hauptsache</hi>, das <hi>Algemeine</hi> angegeben wird, ohne
                        jene <hi>jüdische</hi> Farbe. Allen andern Christen aber stehet auch frey,
                        alle solche Stellen ferner zusammen zu sezen, und sich die Erlösung <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> und <pb xml:id="bs_f_page_169" n="169" edRef="#f"/> die Erwerbung ihrer
                        Seligkeit <hi>ganz buchstäblich</hi> damit zu beschreiben. Ein großer Feler
                        der ältern Lehrer war es, wenn man es nicht durch die rohen unfähigen
                        Zuhörer entschuldigen mus: daß sie immerfort mehr jene <hi>jüdische
                            Farbe</hi> behalten, und das <hi>Algemeine dadurch wieder verdunkelt
                            haben</hi>. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_19"/>So
                        hies es überhaupt: <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> ist für die
                        Sünden gestorben, vor der <index indexName="subjects-index">
          <term>Taufe</term>
        </index>Taufe; bey Kindern für die <index indexName="subjects-index">
          <term>Erbsünde</term>
        </index>Erbsünde, bey Erwachsenen für alle vorigen Sünden; wer aber <hi>nach
                            der Taufe</hi> Sünde thut, muß <hi>durch die Kirche</hi> nun selig
                        werden, und ihre Anstalten und Vorschriften anwenden. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_20"/>Die
                            <hi>Seligkeit</hi> selbst wurde gar erst nach dem Tode der Christen
                        angesezt, und doch musten die meisten eine unbekante Zeit <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_21"/>im <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Fegefeuer</term>
          </index>Fegefeuer</hi> erst sich reinigen lassen von den Sünden, die sie
                        im Leben nicht genug gebüsset hatten. Nun sezte die Kirche <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_22"/>das <index indexName="subjects-index">
          <term>Messopfer</term>
        </index><choice>
          <sic><hi>Meßofer</hi></sic>
          <corr type="editorial"><hi>Meßopfer</hi></corr>
        </choice> ein für die Sünden der Lebendigen und Toden, und lies viele
                            <hi>Messen</hi> für die Seelen im <index indexName="subjects-index">
          <term>Fegefeuer</term>
        </index>Fegefeuer Jahr aus Jahr ein halten. Hier hat die christliche eigene
                        freie Verehrung Gottes gar eine schlechte unwürdige Gestalt bekommen; daß es
                        fast in gar keinem Sinne mehr wahr ist, <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> selbst sei und
                        bleibe in freier moralischer <pb xml:id="bs_f_page_170" n="170" edRef="#f"/>
                        Bedeutung, unser <foreign xml:lang="grc">σωτηρ</foreign>, Herr und Heiland,
                        einmal wie allemal; nemlich in moralischer Ordnung, <hi>in unserm jetzigen
                            täglichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Bewusstsein</term>
          </index>Bewußtseyn</hi>, in unserm Glauben, oder in eigener Ueberzeugung
                        und Zuversicht, die auf der neuen Erkentnis immer mehr beruhet. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_23"/>In der
                            <hi>orientalischen</hi> und <hi>lateinischen</hi> Kirche stund die
                        Seligkeit der Christen allein <hi>bey der Clerisey</hi>, und in der
                        Gemeinschaft mit der katholischen Kirche. Die Protestanten haben viele von
                        diesen jüngern ganz und gar unapostolischen Lehrsäzen aufgehoben; aber
                        demohnerachtet noch zu viel <index indexName="subjects-index">
          <term>Einheit des Glaubensbekenntnisses</term>
        </index>Einheit oder Gleichheit des öffentlichen oder in Worten gefaßten
                        Glaubensbekentnisses beibehalten, woran die Seligkeit der Christen hängen
                        solle. Sie haben noch immer <hi>alle Redensarten</hi> aller Bücher des <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice>
        <hi>zusammengesezt</hi>, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_24"/>wenn gleich schon <index indexName="persons-index">
          <term>Flacius (Illyricus), Matthias</term>
        </index><persName ref="textgrid:254bk"><foreign xml:lang="lat">Flacius</foreign></persName> sein <foreign xml:lang="lat">Corpus
                            doctrinae N. T.</foreign> 1) aus den Evangelien; 2) aus den Briefen
                        gesamlet hat, und die Bücher des <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice> sehr ungleich sind. Es komt doch immer auf die eigene Erkentnis
                        der Christen an, wie sie die <hi>moralischen</hi> Wohlthaten, die sie nicht
                        einem falschen jüdischen Messias, sondern dem moralischen <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> danken, sich jezt
                        gedenken, und wie sie <pb xml:id="bs_f_page_171" n="171" edRef="#f"/> es
                        sich beschreiben, daß sie durch <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christum</persName> sich selig
                        finden; keinesweges aber komt es darauf an, daß <hi>jede dortigen <index indexName="subjects-index">
            <term>Redensarten</term>
          </index>Redensarten buchstäblich alle zusammen getragen</hi>, und
                        grössere, würdigere Vorstellungen dadurch auf immer bey uns, in ganz andrer
                        Zeit, gehindert werden. Es ist <hi>einerley Wohlthat</hi> und Seligkeit. Ob
                        Christen <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_25"/><foreign xml:lang="lat">proprie</foreign> oder <foreign xml:lang="lat">improprie,
                            logice</foreign>, einen Saz sich <hi>zu ihrem jezigen wahren <index indexName="subjects-index">
            <term>Nutzen</term>
          </index>Nuzen</hi> vorstellen: <hi>ändert nichts in dem wohlthätigen und
                            verdienstlichen Verhältnis</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName></hi>; also
                        auch nichts in der Seligkeit der Christen. Wenn gleich selbst manche Lehrer
                        dieses nicht einsehen: müsten sie doch nicht so päbstisch handeln, und
                        einander die unsichtbare christliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, unsichtbare</term>
        </index>Wohlfart absprechen, um buchstäblicher todter Zeilen willen. So wol
                        die Theilnemung hieran, als der Umfang selbst ist und bleibt ausser allem
                        menschlichen Gebiete und Befelen. Wie nicht alle Menschen eine und dieselbe
                        Stufe menschlicher, bürgerlicher, häuslicher, physischer <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, bürgerliche</term>
        </index>Wohlfart haben können: eben so ungleich und veränderlich sind die
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Stufen</term>
        </index>Stufen des Bewußtseyn einer christlichen innern Wohlfart; wenigstens
                        hat weder <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> noch ein Apostel
                        es gefordert, daß alle Christen ein gleiches <pb xml:id="bs_f_page_172" n="172" edRef="#f"/> Maas der Erkentnis und der Anwendung der Erlösung
                        und Seligkeit haben müsten. Ueber alle andern Menschen, die das Glück noch
                        nicht haben, christliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Belehrung</term>
        </index>Belehrung von der Verehrung Gottes zu bekommen, dürfen und wollen
                        geübte Christen ohnehin <hi>gar nicht urtheilen</hi>; oder sie vergessen es,
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_21_26"/>wes Geistes
                        Kinder sie seyn sollen.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_1"><label>so
                            scheint es [...], daß kein Christ selig werden könne, ohne durch die
                            Lehrer und Bediente der öffentlichen Religion; und daß notwendig alle
                            andre Menschen, die nicht Christen heissen, aller Seligkeit
                            entberen</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_11_6"/> und
                                <ptr type="page-ref" target="#erl_f_17_1"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_2"><label>wenn
                            gleich dieser Ausdruck [...] gar oft im teutschen N.T. vorkommt, wie das
                            hebräische Wort</label><p>Es handelt sich im Neuen Testament keineswegs
                            nur um Ableitungen von <foreign xml:lang="grc">σωτήρια</foreign>. Teller
                            vermerkt dazu in seinem <hi>Wörterbuch</hi> (<hi rend="superscript">4</hi>1785, BdN IX), 426: „Im Grundtext sind es verschiedene
                            Wörter, für die Luther allezeit ohne Unterschied diese Wörter und
                            Redarten braucht.“ Nur die wenigsten Fälle leiten sich von hebr.
                                <foreign xml:lang="hbo">גאל</foreign> („erlösen“) ab.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_3"><label>Dein
                            Glaube hat dir geholfen, oder hat dich wieder gerettet aus deiner
                            Krankheit</label><p>Anspielung etwa auf Mt 9,22; Lk 8,48.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_4"><label>Er wird
                            sein Volk selig machen von ihren Sünden</label><p>Mt 1,21 (vgl. Wortlaut
                            der Luther-Übersetzung von 1545 im Gegensatz zu späteren
                            Modernisierungen).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_5"><label>zur
                            Strafe der Sünden ihrer Väter</label><p>Anspielung auf Ex
                        20,5.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_6"><label>Es wird
                            also in vielen Stellen des N.T. [...] die Seligkeit oder Erlösung der
                            Heiden bejahet</label><p>Vgl. etwa Röm 11,11; Eph 2,16.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_7"><label>Gott
                            [...] will also, daß allen Menschen (moralisch) geholfen werde; (daß sie
                            selig werden, <foreign xml:lang="grc">σωδηναι</foreign> im
                            Griechischen,) und also daß sie immer mehr selbst zur Erkentnis der
                            Wahrheit kommen</label><p>Anspielung auf 1Tim 2,4. Die korrekte Form des
                            griechischen Aorist Infinitiv Passiv zu <foreign xml:lang="grc">σώζω</foreign> („ich rette“) lautet <foreign xml:lang="grc">σωθῆναι</foreign> („gerettet werden“).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_8"><label>daß
                            Christus dem, der bisher des Todes Gewalt hatte, [...] alle Macht
                            genommen</label><p>Hebr 2,14.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_9"><label>daß er
                            die bisherigen Werke und Geschäfte des Teufels
                            zerstöret</label><p>Anspielung auf 1Joh 3,8.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_10"><label>Christus hat uns erlöset von aller vorigen
                            Ungerechtigkeit</label><p>Tit 2,14.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_11"><label>oder
                            von allem vorigen eitlen Wandel</label><p>1Petr 1,18.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_12"><label>von
                            der unwürdigen Herrschaft der sinnlichen Begierden</label><p>Anders als
                            beim Rest der langen Aufzählung handelt es sich um kein Zitat, vgl. aber
                            Tit 3,3 oder Jak 1,14f.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_13"><label>er ist
                            gestorben um unsrer Sünden willen</label><p>Röm 4,25.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_14"><label>Christus sagt: mein Blut wird vergossen zur Vergebung der Sünden
                            proprie oder logice verstanden</label><p>Anspielung auf Mt 26,28; den
                            Zusatz „proprie oder logice“ erklärt Semler in seiner Schrift
                                <hi>Vorbereitung auf die Königlich Großbritannische Aufgabe</hi>
                            (1787), 31, wie folgt: „Alle diese Beschreibungen [die von Christus als
                            Sohne Gottes und von seiner Bestimmung u.a. als Opfer für die Sünden der
                            Menschen reden] können, der Sache nach, an und für sich, <hi>zu gleicher
                                Zeit in zweyerlei Sinne</hi> verstanden werden; proprie, physice,
                            buchstäblich; und imroprie, logice, vergleichungsweise.“ S. auch <ref target="#bs_f_page_171">f171</ref>.<ref target="#bs_f_page_342">342</ref>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_15"><label>wenn
                            sie die Gnade und Wahrheit Gottes immer mehr
                            erkennen</label><p>Anspielung auf Joh 1,14.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_16"><label>jene
                            jüdische Meinung von den unreinen oder verworfenen Heiden [...] aus
                            einigen Stellen der griechischen [...] LXX hergeleitet [...] der man
                            unrichtig eine götliche Eingebung beigelegt hat</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_16_9"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_17"><label>Es
                            haben [...] die meisten Kirchenväter eine solche locale Theorie
                            beibehalten, Christus habe die Menschen aus der physischen Gewalt des
                            Teufels erlöset</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_22_16"/> (Lösegeld-Theorie). Semler diskutiert den
                            tatsächlich oder vermeintlich lokalen Charakter dieser Theorie in vielen
                            seiner Zusätze zu Hugh Farmer (1714–1787), <hi>Briefe an D. Worthington
                                über die Dämonischen in den Evangelien</hi> (1783; orig. 1778), vgl.
                            etwa Zusätze 25, 50 oder 91. Zu einer möglichen Anpassung
                            (Akkommodation) der Kirchenväter an ihren damaligen Hörerkreis vgl. auch
                            Semlers <hi>[A]scetische Vorlesungen</hi> (1772), 266f.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_18"><label>die
                            ältere lateinische Uebersezung</label><p>Gemeint sind die als <hi>Vetus
                                Latina</hi> zusammengefassten älteren lateinischen Übertragungen der
                            Bibel, bevor sich die „allgemeine [Übersetzung]“ (Vulgata) des
                            Hieronymus (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_1_16"/>) aus dem
                            späten 4. Jh. durchsetzte.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_19"><label>So
                            hies es überhaupt: Christus ist für die Sünden gestorben, vor der
                            Taufe</label><p>Die christliche Vorstellung, dass mit der Taufe alle
                            bisherigen Sünden des Täuflings (bei Neugeborenen: die Erbsünde)
                            „abgewaschen“ werden, hat ihren Ursprung in Apg 22,16; vgl. u.a. auch
                            Apg 2,38, 1Petr 3,21. Sowohl Luther als auch das Konzil von Trient
                            blieben der Auffassung der alten Kirche im Grundsatz treu, die
                            Reformierten sahen in der Taufe hingegen eine bloß symbolische Handlung
                            (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_40_7"/>). – Viele Aufklärer
                            hielten die Idee einer durch die Taufe bewirkten Sündenvergebung für
                            moralisch anstößig. Laut Kant (<hi>Die Religion innerhalb der Grenzen
                                der bloßen Vernunft</hi>, 1793, AA 6, 199) stellt die Auffassung,
                            mit der Taufe ließen sich „alle Sünden auf einmal abwaschen“, gar einen
                            „Wahn“ dar, vergleichbar einem „fast mehr als heidnischen
                            Aberglauben“.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_20"><label>Die
                            Seligkeit selbst wurde gar erst nach dem Tode der Christen
                            angesetzt</label><p>Semler unterstellt hier eine präsentische
                            Eschatologie, gemäß der sich das für das menschliche Heil entscheidende
                            Geschehen im Hier und Jetzt vollzieht (im menschlichen Gewissen oder
                            Glauben) und nicht, wie Vertreter einer futurischen Eschatologie
                            annehmen, während eines endzeitlichen Jüngsten Gerichts o.Ä. Vgl. Luther
                            in einer Predigt zu Joh 3,17 aus dem Jahre 1538, WA 47, 102f.: „Den wen
                            wir die Wortt betrachteten: Wer do gleubet an mich, der darff das
                            Jungste gerichte nicht furchten. Den das Gerichte ist auffgehoben, es
                            gehet ihn so wenig an, als es die Engel angehet. [...] Ehr bedarf der
                            Heiligen nicht zu Furbitter, furchtet sich auch nicht fur dem fegfeuer
                            [...] <hi>Allhier</hi> werde ich nun, und wers sonst aus der weitten
                            welt sein mochte, selig gemacht, wen ehr gleubet“ (Hervorh. d.
                            Hgg.).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_21"><label>im
                            Fegefeuer erst sich reinigen</label><p>Der Sache, wenn auch nicht dem
                            Ausdruck nach, findet sich die Idee eines Fegefeuers (lat.
                                <hi>purgatorium</hi>) bereits Anfang des 3. Jh.s bei Tertullian
                            (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_1_11"/>), de anima 58. Die
                            Vorstellung vom Fegefeuer als einem Ort der Läuterung der Seele – im
                            Unterschied zur Hölle als einem Ort <hi>ewiger</hi> Verdammnis –
                            reagierte auf ein systematisches Problem: Wie kann ein Sünder, der sich
                            zwar mit Gott versöhnt hat, jedoch die zu seiner Rechtfertigung, wie man
                            glaubte, <hi>notwendige</hi> Buße zu Lebzeiten nicht erbringen konnte,
                            zur Seligkeit gelangen? Dogmatisch festgeschrieben wurde die Lehre vom
                            Fegefeuer in der Bulle „Benedictus Deus“ von Papst Benedikt XII. im
                            Jahre 1336. Die Reformatoren lehnten die Lehre ab: Sie sei zum einen
                            unbiblisch, zum anderen sei eine postmortale Buße für die Rechtfertigung
                            vor Gott, die allein aus Glauben, und nicht aus Werken, geschehe,
                            überflüssig. Vgl. z.B. Zwingli, <hi>De vera et falsa religione
                                commentarius</hi> (1525), CR 90, 855–867; Luther, <hi>Widderruff vom
                                Fegefeur</hi> (1530), WA 30.2, 367–390. Das Konzil von Trient
                            bestätigte 1563 in seiner 25. und letzten Session die
                            römisch-katholische Lehre vom Fegefeuer sowie die Wirksamkeit von
                            Fürbitten, Messopfer und Ablass hinsichtlich der in ihm zu erleidenden
                            zeitlichen Sündenstrafen (DH v.a. 983).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_22"><label>das
                            Meßopfer [...] und lies viele Messen für die Seelen im Fegefeuer Jahr
                            aus Jahr ein halten</label><p>Der Ausdruck „Messopfer“ ist eine andere
                            Bezeichnung für die heilige Messe der römisch-katholischen Kirche. Die
                            Eucharistie wird dabei als sakramentale Vergegenwärtigung und
                            Darbringung des <hi>Opfers</hi> Christi verstanden. Die Vorstellung, das
                            Los (reuiger) Verstorbener lasse sich durch das Lesen von Messen in
                            günstiger Weise beeinflussen, ist fast so alt wie die Idee des
                            Fegefeuers selbst; vgl. z.B. Augustinus, <hi>Enchiridion</hi>, 29; Papst
                            Gregor der Große (ca. 540/590–604), <hi>Dialogi de vita et miraculis
                                patrum Italicorum</hi>, IV, 55. Das Konzil von Trient bestätigte wie
                            andere Konzile zuvor diese Auffassung, vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_21_21"/> (Fegefeuer).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_23"><label>In der
                            orientalischen [...] Kirche</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_70"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_24"><label>wenn
                            gleich schon Flacius sein Corpus doctrinae
                            N.T.</label><p>Fehlzuschreibung Semlers. Bei dem <hi>Corpus Doctrinae.
                                Das ist/ Die ganze leer unsers Herren Jesu Christi/ unnd der
                                Aposteln/ von allen und jeden Heuptartickeln der waaren Religion
                                [...]</hi> (1562; lat. <foreign xml:lang="grc">Σύνταγμα</foreign>,
                                <hi>seu Corpus doctrinae Christi, ex novo Testamento tantum</hi>,
                            1563) handelt es sich um ein Gemeinschaftswerk von Johann Wigand
                            (1523–1587) und Matthaeus Judex (Matthias Richter; 1528–1564). Freilich
                            weisen beide Autoren eine große persönliche Nähe zu Flacius (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_d_6_5"/>) auf: Alle drei
                            Theologen sind dem Kreis der sog. Gnesiolutheraner (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_3_2"/>) zuzurechnen,
                            wurden 1561 an der Universität Jena ihres Amtes enthoben und waren als
                            Initiatoren bzw. Hauptverfasser maßgeblich an der Entstehung der
                                <hi>Magdeburger Centurien</hi> (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_d_4_1b"/>) beteiligt. Offenbar nahm
                            Semler (vgl. <hi>Lebensbeschreibung</hi> I, 1781, 281f.) an, dass auch
                            das <hi>Corpus Doctrinae</hi> auf Flacius’ Anregung zurückging, doch
                            dafür fehlt ein schlüssiger Beleg. – Bei Wigands und Judex’ Werk handelt
                            es sich um den Versuch der systematischen Entfaltung klassischer
                            Theologumena auf ausschließlich neutestamentlicher Grundlage.
                            Bemerkenswert ist – und darauf spielt Semler hier an –, dass Belege aus
                            Evangelien/Apostelgeschichte und Belege aus den Briefen nicht gemeinsam,
                            sondern in jeweils eigenen Kapiteln in zwei voneinander getrennten
                            Buchteilen abgehandelt werden.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_25"><label>proprie oder improprie, logice</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_21_14"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_21_26"><label>wes
                            Geistes Kinder sie seyn sollen</label><p>Anspielung auf Lk
                        9,55.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_22">
      <head type="question">22. Es gibt aber doch so <hi>vielerley</hi> christliche
                            <hi>Begriffe</hi> und so mancherley ernstliche Vorstellungen, nach den
                        besondern Parteien, eben über die so genannte <index indexName="subjects-index">
          <term>Erlösung</term>
        </index><hi>Erlösung</hi>, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_1"/>über eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Satisfaktion</term>
        </index><hi>Satisfaction</hi>, über <index indexName="subjects-index">
          <term>Zurechnung der Gerechtigkeit Christi</term>
        </index><hi>Zurechnung</hi> der Gerechtigkeit oder der ganzen moralischen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Vollkommenheit, moralische</term>
        </index>Vollkommenheit <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>, als Gott und als
                        Mensch, die <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_2"/><hi>allein durch den <index indexName="subjects-index">
            <term>Glaube, allein der</term>
          </index>Glauben</hi> dem Christen zu Theil wird; über die <hi>Kraft des
                            Blutes Christi</hi>, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_3"/>daß auch ein Tröpflein kleine die ganze Welt kann
                        reine, ja gar aus Teufels Rachen frey los und ledig machen <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice>: daß hiemit die Christen selbst eben immer von einander getrennt
                        und uneinig bleiben; wenn sie gleich alle bey solchem Widerspruch sich auf
                        Beweise der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel, Beweise der</term>
        </index>Bibel berufen. <pb xml:id="bs_f_page_173" n="173" edRef="#f"/>
                        Gleichwol ist im ganzen <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> niemals eine solche genaue Bestimmung anzutreffen, welche die
                        andern Vorstellungen ausschlöße.</head>
      <p>Aus allen solchen <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheiten entdeckt sich zwar eine <hi>wirkliche bisherige
                            Geschichte der Christen</hi>, die in der besondern Bestimmung des Sinnes
                        dieser neuen Säze und Redensarten von einander abgehen; und wie konte es an
                        einer Geschichte der so großen neuen Religionsfamilien felen? Aber dieses
                        ist nur ein Beweis, daß die Christen <hi>von einander unabhängig</hi>, und
                        in der eigenen Uebung und Gebrauche ihres eigenen Urtheils immer sehr
                        ungleich waren; und eine solche Verschiedenheit macht eben die wirkliche
                            <hi>Ausbreitung, den Wachstum</hi>, die steten Folgen der neuen
                        Grundsäze aus; <hi>ohne einigen Widerspruch gegen das <index indexName="subjects-index">
            <term>Wesen der christlichen Religion</term>
          </index>Wesen der neuen Religion selbst</hi>. Alle christliche Familien
                        und Parteien <hi>behalten den neuen <index indexName="subjects-index">
            <term>Grundsätze der christlichen Religion</term>
          </index>Grundsaz</hi> der christlichen Religion, Gott hat durch die
                        lebendige <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis</term>
        </index>Erkentnis eines solchen <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>                        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> oder Sohn Gottes
                        unter den Christen eine grössere und gemeinnüzigere <index indexName="subjects-index">
          <term>Offenbarung</term>
        </index><hi>Offenbarung und <index indexName="subjects-index">
            <term>Belehrung</term>
          </index>Belehrung angefangen, von</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_174" n="174" edRef="#f"/>
        <hi>einer <index indexName="subjects-index">
            <term>Religion, moralische</term>
          </index>moralischen Religion</hi>, deren Umfang mit der reinen
                        uneingeschränkten Erkentnis aller noch so ungleichen Christen <hi>gleich
                            fortgehet</hi>, und also an sich selbst, durch keine äusserliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesetzgebung, lokale</term>
        </index><hi>locale</hi> Gesezgebung, oder bürgerliche Verfassung verengert,
                        festgesezt, und ein für allemal <hi>unveränderlich bestimmt werden
                        kann</hi>. Denn alle äusserliche Vorschrift kann nur das <hi>äusserliche
                            Verhältnis</hi> derjenigen Menschen angehen, die äusserlich der Zeit und
                        dem Orte nach, jedesmal <hi>zusammen gehören</hi>; und hiemit schon von
                        andern immer verschieden sind. Ihre innere <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit und Verschiedenheit bleibet das, was sie ist; daher
                        haben auch die Apostel kein feststehendes <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß</term>
        </index>Maas aufgestellet, wonach die so ungleiche Kraft des <index indexName="subjects-index">
          <term>Verstand</term>
        </index>Verstandes, des Gedächtnisses, der <hi>Imagination</hi>
        <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> in allen Christen eine allereinzige Stufe haben solte. Wie in
                        mehrern Schriften der Apostel, und selbst in Christi Reden, vielerley
                        Anspielungen auf den Inhalt des alten Testaments vorkommen, und manche
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Allegorien</term>
        </index><hi>Allegorien</hi> angefangen worden sind, welche die damaligen
                        Zeitgenossen gleichsam anleiten, wie sie ihre <hi>eigenen Vorstellungen</hi>
                        für sich selbst, ohne durch das <choice>
          <abbr>A. T.</abbr>
          <expan>Alte Testament</expan>
        </choice> gehindert zu werden, frey vorne<pb xml:id="bs_f_page_175" n="175" edRef="#f"/>men und ausbreiten können, indem die <hi>eigene Uebung des
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Nachdenken</term>
          </index>Nachdenkens und Urtheiles</hi>, zu dem <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Religion</term>
        </index>Wesen der christlichen eigenen Religion gehört, in steter Beziehung
                            <hi>auf die geringere jüdische Religion</hi>: so ist der freie eigene
                        Gebrauch des Nachdenkens über den Inhalt und Umfang der christlichen
                        Verehrung Gottes, eine ausgemachte <index indexName="subjects-index">
          <term>Pflicht</term>
        </index>Pflicht für alle fähigern Christen, die sie sich selbst durchaus
                        schuldig sind, und <hi>woran sie durch gar keine äusserliche Lehrform
                            gehindert werden können</hi>. Die Ungleichheit der öffentlichen
                        Lehrformen ist ebenfals durchaus unvermeidlich, wegen äusserlicher <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit, lokale</term>
        </index><hi>localer</hi> Ungleichheit der Menschen, die nun in verschiednen
                        Umständen, welche Zeit <choice>
          <sic>nnd</sic>
          <corr type="editorial">und</corr>
        </choice> Ort immer mit sich bringen, sich in eine christliche
                        Religionsgesellschaft vereinigen, und eine gemeinschaftliche Lehrform unter
                        sich äusserlich einfüren. Gesezt auch, daß alle ersten Lehrer dieser neuen
                        Gesellschaft blos ihrem christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen, christliches</term>
        </index>Gewissen folgten, und gar nicht auf eine unedlere Nebenabsicht mit
                        sehen: so sammleten sie doch nur eine solche Erklärung der neuen
                        christlichen Säze und Redensarten aus einigen Büchern des <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice>, <hi>als ihnen die nächste war</hi>. Ihre Schüler stimmeten nun
                        ein in solche <pb xml:id="bs_f_page_176" n="176" edRef="#f"/>
                        Beschreibungen, und nun wurde <hi>diese <index indexName="subjects-index">
            <term>Lehrformen</term>
          </index>Lehrform das gemeinschaftliche Band</hi>, das diese christliche
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsfamilie</term>
        </index>Religionsfamilie <hi>äusserlich zusammenhielte</hi>, oder in ihren
                        feierlichen Zusammenkünften durch eben diese bestimmten Merkmale einander
                            <hi>als Mitglieder</hi> Einer Gesellschaft immer zu erkennen gab. Nun
                        gehen mehrere Lehrer entweder für sich selbst oder als <index indexName="subjects-index">
          <term>Missionarien</term>
        </index><hi>Missionarien</hi> ihrer sehr verschiedenen Brüderschaften immer
                        weiter in Städte und Länder des <hi>Orients</hi> und <hi>Occidents</hi>, und
                        legen christliche <hi>Colonien</hi> an: es werden also immer mehr
                        christliche <hi>Lehrformen</hi> in immer neuen christlichen
                            <hi>Colonien</hi> aufgebracht, <hi>welche alle ganz gewis den Grund
                            einer christlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Verehrung Gottes</term>
          </index>Verehrung Gottes enthalten</hi>, auch ganz gewis allesamt
                        grössere oder kleinere Zweige der christlichen Religion heissen müssen, und
                        unter ihre Familien oder Colonien neue christliche Begriffe und Theorien
                        immer mehr ausbreiten. Wenn nun gleich ehedem die katholische Partei alle
                        andern Colonien, die nicht zu ihrer äusserlichen Lehrform gehörten, <hi>für
                            Unchristen oder Kezer ansahe</hi>, und die wahre christliche Religion,
                        also auch die <index indexName="subjects-index">
          <term>Seligkeit</term>
        </index>Seligkeit der Christen (was man auch unter <hi>Seligkeit</hi> jezt
                        verstehen wolte,) <pb xml:id="bs_f_page_177" n="177" edRef="#f"/> nur an
                        ihre katholische Lehrform (ohne allen Grund) anhinge: so müssen doch alle
                        verständigen <index indexName="subjects-index">
          <term>unparteiisch</term>
        </index>unparteiischen Christen urtheilen, <hi>daß diese Anmasung der
                            katholischen Partei gar keinen christlichen Grund habe</hi>. Nun verhält
                        sich die Sache eben so in unserer Zeit. Im 16ten Jahrhundert entstehen neue
                        christliche Parteien, welche alle von der alten päbstlichen Partei oder
                        lateinischen Religionsform abtreten; Protestanten, die endlich öffentliche
                        Religionsrechte im teutschen Reiche bekommen; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_4"/><hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Anabaptisten</term>
          </index>Anabaptisten</hi>, die nachher als <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Mennoniten</term>
          </index>Mennoniten</hi> hie und da öffentliche Gesellschaften ausmachen;
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_5"/>Anhänger der
                            <hi>schwenkfeldischen</hi> Schriften; viele <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Sozinianer</term>
          </index>Socinianer</hi>, unter sich selbst nicht einig, so wenig es die
                        Gelerten in der römischen und protestantischen Kirche je waren, in Absicht
                        gelerter Fragen, die zur algemeinen christlichen Religion nie gehören
                        können, weil sie aus <hi>gelerten Uebungen</hi> entstehen. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_6"/>In <hi>England</hi>
                        und <hi>Holland</hi> entstehen noch einzelne christliche Familien etc. Alle
                        diese Parteien haben eine besondere <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrform, öffentliche</term>
        </index><hi>öffentliche Lehrform</hi>, wodurch sie sich von einander
                            <hi>äusserlich</hi>, oder in der Einrichtung <hi>ihrer sichtbaren
                            öffentlichen Religionsform</hi>, immer unterscheiden, je nachdem <pb xml:id="bs_f_page_178" n="178" edRef="#f"/> Verträge oder politische
                        Umstände eine verschiedene äusserliche Lage mit sich bringen. <hi>Es sind
                            aber und bleiben alles Zweige der äusserlichen oder sichtbaren
                            christlichen Religionsform</hi>, wie sich diese neue Religionsform immer
                        von aller jüdischen und heidnischen Religionsform unterscheidet. Wenn nun
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_7"/>gleich vom
                        Anfange dieser neuen Trennung her, sowol die römischen Päbste die
                        Protestanten für Kezer und Unchristen bei ihren alten Anhängern sogleich
                        erklärt haben; als auch selbst <hi>protestantische</hi> Gelerte diese
                        päbstliche Tiranney im Kleinen nachgeamet, und selbst <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_8"/><index indexName="persons-index">
          <term>Luther, Martin</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:254tm">Luther</persName></hi> den <index indexName="persons-index">
          <term>Zwingli, Ulrich</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:3c0qc">Zwingli</persName></hi> einen
                        Heiden gescholten, auch <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_9"/>die nachherigen lutherischen Theologen den <index indexName="persons-index">
          <term>Calvin, Johannes</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:24h4b">Calvin</persName>,</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Beza, Theodor</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:2sgw0">Beza</persName></hi>
                        erschrecklich verkezert, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_10"/>auch die <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Sozinianer</term>
          </index>Socinianer</hi> geradehin für Unchristen angesehen haben, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_11"/>wie die ältern <index indexName="subjects-index">
          <term>Reformierte</term>
        </index><hi>Reformirten</hi> die jüngern <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Arminianer</term>
          </index>Arminianer</hi> verdammten: so ist doch und bleibt wahr, daß die
                        Ungleichheit der öffentlichen Lehrformen <hi>gar nicht das <index indexName="subjects-index">
            <term>Wesen der christlichen Verehrung Gottes</term>
          </index>Wesen der christlichen Verehrung Gottes</hi> aufheben kann, nach
                        der gewissenhaften Einsicht fähiger praktischer Christen. Es werden freilich
                        auch die entgegenstehenden Urtheile nicht aufhören; aber so bald in
                        öffentlicher Gesellschaft Nachtheil dadurch entstehen <pb xml:id="bs_f_page_179" n="179" edRef="#f"/> kann: <hi>gibt der Staat den
                            nötigen Maasstab wider unnüzen Eifer</hi>; und beide Theile behalten
                        ihre Meinung für sich.</p>
      <p>Was insbesondere den einzelnen Inhalt dieser Frage betrift, so gehört es zur
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissensfreiheit</term>
        </index>Freyheit des Gewissens aller derer Christen, welche die <index indexName="subjects-index">
          <term>Erlösung</term>
        </index><hi>Erlösung Christi</hi> jezt aus ihrem eigenen Gesichtspunkte
                        ansehen, und eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Satisfaktion</term>
        </index><hi>Satisfaktion</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> für <hi>ihre</hi>
                        Sünden in ihrem Bewußtseyn, und eine <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_12"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Zurechnung der Gerechtigkeit Christi</term>
        </index><hi>Zurechnung</hi> der Gerechtigkeit Christi für ihre täglichen
                        Mängel, von ganzem Herzen billigen und glauben, und in diesem alleinigen
                        Glauben, auf ein unendliches <index indexName="subjects-index">
          <term>Verdienst Christi</term>
        </index>Verdienst Christi, ihre eigene innere Ruhe, und eine immer weniger
                        ängstliche Zuversicht zu dem heiligen gerechten Gott, festhalten. Kein guter
                        billiger Mensch kann sie auch darum verspotten, wenn sie dem Blute Christi
                        eine alles vermögende Kraft <hi>in Absicht auf sie selbst</hi>, zu ihrer
                        moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Ruhe, moralische</term>
        </index>Ruhe, zuschreiben. Sie haben doch eben so viel freies Recht zu der
                        Anwendung der Beschreibungen im <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> auf sich selbst, zu ihrer eigenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Erbauung</term>
        </index>Erbauung, als je die <index indexName="subjects-index">
          <term>Sozinianer</term>
        </index><hi>Socinianer</hi> und Naturalisten haben mögen, dieses ganz anders
                        zu <pb xml:id="bs_f_page_180" n="180" edRef="#f"/> beurtheilen. Es ist und
                        bleibt also gewaltthätig, wenn <index indexName="subjects-index">
          <term>Sozinianer</term>
        </index><hi>Socinianer</hi> die ihnen geläufigen Begriffe, worin ihrem
                        Gewissen ein völliges Genüge geschiehet, nun allen andern Christen
                        aufdringen wollen, die ihre gewissenhafte Ruhe ebenfals bei ihrer
                        moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Zuversicht</term>
        </index>Zuversicht schon haben und genießen, in ganz andern Begriffen, die
                        sie ohne einigen Einwurf oder Zweifel zu haben, bisher angenommen und ganz
                        gewis durch ihre <index indexName="subjects-index">
          <term>Erfahrung</term>
        </index>Erfarung bewäret gefunden haben. Ist es denn so schwer <hi>den
                            ehrlichen Grund dieser <index indexName="subjects-index">
            <term>Ungleichheit</term>
          </index>Ungleichheit auf beiden Seiten</hi>, als eine verschiedne
                        Historie beider Christen oder beider <index indexName="subjects-index">
          <term>Parteien</term>
        </index>Parteien <hi>da stehen zu lassen</hi>, wo er sich ein für allemal
                        findet? Ist es möglich, daß Christen ferner einander vorsagen, du raubst
                            <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christo</persName> alle seine Ehre,
                        wenn du nicht eben so <choice>
          <sic>vou</sic>
          <corr type="editorial">von</corr>
        </choice> Christo und seiner <hi>Satisfaktion</hi> für dich <foreign xml:lang="lat">privatim</foreign> denkest, als ich für mich es denke?
                        Kann dieses wahre christliche Verehrung des unendlichen Gottes heißen, wenn
                        Menschen <choice>
          <sic>einauder</sic>
          <corr type="editorial">einander</corr>
        </choice> gebieten, was sie für eine einzele Lehrform <hi>in ihrem <index indexName="subjects-index">
            <term>Gemüt</term>
          </index>Gemüt</hi> vorziehen sollen, da <hi>alle Lehrform</hi> nur
                        zunächst äusserlichen Erfolg haben kann, an sichselbst aber dem so
                        verschiednen Gewissen durchaus <pb xml:id="bs_f_page_181" n="181" edRef="#f"/> wieder <foreign xml:lang="lat">privatim</foreign> unterworfen bleibt,
                        nach der höchsten Regel, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_13"/>ich mus Gotte mehr in meinem <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen und eigener Ueberzeugung gehorchen, der mir in der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel dieses sagt, als andern Menschen. Die <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit der Menschen, in Absicht der innern Fähigkeiten, war
                        doch nicht aus Bosheit und eigenem Vorsaz der Menschen entstanden; weil sie
                        gerade nur solche Vorstellungen und Urtheile über christliche Gegenstände
                        annemen und behalten können, als ihre Fähigkeiten und ihre Anwendung es
                        zulassen. Wenn wir nun die <index indexName="subjects-index">
          <term>Unmöglichkeit, psychologische</term>
        </index><hi>psychologische Unmöglichkeit</hi> einsehen, daß so verschiedne
                        Menschen innerlich einerley Bewegung und <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, einerlei</term>
        </index>Maas des Verstands anwenden, sobald sie in ihrer Lage, als
                            <hi>Individua</hi> selbst christliche eigene Vorstellungen samlen; und
                        wenn eigene Erkentnis, eigener Glaube oder <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_14"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissheit, moralische</term>
        </index>moralische Gewisheit, durchaus für jeden Christen zur wahren
                        christlichen Verehrung Gottes gehöret; wenn diese endlich durchaus nicht <choice>
          <sic>einer ley</sic>
          <corr type="editorial">einerley</corr>
        </choice> Grad und <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, einerlei</term>
        </index>Maas weder haben noch immerfort behalten kann, um eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Fertigkeit, moralische</term>
        </index><hi>moralische</hi> Fertigkeit zu seyn: warum hören denn Christen
                        nicht auf, die innere beste christliche Verehrung Gottes, wozu eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit durchaus gehöret, so sehr zu ver<pb xml:id="bs_f_page_182" n="182" edRef="#f"/>kennen und so übel zu
                        behandeln, daß sie die <hi>ganz andre Absicht</hi> aller öffentlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrformen, lokale</term>
        </index><hi>localen</hi> Lehrformen, gar aus dem Gesicht verlieren, und eine
                        einzige Lehrform gar zu dem <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Verehrung Gottes</term>
        </index>Wesen der wahren christlichen Verehrung Gottes bei allen Christen
                            <hi>so ganz ungerecht, ganz unchristlich</hi> fordern? Alle Protestanten
                        lehrten eine Kraft Gottes, der ein unendlicher Gott ist, die sich auf die
                        Gemüter der Menschen, der Christen durch die göttlichen Wahrheiten
                        erstrecke, gewis nach seinem Wohlgefallen, nach seinem Vorsaz; wenn ist
                        diese moralische Hand Gottes kürzer oder gar uns unterworfen worden? Wie
                        können die einzelnen christlichen Lehrformen in den Christen diese heilsame
                        Gnade und <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_15"/>freie
                        unendliche Kraft Gottes durch <hi>einige <index indexName="subjects-index">
            <term>Worte, tote</term>
          </index>todte Worte</hi> hindern?</p>
      <p>So bald wir die Historie der öffentlichen Lehrformen aus den ältern Zeiten zu
                        Hülfe nemen: fällt uns ihre stete <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrform, Abwechslung der</term>
        </index><hi>Abwechselung</hi> und <hi>Succession</hi> in die Augen; und es
                        gab doch christliche Verehrung Gottes, es gab ein unendliches <index indexName="subjects-index">
          <term>Reich Gottes</term>
        </index>Reich Gottes in den Menschen. Lange Zeit hatten viele Christen gar
                        schlechte Begriffe, von dem Verhältnis der <hi>Er</hi><pb xml:id="bs_f_page_183" n="183" edRef="#f"/><hi>lösung</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>. Viele zogen jene
                        Ausdrücke, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_16"/><hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Lösegeld</term>
          </index>Lösegeld, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_17"/>erkaufen</hi>
        <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> gar dahin, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_18"/>es habe Christus dem <index indexName="subjects-index">
          <term>Teufel</term>
        </index>Teufel sich als ein <hi>Aequivalent für das Recht</hi> gegeben, das
                        er bisher an den Menschen durch die Sünde gehabt hat. Ich brauche die
                        Abwechselungen der Vorstellung in christlichen Lehrsäzen hier gar nicht
                        zusammen zu zälen; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_19"/>in unserer Zeit hat die Historie der christlichen Lehrform ein grösseres
                        Licht hinlänglich ausgebreitet. Genug, wir wissen historisch, die
                            <hi>folgende</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis</term>
        </index>Erkentnis trat immer an die Stelle <hi>der vorigen</hi>, so bald
                        diese als schlecht und ungegründet eingesehen wurde. Dis traf <hi>alle
                            Artikel</hi>, bei allen verständigen Christen; der große Haufe hatte gar
                        keine eigene Erkentnis; sehr wenig historische Ideen behielt er einmal wie
                        allemal, und <hi>lies Gott durch die Clerisey bedienen</hi>. Hiezu haben
                        freilich die Bischöfe und die Religionsdiener gern geholfen; denn sie lebten
                        herrlich in aller menschlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Glückseligkeit</term>
        </index>Glückseligkeit, und gebrauchten die Religion der immer unwissenden
                        Christen zu einem Mittel ihres menschlichen Wohllebens; dis ist nun so
                        historisch gewis, daß <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_20"/>selbst edle würdige Männer in der römischkatholischen Kirche <hi>diesen
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Missbrauch der Religion</term>
          </index>Misbrauch der öffentlichen Reli</hi><pb xml:id="bs_f_page_184" n="184" edRef="#f"/><hi>gion</hi> eingestehen. Da im 16ten Jahrhunderte
                        es mehr <index indexName="subjects-index">
          <term>Christen, denkende</term>
        </index>denkende ernstliche Christen gab, so wurde die bisher still liegende
                        Kirchenlehre aufs neue untersucht; und nun war es unvermeidlich, die
                            <hi>Protestanten</hi> schnitten alle kirchlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Satisfaktion</term>
        </index><hi>Satisfaktionen</hi> ab, und lehrten eine <hi>allereinzige <index indexName="subjects-index">
            <term>Satisfaktion</term>
          </index>Satisfaktion</hi>, die <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> ein für allemal
                        geschafft hat; und <index indexName="subjects-index">
          <term>Glaube, allein der</term>
        </index><hi>allein der Glaube</hi>, oder die Ueberzeugung hievon, die innere
                        neue Uebung, macht alle Christen der Folgen selbst theilhaftig. Wir änderten
                        eben so den Begriff <foreign xml:lang="lat">Iustificatio</foreign>, kurz,
                        die Protestanten haben keinen Grundsaz von <index indexName="subjects-index">
          <term>Infallibilität</term>
        </index><hi>Infallibilität</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Unveränderlichkeit</term>
        </index><hi>Unveränderlichkeit</hi> einer einmaligen Theorie, oder
                        öffentliche Lehrform, an welche die Seligkeit aller Christen von Gott
                        gebunden worden sei, <hi>sondern geben ihrer Lehrform nur ein bürgerliches
                            menschliches Ansehen</hi>, daß es von keinem einzelnen Mitgliede
                        öffentlich angegriffen, oder verächtlich gemacht werden kann, unter der
                        erborgten Maske von Menschenrecht und Freiheit im <index indexName="subjects-index">
          <term>Stand der Natur</term>
        </index>Stande der Natur. Weder die christliche Verehrung Gottes, noch
                        irgend eine Summe von natürlicher Religion kann einen wahren moralischen
                        Vorzug darin finden, daß die <hi>vorige vorüberge</hi><pb xml:id="bs_f_page_185" n="185" edRef="#f"/><hi>hende Geschichte anderer
                            Menschen</hi> blos wiederholet und einmal eben so viel wie allemal in
                        einem christlichen oder natürlichen Lehrbegriff enthalten ist. Diese
                            <hi>Einheit</hi> gehört allemal für eine äusserliche Gesellschaft,
                            <hi>um äusserlicher Folgen willen</hi>. Durch die <index indexName="subjects-index">
          <term>Einheit, gesellschaftliche</term>
        </index>gesellschaftliche Einheit wird der innere <hi>unumschränkte
                            moralische Raum</hi>, worin sich der Privatverstand beweget, nicht
                        beenget. Es mus oder kann ein jeder fähiger Mensch ausser der
                        gesellschaftlichen Religionsform auch noch die eigene freie <index indexName="subjects-index">
          <term>Gemüts, freie Bewegung des</term>
        </index>Bewegung seines <index indexName="subjects-index">
          <term>Gemüt</term>
        </index>Gemüts auf die moralischen Objecte unabhängig von andern Menschen
                        anwenden. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_21"/>Kein
                        Befel, keine Vorschrift kann diese innere eigene Kraft fähiger Menschen von
                        innen aufheben oder einschränken, daß sie nun eine allereinzige Summe so wol
                        als Richtung ausmachen müste. Nun mögen noch so vielerley neue Säze und
                        Redensarten im <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> vorkommen, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_22"/>von <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christo</persName> und seiner
                        Versönung, daß er ein <index indexName="subjects-index">
          <term>Opfer</term>
        </index>Opfer, ein Hoherpriester ist für die Sünden der Menschen: so werden
                        doch keine <hi>physischen</hi> Veränderungen hiemit beschrieben: es ist
                        weder <hi>physische</hi> Wirkung, noch physischer Erfolg da; <hi>es gehört
                            alles in das Reich der <index indexName="subjects-index">
            <term>Moral</term>
          </index>Moral</hi>, und <pb xml:id="bs_f_page_186" n="186" edRef="#f"/>
                        beziehet sich auf Menschen, welche entweder die alten Vorstellungen, die sie
                        schon hatten, nun wiederholen; oder aber bessere Begriffe an die alten
                        Redensarten aus eigener moralischer Uebung, anhängen. Diese eigenen
                        moralischen Betrachtungen fähigerer Menschen, haben keine allereinzige
                        Bestimmung schon über sich, die sie um irgend einer <index indexName="subjects-index">
          <term>Auktorität</term>
        </index><hi>Auktorität</hi> willen ihrer eigenen Erkentnis vorziehen müsten.
                        Wenn sie aber in einer Gesellschaft durch eine öffentliche Lehrform einmal
                        wie allemal aufgestellet werden, so beziehet sich diese neue menschliche
                        Verordnung nur auf die <hi>Einschränkung</hi> der verschiedenen
                        Vorstellungen <hi>in Absicht der feierlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Mitteilung, feierliche</term>
          </index>Mittheilung an andre; daß sie nicht eine tägliche Zerrüttung
                            veranlassen sollen</hi>, durch ihre <hi>immer abwechselnde</hi>
                        öffentliche Mittheilung an andre Mitglieder: weil schon <hi>öffentliche
                            Lehrer</hi> bestellet sind, um die gemeinschaftliche Religionsform,
                        welche das öffentliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Band, lokales</term>
        </index><hi>locale</hi> Band dieser Christen ist, <hi>zur Erhaltung dieser
                            Gesellschaft fortzusezen</hi>. Die innere eigene christliche Religion
                        wird <hi>nicht für alle Christen</hi> durch eine öffentliche Religionsform
                        schon bestimmt; ihr ganzer moralischer Unterschied, der <pb xml:id="bs_f_page_187" n="187" edRef="#f"/> immer gros ist, bleibt;
                            <hi>sie werden nie vereiniget</hi> oder eingeschränkt. Daher wird im <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> niemalen eine allereinzige Bestimmung des Sinnes dieser <index indexName="subjects-index">
          <term>Redensarten</term>
        </index>Redensarten festgesezt, wenn gleich hiemit <hi>eine neue
                            Sprache</hi> für die christliche Religion entstehet; die, wie alle
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache</term>
        </index>Sprachen zur gesellschaftlichen Verbindung gehört. Da aber die
                        Mitglieder einer christlichen neuen Gesellschaft schon einige moralische
                        eigene Uebung mitbringen: so bleibet die Verschiedenheit der christlichen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion, bei aller äusserlichen Vereinigung zu einer neuen
                        äusserlichen Gesellschaft; weil fähigere Christen schon mehr moralische
                        Vorstellungen haben und samlen, die alle <hi>unter der neuen <index indexName="subjects-index">
            <term>Sprache</term>
          </index>Sprache</hi> von ihnen mit begriffen oder verstanden werden
                        können; wenn gleich viele andre unfähigere Christen <hi>nur eine einzige
                            Vorstellung</hi> ein für allemal kennen. Es ist, wie schon mehrmalen
                        angemerkt worden, kein <hi>Protokoll</hi>, kein Register der allein
                        rechtmäßigen vollkommensten Vorstellung im <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> gegeben worden; die damaligen Begriffe bei Juden- und
                        Heidenchristen <hi>sind nicht fernerhin die unveränderlichen allerbesten
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Begriffe</term>
          </index>Begriffe</hi>, die nun von allen Christen blos wiederholet
                        werden solten; in<pb xml:id="bs_f_page_188" n="188" edRef="#f"/>dem alle
                        Christen, wenn sie <index indexName="subjects-index">
          <term>selbst denken</term>
        </index>selbst denken, von allen Christen immer wieder unterschieden sind,
                        wie gar keine Fertigkeit in mehrern <hi>Subjekten</hi> eben dieselbe
                        Fertigkeit ist und bleibet. Die christliche eigene Verehrung Gottes mus
                        immer der <hi>eigenen Erkentnis</hi> gleich seyn, und die eigene Erkentnis
                        der immer verschiednen Christen <hi>kann innerlich durchaus nicht eben
                            dieselbe seyn</hi>; sie ist und wird grösser oder kleiner nach der
                        innern und grössern Fähigkeit der Christen; und <hi>es bleibt dennoch
                            wahrhaftig in allen solchen praktischen Christen die rechte geistliche
                            Verehrung Gottes</hi>; wenn sie gleich nicht <hi>eine unendliche</hi>
                        ist, sondern immer <hi>nur eine sehr eingeschränkte</hi>, wie der Mensch es
                        selbst ist. Alle bisherigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrformen</term>
        </index><hi>Lehrformen</hi> also, welche bei allen christlichen
                        Gesellschaften zu ihrer äusserlichen Verbindung eingefüret sind, entfernen
                        sich nicht schon von dem neuen Grunde und Wesen der christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion; die öffentliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Gleichförmigkeit</term>
        </index>Gleichförmigkeit oder Gemeinschaft eines Lehrbegrifs verbindet nur
                        eine jede solche <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesellschaften, lokale</term>
        </index>locale Gesellschaft in Absicht <hi>der feierlichen
                            gemeinschaftlichen Merkmale</hi> dieser fortdauernden Verbindung mit
                        einander. Diese Unterscheidung von an<pb xml:id="bs_f_page_189" n="189" edRef="#f"/>dern christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsparteien</term>
        </index>Religionsparteien sagt nun nicht, daß andre Christen durchaus gar
                        keine wahre christliche Verehrung Gottes hätten; denn dis sagten nur Päbste
                        und Pfaffen. Es darf auch kein Haß oder Verachtung anderer Parteien zu einem
                        Vorzug einer Partei gerechnet, und gleichsam zur besondern Verehrung Gottes
                        angenommen werden, es würde vielmehr eine <hi>große Unvollkommenheit</hi>
                        solcher kindischen Christen an den Tag legen. Niemand kann sich herausnemen,
                        seine Einrichtung und Wahl des besondern Lebens als das algemeine Model
                        aufzustellen, wonach alle andre Zeitgenossen sich richten müßten, um
                            <hi>eben so ruhig und glücklich zu werden</hi>; denn dis lezte wäre
                            <hi>eine ausgemachte klare Thorheit</hi>; Es sollen nicht alle Menschen
                        auf eben der Stelle eines andern <index indexName="subjects-index">
          <term>Individuum</term>
        </index><hi>Individui</hi> stehen wollen, weil es unmöglich ist. Jeder wälet
                        sich daher eine Stufe bürgerlicher <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, bürgerliche</term>
        </index>Wohlfart, und behält sie, die für ihn möglich ist. Wo komt nun diese
                        rohe <index indexName="subjects-index">
          <term>Anmaßung</term>
        </index>Anmaßung unter den Christen her, daß eine besondere Lehrform, die
                        nicht ohne <index indexName="subjects-index">
          <term>Lokalität</term>
        </index><hi>Localität</hi> und gegenwärtige Einschränkung seyn kann, <hi>das
                            allgemeine Maas für alle Christen in allen andern Umständen</hi>, (denen
                        sie ohne <pb xml:id="bs_f_page_190" n="190" edRef="#f"/> Wahl und Vorsaz
                        unterworfen sind und bleiben,) <hi>ein für allemal werden sol</hi>? Es kann
                        keiner den andern in seine eigene Lage und daher abhängende Uebung übersezen
                        oder erheben. Wir freuen uns, wenn wir arme dürftige Nebenmenschen gleichwol
                        in ihrer Lage zufrieden und vergnügt sehen. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_22a"/>Es sind wenigstens thörichte unglückliche
                        Grundsäze, wenn eine <hi>äusserliche <index indexName="subjects-index">
            <term>Gleichheit</term>
          </index>Gleichheit</hi> aller Zeitgenossen eingefürt werden wil, wodurch
                        alle immer fortgehenden <index indexName="subjects-index">
          <term>Stufen</term>
        </index>Stufen wieder aufgehoben würden, zu denen die gesellschaftliche
                        Verbindung alle <hi>kultivirten</hi> Völker erhoben hat. Wie können nun gar
                        Christen es zu ihrer eigenen rechten Religion rechnen, daß andre Christen ja
                        keine eigene so oder so weit verschiedne Privat-Religion haben, als jene zu
                        beschreiben gewont sind. Wie kann die größte Verehrung Gottes in dieser
                        Unterdrückung der moralischen freien <index indexName="subjects-index">
          <term>Natur des Menschen</term>
        </index>Natur der Menschen bestehen? Warum sol die alte jüdische oder eben
                        anfangende Sprache der Christen, nicht mit der fernern Erkentnis sich
                        erweitern? Der <index indexName="subjects-index">
          <term>Verstand</term>
        </index>Verstand der fähigern Menschen bleibet eine freie Kraft, die ihre
                        Natur nicht verliert, wenn sie christliche <hi>Objekte</hi> zu betrachten
                        und genem zu halten sich entschliessen. Alle Verbind<pb xml:id="bs_f_page_191" n="191" edRef="#f"/>lichkeit zur Schonung und
                        Ertragung der moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Schwache</term>
        </index>Schwachen und Kranken, aller Wachstum vom Kleinen ins Große würde ja
                        gleich wegfallen, wenn eine allereinzige Vorschrift nun die <index indexName="subjects-index">
          <term>Seelenkräfte</term>
        </index>Seelenkraft aller Menschen, die Christen werden, nach Einem <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, einerlei</term>
        </index>Maas physisch einrichten könte! Blos <hi>ganz andre Absichten können
                            hiedurch gesucht werden</hi>; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_23"/>grössere Ehre Gottes, gewissere moralische
                        Wohlfart der Menschen <hi>darf man nicht mehr vorwenden</hi>. Und wie hat
                        eigentlich <hi>der öffentliche <index indexName="subjects-index">
            <term>Lehrer, öffentliche</term>
          </index>Lehrer</hi> von seiner Gesellschaft den Beruf bekommen können,
                        (anstatt seine Zuhörer nach ihrer gemeinschaftlichen Lehrform, wodurch sie
                        eine Gesellschaft sind und bleiben, zu <hi>eigener innerer Verehrung Gottes
                            immer mehr anzuleiten</hi>,) über andre Menschen, Christen oder
                        Unchristen, unaufhörliche Endurtheile vorzusagen? Wie kann dieses Erkentnis
                        und Verehrung des unendlichen Gottes befördern? Der eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Verstand</term>
        </index>Verstand, das eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen der Zuhörer sol durch den <hi>öffentlichen</hi> Lehrer
                        nicht knechtisch gefüret und gleichsam gefangen gehalten werden; sie würden
                        ja sonst alle dem Lehrer nun unterworfen, und hörten auf ihren eigenen
                        Verstand für sich zu gebrauchen, und <pb xml:id="bs_f_page_192" n="192" edRef="#f"/> bekämen keine eigene innere Religion. Diese Uebung ist aber
                        nicht nur ihnen selbst unentberlich, zu einer wahren <choice>
          <sic>Bernhigung</sic>
          <corr type="editorial">Beruhigung</corr>
        </choice> bey so vielen Zufällen ihres Privatlebens; sondern kann auch nicht
                        fehlen, ohne die gewisseste Sicherheit und größte <index indexName="subjects-index">
          <term>Veredlung</term>
        </index>Veredlung der Nebenmenschen gar sehr zu verringern; wenn sie gleich
                        einen Catechismus behalten. Denn die bürgerlichen Gesetze sind nicht im
                        Stande, in den häuslichen Zusammenhang und das <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatleben</term>
        </index>Privatleben, in die inneren Bewegungen und anfangenden Absichten der
                        Menschen einzudringen; die äusserliche <choice>
          <sic>Religionsordnung,</sic>
          <corr type="editorial">Religionsordnung, die</corr>
        </choice> nur historisch gelernt wird, und <hi>nur zu feierlichen Handlungen
                            gehört</hi>, kann dies eben so wenig; blos die eigene gewissenhafte
                        Religionsübung gibt dem Menschen eine richtige Richtung, wenn er die wahre
                        Verehrung Gottes kennt, die kein öffentlicher Religionsdiener für ihn
                        vollziehen kann. Dieser <hi>neue christliche Sinn</hi>, diese eigene
                        innigste Verehrung Gottes, kann in den <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatchristen</term>
        </index>Privatchristen <hi>aller besondern Parteyen, bey noch so ungleichen
                            Lehrformen da seyn</hi>; und diese <hi>Allgemeinheit</hi> ist und bleibt
                        der <hi>wesentliche Character</hi> dieser bessern Religion. Die Christen
                        bekennen und glauben, daß der Geist <pb xml:id="bs_f_page_193" n="193" edRef="#f"/> Gottes <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_22_24"/>die <hi>ganze <index indexName="subjects-index">
            <term>Christenheit</term>
          </index>Christenheit</hi> auf Erden, in allen so verschiedenen Zungen
                        und Sprachen, also auch in allen verschiedenen Vorstellungen, die sie als
                        ungleiche Christen haben mögen, <hi>hält in einem Sinn gar eben</hi>; durch
                        jenen Mißbrauch der gesellschaftlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrformen, lokale</term>
        </index>lokalen Lehrformen aber leugnen sie diese Allgemeinheit der eignen
                        moralischen recht christlichen Religion.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_1"><label>über
                            eine Satisfaction, über Zurechnung der Gerechtigkeit [...]
                            Christi</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_a_1_40"/>, <ptr type="page-ref" target="#erl_b_3_10"/>, <ptr type="page-ref" target="#erl_d_7_8"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_2"><label>allein
                            durch den Glauben</label><p>Anspielung auf die protestantische
                            Sola-Lehre, darunter auch die Überzeugung, dass die Gläubigen nicht
                            aufgrund ihres Verdienstes, sondern <hi>sola fide</hi> („allein durch
                            den Glauben“) selig werden.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_3"><label>daß
                            auch ein Tröpflein kleine die ganze Welt kann reine, ja gar aus Teufels
                            Rachen frey los und ledig machen etc.</label><p>Anspielung auf Zeilen
                            aus der 9. Strophe des evangelischen Kirchenlieds „Wo soll ich fliehen
                            hin“ von Johann Heermann (1585–1647), die auch in Bachs Choral
                            „Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz“ (BWV 136) benutzt wurden.
                            Dieses Lied ist unter der Nr. 279 auch im neuen neologisch beeinflussten
                            Berliner Gesangbuch (1780) weiterhin vorhanden, wurde dort jedoch
                            deutlich überarbeitet und um die Nennung des Teufels gereinigt (vgl.
                                <ptr type="page-ref" target="#erl_f_39_3"/>).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_4"><label>Anabaptisten</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_10_24"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_5"><label>Anhänger der schwenkfeldischen Schriften</label><p>Der
                            schlesische Adelige Caspar Schwenkfeld von Ossig (1490–1561) war seit
                            1519 ein Anhänger von Luthers Reformation, der sich zunehmend
                            radikalisierte. Aufgrund seiner spiritualistischen Ansichten, die er
                            auch in vielen Schriften verbreitete, lebte er nach Stationen in
                            Straßburg und Justingen in Ulm im Verborgenen. Seine zahlreiche
                            Anhängerschaft in Süddeutschland verlor sich während des Dreißigjährigen
                            Krieges. In Schlesien lassen sich Schwenkfelder hingegen bis ins 19. Jh.
                            nachweisen, viele wanderten 1734 ins nordamerikanische Pennsylvanien
                            aus. Vgl. dazu Baumgarten, <hi>Geschichte der Religionspartheyen</hi>
                            (1766), 1057–1062.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_6"><label>In
                            England und Holland entstehen noch einzelne christliche Familien
                            etc.</label><p>Semler benutzt den Begriff „Familie“ allgemein für kleine
                            Gruppierungen (s.o. <ref target="#bs_f_page_29">f29</ref>). Hier dürften
                            jedoch konkret die Anhänger der <hi>Familia Caritatis</hi>
                            (Hausgemeinschaft der Liebe) gemeint sein, die der Emdener Kaufmann
                            Hendrik Niclaes (ca. 1500–ca. 1580) um 1540 stiftete und die besonders
                            in den Niederlanden und England erfolgreich war. Die Familisten betonten
                            die private häusliche Frömmigkeit, forderten den strikten Gehorsam unter
                            das jesuanische Liebesgebot und lehnten konfessionelle Streitigkeiten um
                            den äußeren Ritus ab. Um 1700 entwickelten ihre Schriften vor allem
                            unter Pietisten eine neue Wirkmächtigkeit. Vgl. Baumgarten,
                                <hi>Geschichte der Religionspartheyen</hi> (1766), 903;
                            1065–1067.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_7"><label>gleich
                            vom Anfange [...] die römischen Päbste die Protestanten für Kezer und
                            Unchristen [...] sogleich erklärt haben</label><p>Semler spielt auf die
                            Bannandrohungsbulle <hi>Exsurge Domine</hi> Papst Leos X.
                            (1475/1513–1521) an. Sie stammt vom 15. Juni 1520. In ihr wurde Luther
                            eine Frist von 60 Tagen zum Widerruf bestimmter Thesen gesetzt,
                            andernfalls würden er und seine Anhänger als Häretiker verdammt und
                            jeder, der sie aufnehme oder unterstütze, mit Exkommunikation belegt. In
                            der Bulle <hi>Decet Romanum Pontificem</hi> vom 3. Januar 1521 wurde die
                            Drohung vollzogen.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_8"><label>Luther
                            den Zwingli einen Heiden gescholten</label><p>Das Marburger
                            Religionsgespräch (1529) konnte die bestehenden dogmatischen Differenzen
                            nicht beilegen, sondern war Ausgangspunkt zahlreicher Verdikte Luthers
                            gegen Zwingli. Vgl. Luther, <hi>Kurzes Bekenntnis vom heiligen
                                Sakrament</hi> (1544), Bl. B1: „Weil nu [...] Zwingel [...] gar zum
                            Heiden worden ist“ (WA 54, 144).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_9"><label>die
                            nachherigen lutherischen Theologen den Calvin, Beza erschrecklich
                            verkezert</label><p>Theodor Beza (1519–1605) war Nachfolger des Genfer
                            Reformators Calvin (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_7_3"/>). Während die
                                <hi>Konkordienformel</hi> (1577) gewisse innerlutherische
                            Differenzen auszugleichen half, bestätigte sie die Abgrenzung zur
                            reformierten Theologie, so etwa in der Lehre vom Abendmahl (Art. VII),
                            von der Person Christi (Art. VIII) oder von der Prädestination (Art.
                            XI). Vgl. auch die sächsischen Visitationsartikel im Zusammenhang mit
                            dem Vorwurf des Kryptocalvinismus; Baumgarten, <hi>Geschichte der
                                Religionspartheyen</hi> (1777), 830–833.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_10"><label>auch
                            die Socinianer geradehin für Unchristen angesehen
                            haben</label><p>Anhänger von Sozzini (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_v_6"/>) und andere Rationalisten wurden
                            mit dem Vorwurf des Sozinanismus belegt und häretisiert.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_11"><label>wie
                            die ältern Reformirten die jüngern Arminianer verdammten</label><p>Der
                            Leidener Theologieprofessor Jacobus Hermanszoon/Arminius (1560–1609)
                            lehnte eine strikte Lehre der Prädestination ab, was sein Leidener
                            Kollege und Gegenspieler Franciscus Gomarus (1563–1641) als häretisch
                            brandmarkte. Die Parteinahme des Statthalters Moritz von Oranien
                            (1567–1625) zugunsten der Gomaristen führte zu einer politischen Krise
                            der jungen Republik der Vereinigten Niederlande, die in der
                            Gefangennahme von Hugo Grotius (s. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_1_3"/>) und der Hinrichtung von
                            Ratspensionär Johan von Oldenbarnevelt (1547–1619) eskalierte. Während
                            die Arminianer 1610 in der sog. Remonstranz (dt. Eingabe) ihre Lehre
                            nochmals darlegten, konnten sich auf der Synode von Dordrecht (1618/19)
                            die strikten Reformierten durchsetzen, was zu einem vorläufigen Verbot
                            der arminianischen/remonstrantischen Prediger führte.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_12"><label>Zurechnung der Gerechtigkeit Christi</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_a_1_40"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_13"><label>ich
                            mus Gotte mehr in meinem Gewissen [...] gehorchen [...] als andern
                            Menschen</label><p>Anspielung auf Apg 5,29.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_14"><label>moralische Gewisheit</label><p>Eine Aussage ist für eine Person
                            P genau dann moralisch gewiss, wenn sie für P einen so hohen Grad an
                            (epistemischer) Wahrscheinlichkeit aufweist, dass P gerechtfertigt ist,
                            die Wahrheit der Aussage selbst bei moralisch-praktisch höchst
                            folgenreichen Entscheidungen vorauszusetzen. Die Wahrheit einer solchen
                            Aussage muss für P sehr wahrscheinlich, nicht jedoch logisch,
                            mathematisch oder „absolut“ gewiss sein. Der Begriff (<hi>certitudo
                                moralis</hi>) geht wohl auf Jean Gerson zurück (<hi>De consolatio
                                theologiae</hi>, 1418, 4. Buch, 2. Prosa). Für den Naturforscher
                            Robert Boyle (1627–1691) ist „moralische Gewissheit“ der Grad an
                            Gewissheit, der einen Richter berechtigt, ein Todesurteil zu fällen
                                (<hi>Some Considerations about the Reconcileableness of Reason and
                                Religion</hi>, 1675, 95). Einer der wichtigsten Pioniere der
                            modernen Wahrscheinlichkeitstheorie, Jacques Bernoulli (1655–1705;
                                <hi>Ars conjectandi</hi>, postum 1713, Teil 4, Kap. 2, § 9), schlug
                            vor, moralische Gewissheit numerisch zu beziffern, z.B. als eine
                            mindestens 99%ige Gewissheit oder eine mindestens 99.9%ige. Vgl. auch
                            die Verwendung des Ausdrucks bei Semlers Lehrer Georg Friedrich Meier,
                                <hi>Auszug aus der Vernunftlehre</hi> (1752), § 175, und in Kants
                                <hi>Kritik der reinen Vernunft</hi> (1781; <hi rend="superscript">2</hi>1787), A829/B857.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_15"><label>freie
                            unendliche Kraft Gottes durch einige todte Worte
                            hindern</label><p>Möglicherweise Anspielung auf 2Kor 3,6: „der uns auch
                            tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens,
                            sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht
                            lebendig.“</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_16"><label>Lösegeld</label><p>Vgl. Mt 20,28; Mk 10,45; 1Tim
                        2,5f.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_17"><label>erkaufen</label><p>Vgl. Gal 3,13; 4,5 („Christus hat uns
                            losgekauft“ etc.).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_18"><label>es
                            habe Christus dem Teufel sich als ein Aequivalent für das Recht gegeben,
                            das er bisher an den Menschen durch die Sünde gehabt hat</label><p>Die
                            im Text beschriebene sog. Lösegeld-Theorie war, bis sie von Anselms in
                                <hi>Cur Deus Homo</hi> entwickelter Satisfaktionslehre (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_3_10"/>) abgelöst
                            wurde, die dominierende Auffassung unter christlichen Theologen.
                            Erstmals formulierte Origenes (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_7_4"/>) sie in klarer Weise in seinem
                            Matthäuskommentar (16, 8), vgl. auch Augustinus, <hi>de trinitate</hi>
                            13, 15.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_19"><label>in
                            unserer Zeit hat die Historie der christlichen Lehrform ein grösseres
                            Licht hinlänglich ausgebreitet</label><p>Semler spielt auf die sich im
                            18. Jh. zu einer eigenständigen theologischen Disziplin entwickelnde
                            Dogmengeschichte an, wobei er an Autoren wie Gottfried Arnold
                            (1666–1714), Christoph Matthäus Pfaff (1686–1760), Johann Lorenz von
                            Mosheim (1693–1755), Siegmund Jacob Baumgarten (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_122"/>) und nicht
                            zuletzt auch an sich selbst denken dürfte. Gottlieb Jakob Planck
                            (1751–1833) hatte 1781 mit der Herausgabe einer insgesamt sechsbändigen
                            Dogmengeschichte des Protestantismus begonnen: <hi>Geschichte der
                                Entstehung, der Veränderungen und der Bildung unseres
                                protestantischen Lehrbegriffs vom Anfang der Reformation bis zu der
                                Einführung der Konkordienformel</hi> (1781–1800).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_20"><label>selbst
                            edle würdige Männer in der römischkatholischen Kirche diesen Misbrauch
                            der öffentlichen Religion eingestehen</label><p>Semler spielt hier auf
                            die breite Tradition der Klerikerkritik an, die schon im Mittelalter aus
                            der innerkirchlichen Polemik zwischen unterschiedlichen religiösen
                            Experten, etwa zwischen Weltklerikern und Mendikanten, resultierte.
                            Einige dieser Kritiker hielten dann protestantischerseits Einzug in die
                            protoreformatorische Ahnengalerie von ‚Wahrheitszeugen‘, so etwa in
                            Flacius’ <hi>Catalogus testium veritatis</hi> (1556).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_21"><label>Kein
                            Befel, keine Vorschrift kann [...] aufheben oder
                            einschränken</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_1_17"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_22"><label>von
                            Christo und seiner Versönung, daß er ein Opfer, ein Hoherpriester ist
                            für die Sünden der Menschen</label><p>Anspielung auf Hebr
                        7,9f.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_22a"><label>Es
                            sind wenigstens thörichte unglückliche Grundsäze, wenn eine äusserliche
                            Gleichheit aller Zeitgenossen eingefürt werden wil</label><p>Semler mag
                            hier an Bernard Mandevilles (1670–1733) viel diskutierte „Bienenfabel“
                            gedacht haben: <hi>The Fable of The Bees: or, Private Vices Publick
                                Benefits</hi> (1714, erste Fassung 1705, mehrfach erweitert, 2. Buch
                            1729; dt. 1761 als <hi>Anti-Shaftesbury</hi>), die u.a. Rousseau und
                            Adam Smith (1723–1790) beeinflusste. Mandeville gilt als Vordenker des
                            Kapitalismus, ihm gelang das seltene Kunststück, gleichermaßen von Karl
                            Marx und Friedrich August Hayek gepriesen zu werden. Laut
                                <hi>Bienenfabel</hi> beruht das Gedeihen von Gesellschaften auf
                            billiger Arbeitskraft, eine hinreichend große Anzahl an Armen ist
                            entscheidend für den Wohlstand und zivilisatorischen Fortschritt einer
                            Nation.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_23"><label>grössere Ehre Gottes [...] darf man nicht mehr
                            vorwenden</label><p>Anspielung auf das Verbot (1773) des Jesuitenordens,
                            dessen Wahlspruch „Ad maiorem Dei gloriam“ (Zur größeren Ehre Gottes)
                            lautete.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_22_24"><label>die
                            ganze Christenheit auf Erden, [...] hält in einem Sinn gar
                            eben</label><p>Zitat aus Martin Luthers Kirchenlied „Wir glauben all an
                            einen Gott“ (1524; <hi>Evangelisches Gesangbuch</hi> Nr. 183), 3.
                            Strophe. Vgl. z.B. auch Röm 12,16.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_23">
      <head type="question">23. Es mag freilich die Bestimmung der <hi>öffentlichen
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Religionsdiener</term>
          </index>Religionsdiener</hi> noch manche Berichtigung und genauere
                        Anweisung bedürfen. Sie sollen iener immer ungleichen Versammlung durch
                        ihren Vortrag von christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Grundwahrheiten, christliche</term>
        </index>Grundwahrheiten moralisch <index indexName="subjects-index">
          <term>moralisch nützlich</term>
        </index>nüzlich seyn, und die <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privatreligion zu Hause, im übrigen Leben bey allen befördern; gewis
                        nach den ungleichen Umständen und Fähigkeiten der immer ungleichen Zuhörer.
                        Ob dis dadurch geschiehet, daß sie von Dreieinigkeit, von Gottheit <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>, von Versöhnung
                        der Menschen, von alleinseligmachendem <index indexName="subjects-index">
          <term>Wort Gottes, alleinseligmachendes</term>
        </index>Wort Gottes – einmal wie allemal, wider alle andere Christen und
                        Menschen so gar leicht abspre<pb xml:id="bs_f_page_194" n="194" edRef="#f"/>chen: ist doch eine wichtige Frage, deren Beantwortung den übrigen
                        Zeitgenossen nicht ganz genommen werden kann, welche so gern den Wachsthum
                        der innersten rechten Verehrung Gottes durch die vernünftigen Menschen, eben
                        zum grossen Segen der Menschen befördert sähen! Wenn es aber nun den <index indexName="subjects-index">
          <term>Christen, verständige</term>
        </index>verständigen Christen freystehet, <index indexName="subjects-index">
          <term>privatim</term>
        </index>privatim über den Sinn und die Anwendung der christlichen
                        Redensarten und Begriffe nachzudenken, die freylich sehr verschieden, nicht
                        in einerley Abmessung, selbst im <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> vorkommen: so müssen ja die so genannten Naturalisten es noch
                        vielmehr frey behalten. Ich halte es für billig, zuzugeben: daß für viele
                        Leser des <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice> eine Vorstellung von <index indexName="subjects-index">
          <term>Satisfaktion</term>
        </index><hi>Satisfaction</hi> in der oder <choice>
          <sic>jeuen</sic>
          <corr type="editorial">jenen</corr>
        </choice> Stelle wirklich einen Grund gehabt habe, auch noch habe; daher ich
                        es eben für kein Verdienst um unsre Zeitgenossen halte, wenn man sie darüber
                        verspottet. Aber ich finde doch noch nicht, selbst im <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> daß alle Menschen eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Satisfaktion</term>
        </index><hi>Satisfaction</hi> für ihre Sünden <hi>erst voraussetzen
                            müssen</hi>, um in der täglichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes</term>
        </index>Verehrung Gottes als Christen, <pb xml:id="bs_f_page_195" n="195" edRef="#f"/> durch ihr Thun und Lassen, desto weiter zu kommen. Für die
                        Juden war dieser Begriff nöthig, <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> ist <hi>für die
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Sünde</term>
          </index>Sünden der ganzen heidnischen Welt</hi>, auch für die Sünden der
                        Juden, als ein rechtes moralisches <index indexName="subjects-index">
          <term>Opfer, moralisches</term>
        </index>Opfer, gestorben; dies ist ein neues Urtheil; er ist nun die beste,
                        größte <index indexName="subjects-index">
          <term>Versöhnung</term>
        </index>Versöhnung der Menschen, die sonst Gottes Zorn und Strafe fürchten
                        mußten, in eigner Unruhe, oder nach jüdischen Urtheilen. Die Heiden, die nun
                        aufhören zu sündigen, müssen daher als Mitbrüder, als Kinder des Einen
                        gemeinschaftlichen Vaters behandelt, nicht mehr gehasset werden – – wenn
                        aber ich die Gnade und Liebe Gottes kenne, ohne vorher je diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorurteile</term>
        </index>Vorurtheile wider die Heiden, oder von Nothwendigkeit der
                        äusserlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Opfer, äußerliche</term>
        </index>Opfer gehabt zu haben: so ist es <hi>mir ja nicht nöthig</hi>,
                        diesen <hi>relativen</hi> Begriff aufzunemen; und wenn manche Christen
                        dennoch mich davon überzeugen wollen, ich könne sonst <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_23_1"/>Gott nicht von ganzem
                        Herzen und allen Kräften lieben, wenn ich nicht von ihnen <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_23_2"/>die jüdische <index indexName="subjects-index">
          <term>Redensarten</term>
        </index>Redensart, vom Zorn und Eifer Gottes, zu <hi>meiner</hi> Er<pb xml:id="bs_f_page_196" n="196" edRef="#f"/>kenntniß zusezen und
                        anknüpfen würde: so nöthigen sie mich, daß ich ihren ganzen Begrif so
                        entwickele, daß die blos menschliche <index indexName="subjects-index">
          <term>lokal</term>
        </index>locale Lage, worin er entstund, eben keinen Vorzug behalten wird vor
                        der Verehrung Gottes, die ich wirklich habe und behalte, ohne eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Satisfaktion</term>
        </index><hi>Satisfaction</hi>.</head>
      <p>Und ich würde mit Ihnen mich darüber in keinen Streit einlassen, da Sie von
                        den unbilligen Spöttereien, wodurch keine eigene Erkenntniß sondern geheimer
                        Haß und Erbitterung befördert wird, so weit entfernt sind. Es muß freilich
                        den so verschiedenen Christen freystehen, sich eine Auslegung ihres <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice> zu wehlen, welche ihren Fähigkeiten gleich ist; also auch eine
                        praktische Anwendung des angenommenen Sinnes vorzuziehen, die nun ihre
                        eigene Fertigkeit ausmacht. Wenn man fragt, gehört eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Satisfaktion</term>
        </index><hi>Satisfaction</hi> zum <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Religion</term>
        </index>Wesen der christlichen Religion? <hi>so kann man nicht geradehin für
                            alle Christen so entscheiden</hi>, daß sie alle diese Entscheidung nun
                        annehmen müssen, oder sonst selbst es ganz gewiß inne würden, daß sie alle
                        christliche Verehrung Gottes gar verlohren hät<pb xml:id="bs_f_page_197" n="197" edRef="#f"/>ten. Die <hi>Protestanten</hi> haben die <hi>einzige
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Genugtuung</term>
          </index>Genugthuung</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>, und zwar nicht
                        blos für die <index indexName="subjects-index">
          <term>Erbsünde</term>
        </index>Erbsünde, wider die alte lateinische Lehrform, bejahet und nun alle
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Satisfaktion</term>
        </index>Satisfactionen aufgehoben, welche sonst als ein Theil der
                        (römischen, kirchlichen, sacramentlichen) Busse allen Kirchgliedern schwer
                        oder leicht aufgelegt wurden. Daher wird auch diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohltaten Christi</term>
        </index>Wohlthat Christi, seine Genugthuung, in den protestantischen
                        öffentlichen Lehrformen noch fortgesetzt; sie ist ein Grundsatz wider die
                        päbstliche und pfaffische Tiranney; und eine stete Unterscheidung unserer
                        Kirche von der <index indexName="subjects-index">
          <term>sozinianisch</term>
        </index><hi>socinianischen</hi> Geselschaft. Aber die <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatchristen</term>
        </index>Privatchristen behalten es frey, das <hi>Algemeine</hi>, wozu der
                        Tod und diese Historie <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> als ein Mittel
                        gehörte, selbst zu erkennen. <ptr type="editorial-commentary" target="erl_f_23_3"/>Sehr gelehrte Väter, <index indexName="subjects-index">
          <term>Scholastiker</term>
        </index>Scholastiker, bis auf den <index indexName="persons-index">
          <term>Calixt, Georg</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:25k77">Calixtus</persName></hi>, haben
                        es bejahet, Gott könnte das menschliche Geschlecht, auch auf andere Weise,
                        zu immer grösserer moralischer Uebung und Fertigkeit bringen, <hi>ohne diese
                            Historie Christi</hi>. Es gibt auch lange <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_23_4"/>die Behauptung, daß
                        das Blut Christi nur als causa moralis anzusehen sey, und nicht physice
                        wirke. Schon vor mehr als hundert Jahren hat <index indexName="persons-index">
          <term>Baxter, Richard</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:3r68c">Richard Baxter</persName></hi>,
                        ein unbeschol<pb xml:id="bs_f_page_198" n="198" edRef="#f"/>tener
                        scharfsinniger Theologus in England, in dem Buch Methodus theologiae<ptr type="bibliographic-object" target="textgrid:3rns0"/>, den gemeinen
                        Begrif von <index indexName="subjects-index">
          <term>Satisfaktion</term>
        </index>Satisfaction, der für die geringen Fähigkeiten der meisten Christen
                        so erbaulich und fruchtbar ist, in Absicht der verständigern und fähigern
                        Christen, <hi>als ganz ohne einen Grund und unmöglich</hi> beurtheilet;
                            <hi>ohne dem <index indexName="subjects-index">
            <term>Wesen der christlichen Religion</term>
          </index>Wesen der christlichen Religion hiemit irgend einigen Schaden zu
                            thun</hi>. Denn alle <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorstellungen, sukzessive</term>
        </index><hi>successiven, localen modificativen</hi> christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorstellungen, lokale</term>
        </index>Vorstellungen entfernen sich zwar, mehr oder weniger, von den
                        vorigen oder andern Vorstellungen anderer Christen, aber sie entfernen sich
                        hiemit nur von dem Zufälligen, nicht von dem <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Religion</term>
        </index>Wesen der christlichen Religion. Umgekehrt hat <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_23_6"/>der grosse
                            <hi>Philosoph</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Wolff, Christian</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:2505j">Wolf</persName></hi>, in den
                            <hi>marburgischen Nebenstunden</hi> eine völlige <hi>Demonstration</hi>
                        der <hi>Satisfaction</hi> schriftlich aufgesezt, ohne <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_23_5"/><index indexName="persons-index">
          <term>Baxter, Richard</term>
        </index><persName ref="textgrid:3r68c">Baxters</persName> Methodus
                            Theologiae<ptr type="bibliographic-object" target="textgrid:3rns0"/> zu
                        kennen oder zu widerlegen. Weder ehedem noch jetzt, war und ist dieser
                        Begrif bey allen Christen schon eben so da, und er kann nicht allgemein
                        werden für alle Christen, weil sie nie in Einer Lage ihrer Uebung sind. Er
                        gehört also freilich <hi>nicht zum <index indexName="subjects-index">
            <term>Wesen der christlichen Verehrung Gottes</term>
          </index>Wesen</hi> der christlichen Vereh<pb xml:id="bs_f_page_199" n="199" edRef="#f"/>rung Gottes <hi>bey allen so unendlich verschiedenen
                            Christen</hi>, indem die christliche Religion selbst nicht eine solche
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Einheit</term>
        </index>Einheit und <index indexName="subjects-index">
          <term>Unveränderlichkeit</term>
        </index>Unveränderlichkeit zuläßt, eben um eine christliche Verehrung Gottes
                        zu seyn. Immer vermischt man die <hi>einzelne Wirklichkeit</hi> der
                        christlichen Religion in <foreign xml:lang="lat">subjectis</foreign>, wozu
                        allemal eine andre <hi>Zeit und <index indexName="subjects-index">
            <term>Lokalität</term>
          </index>Localität gehört</hi>, mit der <hi>allgemeinen Quelle</hi>,
                        woraus diese <hi>abgeleitete</hi> jedesmal wirkliche Religion ihr einzelnes
                        Daseyn immer noch bekommt, die den unzälichen <hi>Individuis</hi> frey
                        stehet, wenn sie entweder selbst ihre christliche Religion sammlen nach
                        eigner Fähigkeit oder von andern Christen, die sie über sich setzen, eine
                        Form sich geben lassen. Nun mögen die Christen aus dem <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> so oder so viel zur wahren christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionserkenntnis</term>
        </index>Religions-Erkenntniß rechnen: so <hi>haben sie doch immer alle eine
                            christliche <index indexName="subjects-index">
            <term>Religionssumme</term>
          </index>Religions-Summe</hi>, die immer von Juden- und Heidenthum durch
                        viel mehr <hi>Moralität</hi> verschieden ist. Diese Verschiedenheit ist aber
                        so groß, als die <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit der Fähigkeiten und der Uebung ist, welche diese
                        Menschen schon mit bringen, da sie zu einer christlichen Religionspartey
                        treten, oder in derselben nun selbst untersuchen und denken; <pb xml:id="bs_f_page_200" n="200" edRef="#f"/> daß sie entweder ganz allein
                        die gesellschaftliche Lehrform annehmen und immer behalten, weil sie keine
                        eigene Fähigkeiten anwenden; oder noch neben der gemeinschaftlichen
                        Religionsform <hi>ihre eigenen <index indexName="subjects-index">
            <term>Vorstellungen</term>
          </index>Vorstellungen für sich</hi>, zur Privatreligion zusammen setzen.
                        Im leztern Falle finden wir gewiß eine noch bessere würdigere Verehrung
                        Gottes, die das <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Religion</term>
        </index>Wesen der christlichen Religion <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_23_7"/>für alle fähigern Menschen, oder für <foreign xml:lang="grc">πνευματικους</foreign> ausmacht; der erste Fall aber
                        behält eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Gleichförmigkeit</term>
        </index><hi>Gleichförmigkeit</hi> in den <hi>äusserlichen Merkmalen einer
                            Gesellschaft</hi>, ohne täglichen moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Wachstum, moralisches</term>
        </index>Wachstum dieser gemeinen Christen. Das <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neue Testament</expan>
        </choice> lehret auch selbst, daß <hi>das Maaß</hi> des <index indexName="subjects-index">
          <term>Glaubens, Maß des</term>
        </index>Glaubens oder der neuen Erkenntniß und Verehrung Gottes,
                            <hi>durchaus nicht gleich seyn könne</hi>, welches eine allgemeine ganz
                        ausgemachte <index indexName="subjects-index">
          <term>Erfahrung</term>
        </index>Erfahrung ist, bey aller Vielheit der Subjecte aller Arten. Es ist
                        mehr oder weniger moralische Vollkommenheit in den <hi>Individuis</hi>. Blos
                        die neue Kunst oder der Vorsatz der Menschen kann den natürlichen
                        Unterschied äusserlich aufheben, der sonst in der <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index><hi>Ungleichheit</hi> der Zeit und des Orts natürlicher Weise immer
                        da ist. Der Unterricht nun, den die <pb xml:id="bs_f_page_201" n="201" edRef="#f"/> Aufsätze von der Lehre <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> und der Apostel,
                        in diesen neuen Schrifften der Christen, oder im <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> geben, ist wirklich <hi>nach der <index indexName="subjects-index">
            <term>Ungleichheit</term>
          </index> der damaligen Menschen</hi> sehr weißlich abgefasset, ohne daß
                            <hi>einerley moralischer Raum</hi> für die neuen Vorstellungen der
                        Christen <hi>schon abgesteckt wäre</hi>. Ihre moralische neue <index indexName="subjects-index">
          <term>Bewegung, moralische</term>
        </index>Bewegung ist ganz frey, was ihre <index indexName="subjects-index">
          <term>Privaterkenntnis</term>
        </index>Privaterkenntniß betrifft; sie können ihre Erkenntniß täglich
                        vermehren und verbessern. So bald aber mehrere Christen in eine Gesellschaft
                        zusammen treten, setzen sie ein <hi>Drittes</hi> fest, worin sie immer
                            <hi>öffentlich, kenntlich, äusserlich übereinkommen wollen</hi>, um
                        diese gesellschafftliche Verbindung zu behalten, wodurch alle Mitglieder
                        einander immer wieder kenntlich sind. Sie behalten aber ihre
                        Privatfähigkeiten und ihren Privatgebrauch, oder die besondere natürliche
                        Summe ihrer Seelenkräfte ganz frey, wenn sie nicht in den feyerlichen
                        Versammlungen sich befinden, wodurch sie entweder nur ihre öffentliche
                        Religionsverbindung fortsetzen, oder auch ihre innere <index indexName="subjects-index">
          <term>Empfindungen</term>
        </index>Empfindung damit selbst verbinden. Der Unterscheid dieser vielerley
                        Religionsgesellschafften der Christen, ist also immerfort ohne ihren Vorsatz
                        ausser ihnen <pb xml:id="bs_f_page_202" n="202" edRef="#f"/> selbst da; ist
                        so unmoralisch, als der <hi>physische</hi> Unterschied der körperlichen
                        Grösse. Eine <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_23_8"/><hi>Discantstimme</hi>, in Gebeten und Gesängen, ist so wenig
                        unchristlich oder christlich, als eine Alt- Tenor oder Baßstimme; alle aber
                        vereinigen sich, um des Wohlstandes willen, <hi>in einer <index indexName="subjects-index">
            <term>Melodie</term>
          </index>Melodie</hi> der gemeinschaftlichen Gesänge; die <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Melodie</term>
          </index>Melodie</hi> gehört nicht zur Religion sondern zur
                        Gesellschafft. Wie kam es nun, daß christliche Gesellschafften ihre
                            <hi>besondere</hi>, nie allgemein nothwendige Lehrform, allen andern
                        christlichen Parteyen unter der Maske einer <index indexName="subjects-index">
          <term>Einheit</term>
        </index><hi>nothwendigen Einheit</hi> aller Begriffe und Urtheile über
                        christliche Lehrsätze, aufdringen wolten? Es ist ja ein grober Irrthum, daß
                        die Verehrung Gottes <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, allereinziges</term>
        </index><hi>ein allereinziges Maas</hi> bey allen Christen und Menschen
                        haben könnte oder müßte! Diesen Irrthum begehen <index indexName="subjects-index">
          <term>Sozinianer</term>
        </index><hi>Socinianer</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index><hi>Naturalisten</hi> jezt nicht weniger, als ehemalige catholische
                        Bischöffe und eigennützige Pfaffen. Die unendliche <hi>moralische</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Herrlichkeit Gottes, moralische</term>
        </index>Herrlichkeit Gottes kann in keinem stets particulären Entwurfe so
                        beschrieben werden, daß nun alle andere Menschen gar nichts von Gott
                        erkennten, und ihn gar nicht moralisch verehrten: wenn sie nicht eben
                        dieselben Begriffe <pb xml:id="bs_f_page_203" n="203" edRef="#f"/> ganz
                        genau immer wiederholeten. Es thun also <index indexName="subjects-index">
          <term>Sozinianer</term>
        </index><hi>Socinianer</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index><hi>Naturalisten</hi> eben so unrecht, wenn sie ihre besondere ihnen
                        gehörige Theorie dafür ansehen, daß alle Menschen sie von ihnen annemen
                        müssen; als jene Christen unrecht thun, welche eine bestimte <index indexName="subjects-index">
          <term>Satisfaktion</term>
        </index><hi>Satisfaction</hi>, die sie nach ihrem Gewissen behalten, allen
                        andern Menschen unter göttlicher Auctorität anempfelen, und ihnen sonst gar
                        ewige Verdammniß ankündigen. Verständige, moralische, geübte Menschen solten
                        die <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_23_9"/>Unendlichkeit der
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Welt, Unendlichkeit der moralischen</term>
        </index>moralischen Welt, und die <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit der <hi>Colonisten</hi>, die sich darin frei anbauen
                        und immer eben demselben Gott angehören, besser kennen: als daß sie ihre
                            <hi>individuelle</hi> Ordnung gar zur höchsten Stufe der wahren Religion
                        für alle andre Menschen erheben wolten.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_23_1"><label>Gott
                            [...] von ganzem Herzen und allen Kräften lieben</label><p>Anspielung
                            auf Dtn 6,5; Mt 22,37; Mk 12,30; Lk 10,27.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_23_2"><label>die
                            jüdische Redensart, vom Zorn und Eifer Gottes</label><p>Vgl. z.B. Dtn
                            29,20.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_23_3"><label>Sehr
                            gelehrte Väter, Scholastiker, bis auf den Calixtus, haben es
                            bejahet</label><p>Zur Bestreitung eines <hi>notwendigen</hi>
                            Zusammenhangs zwischen Erlösung (und Besserung) der Sünder und
                            Menschwerdung Christi vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_d_7_8"/>. Auf welche Aussagen des
                            Irenikers Georg Calixt (vgl. <ptr type="page-ref" target="3cwnd#erl_b_0_39"/> und <ptr type="page-ref" target="#erl_b_9_3"/>) sich Semler genau bezieht, ist
                            nicht klar. Die Frage wird von Calixt diskutiert in <hi>De pactis quae
                                Deus cum hominibus iniit</hi> (1654), §§ 26–32. (Es handelt sich um
                            eine von Samuel [von] Voss [1621–1674] unter Vorsitz Calixts verteidigte
                            Disputation, von Letzterem verantwortet und herausgegeben).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_23_4"><label>die
                            Behauptung, daß das Blut Christi nur als causa moralis anzusehen sey,
                            und nicht physice wirke</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_6_9"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_23_5"><label>Richard
                            Baxter [...] in dem Buch Methodus theologiae</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_d_6_13a"/>; s. dazu
                            Semler, <hi>Versuch einer freiern theologischen Lehrart</hi> (1777),
                            454–466.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_23_6"><label>der
                            grosse Philosoph Wolf, in den marburgischen
                            Nebenstunden</label><p>Christian Wolff (1679–1754), schulbildender
                            Philosoph, Jurist, Naturforscher und Mathematiker. Semler bezieht sich
                            auf Wolffs in drei Bänden zusammengefasste <hi>Horae Subsecivae
                                Marburgenses</hi>, die Aufsätze der Jahre 1729–1731 versammeln und
                            zwischen 1729 und 1741 veröffentlicht wurden. Eine strenge Demonstration
                            der Satisfaktionslehre sucht man in ihnen vergebens: In der Schrift
                            „Notio Servi Jesu Christi Rom I 1 evoluta“ (2, 550–559; 559) stellt
                            Wolff allerdings fest, dass ein Beweis „nicht schwierig“ zu erbringen
                            sei, wenn Platzgründe es nicht hinderten: „Non difficile nobis foret ex
                            notionibus creationis, redemtionis ac generationis demonstrare, quomodo
                            inde nascatur jus Dei in homines, quod dominii nomine appellari solet,
                            nisi angustia spatii excluderemur.“ In den Beiträgen „De Usu methodi
                            demonstrativae in explicanda Scriptura sacra“ (3, 281–317) und „De usu
                            methodi demonstrativae in tradenda Theologia revelata dogmatica“ (3,
                            480–542) setzt Wolff ausführlich auseinander, wie die eng mit seinem
                            Namen verbundene „demonstrative Methode“ nicht nur auf die natürliche
                            Theologie, sondern auch auf Schrift und Offenbarungstheologie angewendet
                            werden könne.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_23_7"><label>für
                            alle fähigern Menschen, oder für <foreign xml:lang="grc">πνευματικους</foreign></label><p>Semler nimmt hier eine Gradation
                            der Gläubigen an, bei der die besseren Christen „geistlich“ sind, was
                            schon Paulus abstuft zu den „Fleischlichen“, vgl. 1Kor 3,1–3.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_23_8"><label>Discantstimme</label><p>D.i. Sopran.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_23_9"><label>Unendlichkeit der moralischen Welt</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_17_2"/>.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_24">
      <head type="question">24. Es wird also die Lehre der grossen Kirche von einer so
                        bestimten <index indexName="subjects-index">
          <term>Dreieinigkeit</term>
        </index>Dreieinigkeit ebenfals nur zum gesellschaftlichen Lehrbegrif mancher
                        Christen gehören, nicht aber zum Grunde aller moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>Wohlfart und Theilnemung an Gott in Absicht aller Menschen von Gott
                        verordnet heissen?</head>
      <p><pb xml:id="bs_f_page_204" n="204" edRef="#f"/> Es ist wol kaum ein Zweifel
                        daran, daß ein Begriff von Dreieinigkeit <hi>nur zu christlichen</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes</term>
        </index>Verehrung Gottes gehört, wie sie dem Juden- und Heidentum entgegen
                        stehet. Sie ist ein unwidersprechlicher Charackter der christlichen neuen
                        Religion; die 3 Hauptbegriffe, Vater, Sohn und Geist, (die im <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> noch keine einzige oder ausschliessende Bestimmung bey sich
                        haben,) gehören zum Inhalte und Grunde einer ieden christlichen
                        Religionsgesellschafft; die Christen können die jüdische Religion nicht
                        behalten, denn sie haben <hi>neue <index indexName="subjects-index">
            <term>Gott, neue Begriffe von</term>
          </index>Begriffe</hi> von Gott, ihrer innern Würde und Grösse wegen,
                        vorgezogen, die sie nun nie wieder mit den kleinern, geringern jüdischen
                        Begriffen von <index indexName="subjects-index">
          <term>Jehova</term>
        </index>Jehovah, vom <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias</term>
        </index>Messias, und <index indexName="subjects-index">
          <term>Geist Gottes</term>
        </index>Geist Gottes, vertauschen können. <index indexName="subjects-index">
          <term>Christen, verständige</term>
        </index>Verständige Christen sezen aber noch mehr Vorstellungen hierüber
                        zusammen, die sie sonst kennen. Diese ungleiche Uebung des <index indexName="subjects-index">
          <term>Verstand</term>
        </index>Verstandes und der Cultur unterscheidet nun die Christen selbst von
                        einander; indem sie hiedurch <hi>neue Gesellschafften</hi> werden; alle aber
                        sind und bleiben Christen. Der äusserliche Unterschied, worin sie sich schon
                        als Menschen und Bürger befinden, macht nun auch einen <hi>äusserlichen</hi>
                        Unterschied <pb xml:id="bs_f_page_205" n="205" edRef="#f"/> der Christen,
                        die immer Menschen bleiben, und ihr <index indexName="subjects-index">
          <term>lokal</term>
        </index><hi>locales</hi> Verhältniß nicht wegschaffen können. Noch so viele
                        besondere <index indexName="subjects-index">
          <term>Modifikationen</term>
        </index><hi>Modificationen</hi> der Vorstellungen über Vater, Sohn und Geist
                        Gottes, schaffen <hi>kein Gegentheil des Christentums</hi>, sondern eine
                        grössere <hi>Ausbreitung</hi> der christlichen Gesellschafft; es bleibt aber
                        eben derselbe <hi>neue Grund und erste Inhalt</hi> einer neuen Religion
                        durch den Glauben an Vater, Sohn und Geist Gottes. Diese mehreren
                        verschiedenen christlichen Geselschafften bleiben nun entweder neben
                        einander, ohne eine Verbindung zu einer einigen grössern Gesellschafft; oder
                        ihre Obern vereinigen sich unter einander, woraus die katholische Partey
                        worden ist; und diese füret eine gemeinschaftliche, gesellschafftliche,
                            <hi>gleichförmige <index indexName="subjects-index">
            <term>Sprache, gleichförmige</term>
          </index>Sprache</hi> ein für alle ihre <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchendiener</term>
        </index>Kirchendiener, durch grosse Zusammenkünffte mehrerer Bischöfe, die
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_24_1"/>seit dem
                            <hi>nicänischen</hi> ersten Concilio, oder christlichen Landtage, die
                                <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Homousie</term>
          </index>Homousie</hi> des Sohnes Gottes, als eine katholische
                        Bestimmung, eingefürt haben, um alle <hi>Arianer</hi> und andere christliche
                        Geselschafften auf immer <hi>von sich zu unterscheiden</hi>. Es wurde
                        niemand zu irgend einer Stelle als Religionsdiener zugelassen, als wer das
                            <hi>nicänische</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_206" n="206" edRef="#f"/>
        <hi>Symbolum</hi> beiahete; und ein jedes gemeines Mitglied dieser
                        katholischen Geselschafft lies sich mit keinem Kirchendiener anderer
                        christlichen Parteien in eine Theilung ein, an andern Lehr- und
                        Kirchenformen. Es ist aber eine unverzeihliche Anmassung der katholischen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Clerisey</term>
        </index>Clerisey, wenn sie die moralischen stets freien unsichtbaren Folgen
                        aller christlichen Religionsübungen bey allen einzelnen Christen, an eben
                        diese katholische neue einseitige <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchensprache</term>
        </index><hi>Kirchensprache</hi> gebunden hat; daß kein Christ nun zu seiner
                        moralischen eignen <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>Wohlfart an Vater, Sohn und Geist Gottes wirklich, moralisch,
                        glauben könne, als wenn er sich in dieser katholischen Partey äusserlich
                        befände, und von Dreieinigkeit <index indexName="subjects-index">
          <term>katholisch</term>
        </index><hi>katholisch</hi> reden lerne. Diese Anmassung ist ganz und gar
                        unchristlich, und eine politische Wiederholung des niedrigen Judentums;
                            <hi>keinesweges aber der Charakter</hi> der besten christlichen
                            <hi>Verehrung Gottes</hi>. Alle Geselschafften haben das Recht, einzelne
                        Mitglieder <hi>auszuschliessen</hi>; aber diese verlieren dadurch nur jene
                        vorigen geselschaftlichen Rechte. Wenn also die katholischen Bischöfe ein
                                <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Anathema</term>
          </index>Anathema</hi> aussprachen: so war dieses eine Entsezung von den
                        kirchlichen und bürger<pb xml:id="bs_f_page_207" n="207" edRef="#f"/>lichen
                        Rechten. Es war aber gewaltsame ganz unchristliche Tiranney, wenn sie nun
                        gar behaupteten, hiemit seie den abgesonderten und ausgestossenen Christen
                            <hi>auch aller Antheil an moralischer Wohlfart, und aller eigene innere
                            Zutrit zu Gott</hi>, aller Glaube an Gott und <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christum</persName> gradehin
                        genommen, und er der eigenen Verdamnis nun von Gott selbst unterworfen
                        worden. Die Fortsezung oder Entziehung der geselschaftlichen Rechte stund
                        bey den Obern der Geselschafft; aber <hi>über die moralische Welt</hi>, über
                        die moralische innere Uebung der Christen, also auch über die ewige <index indexName="subjects-index">
          <term>Seligkeit</term>
        </index>Seligkeit, <hi>hatte weder ein Bischof noch viel Bischöfe irgend
                            eine Gewalt</hi>, ausser in der Meinung ganz <hi>unwissender</hi>
                        Menschen. Es ist und bleibt also eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Pfaffenerfindung</term>
        </index><hi>Pfaffenerfindung</hi>, welche der christlichen bessern
                        moralischen Religion ganz gerade widerspricht: daß man nun <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_24_2"/>diesen falschen
                        Lehrsaz einfürte, kein Mensch kann selig werden, <hi>ohne durch die
                            katholische Kirche</hi>. Hiemit hat die bischöfliche Politik die Macht
                        der Kirche auch über alle christliche Regenten und Obrigkeiten erhoben; der
                        gemeine Pöbel lies sich gleich zur Rebellion bringen, wenn die <pb xml:id="bs_f_page_208" n="208" edRef="#f"/> Obrigkeit den Päbsten und
                        Bischöfen nicht Gehorsam leistete. Gleichwol behielten alle Kezer, und alle
                        mit dem <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Anathema</term>
          </index>Anathema</hi> belegten Menschen, <hi>ihr ganzes <index indexName="subjects-index">
            <term>Ketzer, Bewusstsein der</term>
          </index>Bewustseyn von ihrer herzlichen Verehrung Gottes</hi>, nach
                        allen ihren Begriffen, von Vater, Sohn und Geiste Gottes. Die kirchliche
                        Lehre also und kirchliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache, kirchliche</term>
        </index>Sprache, von 3 gleich wesentlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Personen, drei</term>
        </index>Personen in einem Wesen, <hi>gehört nur zu der besondern
                            öffentlichen Geselschafft</hi>. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_24_3"/>Ich wil, doch sehen, sagte <index indexName="persons-index">
          <term>Luther, Martin</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:254tm">Luther</persName></hi>, wer mich
                        zwingen wil, <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>homousios</term>
          </index>homousios</hi> zu sagen; und <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_24_4"/><index indexName="persons-index">
          <term>Calvin, Johannes</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:24h4b">Calvin</persName></hi> und mehr
                        würdige Gelerte bedauerten es ganz laut, daß man die Worte <hi>drey <index indexName="subjects-index">
            <term>Personen, drei</term>
          </index>Personen</hi> so gebieterisch eingefüret habe. Niemand kann über
                        das <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen andrer Menschen, worin sie nur sich selbst mit Gott
                        beschäfftigen, herrschen; Es müssen also zwar auch die katholischen Christen
                        ihrer Erkenntnis folgen, wenn sie selbst dafür halten, daß es zu ihrer
                        Seligkeit gehöre, die Dreieinigkeit in jener <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchensprache</term>
        </index>Kirchensprache auch für sich selbst also zu beschreiben; aber es
                        kann niemand es allen Christen oder gar allen Menschen auf dem Erdboden zum
                        Gesez machen, daß sie eben so ihre Verehrung Gottes durch eine einzige
                        Vorstellung vom Vater, <pb xml:id="bs_f_page_209" n="209" edRef="#f"/> Sohn
                        und Geist, bestimmen müsten, oder sonst gar nicht moralische Wohlfart und
                        Seligkeit haben könten. Wenn auch manche Christen dieses glauben, so ist ihr
                        Glaube eben ihre Anmassung oder Unwissenheit.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_24_1"><label>seit
                            dem nicänischen ersten Concilio, oder christlichen Landtage, die
                            Homousie [...] als eine katholische Bestimmung, eingefürt
                            haben</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_a_1_36"/> und <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_50"/>; zu „katholisch“ s. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_3_4"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_24_2"><label>diesen
                            falschen Lehrsatz einfürte, kein Mensch kann selig werden, ohne durch
                            die katholische Kirche</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_17_1"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_24_3"><label>Ich
                            wil, doch sehen, sagte Luther, wer mich zwingen wil, homousios zu
                            sagen</label><p>Vgl. dazu Luther, <hi>Rationis Latomianae
                                confutatio</hi> (1521), WA 8, 36–128; 117. Während Luther hier
                            dieses Wort als außerbiblisch abqualifiziert, stellte er sich später
                            deutlich hinter diese auf dem Konzil von Nicäa (325) verabschiedete
                            Zentralformel der Christologie.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_24_4"><label>Calvin
                            und mehr würdige Gelerte bedauerten es ganz laut, daß man die Worte drey
                            Personen so gebieterisch eingefüret habe</label><p>Während Calvin heute
                            vor allem mit der Hinrichtung des Trinitätskritikers Michel Servet
                            (1509?–1553) in Verbindung gebracht wird, mussten sich 1537 die Genfer
                            Reformatoren Calvin, Guillaume Farel und Pierre Viret in ihrer
                            Auseinandersetzung mit Pierre Caroli noch dafür rechtfertigen, dass sie
                            die altkirchliche Formulierung der Trinität vermieden.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_25">
      <head type="question">25. Ich frage aber wieder: Worin bestehet nun das <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Religion</term>
        </index>Wesen der christlichen Religion, die da ist und da bleibet, wenn ein
                        Christ auch nicht zur katholischen Religionspartey gehörete?</head>
      <p>Hierüber können nur <index indexName="subjects-index">
          <term>Christen, verständige</term>
        </index>verständigere Christen mitsprechen, die es wissen, daß sie so viel
                        Christen, von so ungleichen Fähigkeiten, nicht dahin bringen können, daß sie
                        eben diese Einsicht annämen, und die Ungleichheit der öffentlichen
                        Religionsformen nicht ferner so beurtheileten: <hi>daß nur eine einzige
                            solche <index indexName="subjects-index">
            <term>Religionsform</term>
          </index>Religionsform</hi> die wahre <index indexName="subjects-index">
          <term>seligmachend</term>
        </index>seligmachende Religion enthielte. Es ist dis eben so viel als wenn
                        der Einwoner der Schweiz, oder in Teutschland, oder in Grönland, in Ost-
                        oder Westindien sagte: es gibt nur <hi>Eine Narung</hi> und Erhaltung der
                        Gesundheit für alle Menschen. Eben jener alte Feler, den die Bischöfe und
                        Pfaffen so <hi>politisch</hi> genäret <pb xml:id="bs_f_page_210" n="210" edRef="#f"/> haben, (als gäbe es nur eine allereinzige Summe, eine
                        allereinzige Lehrform, welche ausschliessender Weise, <hi>durch die Kraft
                            der geweiheten Clerisey</hi>, die Mitglieder selig mache,) hat sich
                        bisher unter Protestanten noch hie und da erhalten; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_25_1"/><foreign xml:lang="lat">extra ecclesiam lutheranam non dari salutem</foreign>,
                        war noch vor 50–60 Jahren eine öffentliche <hi>Disputation</hi>; und in den
                        meisten <hi>polemischen</hi> Schriften herrschet diese <hi>absprechende
                            Decision</hi> über Grundirtümer; so wenig sie bei den Gegenparteien
                        irgend einen Erfolg und Eingang hat. So lange man <index indexName="subjects-index">
          <term>Seligkeit</term>
        </index><hi>Seligkeit</hi> nicht richtiger erklärt, daß dazu allemal noch
                        ein Religionsdiener und die öffentliche Religionsordnung in ihren Formalien
                        durchaus nötig ist, wenn ein Christ selig leben und sterben sol: wird ein
                        seltsamer <index indexName="subjects-index">
          <term>patriotisch</term>
        </index>patriotischer Eifer <choice>
          <sic>nm</sic>
          <corr type="editorial">um</corr>
        </choice> die grössere Ehre Gottes in allen Parteien sich erhalten, und den
                        Vorzug der Seligkeit behaupten. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_25_2"/>Da aber die christliche Wohlfart und <index indexName="subjects-index">
          <term>Seligkeit</term>
        </index>Seligkeit nicht erst mit dem Tode anfängt, wie die Juden ein <index indexName="subjects-index">
          <term>Paradies</term>
        </index>Paradies, einen <hi>Schoos</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Abraham</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:2z6sz">Abrahams</persName></hi> erst
                        dahin sezen; sondern in den Folgen christlicher eigener <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesinnung, christliche</term>
        </index>Gesinnung und Fertigkeiten bestehet, wodurch ein jeder Christ die
                        wahre rechte Verehrung Got<pb xml:id="bs_f_page_211" n="211" edRef="#f"/>tes
                        innerlich, unaufhörlich, unsichtbar leistet; und diese Gesinnung in allen
                        wahren Christen selbst, wenn sie auch nicht mehr mit andern reden könnten,
                        immer mehr da seyn mus: so mus auch das <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Religion</term>
        </index>Wesen der christlichen geistlichen Religion in diese eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Anwendung</term>
        </index>Anwendung der wachsenden Erkentnis gesezt werden, welche ein Christ
                        aus der Lehre <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> und der Apostel in
                        dem oder jenem Maase sammlet. In allen christlichen Religionsparteien aber
                        bleibet diese eigene geistliche Religion ebenfals möglich; denn sie hängt
                        mit der <index indexName="subjects-index">
          <term>Geistes Gottes, Wirkungen des</term>
        </index>Wirkung des Geistes Gottes zusammen, die durch alle
                        gesellschaftliche Einrichtung und äusserliche Verfassung nicht gehindert
                        werden kann. Also müsten alle wahre Christen, besonders alle Lehrer der
                        christlichen Verehrung Gottes, nicht ferner die gesellschaftliche
                        verschiedne <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrformen, verschiedene</term>
        </index>Lehrform, wodurch die Christen über Vater, Sohn und Geist Gottes
                        sich in <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesellschaften, lokale</term>
        </index>locale Gesellschaften theilen, dafür ansehen, daß nur in einer
                        einzigen Lehrform der christliche rechte Glaube an Vater, Sohn und Geist
                        Gottes, also enthalten und eingeschlossen wäre: daß der Geist Gottes sonst
                        in allen andern christlichen Lehrformen nicht wirksam seyn könne, zu der
                        neuen fortgehenden <index indexName="subjects-index">
          <term>Erleuchtung</term>
        </index>Erleuchtung, <index indexName="subjects-index">
          <term>Besserung</term>
        </index>Besserung, <pb xml:id="bs_f_page_212" n="212" edRef="#f"/> und
                        christliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Unterweisung</term>
        </index>Unterweisung der Theilnemer an einer solchen verschiedenen Lehrform.
                        Denn eben diese eigene moralische freie Uebung und <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_25_3"/>Fertigkeit, welche
                                <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Buße</term>
          </index>Buße und <index indexName="subjects-index">
            <term>Glaube</term>
          </index>Glauben</hi> im <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> heist, und in steter eigener Anwendung der moralischen Erkentnis
                        in jedem einzelnen Menschen bestehet, welche <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName>, <index indexName="persons-index">
          <term>Paulus</term>
        </index><persName ref="textgrid:251kf">Paulus</persName>, <index indexName="persons-index">
          <term>Johannes</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t3">Johannes</persName> damalen
                        auszubreiten anfingen: felete bis dahin in der jüdischen und heidnischen
                        Religion. Sie felete ganz und gar oder wurde doch nur von einigen wenigen
                        Zeitgenossen in der Stille gekannt. Die politische <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes, politische</term>
        </index>Verehrung Gottes wurde nur <hi>durch bestellete öffentliche
                            Diener</hi>, an gewissen Tagen in gewissen feststehenden äusserlichen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Zeremonien</term>
        </index>Cerimonien, also nur <hi>politisch</hi>, äusserlich verrichtet oder
                        bezeichnet; diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Zeremonien</term>
        </index>Cerimonien beförderten vielmehr den Hang zu sinnlichen Begierden
                        unter den Juden und Heiden, als daß eine moralische Gesinnung allen
                        Theilnemern an dieser öffentlichen Religionsordnung zur eignen Pflicht
                        gemacht worden wäre. Nun wird aber das algemeine moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Reich Gottes, moralisches</term>
        </index>Reich Gottes durch die neuen Begriffe aufgestellet; für die Juden,
                        mit steter Anwendung und besserer Erklärung ihrer Nationalbücher; für die
                        Nichtjuden mit vor<pb xml:id="bs_f_page_213" n="213" edRef="#f"/>züglicher
                        Empfelung des moralischen Verhältnisses Gottes, dessen Reich der sichtbaren
                        Natur die Menschen zeither häufig so unwürdig gebrauchten, daß sie ihre
                        moralischen Anlagen zu innerer Verehrung des unsichtbaren Gottes, in vielen
                        Lastern und gar in Zerrüttungen des Körpers ganz vernachläßigten, und
                        dadurch sich selbst und ihre Nebenmenschen ganz <index indexName="subjects-index">
          <term>unvernünftig</term>
        </index>unvernünftig herabwürdigten, und also immer mehr Uebel und Elend,
                        wider die kentlichen Absichten Gottes, einander zubereiteten. Nun war es die
                        erste Predigt oder Lehre: jeder Mensch mus <hi>die moralische <index indexName="subjects-index">
            <term>Würde Gottes, moralische</term>
          </index>Würde Gottes selbst lebendig zu erkennen anfangen</hi>, und
                        dadurch seine bisherige Gesinnung und Neigung immermehr zu verbessern sich
                        bestreben. Jeder mus selbst davon gewis und überzeugt werden, daß es <hi>für
                            ihn</hi> auch eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>moralische, nicht sinnliche, thierische <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, sinnliche</term>
        </index>Wohlfart und Seligkeit gibt, die ihm grösser und würdiger wird, als
                        der bisherige sinnliche thierische Gebrauch seines Körpers. Dis wird ihn nun
                        zu einer rechten innern Verehrung Gottes bringen, in einer neuen immer
                        vollkomnern Anwendung aller Kräfte seines Gemüts und Leibes <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> Kurz, die ganze Lehre <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> und der <pb xml:id="bs_f_page_214" n="214" edRef="#f"/> Apostel gehet dahin, <hi>ein
                            jeder mus sich selbst auf Erkentnis Gottes,</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>, des Geistes
                            Gottes, und ihre immer bessere Anwendung legen; für ihn, an seiner
                            Stelle</hi>, daß er nun unthätig würde, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_25_4"/>kann kein Priester das leisten, was jeder schon
                        zur <index indexName="subjects-index">
          <term>Pflicht</term>
        </index>Pflicht hat, in Absicht seines eigenen Verhältnisses gegen Gott; wie
                        niemand für ihn essen, trinken, schlafen, gesund seyn kann. Man kann also
                        mit Recht sagen, <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> ist der Urheber
                            <hi>der eigenen freien <index indexName="subjects-index">
            <term>Privatreligion</term>
          </index>Privat-Religion aller Christen</hi>; er lehrete eben die
                        Unentberlichkeit der eigenen innern Verehrung Gottes für alle dazu fähige
                        Menschen, da die bessern Begriffe von Gottes moralischem Verhältnis, das
                        nicht blos auf <index indexName="subjects-index">
          <term>Juden</term>
        </index>Juden ging, gerade <hi>zum neuen Grunde gehörten</hi>, weswegen eine
                        solche Privatreligion so gern vorgezogen wurde. Die mächtigen <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_25_5"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Vorurteile, jüdische</term>
        </index>Vorurteile der Juden, daß andre Völker vor Gott unrein hiessen,
                        wurden nun immer mehr umgeworfen, je mehr die eigene moralische genaue
                        Beurtheilung in den Zeitgenossen zunam. Man erkante die innere Wahrheit
                        dieser obliegenden eigenen Verehrung Gottes, wovon in der That keine
                            <hi>Dispensation</hi> gedacht und zugegeben werden konte, nach dem
                        eigenen in<pb xml:id="bs_f_page_215" n="215" edRef="#f"/>nern Bewußtseyn des
                        Menschen. Kein Tempeldienst enthielt oder leistete dieses, was der Mensch
                        Gotte schuldig zu seyn, so gern erkente, und so ernstlich einwilligte. Für
                        bisherige Juden muste jezt noch viele Verknüpfung mit dem und jenem Inhalte
                        ihrer ältern Bücher statt finden, bis sie selbst diese moralischen
                        Wahrheiten in eigner Erkentnis fasseten; ihr Gedächtnis und ihre
                        Einbildungskraft war mit alten Bildern schon angefüllet oder gefärbet. Daher
                        ist auch die <hi>erste neue <index indexName="subjects-index">
            <term>Sprache</term>
          </index>Sprache</hi> der Christen noch <hi>halbjüdisch</hi>; aber die
                        alten Ausdrücke und <index indexName="subjects-index">
          <term>Redensarten</term>
        </index>Redensarten <hi>bekommen nun</hi>, wenn der Christ sie auch behält,
                            <hi>einen immer größern <index indexName="subjects-index">
            <term>Inhalt</term>
          </index>Inhalt</hi>. Es war auch nicht unglaublich, daß schon damalen,
                        neben der öffentlichen alten Religionsform, jener Dichter oder Prophet
                        ebenfals schon diese eigene moralische Erkentnis gehabt, und dunkel zu
                        verstehen gegeben habe. Die <index indexName="subjects-index">
          <term>Beweisart, historische</term>
        </index>Beweisart war also auch damalen mehr historisch, und <hi>local</hi>;
                        da und da ist schon lange durch eben den <index indexName="subjects-index">
          <term>Geist Gottes</term>
        </index>Geist Gottes diese moralische bessere Erkentnis bejahet, oder davon
                        geweissaget worden. Es stehet auch jezt allen Christen frey, <hi>diese alte
                            Beweisart</hi> für sich ferner gelten zu lassen, wenn ih<pb xml:id="bs_f_page_216" n="216" edRef="#f"/>re Verehrung Gottes dadurch
                        gewisser oder ihnen fruchtbarer wird. Eben so gehet es <hi>mit den</hi>
        <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_25_6"/><hi>Christen älterer
                            Zeit</hi>, so lange sie noch äusserliche Begebenheiten und Veränderungen
                        erwarteten, die zu einem sichtbaren Reiche Christi gehören sollten. Sie
                        sezten eine Historie <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> so zusammen, daß
                        fernere große Historien ausser ihnen erwartet werden konten; allein
                            <hi>diese damaligen Mängel in der christlichen Erkentnis müssen nicht
                            fortgetragen werden</hi>, als seien es <hi>wesentliche Theile</hi> der
                        neuen bessern Verehrung Gottes, in Ansehung <hi>aller</hi> Christen, die
                        sich in <hi>ganz andern innern und äussern Umständen</hi> immer mehr
                        befinden, als die damaligen ersten Schüler dieser moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, moralische</term>
        </index>Religion. Hier ist alles Befelen, alles einseitige Entscheiden über
                        das Wesentliche der christlichen Religion, ganz umsonst; verständige
                        Christen wenden ihre eigene Erkentnis an, was ihren besondern Gebrauch des <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice> betrift. Ob dieses zur <hi>damaligen <index indexName="subjects-index">
            <term>Modifikationen</term>
          </index>Modification</hi> nur gehöre, oder in eben der buchstäblichen
                        Abfassung immer zum <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Verehrung Gottes</term>
        </index>Wesen der christlichen Verehrung Gottes gehöre kann niemand
                        entscheiden, was alle fähige Christen betrift; weil die <hi>Art der
                            Vorstellung</hi>, wel<pb xml:id="bs_f_page_217" n="217" edRef="#f"/>che
                        unter den Juden statt fand, nicht zur wirklichen steten <index indexName="subjects-index">
          <term>Vollkommenheit</term>
        </index>Vollkommenheit der Vorstellung als ein wesentlicher Theil gehört,
                        sondern in der <hi>damaligen Fähigkeit der ersten Theilnemer</hi> an einer
                        neuen Religion ihren nächsten und <hi>vorübergehenden</hi> Grund hat. Es ist
                        also diese neue moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Übung, moralische</term>
        </index>Uebung und Historie dieser gewesenen Juden, <hi>nicht zugleich
                            geradehin dieselbe feste Vorschrift</hi> und <hi>das Maas für alle
                            nachherigen Forscher</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Liebhaber</term>
        </index><hi>Liebhaber</hi> der christlichen Religion, die sie <hi>in ganz
                            andern</hi> Umständen samlen und anwenden; wie alle Privatgeschichte
                        eines jeden Menschen nie schon eine Vorschrift für alle andern Menschen ist
                        oder seyn kann, ausser für noch unfähigere, die also unter ihm stehen. Die
                            <hi>Succession</hi> der menschlichen Kentnisse und Beurtheilungen über
                            <hi>alle ehemalige Kentnisse</hi> hat einen unveränderlichen Grund
                            <hi>ausser denen Menschen</hi>, die vorher vor unserer Zeit eine
                        christliche Religion sich gesamlet hatten. Die Kraft, welche hier angewendet
                        werden kann, hat, wie die ganze moralische Welt, einen von aussen
                        unbestimlichen Umfang, so wol als Kraft, als auch was die Anwendung betrift.
                        Es ist also die Beurtheilung, ob <pb xml:id="bs_f_page_218" n="218" edRef="#f"/> diese und jene Vorstellung einiger, auch vieler vorigen
                        Christen stets eben so zu dem <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Religion</term>
        </index>Wesen aller christlichen Religion, (der <hi>öffentlichen</hi> und
                            <hi>besondern</hi>) gehöre, stets frey für die einzelnen fähigern
                        Forscher dieser Aufgabe. Wenn die wesentlich moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Wirkungen, moralische</term>
        </index>Wirkungen und praktischen Erfolge da sind in einem Menschen, welche
                        zu <hi>der neuen christlichen</hi> Religion <hi>immerfort</hi> einmal wie
                        allemal gehören: so ist auch die neue moralische Kraft da, welche eine
                        christliche Religion als eine bessere Fertigkeit (Gott immer mehr selbst zu
                        erkennen und zu ehren,) hervorbrachte. Ist also die eigene ernstliche
                        Bemühung da, welche damalen bey Juden und Heiden <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_25_7"/>das eigene jezige
                        moralische <foreign xml:lang="grc">μετανοειν</foreign>, <foreign xml:lang="grc">πιστευειν</foreign>, oder immerwärende Besserung der
                        Gesinnung und der Neigung, (durch die Verknüpfung der Vorstellungen von
                        Gott, von <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christo</persName>, vom Geist Gottes)
                        und also ein edles <index indexName="subjects-index">
          <term>tugendhaft</term>
        </index>tugendhaftes Verhalten hervorbrachte, was dem Juden und Heiden
                        vorher felete: <hi>so ist das <index indexName="subjects-index">
            <term>Wesen der christlichen Religion</term>
          </index>Wesen der christlichen praktischen Religion noch jezt da</hi>,
                        wie sie den bessern moralischen Zustand aller <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_25_8"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Selbstchristen</term>
        </index>Selbstchristen mit sich bringt und befördert. Es wird aber durch
                        alle jene Bestimmung der Bischöfe, wie man über <pb xml:id="bs_f_page_219" n="219" edRef="#f"/>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Dreieinigkeit</term>
        </index>Dreyeinigkeit bey ihnen, <hi>in dieser Gesellschaft reden soll,
                            diesem <index indexName="subjects-index">
            <term>Wesen der christlichen Religion</term>
          </index>Wesen der praktischen christlichen freien Religion gar nichts
                            zugesezt</hi>, wie das so schlechte Verhalten der katholischen Partey
                        gegen alle andern Parteien, für jeden verständigen Zuschauer, hinlänglich
                        beweiset; also gehören alle nachherigen <hi>successiven</hi>
                        Lehrbestimmungen der so genannten Kirche, nicht einmal wie allemal zum
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Religion</term>
        </index>Wesen der christlichen praktischen eignen Religion aller wahren
                        Christen; <hi>sondern zu der Unterscheidung der mehrern kirchlichen
                            Gesellschaften, in dem daseienden bürgerlichen Staate</hi>. Es ist aber
                        nun auch eben so gewis, daß diese kirchlichen Lehrsäze, da sie einen andern
                            <hi>blos äusserlichen</hi> Erfolg haben, dem Wesen der christlichen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion <hi>gar nichts schaden können</hi>, bey allen
                        verständigen fähigern Christen, die das Allgemeine der christlichen
                        Verehrung Gottes, das allein praktisch angewendet wird, selbst nun
                        unterscheiden von dem historischen Einzelnen und Besondern, welches blos zu
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesellschaften, lokale</term>
        </index>localen besondern kirchlichen Gesellschaften gehört; wenn auch viel
                        Bischöfe, Lehrer und Christen diese Unterscheidung nicht gelten lassen,
                        sondern immer be<pb xml:id="bs_f_page_220" n="220" edRef="#f"/>haupten,
                            <hi>ihre kirchlichen Bestimmungen</hi>, der Dreieinigkeit <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> gehörten einmal wie allemal zum <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Religion</term>
        </index>Wesen der wahren christlichen Religion, die einen jeden Christen der
                        christlichen Wohlfart und Seligkeit theilhaftig macht; und es fände also
                        keine christliche Seligkeit statt, ohne eben dieselbe Lehrbestimmung,
                            <hi>die doch allezeit nur zur Verbindung der äusserlichen Gesellschaft
                            gehört</hi>.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_25_1"><label>extra
                            ecclesiam lutheranam non dari salutem, war noch vor 50–60 Jahren eine
                            öffentliche Disputation</label><p>Unter dem Vorsitz des Rostocker
                            Theologieprofessors Johann Nicolaus Quistorp (1651–1715) disputierte der
                            spätere Rostocker und Greifswalder Theologieprofessor Albertus Joachim
                            Krakewitz (1674–1732) über <hi>De speranda extra ecclesiam lutheranam
                                salute</hi> (1699).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_25_2"><label>Da aber
                            die christliche [...] Seligkeit nicht erst mit dem Tode anfängt, wie die
                            Juden ein Paradies, einen Schoos Abrahams erst dahin
                            sezen</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_21_19"/>
                            (Seligkeit bereits vor dem Tode). Zum „Schoß Abrahams“ s. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_8_1"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_25_3"><label>Fertigkeit, welche Buße und Glauben im N.T. heist</label><p>Vgl.
                            z.B. Mk 1,15.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_25_4"><label>kann
                            kein Priester das leisten, was jeder schon zur Pflicht
                            hat</label><p>Anspielung auf das reformatorische „Priestertum aller
                            Gläubigen“, das die Notwendigkeit einer Vermittlung durch die kirchliche
                            Instanz aufhob.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_25_5"><label>Vorurteile der Juden, daß andre Völker vor Gott unrein
                            hiessen</label><p>Vgl. z.B. Lev 18,24–28; Esra 9–10.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_25_6"><label>Christen älterer Zeit, so lange sie noch äusserliche
                            Begebenheiten und Veränderungen erwarteten, die zu einem sichtbaren
                            Reiche Christi gehören sollten</label><p>Semler denkt hier wohl u.a.
                            auch an die sog. Parusieverzögerung, d.h. an das Ausbleiben der von den
                            frühen Christen erwarteten Wiederkunft Jesu. Für den jüngeren Paulus war
                            es eine ausgemachte Sache, dass Christus in seiner Generation
                            wiederkehren werde, um die Gläubigen zu erhöhen (1Thess 4,15–17; 1Kor
                            15,51–58). Vgl. außerdem Mk 9,1; 13,30. Zu Semlers Annahme einer
                                <hi>präsentischen</hi> Eschatologie vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_21_19"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_25_7"><label>das
                            eigene jezige moralische <foreign xml:lang="grc">μετανοειν</foreign>,
                                <foreign xml:lang="grc">πιστευειν</foreign></label><p>S. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_3_1"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_25_8"><label>Selbstchristen</label><p>Vgl. auch <ref target="#bs_f_page_300">f300</ref>. Ein „Selbstchrist“ ist jemand, der ohne Vermittlung der
                            Kirche oder der Theologie aus eigener Erfahrung zum
                            (moralisch-praktischen) christlichen Glauben findet. Der Ausdruck taucht
                                <hi>nur</hi> bei Semler auf. Vgl. insbesondere: Einige Berrachtungen
                            [sic!] über die bisherige Streitigkeit zwischen Christen und
                            Naturalisten, <hi>Berlinische Monatsschrift</hi> 17 (1791), 295–312;
                            302f.: „Da ist eine geheime Verehrung Gottes im Geist und Wahrheit ohne
                            alle Dekrete der Bischöfe, die stets nur eine äußerliche Menge Menschen
                            durch <hi>äußerliche</hi> Ordnung nach äußerlichen Absichten,
                            öffentlich, kenntlich, sichtbar, einschränken. Dort aber erfährt der
                            Selbstchrist durch das Evangelium von einem solchen Christus eine neue
                            Kraft Gottes zu einer neuen (übernatürlichen, oder sonst unbekannten)
                            Seligkeit. [...] Diese <hi>praktischen</hi> Selbstchristen wissen
                            wahrlich, daß ihr eigner Glaube der eigne einheimische Sieg ist, den sie
                            in einer neuen täglichen Uebung gewiß behalten, um selbst, ohne andre
                            Menschen, nach ihrer neuen Erkenntniß in Gott moralisch zu leben. [...]
                            Die [sic!] freie praktische Evangelium des unendlichen Gottes durch
                            Christum ist in allen Sekten oder Parteien der Christen immer einerlei
                            Geist und Leben, und unterscheidet diese Selbstchristen von allen ganz
                            ordentlichen oder schulgerechten <hi>Kirchenchristen</hi>.“ – Zur
                            Begriffsverwendung vgl. ferner Semler, <hi>Vorbereitung auf die
                                Königlich Großbritannische Aufgabe</hi> (1787), 28; und
                                <hi>Unterhaltungen mit Herrn Lavater über die freie practische
                                Religion</hi> (1787), 9.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_26">
      <head type="question">26. Aber die katholischen Lehrer und alle Protestanten
                        haben doch eben diese Lehrbestimmungen von <index indexName="subjects-index">
          <term>Dreieinigkeit</term>
        </index>Dreieinigkeit <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> in der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel gefunden, und daraus hergeleitet; warum stimmen nun nicht alle
                        Christen darin überein, da sie doch alle die Bibel annemen?</head>
      <p>Erstlich ist es nicht geradehin wahr, daß die katholischen Lehrer <hi>ihre
                            bestimte Lehre</hi> von Dreieinigkeit <hi>aus der Bibel hergeleitet
                            hätten</hi>. Die ganze spätere Kirche hat diese Bestimmung aus <index indexName="subjects-index">
          <term>Tradition</term>
        </index><hi>Tradition</hi> und aus dem <hi>Ansehen der <index indexName="subjects-index">
            <term>Kirche, Ansehen der</term>
          </index>Kirche</hi> bewiesen; das ist, sie hat die <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel, Auslegung der</term>
        </index>Auslegung der Bibel durch ihre einseitige <index indexName="subjects-index">
          <term>Tradition, lokale</term>
        </index><choice>
          <sic>loeale</sic>
          <corr type="editorial">locale</corr>
        </choice> Tradition und durch das Ansehen der Kirche also bestimt, daß in
                        diesen <pb xml:id="bs_f_page_221" n="221" edRef="#f"/> und jenen Stellen
                        ihre Lehre von Dreieinigkeit <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> wirklich enthalten seie. Man wuste wohl, daß alle diese Stellen
                        von andern Christen, <index indexName="subjects-index">
          <term>Arianer</term>
        </index><hi>Arianern,</hi>
        <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_26_1"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Photinianer</term>
        </index><hi>Photinianern</hi>
        <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> ganz anders erklärt wurden, daß nun die katholische Lehre von
                        Dreieinigkeit keinesweges darin gefunden wurde; daher muste die <index indexName="subjects-index">
          <term>Tradition</term>
        </index>Tradition und <index indexName="subjects-index">
          <term>Auktorität</term>
        </index>Auctorität der <choice>
          <abbr>heil.</abbr>
          <expan>heiligen</expan>
        </choice> Kirche den Beweis schaffen, der in der Bibel gar nicht da ist,
                        sondern durch die ungleichen Leser immer ungleich gefunden wird. Zum andern
                        haben freilich die <index indexName="subjects-index">
          <term>Protestanten</term>
        </index>Protestanten vom 16ten Jahrhunderte her, sich nun auf die <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel berufen, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_26_2"/>da Katholicken die <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel, Unzulänglichkeit der</term>
        </index><hi>Unzulänglichkeit der Bibel</hi> zum Beweise aller christlichen
                        Lehrartikel, ganz öffentlich behaupten, und die <hi>Instanz</hi> so gar von
                        der Dreieinigkeitslehre hernemen. Nun legten sich die protestantischen
                        Lehrer darauf, diese katholische <hi>kirchliche Lehre</hi> von Dreieinigkeit
                        in so und so vielen Stellen des <choice>
          <abbr>A.</abbr>
          <expan>Alten</expan>
        </choice> und <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice> als göttlich entschiedene Lehre, ohne Beistand der <index indexName="subjects-index">
          <term>Tradition</term>
        </index><hi>Tradition</hi> anzuweisen. Aber, wenn man auch die Uneinigkeit
                        und Verschiedenheit selbst der protestantischen Ausleger nicht besonders
                        anrechnet, wo es so gar <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_26_3"/><foreign xml:lang="lat">Caluinum
                            iudaizantem</foreign> gibt: so kann doch keinesweges <hi>diese
                            kirch</hi><pb xml:id="bs_f_page_222" n="222" edRef="#f"/><hi>liche
                            Lehre</hi> von Dreieinigkeit durch wirkliche Beweisstellen als damaliger
                        ausgemachter Begriff, so dargethan werden, daß nun alle Christen dieses
                        eingeständen, welche solche Stellen in der Bibel nun lesen. Man mus also
                            <hi>geradehin leugnen</hi>, daß die kirchliche katholische später
                        bestimte Lehre von Dreieinigkeit, <hi>zum algemeinen Grunde und Inhalte der
                            christlichen Religion</hi> wirklich gehöre, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_26_4"/>wie schon vorhin
                        (Frage <ref target="#bs_f_14">14</ref>) eben dieses da gewesen. Die <index indexName="subjects-index">
          <term>Grundbegriffe</term>
        </index>Grundbegriffe, Vater, Sohn und Geist, <hi>gehören zur algemeinen
                            christlichen neuen Religion durchaus, unumgänglich</hi>; denn sie stehen
                        dem Juden- und Heidentum immer gleich gut entgegen. Aber eine besondere neue
                            <hi>nachherige Bestimmung</hi> über einen einzigen <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_26_5"/><foreign xml:lang="lat">modum cogitandi</foreign> und <foreign xml:lang="lat">loquendi</foreign> gehört allezeit nur zur besondern äusserlichen
                        Religionsgesellschaft, und hat zunächst <hi>eine jezige <index indexName="subjects-index">
            <term>Auktorität</term>
          </index>Auctorität</hi> der Bischöfe und Vorsteher der Parteien zum
                        Grunde; der auch seine gesellschaftliche Rechtmäsigkeit hat und behält; und
                        so gar bey vielen Lehrern und Christen in einen biblischen Grund wieder
                        aufgelöset werden kann; aber dis geschiehet <hi>durch ihre eigene besondere
                            Erkentnis</hi>, wodurch also <pb xml:id="bs_f_page_223" n="232[!]" edRef="#f"/> die fernere eigene <hi>ganz andere Erkentnis</hi> aller
                        andern Christen nicht umgeworfen werden kann. Eben daher ist vom Anfange der
                        christlichen neuen Religion <hi>eine stete Theilung der christlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Parteien</term>
          </index>Parteien immer da gewesen</hi>; und sie hatten doch alle diese
                        neue christliche Religion, oder die Verehrung des Vaters, Sohnes und <choice>
          <abbr>heil.</abbr>
          <expan>heiligen</expan>
        </choice> Geistes, im Unterschied der alten jüdischen und heidnischen
                        Religion unter sich fortgesezt. Wenn nun Lehrer der Einen Partey dieses
                        unumgänglichen Unterscheides wegen oder dieser steten localen <index indexName="subjects-index">
          <term>Verschiedenheit, lokale</term>
        </index>Verschiedenheit wegen, die andern Parteien verfluchten und für <choice>
          <sic>got- lose</sic>
          <corr>gottlose </corr>
        </choice> Unchristen erklärten: so ist dis doch kein Beweis der vorzüglichen
                        Wahrheit und Unentberlichkeit ihrer besondern Lehre von Dreieinigkeit, zu
                        jener ersten <hi>algemeinen Absicht und neuen Wirkung der christlichen
                            Religion</hi>. <foreign xml:lang="grc">Mετανοειν, πιστευειν</foreign>,
                        Fleis in aller christlichen gemein nützigen Tugend zur Ehre Gottes, und
                        durch den <choice>
          <abbr>heil.</abbr>
          <expan>heiligen</expan>
        </choice> Geist, solte in allen Christen nach der Lehre <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> und der Apostel
                        immer mehr statt finden. Es war keine Bejahung annoch davon einer <index indexName="subjects-index">
          <term>Homousie</term>
        </index><hi>Homousie</hi> dreier <index indexName="subjects-index">
          <term>Personen, drei</term>
        </index>Personen in der Gottheit; welche Bestimmung noch dazu im 4ten
                        Jahrhundert nur <pb xml:id="bs_f_page_224" n="224" edRef="#f"/>
        <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_26_6"/><foreign xml:lang="lat">unitatem specificam</foreign> anzeigte, wie <index indexName="persons-index">
          <term>Johannes</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:2z6t3">Johannes</persName>,</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Petrus</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:2z6t8">Petrus</persName>,</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Paulus</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:251kf">Paulus</persName>, Eine</hi>
        <foreign xml:lang="lat">naturam humanam</foreign> einer <foreign xml:lang="lat">speciei</foreign> haben; wofür die spätern Lehrer
                            <foreign xml:lang="lat">unitatem numericam</foreign> gesezt haben. Diese
                            <hi>successiven</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorstellungen, sukzessive</term>
        </index>Vorstellungen können durchaus nicht <hi>algemeine,
                            unveränderliche</hi> für alle Christen werden; so wenig alle Christen in
                        einerley Zeit und Raum da sind. Eben so musten auch <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Arianer</term>
          </index>Arianer, <index indexName="subjects-index">
            <term>Photinianer</term>
          </index>Photinianer</hi> diese <hi>gleichgute</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>praktische Religion <hi>allen Catholicis zugestehen</hi>, weil sie
                        auch nicht an den heftigern Widerspruch gegen <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Homousie</term>
          </index>Homousie</hi> gebunden seyn konte. Denn gute fromme Katholiken
                        konten die Unendlichkeit und Unbegreifligkeit des Wesens Gottes bei der
                                <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Homousie</term>
          </index>Homousie</hi> ganz unbesorgt annemen, und recht glückliche
                        praktische Christen seyn. Aber wo wäre bey dieser <hi>gegenseitigen
                            Billigkeit</hi> der neue Stand der Clerisey und Bischöfe so wichtig und
                        ansenlich, und gar der <index indexName="subjects-index">
          <term>Richterstuhl</term>
        </index>Richterstul der Seligkeit und Verdammung der edlern Menschen
                        geworden! Es ist also <index indexName="subjects-index">
          <term>Sektengeist</term>
        </index><hi>Sektengeist</hi>, der einige stets unbestimmliche, nach der
                        Bibel freie und immer neue christliche Begriffe, <hi>ein für allemal
                            bestimmen wolte</hi>. Die <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirche</term>
        </index>Kirche wolte nun durch politischen Beistand über alle Christen, und
                            <pb xml:id="bs_f_page_225" n="225" edRef="#f"/> Menschen herrschen, und
                        ihre bürgerlichen Beyträge und Schenkungen allein genießen, die sie sonst
                        mit den andern Parteien hätten theilen müssen, wenn der Regent mehrere
                        christliche Parteien in einer und derselben Stadt neben einander hätte
                        stehen und sich frey ausbreiten lassen. Nun sagten katholische Bischöfe, wir
                        haben für die Seelen der Unterthanen zu sorgen; (so nicht geradehin wahr
                        ist;) die würden alle ewig verdammt, wenn sie <hi>arianischen</hi> Gift
                        einsaugten; oder vom Vater, Sohn und <choice>
          <abbr>H.</abbr>
          <expan>Heiligen</expan>
        </choice> Geist, <hi>nicht eine und dieselbe Sprache redeten</hi>, die wir
                        einfüren; der Kaiser mus also unsre Lehre von Dreieinigkeit durch Geseze und
                        Landesverweisung, ein für allemal beschüzen, wenn er ein christlicher Kaiser
                        und ein Vormund der wahren Kirche seyn will. Von nun an gehört also die
                        katholische Lehre von Dreieinigkeit <hi>zur Landes-
                            Staats-<!-- Komma einfügen? --> oder <index indexName="subjects-index">
            <term>Hofreligion</term>
          </index>Hofreligion</hi>, und es wird also wirklich blos eine politische
                        Aufgabe entscheiden, ob es zum grössern Wohlseyn des Staats gehört, daß alle
                        Unterthanen zu einer allereinzigen öffentlichen Religionsform angehalten
                        werden? Diese politische Entscheidung kann aber der freien <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privatreligion, die <pb xml:id="bs_f_page_226" n="226" edRef="#f"/>
                        im <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen des Christen ihren Grund hat, nichts geben und nemen.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_26_1"><label>Photinianern</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_14_13"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_26_2"><label>da
                            Katholicken die Unzulänglichkeit der Bibel [...]
                            behaupten</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_14_1"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_26_3"><label>Caluinum iudaizantem</label><p>Anspielung auf den Vorwurf,
                            Calvin (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_7_3"/>)
                            nähere sich zu sehr jüdischen Vorstellungen an, den der Wittenberger
                            Theologe Ägidius Hunnius (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_10_8"/>) in seinem <hi>Calvinus
                                Iudaizans</hi> (1593) erhob.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_26_4"><label>wie
                            schon vorhin (Frage 14)</label><p>Verweis auf <ref target="#bs_f_page_92">f92</ref><ref target="#bs_f_page_107">107</ref>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_26_5"><label>modum
                            cogitandi und loquendi</label><p>Der <hi>modus cogitandi</hi> ist die
                            Art und Weise, wie eine bestimmte Sache gedacht, vorgestellt,
                            begrifflich definiert wird; der <hi>modus loquendi</hi> die Art und
                            Weise, wie über eine bestimmte Sache gesprochen wird. Veränderungen in
                            den <hi>modi cogitandi</hi> oder <hi>loquendi</hi> bedeuten keine
                            Veränderung der Sache selbst. Vgl. dazu Crusius, <hi>Weg zur
                                Gewißheit</hi> (<hi rend="superscript">1</hi>1747), 378–381; vgl.
                            auch <ptr type="page-ref" target="#erl_b_6_7"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_26_6"><label>unitatem specificam [...] unitatem numericam</label><p>Der
                            Ausdruck „unitas specifica“ bezeichnet die Identität der Gattung (lat.
                                <hi>species</hi>), der Ausdruck „unitas numerica“ numerische
                            Identität. Johannes, Petrus und Paulus fallen unter dieselbe
                                <hi>natürliche Art</hi> oder Gattung „Mensch“, sie sind daher
                            gattungsmäßig identisch. Doch sie sind numerisch verschieden, denn es
                            handelt sich bei ihnen um drei Exemplare der Gattung Mensch, nicht um
                                <hi>ein und dasselbe</hi> Exemplar. Marcus Tullius, der Autor der
                                <hi>Reden gegen Catilina</hi> und Cicero sind hingegen numerisch
                            identisch. – Theologiegeschichtlich ist die Unterscheidung für das
                            Verhältnis von Vater, Sohn und Heiligem Geist relevant. Sind die
                            Genannten als göttliche Wesen nur gattungsmäßig identisch oder auch
                            numerisch identisch, sodass es sich bei ihnen um ein und dasselbe Wesen
                            handelt? Und falls sie numerisch identisch sind, wie können sie
                            gleichwohl <hi>als Personen</hi> verschieden sein? Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_a_1_36"/> und <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_46"/>.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_27">
      <head type="question">27. Wie wird es aber nun mit der <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottheit</term>
        </index>Gottheit und den beiden Naturen <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> gehen, wenn die
                        kirchliche Lehre von <index indexName="subjects-index">
          <term>Dreieinigkeit</term>
        </index>Dreieinigkeit nicht zur <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>praktischen Religion aller Christen in allen Zeiten einmal für
                        allemal gehöret?</head>
      <p>Diese Lehre bleibt eben so dem besondern <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen aller Christen ganz frey; sie wird nie von allen Christen
                        ein für allemal <hi>für unwahr und ungegründet erkant, also auch nicht
                            aufgehoben werden</hi>, als ein ausgemachtes Hindernis der praktischen
                        christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>Religion. Wie könte dis ein Hindernis für diese ruhigen Christen
                        werden? welche ja den Siz dieser Lehre in der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel immer finden und behalten! Wenn gleich die kirchlichen
                        Lehrsäze von der Person <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>, wie sie ehedem
                        von den katholischen Bischöfen wider den <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_27_1"/><hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Apollinarismus</term>
          </index>Apollinarismus, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_27_2"/><index indexName="subjects-index">
            <term>Nestorianismus</term>
          </index>Nestorianismus, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_27_3"/><index indexName="subjects-index">
            <term>Eutychianismus</term>
          </index>Eutychianismus, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_27_4"/><index indexName="subjects-index">
            <term>Monotheletismus</term>
          </index>Monotheletismus</hi> in öffentlicher <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchensprache</term>
        </index>Kirchensprache beschrieben und bestimt wor<pb xml:id="bs_f_page_227" n="227" edRef="#f"/>den ist, was ihre damaligen kirchlichen Unterthanen
                        betrift, nicht in eben jener Relation immer fort dauert. Es bleiben nicht
                        eben dieselben Menschen und Zeiten, also kann diese kirchliche Relation auch
                        nicht <hi>blos aus der alten Zeit fortdauern</hi>; wie gar keine menschliche
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis</term>
        </index>Erkentnis unveränderlich ist. Diese ältere historische Relation war
                        ohnehin stets schon darin ungewis, daß gerade eine Vorstellung des <index indexName="classics-index">
          <term>Apollinaris von Laodicea</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:3r6cm">Apollinaris</persName>,</hi>
        <index indexName="classics-index">
          <term>Nestorius von Konstantinopel</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:305xp">Nestorius</persName>,</hi>
        <index indexName="classics-index">
          <term>Eutyches</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:3r6cn">Eutyches</persName></hi>, durch
                        diese Gegensäze widerlegt wurde, und doch es ungewis war, daß diese
                        christlichen Lehrer in der That eben diese Vorstellungen gehabt hätten, die
                        man ihnen beilegte. Selbst der <index indexName="subjects-index">
          <term>Gott, der Begriff</term>
        </index>Begrif, <hi>Gott</hi> (Christus ist <hi>Gott</hi>,) war im
                            <hi>Orient</hi> ein Verhältnis gegen alle andre Dinge die unter Gott als
                        unter ihrem Herrn stehen; im <hi>Occident</hi> aber bezeichnete der Name
                        Gott nicht dis Verhältnis, sondern die <index indexName="subjects-index">
          <term>Substanz Gottes</term>
        </index><hi>Substanz</hi> Gottes selbst, und schlos dieses Verhältnis erst
                        ein. Wenn nun die <hi>lateinischen</hi> Christen den Sohn Gottes sich
                        vorstelleten und beschrieben, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_27_5"/>so verstunden sie <hi>in eben der <index indexName="subjects-index">
            <term>Substanz Gottes</term>
          </index>Substanz Gottes</hi> ein 2tes <index indexName="subjects-index">
          <term>Subjekt</term>
        </index>Subjekt: <foreign xml:lang="lat">consubstantiuus secunda in deo
                            persona</foreign>, sagte schon <index indexName="classics-index">
          <term>Tertullian</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:2v8z2">Tertullianus</persName></hi>.
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_27_6"/>Die im <pb xml:id="bs_f_page_228" n="228" edRef="#f"/> Orient aber sagten, Gott hat
                        dieses <index indexName="subjects-index">
          <term>Subjekt</term>
        </index>Subjekt zum <index indexName="subjects-index">
          <term>Sohn</term>
        </index>Sohn <choice>
          <abbr>d. i.</abbr>
          <expan>das ist</expan>
        </choice> zum Mitregenten über alles gemacht; und dis verstunden manche
                        wieder nur <foreign xml:lang="lat">logice</foreign>, es ist ein solcher Sohn
                        Gottes <hi>nun bekant worden</hi> als Oberherr über alle Geister und Engel,
                        deren bisheriges Gebiet über die Erde er nun aufhebt durch eine bessere
                        Erkentnis von Gott, und durch Aufhebung der <index indexName="subjects-index">
          <term>Abgötterei</term>
        </index><hi>Abgötterey</hi>; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_27_7"/>andre aber sezten das Entstehen und Daseyn dieses
                        vorher unbekanten Sohnes Gottes gerade <hi>vor die Erschaffung aller
                            Dinge</hi>, wie sie sich nemlich die <index indexName="subjects-index">
          <term>Schöpfung</term>
        </index>Schöpfung <hi>in der Zeit</hi> vorstelleten und ließen alle
                        Geschöpfe durch diesen <index indexName="subjects-index">
          <term>Erstgeborner</term>
        </index>Erstgebornen Gottes zum viel geringern endlichen Daseyn bringen. Ob
                        nun in den und jenen Stellen der griechischen Uebersezung des <choice>
          <abbr>A. T.</abbr>
          <expan>Alten Testaments</expan>
        </choice> und in manchen Stellen des <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice> wo der Sohn Gottes durch manche Zusäze beschrieben wird, durchaus
                            <hi>nur die eine Vorstellung</hi> gebilliget worden sei: konte nicht
                        durch diese Stellen selbst einmal für allemal entschieden werden; es wurden
                        ohnehin manche Schriften des <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice> nicht von allen Lehrern und Christen zugleich angenommen. Folglich
                        muste die allgemein gültige oder in Einer Gesellschaft <pb xml:id="bs_f_page_229" n="229" edRef="#f"/> angenommene <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorstellungen, gleichförmige</term>
        </index>gleichförmige Vorstellung durch die besondere Einwilligung und
                        Verordnung dieser Gesellschaft nun erst festgesezt und entschieden werden;
                        damit nicht zugleich eine andre Erklärung des Namens <hi>Sohn Gottes</hi>
                        die Gesellschaft täglich zerrütten möchte. Es wurde aber durch eine grössere
                        Beschreibung diesem <index indexName="subjects-index">
          <term>Subjekt</term>
        </index>Subjekt selbst nichts von nun an zugesezt, und durch eine kleinere
                        ihm nichts genommen. Dem unbekanten, und von den verschiednen Meinungen
                        unabhängigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Subjekt</term>
        </index>Subjekt widerfärt durch diese verschiednen Beschreibungen gar
                        nichts; aber es entstehet <hi>nun eine Geschichte der Christen</hi>, welche
                        sich über die Beschreibung des Sohnes Gottes so theilen, daß sie mehrere
                        Gesellschaften ausmachen, weil sie eine verschiedne <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionssprache</term>
        </index><hi>Religionssprache</hi> unter sich einfüren konte; denn sie
                        standen nicht unter einem und demselben Oberherrn; oder die Obrigkeit wolte
                        auch nichts wider Eine Partey entscheiden, um politischer Ursachen willen,
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_27_8"/>wie der Kaiser
                            <index indexName="persons-index">
          <term>Aurelianus (Kaiser)</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:3r6cp">Aurelianus</persName></hi> im <choice>
          <abbr>J.</abbr>
          <expan>Jahr</expan>
        </choice> 275 der italischen oder römischen <hi>Loge</hi> den Vorzug gab,
                        daß nun in <hi>Antiochien</hi> kein Bischof einer andern Loge weiter seyn
                        solte. Es gehet wirklich dem Sohne Gottes nichts ab, <pb xml:id="bs_f_page_230" n="230" edRef="#f"/> wenn die Christen über ihn
                        verschiedne <index indexName="subjects-index">
          <term>Meinungen</term>
        </index>Meinungen haben; wie ja Gotte selbst, der eher und weiter bekant
                        war, als ein besonderer Sohn Gottes, dadurch nichts zu oder abgehet, daß
                        Menschen nicht wissen und beschreiben können, was er unendlicher Weise und
                        unermeßlich ist. Aber die Oberhäupter der verschiednen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsgesellschaft</term>
        </index>Religionsgesellschaften ergreifen diese Verschiedenheit der
                        Beschreibung von dem Sohne Gottes, um ihre blos politischen Absichten zum
                        Vorzug ihres Standes, und zur Beherrschung der Christen unvermerkt und gewis
                        zu erreichen, wenn die Christen indes auf einander ernstlich aufmerksam
                        wurden, und die Eine gesellschaftliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache, Eine</term>
        </index>Sprache von dem Sohne Gottes für die einzig wahre Beschreibung der
                        rechten Ehre desselben, also ihre Religionspartey für die einzig wahre
                        christliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirche, einzig wahre</term>
        </index>Kirche hielten, und wider andre Christen, als Feinde und Lästerer
                        des Sohnes Gottes einen öffentlichen Haß einfürten, und gar einander
                        deswegen um Leib und Leben brachten. <hi>Dieser ganz grobe Misbrauch der
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Clerisey</term>
          </index>Clerisey</hi>, wonach sie Sprachgebrauch und <index indexName="subjects-index">
          <term>Redensarten, sukzessive</term>
        </index>Redensarten, die stets <hi>successiv</hi> sind und mit der Erkentnis
                        zugleich fortgehen, also für eine Gesell<pb xml:id="bs_f_page_231" n="231" edRef="#f"/>schaft in einer Zeit und Ort gehören, und <hi>nur einen
                            äusserlichen Zweck haben können, zum <index indexName="subjects-index">
            <term>Wesen der christlichen Religion</term>
          </index>Wesen der christlichen Religion, wie sie allen noch so
                            verschieden redenden Christen immer gehört</hi>, überhaupt gerechnet
                        hat: ist wol sichtbar genug; er kann auch nicht weiter fortgesezt werden,
                        indem alle verständige Christen es wohl wissen, daß <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_27_9"/>diese ganze Religion,
                        also auch die Kentnis eines Sohnes Gottes, um ihres <index indexName="subjects-index">
          <term>Bestes, moralisch</term>
        </index>moralischen Besten willen da ist, <hi>und die Christen nicht da
                            sind</hi>, um blos eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Regierung, kirchliche</term>
        </index>kirchliche Regierung über sich und gar über ihr Gewissen, gleichsam
                        zur Ehre Gottes und des Sohnes Gottes zu begünstigen; da in Worten und
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Redensarten</term>
        </index>Redensarten nur eine Verbindung der Menschen zu einer Gesellschaft
                        zu Stande gebracht wird; ohne daß dieses zugleich die beste Stufe der
                        christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, tätige</term>
        </index>thätigen Religion werde; zu der dennoch nicht alle Christen gleich
                        gut von Gott selbst verbunden heissen könnten.</p>
      <p>Mit der ganzen kirchlichen Lehre von <hi>zwoen <index indexName="subjects-index">
            <term>Zweinaturenlehre</term>
          </index>Naturen</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName></hi>, und wie
                        ihre Vereinigung und Wirkung zur Erlösung der Menschen beschrieben werden
                        sol: verhält es sich eben so. <hi>Dis sind keine Zusäze zu der christlichen
                            praktischen</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_232" n="232" edRef="#f"/>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index><hi>Religion</hi>, oder zu der freien <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes, freie</term>
        </index>Verehrung Gottes, wie sie aus den neuen Schriften der Christen, in
                        eigenem Gebrauche des Gewissens, immer mehr, täglich besser, statt finden
                        kann; wozu ja die Kirche hinter der Zeit <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>, und der Apostel,
                        kein Recht hätte: sondern es ist die gelerte Uebung der katholischen
                            <hi>Candidaten</hi>, welche hiedurch sich von den so genanten Kezern
                        unterscheiden solten. Wenn gleichwol die Kirche nach und nach aus diesen
                        successiven gelerten Uebungen gar algemeine <index indexName="subjects-index">
          <term>Glaubensartikel</term>
        </index>Glaubensartikel für alle Christen gemacht hat: so hatte sie eben so
                        wenig einen moralischen Grund dazu, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_27_10"/>als wenn sie ein <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Fegefeuer</term>
          </index>Fegfeuer</hi> nach dem Tode, <hi>Anrufung</hi> vieler
                        kirchlichen Heiligen und Märtyrer, ein <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Messopfer</term>
          </index>Meßopfer</hi> für Lebendige und Todte, <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Ablasszettel</term>
          </index>Ablaßzettel</hi> zur Erlösung aus dem <index indexName="subjects-index">
          <term>Fegefeuer</term>
        </index>Fegefeuer, die <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Mönchsgelübde</term>
          </index>Mönchsgelübde, <index indexName="subjects-index">
            <term>Infallibilität</term>
          </index>Infallibilität</hi> und <hi>Almacht</hi> der Kirche <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice>
        <hi>zu Glaubensartikeln erhoben hat</hi>. Wenn die <index indexName="subjects-index">
          <term>Protestanten</term>
        </index>Protestanten gleichwol eben diese Lehrartikel von den 2 <index indexName="subjects-index">
          <term>Zweinaturenlehre</term>
        </index>Naturen <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> und ihrer ganz
                        bestimmten Vereinigung wirklich beybehalten, bey der <index indexName="subjects-index">
          <term>Reformation</term>
        </index>Reformation, da sie doch <hi>jene andern bischöflichen oder
                            päbstlichen Kirchenartikel</hi> ganz und gar verworfen haben: so ist es
                        eben so be<pb xml:id="bs_f_page_233" n="233" edRef="#f"/>greiflich, als es
                        sich gar wohl erklären läßt, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_27_11"/>warum <hi>in Sachsen</hi> damalen die äusserliche
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Reformation</term>
        </index>Reformation nur in einem kleinern Umfange statt gefunden hat, als in
                        der vom teutschen Reiche ganz unabhängigen <hi>Schweiz</hi>. Beide
                        protestantische Parteien musten sich sehr vorsichtig hüten, daß <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_27_12"/>die alten
                        kaiserlichen Strafgeseze, <hi>die wider die Kezer reden</hi>, nicht sogleich
                        wider sie zu Hülfe gerufen werden konten. Diese Lehrsäze der katholischen
                        Kirche von <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christo</persName> waren aber auch
                        der <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>praktischen <choice>
          <sic>Religon</sic>
          <corr type="editorial">Religion</corr>
        </choice> keinesweges so hinderlich, als jene spätern päbstlichen Artikel;
                        sie behielten vielmehr eine sehr leichte moralische Anwendung. Je mehr man
                        alles geistlich Gute von Christo nun ganz frey erwartete, und es sich durch
                        die und jene <hi>Theorie</hi> erklärte, oder in stiller Andacht täglich
                        nüzte: desto mehr fielen alle <index indexName="subjects-index">
          <term>Mitverdienste</term>
        </index><hi>Mitverdienste</hi> der Heiligen und der Mönche weg, ohne die ein
                        Christ im Pabsttum sonst nicht selig werden konte. Die Protestanten änderten
                        also hier noch nichts in der alten lateinischen Kirchenlehre von der Person
                        und den Naturen Christi: aber sie haben auch hiedurch diesem Kirchenartikel
                        ein göttlich Ansehen nicht geben können, wenn er es nicht schon von den
                        Aposteln selbst <pb xml:id="bs_f_page_234" n="234" edRef="#f"/> hatte. Ob
                        nun die Apostel eben dieses gelert haben, gehört immer noch <hi>für das
                            freie Gewissen</hi> der fähigern Christen, die nun es bejahen, oder
                        verneinen; <hi>ohne die <index indexName="subjects-index">
            <term>Wohltaten Christi</term>
          </index>Wohlthaten</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> an sich selbst
                            zu verändern</hi>; diese sind und bleiben unsichtbare Gegenstände der
                        christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Erbauung</term>
        </index><hi>Erbauung</hi>, und können nie wegfallen; indem die neue Religion
                        eben in diesen unsichtbaren moralischen Wolthaten und ihrem fortgehenden
                        Nuzen bestehet.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_27_1"><label>Apollinarismus</label><p>Es folgt eine Aufzählung von
                            spätantiken häretischen Positionen, denen vorgeworfen wurde, die
                            doppelte Natur Christi, wie sie auf dem Konzil von Chalcedon (451)
                            festgeschrieben wurde, in Frage zu stellen. Gemeint sind zunächst die
                            Anhänger von Apollinaris von Laodicea (4. Jh.), die lehrten, der
                            sündlose Christus könne bei seiner Menschwerdung nicht den depravierten
                            menschlichen Verstand (<foreign xml:lang="grc">πνεῦμα</foreign>)
                            angenommen haben. Vgl. Baumgarten, <hi>Geschichte der
                                Religionspartheyen</hi> (1766), 471–473.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_27_2"><label>Nestorianismus</label><p>Gemeint sind die Anhänger des Nestorius
                            (um 381–451/3). Ihm wurde (vermutlich fälschlich) vorgeworfen, die zwei
                            Naturen Christi – entgegen der späteren Formulierung des Konzils von
                            Chalcedon – als „geteilt“ zu konzipieren, so dass sich der Logos im
                            Menschen nur einwohne und zwei Personen in Jesus nebeneinander
                            existierten. Er lehnte außerdem den Titel <foreign xml:lang="grc">θεοτόκος</foreign> („Gottesgebärerin“) für Maria ab. Diese Lehre
                            wurde 553 auf dem zweiten Konzil von Konstantinopel verurteilt. Vgl.
                            Baumgarten, <hi>Geschichte der Religionspartheyen</hi> (1766),
                            473–481.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_27_3"><label>Eutychianismus</label><p>Gemeint sind die Anhänger des Eutyches
                            (gest. 454), der als radikalster Vertreter der Einnaturenlehre
                            (Monophysitismus) gilt. Eutyches lehrte, dass bei der Menschwerdung
                            Christi die menschliche in der göttlichen Natur aufgegangen sei. Seine
                            Lehre wurde auf dem Konzil von Chalcedon (451) verurteilt. Vgl.
                            Baumgarten, <hi>Geschichte der Religionspartheyen</hi> (1766),
                            481–486.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_27_4"><label>Monotheletismus</label><p>Im Gegensatz zum Monophysitismus
                            wurden hier nicht die zwei Naturen bestritten, jedoch Christus nur ein
                            Wille (von gr. <foreign xml:lang="grc">μόνος</foreign> „ein“ und
                                <foreign xml:lang="grc">θέλημα</foreign> „Wille“) zugesprochen.
                            Diese Lehre wurde auf dem dritten Konzil von Konstantinopel (680)
                            verurteilt. Vgl. Baumgarten, <hi>Geschichte der Religionspartheyen</hi>
                            (1766), 486–489.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_27_5"><label>so
                            verstunden sie in eben der Substanz Gottes ein 2tes Subjekt:
                            consubstantiuus secunda in deo persona, sagte schon
                            Tertullianus</label><p>Die lateinische Wendung ist nicht belegt.
                            Tertullian (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_1_11"/>) benutzt
                            zwar die Begriffe „consubstantialis“ (Herm. 44,3) und „consubstantivus“
                            (Val. 12,5; 18,1; 37,2) als Übersetzung des griechischen „<foreign xml:lang="grc">ὁμοούσιος</foreign>“ (wesensgleich; vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_50"/>), jedoch
                            lediglich um die Ansichten der Gnostiker (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_3_8"/>) zu referieren und ohne
                            Bezugnahme auf Christus. In trinitätstheologischem Zusammenhang spricht
                            er vielmehr von „una substantia“ (z.B. Adv. Prax. 2,4). Inwieweit
                            Tertullian damit die nicänische Lehre (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_a_1_36"/>) vorwegnimmt, ist
                            umstritten.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_27_6"><label>Die im
                            Orient aber sagten, Gott hat dieses Subjekt zum Sohn d.i. zum
                            Mitregenten über alles gemacht</label><p>Semler bezieht sich auf den
                            sog. Adoptianismus, der vor allem in Kleinasien vertreten wurde, z.B.
                            von Theodotus von Byzanz (2. Jh.) und dem Bischof von Antiochien Paul
                            von Samosota (ca. 200–275). Gemäß dieser Lehre, von der wir
                            ausschließlich durch ihre Gegner wissen (u.a. Hippolyt von Rom, ca.
                            170–235; Epihanios von Salamis, ca. 315–403) wurde Jesus erst nach
                            seiner Taufe (abweichend auch: seiner Auferstehung) zum Gottessohn
                            erhoben.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_27_7"><label>andre
                            aber sezten [...] gerade vor die Erschaffung aller Dinge</label><p>Zur
                            Lehre von der Präexistenz Christi, die u.a. von Adoptianisten (s. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_27_6"/>) und Arianern (s. <ptr type="page-ref" target="#erl_a_1_36"/>) abgelehnt
                            wurde, vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_5_2"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_27_8"><label>wie der
                            Kaiser Aurelianus im J. 275 der italischen oder römischen Loge den
                            Vorzug gab</label><p>Lucius Domitius Aurelianus (214–275) war von
                            270–275 römischer Kaiser. Wie Eusebius in seiner
                                <hi>Kirchengeschichte</hi> (VII 30, 18f.) berichtet, stärkte Kaiser
                            Aurelian die Hegemonie der römischen und italienischen Bischöfe
                            gegenüber den Bischöfen in Antiochien, nachdem er aufgefordert worden
                            war, im Streit um den als häretisch gebrandmarkten und abgesetzten
                            Bischof Paul von Samosata einzugreifen.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_27_9"><label>diese
                            ganze Religion [...] um ihres moralischen Besten willen da ist, und die
                            Christen nicht da sind, um blos eine kirchliche Regierung über sich
                            [...] zu begünstigen</label><p>Anspielung auf Mk 2,27 („Der Sabbat ist
                            für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat“).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_27_10"><label>als
                            wenn sie ein Fegfeuer nach dem Tode [...] Infallibilität und Almacht der
                            Kirche etc. zu Glaubensartikeln erhoben hat</label><p>Zu Fegefeuer,
                            Fürbitte der Heiligen und Messopfer vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_21_21"/>. Ein Ablassbrief oder -zettel bescheinigte
                            dem Erwerber einen Ablass, d.h. den Nachlass von auferlegten Strafen,
                            die vom Sünder nach reuiger Umkehr noch zu verbüßen sind. Der
                                <hi>Handel</hi> mit Ablassbriefen ist in der römisch-katholischen
                            Kirche seit 1570 unter Strafe der Exkommunikation verboten. Die
                            Verbindlichkeit von Ordensgelübden (inkl. Ehelosigkeit usw.) ist seit
                            Papst Leos I. (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_6_3"/>) <hi>Epistolas
                                fraternitatis</hi> (458/59; DH 321f.) geregelt. Die Lehre von der
                            Unfehlbarkeit der Kirche – nicht zu verwechseln mit der Unfehlbarkeit
                            des Papstes – hinsichtlich Glaubens- und Sittenlehre, wurde zwar erst
                            vom I. Vatikanum (1869/70) dogmatisch festgeschrieben, aber schon seit
                            etwa dem 4 Jh. von Kirchenoberen in aller Regel als selbstverständlich
                            vorausgesetzt. Worauf <hi>genau</hi> Semler mit der Behauptung
                            hinauswill, die „Allmacht der Kirche“ sei zum Glaubensartikel erhoben
                            worden, ist nicht klar.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_27_11"><label>warum
                            in Sachsen damalen die äusserliche Reformation [...] als in der [...]
                            Schweiz</label><p>Gemeint ist die vergleichsweise größere Unabhängigkeit
                            der Eidgenossenschaft vom katholischen Kaiserhaus, wiewohl die Schweiz
                            erst 1648 aus dem Reichsverband ausgegliedert und offiziell unabhängig
                            wurde.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_27_12"><label>die
                            alten kaiserlichen Strafgeseze, die wider die Kezer reden</label><p>Seit
                            dem 12. Jh. hatten die Kaiser im Rückgriff auf das römische Recht das
                            Ketzereidelikt als Gottesbeleidigung mit dem <hi>crimen laesae
                                maiestatis</hi> (Majestätsbeleidigung) gleichgesetzt. Häretiker
                            wurden seitdem nicht nur kirchlicherseits durch das kanonische Recht
                            verfolgt, sondern waren auch mit scharfen obrigkeitlichen Strafen bis
                            zum Tod bedroht. Entsprechend war Luther nach seiner Verurteilung als
                            Häretiker in Rom (1520) auf dem Reichsgebiet mit der Strafe der Acht
                            („vogelfrei“) belegt.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_28">
      <head type="question">28. Also wären ja wol alle <index indexName="subjects-index">
          <term>Dogmata</term>
        </index><foreign xml:lang="lat">dogmata</foreign> der spätern Kirche, oder
                        der Bischöfe, nicht eigentliche <hi>algemeine Religions- oder <index indexName="subjects-index">
            <term>Glaubenslehre</term>
          </index>Glaubenslehren für alle Christen</hi>, und noch weniger für alle
                        Menschen, ohne deren tägliche gleichförmige Bejahung und buchstäbliche
                        Wiederholung man gar keine moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>Wohlfart und Seligkeit, keinen Antheil an Gott haben und <index indexName="subjects-index">
          <term>geniessen</term>
        </index>geniessen könte?</head>
      <p>Freilich nicht; <foreign xml:lang="lat">dogmata fidei</foreign> hat man sehr
                        übel geradehin <hi>Glaubensartikel</hi> vertauscht. Der Glaube der einzelnen
                        Christen, das ist ihre <pb xml:id="bs_f_page_235" n="235" edRef="#f"/> eigne
                        christliche Religion ist frey aus den Lehren <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> und eigenem <index indexName="subjects-index">
          <term>Nachdenken</term>
        </index>Nachdenken hergeleitet; hat keine <foreign xml:lang="lat">dogmata</foreign> weder von Rabbinen noch von Bischöfen <hi>zu seinen
                            innern Bestandtheilen</hi> von Zeit zu Zeit anzunemen. Alle sogenannte
                        dogmata sind erst von Bischöfen auf ihren kirchlichen Landtägen
                        zusammengesezt worden, <hi>zunächst wider sogenannte Kezer</hi>, und also
                        für die <hi>Candidaten</hi> ihrer Clerisey, nicht aber als neue Zusäze zu
                        der christlichen Religion. Es werden <hi>neue Bedingungen der Gesellschaft,
                            aber nicht der <index indexName="subjects-index">
            <term>Seligkeit, Bedingung der</term>
          </index>Seligkeit der Christen</hi>, die ein für allemal ihrem <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen folgen müssen und auf vielerley Fragen, die sich <hi>nur
                            auf die Gesellschaft beziehen</hi>, <foreign xml:lang="lat">privatim</foreign> zu antworten keine Ursache haben. Es ist ein gar
                        kentlicher Feler, oder vielmehr eine bedächtige Politik der Bischöfe, daß
                        sie eben diese <hi>ihre eigenen Schöpfungen</hi> für <hi>wesentliche</hi>
                        Theile der christlichen Religion überhaupt haben ansehen lassen, die
                        freilich <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_28_1"/>nun gar
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Geheimnis</term>
        </index>Geheimnisse heissen, weil kein Mensch den Inhalt dieser kirchlichen
                        Lehrsäze verstehen könte, und nur die <index indexName="subjects-index">
          <term>Geistliche</term>
        </index><hi>Geistlichen</hi> diese geistlichen oder geheimen Sachen
                        verstünden; also auch allen andern Christen zu ge<pb xml:id="bs_f_page_236" n="236" edRef="#f"/>horsamer Aufname zu überliefern hätten; wenn sie
                        gleich selbst, wie aus ihrem Leben zu sehen, alle diese Dinge nicht für wahr
                        und so gar ein <index indexName="subjects-index">
          <term>Leben, moralisches</term>
        </index>moralisch Leben nicht für nötig hielten. Hundert und tausend <index indexName="subjects-index">
          <term>Legenden</term>
        </index>Legenden von Heiligen, von <index indexName="subjects-index">
          <term>Mirakel</term>
        </index><hi>Mirakeln</hi>, von <hi>Erscheinungen</hi> erzälten sie eben so,
                            <hi>blos für andre einfältige Christen</hi>, damit sie immer weniger zu
                        freier eigener <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis</term>
        </index>Erkentnis und moralischer Beurtheilung gelangen könten. Durch alle
                        jene <foreign xml:lang="lat">dogmata</foreign> wurden immer mehr Supplemente
                        zur Historie <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>, und also gar zur
                        christlichen Religion erschaffen, woran doch kein Apostel je gedacht hatte;
                        Christum nur <hi>nach dem Fleische</hi>, oder <hi>nach einer Historie</hi>,
                        welche sinnliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Empfindungen</term>
        </index>Empfindungen angehet, kennen, war nur für die einfältigen,
                        unfähigern Menschen; den Fähigern blieb es frey, über alles Sinnliche sich
                        zu erheben, und lauter moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohltaten Christi</term>
        </index>Wohlthaten <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> zu behalten. Aber
                        die Kirche hat die eignen jezigen Gedanken der Christen ganz und gar
                        ausgeschlossen, und so konte die Kirche immer <hi>neue <index indexName="subjects-index">
            <term>Lehrartikel</term>
          </index>Lehrartikel</hi> erschaffen, wie sie neue sinnliche <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_28_2"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Festtage</term>
        </index>Festtäge für die Christen ankündigte; die doch weder Christus noch
                        die Apostel eingefürt hatten. Durch die <index indexName="subjects-index">
          <term>Festtage</term>
        </index><choice>
          <sic>Fest<pb xml:id="bs_f_page_237_sic" n="237" edRef="#f"/>tagen</sic>
          <corr type="editorial">Fest<pb xml:id="bs_f_page_237_corr" n="237" edRef="#f"/>tage</corr>
        </choice> unterstüzte man die neuen Lehren; die Christen lernten sie nun um
                        des historischen <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> willen
                        hochschäzen, und sezten ihre ganze Religion in die fleißige Feier solcher
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Festtage</term>
        </index>Festtage, wovon sie immer mehr Historien und Fabeln hörten und ganz
                        leicht glaubten; worüber die <hi>eigene</hi> Verehrung Gottes ganz
                        verdunkelt wurde, die sonst sehr bald diese falsche und blos politische
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, bloß politische</term>
        </index>Religion richtig beurtheilt haben würde. Desto eifriger hielten nun
                        Pfaffen und Mönche über dieser <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenreligion</term>
        </index>Kirchenreligion, wovon sie selbst immer mehr Nuzen hatten, da sie
                        indes den äusserlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenchristen</term>
        </index>Kirchenchristen ganz sicher, ganz schändlich und unchristlich eine
                        ewige Seligkeit versprachen, wenn sie nur alles das glaubten, was die <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirche</term>
        </index>Kirche glaubte. Denn die Kirche konte allein selig machen, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_28_3"/>wenn sie wolte. Je
                        unwissendere Menschen also, desto bessere Glaubige; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_28_4"/>durch so viel <foreign xml:lang="lat">paternoster, aue Maria</foreign>, <index indexName="subjects-index">
          <term>Weihwasser</term>
        </index>Weihwasser, Meßhören, <index indexName="subjects-index">
          <term>Almosen</term>
        </index>Almosen, Anruffen der Heiligen – endlich lezte <index indexName="subjects-index">
          <term>Ölung, letzte</term>
        </index>Oelung und Bestellung der <index indexName="subjects-index">
          <term>Seelmessen</term>
        </index>Seelmessen, mußte man gewis selig werden; und desto gewisser mußten
                        alle andere Christen, zumal Kezer, ewig verdammt werden, weil es die Kirche
                        täglich ganz ernstlich versicherte. Was ich <pb xml:id="bs_f_page_238" n="238" edRef="#f"/> hier sage, ist von allen wahren <index indexName="subjects-index">
          <term>Christen, verständige</term>
        </index>verständigen Christen in allen Jahrhunderten eingesehen worden; wenn
                        gleich die tirannischen Pfaffen und Mönche diese wahre christliche freie
                        Religion immer mehr zu unterdrücken suchten. Finden aber noch jezt Christen
                        ihre <index indexName="subjects-index">
          <term>Erbauung</term>
        </index>Erbauung bey solchen späten Kirchenlehren: so behalten sie alles;
                        aber es sind nicht <hi>allgemeine</hi> Glaubensartikel; und diese Christen
                        gaben ihnen eine solche <index indexName="subjects-index">
          <term>praktisch</term>
        </index>practische Bestimmung, <hi>die jene Bischöfe und Pfaffen nie
                            kanten</hi> oder schäzten.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_28_1"><label>nun gar
                            Geheimnisse heissen</label><p>Ein Glaubensgeheimnis (<hi>mysterium
                                fidei</hi>) im strikten Sinne ist eine Wahrheit, die zwar offenbart
                            und Gegenstand allgemeinen Wissens werden kann, sich jedoch nicht mit
                            den Mitteln der Vernunft herleiten oder vollständig verstehen lässt. Die
                            Ansicht, die christliche Lehre enthalte solche übervernünftigen
                            Wahrheiten, findet sich schon bei Paulus (z.B. 1Kor 2) sowie den meisten
                            Kirchenvätern. Die Bestreitung von Glaubensgeheimnissen war ein
                            Kernanliegen deistisch (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_v_13"/>) und rationalistisch gesinnter Autoren; vgl. das programmatisch
                            betitelte Werk John Tolands (1670–1722), <hi>Christianity Not
                                Mysterious: Or, A Treatise Shewing, That there is nothing in the
                                Gospel Contrary to Reason, Nor Above it: And that no Christian
                                Doctrine can be properly call’d A Mystery</hi> (1696).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_28_2"><label>Festtäge für die Christen [...], die doch weder Christus noch
                            die Apostel eingefürt hatten</label><p>Gemeint sind alle Festtage
                            jenseits des Sonntagsgebots und der christlichen Hochfeste (Ostern,
                            Pfingsten und Weihnachten). Kritik an außerbiblischen Festtagen
                            formulierten bereits die Reformatoren, sie wurde jedoch in der
                            Aufklärung verstärkt geübt. Parallel dazu wurde in den Reformen um 1800
                            vielerorts die Anzahl der Festtage reduziert (s. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_1_4"/>).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_28_3"><label>wenn
                            sie wolte</label><p>Wiewohl grammatisch und inhaltlich möglich,
                            erscheint es wahrscheinlicher, dass hier ein Satzfehler vorliegt und
                            „wen sie wollte“ gemeint ist.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_28_4"><label>durch
                            so viel paternoster, aue Maria, [...] Bestellung der
                            Seelmessen</label><p>Semler spielt hier auf die spätmittelalterliche
                            Tradition der „gezählten Frömmigkeit“ an, nach der schon die schiere
                            Anzahl bestimmter religiöser Handlungen über die Seligkeit des Gläubigen
                            entscheide, was im Ablasshandel gipfelte. Die Reformation betonte
                            gegenüber einer solchen taxierbaren Werkgerechtigkeit die Rechtfertigung
                            „allein durch den Glauben“, wonach gute Werke nicht als Voraussetzung,
                            sondern als Wirkung des Glaubens verstanden wurden.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_29">
      <head type="question">29. Bey jenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Mirakel</term>
        </index>Mirakeln und <index indexName="subjects-index">
          <term>Legenden</term>
        </index>Legenden – muß man doch daran denken, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_1"/>daß ja selbst noch
                        iezt Protestanten einen <index indexName="subjects-index">
          <term>Beweis</term>
        </index>Beweis der <index indexName="subjects-index">
          <term>Wahrheit</term>
        </index>Wahrheit der christlichen Religion von <index indexName="subjects-index">
          <term>Mirakel</term>
        </index>Mirakeln und <index indexName="subjects-index">
          <term>Weissagungen</term>
        </index>Weissagungen <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> entlenen; warum sol nun dieser Beweis nicht ferner zum Vortheil
                        der alten katholischen Kirche taugen, da sie alle ihre <foreign xml:lang="lat">dogmata</foreign> durch unaufhörliche <foreign xml:lang="lat">miracula</foreign> bestätiget hat?</head>
      <p>Was das lezte betrift, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_2"/>so sind die <foreign xml:lang="lat">miracula</foreign> der nächsten
                        Jahrhunderte gar zu ungewis und <pb xml:id="bs_f_page_239" n="239" edRef="#f"/> zweideutig; ja häufig als listige Betrügereien bekant
                        worden, die Protestanten haben also hier den Untersaz geradehin geleugnet,
                        daß wirklich hier solche <foreign xml:lang="lat">miracula</foreign>
                        geschehen seien; sie haben aber freilich den Obersaz noch stehen lassen;
                            <foreign xml:lang="lat">miracula</foreign> dienen zum Beweise der
                        Wahrheit der christlichen Religion, weil es eine sehr alte Meinung ist und
                        die so genannten <index indexName="subjects-index">
          <term>Wunder</term>
        </index>Wunder, die im neuen Testamente in einigen Büchern gemeldet werden,
                        damalen <index indexName="subjects-index">
          <term>Beweis</term>
        </index><hi>Beweise</hi> der Wahrheit und Göttlichkeit dieser neuen Religion
                        gewesen wären. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_3"/>Es ist
                        aber allerdings kein Theil der christlichen Religion oder algemeinen <index indexName="subjects-index">
          <term>Glaubenslehre</term>
        </index>Glaubenslehre, daß alle Christen über diese Zeichen und Wunder im <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testament</expan>
        </choice> durchaus einerley denken müsten, und sonst keine wahre christliche
                        Religion haben würden, wenn sie diese Erzälungen ganz liegen liessen, da sie
                        ihnen so dunkel sind. So gar ist es noch ungewis, ob diese Erzelung, selbst
                        ihrer Abfassung nach, sich wirklich eben so oder zu eben der Absicht,
                            <hi>auf diejenigen Christen beziehen, welche nachher</hi> diese
                        Evangelia lasen und beurtheilten; wie sie sich freilich zunächst ehedem
                            <hi>auf solche <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_4"/><index indexName="subjects-index">
            <term>Juden</term>
          </index>Juden beziehen</hi>, die durchaus immer <index indexName="subjects-index">
          <term>Zeichen</term>
        </index>Zeichen und <index indexName="subjects-index">
          <term>Wunder</term>
        </index>Wunder sehen <pb xml:id="bs_f_page_240" n="240" edRef="#f"/> und
                        hören wolten, ehe sie selbst glaubten; und dieses <hi>Glauben</hi> war, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_5"/>wie <index indexName="persons-index">
          <term>Bengel, Johann Albrecht</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:2sgjq">Bengel</persName></hi> selbst
                        gestund, noch lange nicht unser christlicher <index indexName="subjects-index">
          <term>Glaube</term>
        </index>Glaube. Wahr ist es doch, daß <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> selbst jenen
                        Menschen den Vorzug gibt, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_6"/><hi>die nicht sehen</hi> (also auch nicht hören,
                        was andre gesehen haben) <hi>und doch selbst gläuben</hi>. Wenn auch, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_7"/>wie zu Ende des
                        Evangelii Johannis stehet, diese Zeichen damalen erzälet wurden, damit
                            <hi>diese nächsten Leser</hi> und Zuhörer nur glauben möchten, Jesus sey
                        der Christ und <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_8"/>daß
                        sie <hi>durch diesen ihren Glauben</hi> (ohne <index indexName="subjects-index">
          <term>Irrtum, jüdischer</term>
        </index>jüdische Irrtümer, immer mehr sich glücklich finden,) und das Leben
                        haben möchten, in seinem Namen oder durch diesen ganz andern <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName>, wobey ihr
                        moralisches <index indexName="subjects-index">
          <term>Wachstum, moralisches</term>
        </index>Wachstum eingeschlossen wird: <hi>so ist doch dieses nicht für alle
                            nachherige Christen eben so anzuwenden</hi>, wenn diese nachherigen
                        Menschen sich nicht schon <hi>in jener kleinen <index indexName="subjects-index">
            <term>Denkungsart</term>
          </index>Denkungsart befinden</hi>, welche durchaus ferner von <index indexName="subjects-index">
          <term>Zeichen</term>
        </index>Zeichen und <index indexName="subjects-index">
          <term>Wunder</term>
        </index>Wundern zuerst hören wolten. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_9"/>Ganz recht sagten auch die zu Samaria, <bibl type="biblical-reference"><citedRange n="Joh:4">Joh.
                            4.</citedRange></bibl> wir glauben nun nicht um deiner Rede willen, von
                        dem Wunder, daß Jesus deine bisherige Hurerey wisse: sondern wir <pb xml:id="bs_f_page_241" n="241" edRef="#f"/>
        <hi>haben selbst gesehen, und erkant</hi>
        <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> oder wir sind <hi>durch unser <index indexName="subjects-index">
            <term>Nachdenken</term>
          </index>Nachdenken überzeugt</hi>; sie hatten aber keine <index indexName="subjects-index">
          <term>Zeichen</term>
        </index>Zeichen und <index indexName="subjects-index">
          <term>Wunder</term>
        </index>Wunder <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Jesu</persName> hier zu sehen
                        bekommen. Es beruhet also die ganze Aufgabe von Wundern, auf der
                        Voraussezung: daß diese Erzehlungen eben so gradehin <hi>für alle Christen
                            als Christen, bestimt gewesen seien</hi>, als die <hi>Lehren</hi>
        <persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> und seiner Apostel? So leicht man nun eben diese Frage gemeiniglich
                        bejahet, <hi>nach der ältern kirchlichen Lehrart</hi> (die <hi>blos auf dem
                            kirchlichen Rechte</hi> des so genanten <index indexName="subjects-index">
          <term>Kanon</term>
        </index><hi>Canon</hi> beruhet) so wenig ist sie doch hiemit bewiesen für
                        die Christen, die gar nicht in der Denkungsart stehen, als eben diese Juden,
                        sondern leider nun erst eine jüdische sehr unmoralische Denkungsart, zu
                        ihrem moralischen Schaden, auf sich übertragen, <hi>durch diesen Misbrauch
                            jener Bücher</hi>. Die gemeine Denkungsart der Juden ist und war eine
                        sinnliche kindische Nachlässigkeit, wonach sie auf <index indexName="subjects-index">
          <term>Zeichen</term>
        </index>Zeichen und <index indexName="subjects-index">
          <term>Wunder</term>
        </index>Wunder in <hi>der sinnlichen körperlichen Welt</hi> warteten, und es
                        voraus sagten, daß Gott um ihrentwillen, so oft sie es erwarten wollen, erst
                        dergleichen Zeichen und Wunder geschehen lassen müsse; sonst hät<pb xml:id="bs_f_page_242" n="242" edRef="#f"/>ten sie gleichsam ein altes
                        Vorrecht, ihren <index indexName="subjects-index">
          <term>Verstand</term>
        </index>Verstand, ihr Nachdenken noch immer nicht selbst anzuwenden, und
                        über neue Stufen der Erkentniß, selbst frey und ernstlich moralisch zu
                        urtheilen. Wenn nun gleich in diesen Erzälungen mehrere solche Dinge
                        vorkommen, <hi>die nach dem kleinen oder moralisch ungültigen jüdischen
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Sprachgebrauch, jüdischer</term>
          </index>Sprachgebrauche damals Zeichen und Wunder heissen könnten</hi>:
                        so ist doch <hi>diese dort gewälte Einkleidung oder Erzälung eben nur um
                            solcher Juden willen</hi> da, <hi>die iezt noch christliche Juden
                            sind</hi>; keinesweges aber kann diese <hi>jüdische Denkungsart</hi>
                        eine <hi>algemeine Schuldigkeit</hi> oder ein <hi>unleugbarer Vorzug</hi>
                        aller Christen werden. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_10"/>Freilich hat die Kirche auch das so genante <foreign xml:lang="lat">donum
                        Miraculorum</foreign> gar als fortdauernd angesehen; aber diese <hi>Gewohnheit der
                            Kirche</hi> beweiset eben so wenig, als <hi>jene <index indexName="subjects-index">
            <term>Gewohnheit</term>
          </index>Gewohnheit der Juden</hi>. Es ist immer <foreign xml:lang="lat">petitio principii</foreign>, daß
                        damalen <foreign xml:lang="lat">miracula </foreign>einen wahren Begriff eingeschlossen hätten <hi>den die
                            Christen von den Juden annemen müsten</hi>, weil hier von <index indexName="subjects-index">
          <term>Zeichen</term>
        </index>Zeichen und <index indexName="subjects-index">
          <term>Wunder</term>
        </index>Wundern etwas erzälet wird. Wie kann jüdische Denkungsart nun eine
                            <hi>christliche</hi> worden seyn? Allein ich dächte, daß <hi>ein
                            noch</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_243" n="243" edRef="#f"/>
        <hi>viel wichtigerer Grund</hi> da wäre für alle die Christen, welche diese
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Wunder</term>
        </index>Wunder <hi>nicht dafür ansehen</hi>, daß sie die anderweitige edlere
                        Wahrheit der christlichen Religion vorzüglich beweisen könnten. Diese
                        christliche Religion oder die Verbindung neuer <index indexName="subjects-index">
          <term>Gott, neue Begriffe von</term>
        </index>Begriffe von der <index indexName="subjects-index">
          <term>Herrlichkeit Gottes</term>
        </index>Herrlichkeit Gottes, von deren <index indexName="subjects-index">
          <term>Wahrheit</term>
        </index><hi>Wahrheit</hi> wir uns überzeugen (ohne Wunder) <hi>war ja
                            damalen noch nicht da</hi>. In der Lebenszeit <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> war der <choice>
          <abbr><hi>heil.</hi></abbr>
          <expan><hi>heilige</hi></expan>
        </choice>
        <hi>Geist</hi> die moralische volkommene Erkenntnis Christi den Christen
                            <hi>noch nicht bekant</hi>, sondern wurde erst hinter dem Tode Christi
                        immer mehr und mehr ausser Palästina ausgebreitet, daß Jesus der Christ
                        seie: war <hi>der einzige Satz</hi>, der <hi>für die Juden</hi> aus diesen
                        erzälten <index indexName="subjects-index">
          <term>Wunder</term>
        </index>Wundern sich zunächst ergeben solte; dies hies aber noch immer einen
                        Christum <hi>nach dem Fleische</hi>, oder in <index indexName="subjects-index">
          <term>sinnlich</term>
        </index><hi>sinnlichen jüdischen Charakter</hi> als Urheber eines
                        äusserlichen neuen Reichs zum politischen Flor der Juden kennen und ansehen.
                        Sehr viele <hi>glaubten</hi> also, Jesus ist der Christus; aber sie
                        behielten zugleich den jüdischen ganz falschen <hi>Begriff</hi> von der
                        kleinen ganz falschen Bestimmung des Messias, wider die Heiden, zum Beweise
                        aber der geistlichen volkommenen Religion, welcher Umfang der Er<pb xml:id="bs_f_page_244" n="244" edRef="#f"/>kenntniß und <index indexName="subjects-index">
          <term>Erfahrung</term>
        </index>Erfarung <hi>gar nicht für die Anfänger</hi> gehöret hat: sind nicht
                        nur <hi>gar keine <index indexName="subjects-index">
            <term>Zeichen</term>
          </index>Zeichen und <index indexName="subjects-index">
            <term>Wunder</term>
          </index>Wunder jemalen geschehen</hi>; sondern es konten auch keine
                        statt finden; weil die <hi>Erwartung solcher Wunder</hi> oder sinlichen
                        Begebenheiten, <hi>eben der alte Geist und Fehler des gemeinsten Judentums
                            war</hi>; der gewis nicht fortgesezt wurde durch diese reine christliche
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_11"/><foreign xml:lang="grc">ἀληθείαν</foreign>, durch <foreign xml:lang="grc">πνευμα</foreign>, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_12"/>oder durch die eigene starke Speise der freien
                        volkomnen Christen; diese Wunder gehören also durchaus <hi>für die
                            moralischen Kinder</hi>, für die <index indexName="subjects-index">
          <term>Unmündige</term>
        </index>Unmündigen, die den <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_13"/><index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> nur nach dem
                        Fleische, oder in sinnlicher Erwartung noch sehr unvolkommen, und noch sehr
                        unrichtig kennen, und also freilich tägliche Veränderung in der äusserlichen
                        Welt (ihrer alten Gedanken wegen, also zur Fortsetzung ihrer moralischen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Kindheit, moralische</term>
        </index>Kindheit,) erwarten. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_14"/><hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Wunder</term>
          </index>Wunder</hi> und <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Zeichen</term>
          </index>Zeichen</hi> fordern nur die Juden, sagt <index indexName="persons-index">
          <term>Paulus</term>
        </index><persName ref="textgrid:251kf">Paulus</persName> ganz recht und er
                        tadelt es hiemit. Man kann wol noch dazu sezen, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_15"/>weil die Juden die
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Körperwelt unter dem Mond</term>
        </index>Körperwelt unter dem Mond <hi>dem Gebiet der guten und bösen Engel
                            unterworfen hatten</hi> und also bey diesen <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorurteile</term>
        </index>Vorurtheilen <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_16"/>eine weise <hi>unverbesserliche <index indexName="subjects-index">
            <term>Ordnung, unverbesserliche</term>
          </index>Ordnung in</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_245" n="245" edRef="#f"/>
        <hi>dem einzigen Reiche der <index indexName="subjects-index">
            <term>Reich der Natur</term>
          </index>Natur gar nicht vor Augen hatten</hi>, indem <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_17"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Geister, böse</term>
        </index>böse Geister in der Luft herrschten, also auch in die Menschen durch
                        die Luft eingehen, und sie beherrschen, oder besizen könnten: so mußte auch
                        durch eine andre <hi>übernatürliche Kraft, durch <index indexName="subjects-index">
            <term>Wunder</term>
          </index>Wunder</hi>, solchen Geistern damalen Widerstand geschehen. Jene
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorurteile</term>
        </index><hi>Vorurtheile</hi> lagen äusserlich schon voraus; diese
                        Erzählungen beziehen sich ganz allein darauf. Waren jene Voraussezungen
                        nicht von Störung der Natur durch <index indexName="subjects-index">
          <term>Geister, böse</term>
        </index>böse Geister <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> so war kein Gegenmittel nötig. Kurz diese ganze <index indexName="subjects-index">
          <term>Einkleidung</term>
        </index><hi>Einkleidung</hi> ist <hi>um jener Zeitgenossen willen da</hi>,
                        welche vom Messias eben so <index indexName="subjects-index">
          <term>Wunder</term>
        </index>Wunder und <index indexName="subjects-index">
          <term>Zeichen</term>
        </index>Zeichen erwarteten, wie <index indexName="persons-index">
          <term>Mose</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t7">Moses</persName> und andere Propheten
                        gethan hätten und <hi>der Erfolg</hi>, wenn diese Juden nun glaubten, <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Jesus</persName> – – sei der Christ,
                        oder <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias</term>
        </index>Messias, <hi>war gewis noch nicht eine Vorstellung eines moralischen
                            Verhältnisses dieses Messias in Absicht</hi> des Antheils <hi>aller
                            Menschen, an einem und demselben Gott</hi>, der gleich gut <hi>aller
                            Menschen</hi> gnädiger Vater seie. Denn diese Begriffe sind erst nach
                        und nach viel später, durch fortgehende Belehrung des Geistes Gottes in den
                        Aposteln, entstanden, und <pb xml:id="bs_f_page_246" n="246" edRef="#f"/>
                        sehr bedächtig mitgetheilet worden; und zwar gerade ohne allen Einfluß jener
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Zeichen</term>
        </index>Zeichen und <index indexName="subjects-index">
          <term>Wunder</term>
        </index>Wunder, <hi>davon in allen Briefen der Apostel gar nichts wieder
                            vorkommt</hi>.</p>
      <p><ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_29_18"/>Der ganze <index indexName="subjects-index">
          <term>Beweis</term>
        </index>Beweis aus so genannten <index indexName="subjects-index">
          <term>Weissagungen</term>
        </index><hi>Weissagungen</hi> in den Schriften des <choice>
          <abbr>A. T.</abbr>
          <expan>Alten Testaments</expan>
        </choice> ist eben so blos <index indexName="subjects-index">
          <term>Beweis, relativer</term>
        </index>relativ; beziehet sich zunächst auf Juden, die aus ihren Propheten
                        schon einen jüdischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias</term>
        </index>Messias, für sich, nicht für alle Menschen, erwarteten. Die
                        moralische Allgemeinheit des <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias</term>
        </index>Messias, ist selbst noch nicht in diesen Propheten kenntlich genug
                        bestimt, wenn auch manche Stellen ihrer Reden von Juden auf einen Messias
                        gedeutet wurden; Es war noch ein <index indexName="subjects-index">
          <term>Geheimnis</term>
        </index><hi>Geheimnis</hi>, noch unbekant, öffentlich noch nicht gelehret
                        worden; es ist <hi>nun erst unter Christen eine neue grössere Erkenntniß
                            entstanden</hi>. Die <hi>Algemeinheit</hi> der moralischen Wohlthaten
                        des <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias</term>
        </index>Messias, <hi>ist ein ganz neuer Begriff, ist der Grund des
                            neuen</hi> Bundes zur Widerlegung des jüdischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Partikularismus</term>
        </index>Particularismus; es ist eine <hi>neue Belehrung</hi>, eine neue
                        Stufe der Erkenntniß, welche dem Geiste Gottes iezt von <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christo</persName> und von den
                        Aposteln ganz eigentlich <pb xml:id="bs_f_page_247" n="247" edRef="#f"/>
                        beigelegt wird, damit jüdische <index indexName="subjects-index">
          <term>Mikrologie</term>
        </index><hi>Mikrologie</hi> nicht zum Nachtheil einer bessern <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottesverehrung</term>
        </index>Gottesverehrung noch immer fortdauern könne. Wenn also Stellen aus
                        dem alten Testament im neuen angefürt werden: ist es eben <hi>um dieser
                            Juden willen</hi>; damit sie einen grössern Verstand an die alte
                        kleinere Auslegung nun anknüpfen lernten. Es können Christen dies eben so
                        machen; aber die Lehre <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> und der Apostel
                        ist ihnen viel näher. Es stehet also den Christen frey; aber <hi>es ist
                            keine algemeine Regel</hi> für alle Christen: die christliche Religion
                        aus <index indexName="subjects-index">
          <term>Mirakel</term>
        </index><hi>Mirakeln und <index indexName="subjects-index">
            <term>Weissagungen</term>
          </index>Weissagungen</hi> sich zu beweisen. Die christliche Verehrung
                        Gottes kann auch <hi>ohne</hi> jene Ideen statt finden.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_1"><label>daß ja
                            selbst noch iezt Protestanten einen Beweis der Wahrheit der christlichen
                            Religion von Mirakeln und Weissagungen etc.
                            entlenen</label><p>Anspielung auf Gottfried Leß (1736–1797), <hi>Beweis
                                der Wahrheit der christlichen Religion</hi> (1768; <hi rend="superscript">6</hi>1786). Der Göttinger Theologieprofessor und
                            Universitätsprediger Leß betrachtete Wunderwerke, zu denen er auch
                            Weissagungen („<hi>Wunderwerke der Kenntniß</hi>“) rechnete, als „das
                                <hi>vornehmste</hi> Fundament der christlichen Religion“. Es komme
                            für die Glaubwürdigkeit des Christentums „beinahe alles auf den Erweis
                            dieser Begebenheit an: <hi>daß Jesus wahrhaftig göttliche Wunderwerke
                                verrichtet</hi>“ (290; vgl. 410).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_2"><label>so sind
                            die miracula der nächsten Jahrhunderte gar zu ungewis und zweideutig; ja
                            häufig als listige Betrügereien bekant worden</label><p>Vgl. hierzu
                            ausführlich Semlers <hi>Versuch einiger moralischen Betrachtungen über
                                die vielen Wundercuren und Mirackel in den ältern Zeiten; zur
                                Beförderung des immer bessern Gebrauchs der Kirchenhistorie</hi>
                            (1767).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_3"><label>Es ist
                            aber allerdings kein Theil der christlichen Religion oder algemeinen
                            Glaubenslehre, daß alle Christen über diese Zeichen und Wunder im N. T.
                            durchaus einerley denken müsten</label><p>Semler denkt an die mit großer
                            Intensität geführte Wunderdebatte, zu der Autoren wie Spinoza, Locke,
                            Reimarus, Richard Price (1723–1791), George Campbell (1719–1796) oder
                            Leß wichtige Beiträge lieferten. Besonders viel diskutiert wurde David
                            Humes (1711–1776) berühmt-berüchtigte Wunderkritik „Of Miracles“ (<hi>An
                                Enquiry concerning human understanding</hi>, 1748; dt. 1755, Kap.
                            10). Gegen Semlers ausgleichende Auffassung stellt Hume am Ende seines
                            Essays mit deutlich ironischem Zungenschlag fest: „Christian religion
                            not only was at first attended with miracles, but even at this day
                            cannot be believed by any reasonable person without one. Mere reason is
                            insufficient to convince us of its veracity“.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_4"><label>Juden
                            [...], die durchaus immer Zeichen und Wunder sehen und hören
                            wolten</label><p>Vgl. z.B. Joh 4,48; s. schon Ex 7,3.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_5"><label>wie
                            Bengel selbst gestund</label><p>Der lutherische Theologe Johann Albrecht
                            Bengel (1687–1752) gilt als Hauptvertreter des württembergischen
                            Pietismus. In seinem <hi>Gnomon Novi Testamenti</hi> (1742) äußert
                            Bengel sich zu den Wundern und Zeichen in Joh 4,48.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_6"><label>die
                            nicht sehen [...] und doch selbst gläuben</label><p>Anspielung auf Joh
                            20,29.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_7"><label>wie zu
                            Ende des Evangelii Johannis stehet, diese Zeichen damalen erzälet
                            wurden</label><p>Verweis auf Joh 20,30.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_8"><label>daß sie
                            durch diesen ihren Glauben [...] das Leben haben möchten, in seinem
                            Namen</label><p>Joh 20,31.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_9"><label>Ganz
                            recht sagten auch die zu Samaria, Joh. 4.</label><p>Anspielung auf Joh
                            4,41f.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_10"><label>Freilich hat die Kirche auch das so genante donum Miraculorum
                            gar als fortdauernd angesehen</label><p>In der lateinischen Kirche wurde
                            das „Geschenk von [gottgewirkten] Wundern“ durchaus weiterhin
                            angenommen. Zur Kritik daran vgl. etwa Semler, <hi>Versuch einiger
                                moralischen Betrachtungen über die vielen Wundercuren und Mirackel
                                in den ältern Zeiten</hi> (1767).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_11"><label><foreign xml:lang="grc">ἀληθείαν</foreign> [...] <foreign xml:lang="grc">πνεῦμα</foreign></label><p><foreign xml:lang="grc">ἀλήθεια</foreign>, Wahrheit; <foreign xml:lang="grc">πνεῦμα</foreign>, Geist.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_12"><label>oder
                            durch die eigene starke Speise der freien volkomnen
                            Christen</label><p>Vgl. Hebr 5,14.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_13"><label>Christus nur nach dem Fleische [...] kennen</label><p>Anspielung
                            auf 2Kor 5,16.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_14"><label>Wunder
                            und Zeichen fordern nur die Juden, sagt Paulus</label><p>Anspielung auf
                            1Kor 1,22.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_15"><label>weil
                            die Juden die Körperwelt unter dem Mond dem Gebiet der guten und bösen
                            Engel unterworfen hatten</label><p>Die Einteilung des Kosmos in eine
                            unveränderliche, sich ewig kreisförmig bewegende translunare Sphäre und
                            eine dem Werden und Vergehen unterworfene sublunare Welt („unter dem
                            Mond“) bildete seit dem vierten vorchristlichen Jh., von bedeutenden
                            Ausnahmen abgesehen, die vorherrschende Auffassung unter antiken
                            Gelehrten. Die klassische, bis in die Frühe Neuzeit enorm einflussreiche
                            Formulierung dieser Konzeption geht auf Aristoteles zurück (vgl. v.a.
                                <hi>De caelo</hi>). Entsprechende kosmologische Vorstellungen wurden
                            auch vom hellenistischen, rabbinischen und mittelalterlichen Judentum
                            (z.B. Maimonides, ca. 1135–1204) aufgegriffen. Juden (wie Christen und
                            Muslime), die sich an Aristoteles orientierten, wichen freilich insofern
                            von ihm ab, als sie eine göttliche Schöpfung der translunaren Sphäre und
                            einen Anfang der Zeit behaupteten. Zu jüdischen Vorstellungen von Engeln
                            und Dämonen s. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_2_5"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_16"><label>eine
                            weise unverbesserliche Ordnung in dem einzigen Reiche der
                            Natur</label><p>Semler steht hier vor Augen, dass die Naturforscher des
                            17. und 18. Jh.s die Unterscheidung von trans- und sublunarer Sphäre (s.
                                <ptr type="page-ref" target="#erl_f_29_15"/>) aufgaben und die
                                <hi>Einheit</hi> der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten betonten. So
                            behauptete etwa Newton in seinem epochemachenden Werk <hi>Philosophiae
                                Naturalis Principia Mathematica</hi> (1687; <hi rend="superscript">3</hi>1726) die Gültigkeit des Gravitationsgesetzes für
                                <hi>alle</hi> Körper – seien es Sterne, Planeten oder Äpfel (3.
                            Buch, prop. VII). Die Rede von „unverbesserlicher Ordnung“ spielt
                            möglicherweise auf Newtons Antipoden Leibniz und seine Theorie der
                            „besten aller möglichen Welten“ an, vgl. etwa <hi>Essais de
                                Théodicée</hi> (1710), 1. Buch, § 8.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_17"><label>böse
                            Geister in der Luft herrschten, also auch in die Menschen durch die Luft
                            eingehen</label><p>In der Antike war die Vorstellung, körperliche und
                            mentale Krankheiten entstünden durch böse Geister (Dämonen-Theorie),
                            weit verbreitet. Gleiches galt für die Auffassung, schlechte Luft sei
                            für Gebrechen verantwortlich (Miasma-Theorie). Als Beleg für die
                            Hartnäckigkeit besagter Theorien kann gelten, dass sich noch Anfang des
                            18. Jh.s der Name <hi>Malaria</hi> (ital. „schlechte Luft“) zur
                            Bezeichnung der entsprechenden Krankheit etablierte.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_29_18"><label>Der
                            ganze Beweis aus so genannten Weissagungen in den Schriften des
                            A.T.</label><p>Zur von Semler abgelehnten typologisch-christologischen
                            Auslegung des Alten Testaments vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_5_10"/>. Zur hier und im Folgenden
                            Anwendung findenden Akkommodationstheorie vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_5_15"/>.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_30">
      <head type="question">30<supplied>.</supplied> Warum nennen aber die Christen
                        diese bessere Erkentnis eine <hi>neue <index indexName="subjects-index">
            <term>Offenbarung</term>
          </index>Offenbarung</hi> oder Belehrung Gottes? Es konnte ja eine Folge
                        des <hi>natürlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Menschenverstand</term>
          </index>Menschenverstandes</hi> seyn, der freilich über die jüdischen
                        periodischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Meinungen</term>
        </index>Meinungen und <hi>Hypotheses</hi> sich in einzelnen Menschen nach
                        und nach erheben, und neue Urtheile ergreifen und die jüdische <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorurteile, jüdische</term>
        </index>Vorurtheile auslassen konnte?</head>
      <p><pb xml:id="bs_f_page_248" n="248" edRef="#f"/> Wo solten aber die ersten
                        Christen einen Grund gefunden und ihn also vorgezogen haben, diese alte
                        jüdische Sprache, die von <hi>Offenbarung</hi>, Belehrung Gottes schon lange
                        wusten, <hi>gar nicht zu brauchen</hi>, da sie doch mit <index indexName="subjects-index">
          <term>Juden</term>
        </index>Juden reden und sie in moralischer Erkenntniß weiter bringen wolten?
                        Sie musten ja wol <hi>dieselbe Sprache</hi> behalten, um <hi>neue grössere
                            Vorstellungen</hi> nun dadurch auszubreiten, welche sie selbst
                        angenommen und vorgezogen hatten. In der moralischen Sprache der Juden waren
                        schon die Worte und Zeichen, das <index indexName="subjects-index">
          <term>Reich Gottes</term>
        </index>Reich Gottes wird bald kommen, durch den <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias</term>
        </index>Messias; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_30_1"/>der
                        und jener Prophet redet davon, er war getrieben durch den <index indexName="subjects-index">
          <term>Geist Gottes</term>
        </index>Geist Gottes; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_30_2"/>nun trifft es ein, es wird erfüllet, was da geschrieben stehet; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_30_3"/><hi>uns hat es Gott
                            näher offenbaret durch eben diesen Geist</hi>, der in den Propheten dort
                        etwas dunkel, und von weiten davon ehedem schon geredet hat! <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> dies war also ein sehr gutes Mittel zum Endzweck; es <hi>war die
                            beste <index indexName="subjects-index">
            <term>Lehrmethode</term>
          </index>Lehrmethode</hi>. Es kann aber auch gar wohl wahr seyn, daß
                        Apostel und Schüler <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>
        <hi>in allem eigenen Bewußtseyn</hi> von sich es sagten, der <index indexName="subjects-index">
          <term>Geist Gottes</term>
        </index>Geist Gottes hat dieses mir geoffenbaret, wie dort in jenen <pb xml:id="bs_f_page_249" n="249" edRef="#f"/> Propheten schon etwas davon
                        vorkomt. Daß also <hi>nicht blos die jüdische Sprache iezt bedächtig
                            fortgesezt worden</hi>, sondern daß die Christen <hi>aus eigner Historie
                            und <index indexName="subjects-index">
            <term>Erfahrung</term>
          </index>Erfarung</hi> recht ernstlich und eifrig also reden. Die bessere
                        oder grössere Erkenntniß hatte der Christ, es seie kein sinlich äusserlich
                        Reich Gottes in Palästina zu erwarten; Gott könne keinen so unwürdigen
                        Messias, nach jüdischen Begriffen, bestellen; alle Menschen gehörten schon
                        einem Gotte an, der nicht ihren politischen Untergang, sondern ihrer aller
                        moralische Wohlfart durch den Messias nach unbegreiflicher Weisheit und
                        Gnade, besorgen und wider jüdische Irrtümer bekant machen wolle, wozu das
                        Nationalgesez <index indexName="persons-index">
          <term>Mose</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t7">Mosis</persName>, der Hohepriester,
                        der locale Tempel <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> gar nicht nöthig seyen; es gebe <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_30_4"/>eine geistliche viel vollkomnere <index indexName="subjects-index">
          <term>Beschneidung</term>
        </index>Beschneidung, eine algemeine volkommene <index indexName="subjects-index">
          <term>Aussöhnung</term>
        </index><hi>Aussönung</hi> der Menschen mit Gott, in der Erkentnis der Liebe
                        Gottes, aus der Historie und Lehre <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>, durch bessere
                        Erkenntnis der Menschen von der <index indexName="subjects-index">
          <term>Würde Gottes, moralische</term>
        </index>moralischen Würde Gottes; daß sie nun selbst Gerechtigkeit und
                        Heiligkeit immer mehr liebeten und leisteten – – Wie solte man diese neue
                        bessere <pb xml:id="bs_f_page_250" n="250" edRef="#f"/>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionslehre</term>
        </index>Religionslehre damalen diesen Juden anders anempfehlen, als
                            <hi>durch eine einzige Offenbarung und Belehrung eben des Gottes</hi>,
                        der ehedem unter den Juden durch die Propheten, die sein Geist antrieb,
                        schon manches geredet oder geleret hätte? Und was ist denn die Folge des
                            <hi>natürlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Nachdenken</term>
          </index>Nachdenkens</hi> in einigen solchen fähigen oder geübten
                        Menschen, um ja alle Ordnung und <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung, die von Gott selbst unbekanter Weise herkäme, hier
                        auszuschliessen? Haben die Naturalisten wirklich ein ausgemachtes Vorrecht
                        vor jenen guten Christen und Aposteln, dieweil sie iezt ganz anders hievon
                        reden, daß blos die Folgen des ganz natürlichen Nachdenkens sie, <hi>ohne
                            Gott, ohne <index indexName="subjects-index">
            <term>Geist Gottes</term>
          </index>Geist Gottes</hi>, oder ohne Einfluß des würdigern Begrifs von
                        Gott, über jene Rabbinen und Juden von selbst erhoben haben? Es liegt doch
                        wol alles <hi>an der Sache</hi>; die christliche Religion ist eine höhere
                        Stuffe, lehrt einen algemeinen Messias und <index indexName="subjects-index">
          <term>Geist Gottes</term>
        </index>Geist Gottes zum <index indexName="subjects-index">
          <term>Bestes, moralisch</term>
        </index>moralischen Besten aller Menschen, sie mögen der Nation nach Juden
                        oder Heiden seyn. <hi>Die schlechten jüdischen Begriffe musten doch
                            weggeschafft werden</hi>; und diese neue Begebenheit ist da, ist
                        wirklich worden, durch <pb xml:id="bs_f_page_251" n="251" edRef="#f"/> einen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias, moralischer</term>
        </index>moralischen Messias. Ob diese Erhebung und Veredelung <hi>alter
                            jüdischer <index indexName="subjects-index">
            <term>Redensarten</term>
          </index>Redensarten</hi> nun in der gemeinen christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache</term>
        </index>Sprache beschrieben wird, <hi>eine neue Stufe</hi> der ehmaligen
                        Offenbarung und <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes hat iezt angefangen; oder ob <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten sagen, es gab gar keine Offenbarung und Belehrung
                        Gottes ausser der Succession der Uebung des <index indexName="subjects-index">
          <term>Menschenverstand</term>
        </index>Menschenverstandes über moralische Dinge; das macht doch wol keine
                        solche Veränderung, daß die Naturalisten <hi>durch ihre Sprache eine viel
                            bessere Religion schon ausübten</hi>, als die Christen, die eine
                        christliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache, christliche</term>
        </index>Sprache daneben behalten. Ein für allemal ist das ganze menschliche
                        Geschlecht im gleich guten Besiz, von dem unsichtbaren, allerhöchsten Wesen
                        und von seinem wirksamen steten Verhältnis mit <index indexName="subjects-index">
          <term>einerlei Rechte, zweierlei Meinung</term>
        </index>einerley Rechte <hi>unter zweierley Meinung zu wälen</hi>; eine nimt
                        eine stete <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung und Regierung Gottes an, freilich durch so genante <index indexName="subjects-index">
          <term>Natur</term>
        </index>Natur, aber ohne Gott selbst daran zu binden; sie sezt vielmehr
                        voraus, Gott könne auch neben und über die Natur mancher Menschen zuweilen
                        wirken, auf eine uns nicht bekante Weise; die andre läßt <hi>blos
                            natürliche</hi> Wirkungen auf einander folgen, und leugnet al<pb xml:id="bs_f_page_252" n="252" edRef="#f"/>les <index indexName="subjects-index">
          <term>Übernatürliche, das</term>
        </index>Uebernatürliche, wodurch etwa Menschen neue Vortheile zu ihrer
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Vollkommenheit, physische</term>
        </index>physischen oder moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Vollkommenheit, moralische</term>
        </index>Volkommenheit entstehen können. Ist es wohl möglich, daß eine Partey
                        den Sieg erwarten oder sich schaffen wil über die andre? So lange die
                        Menschenwelt uns bekannt ist, erfolgte dies nicht; wird es wol von nun an
                        erfolgen? Was ist denn die <index indexName="subjects-index">
          <term>Natur</term>
        </index><hi>Natur</hi> aller uns so oder so weit, oder gar unbekanten Dinge
                        ohne die unendliche allerhöchste <index indexName="subjects-index">
          <term>Natur, unendliche</term>
        </index>Natur, die über alle von uns genente Natur ist? Oder ist diese etwa
                        gar nicht einmal über die <index indexName="subjects-index">
          <term>Natur des Menschen</term>
        </index>Natur der Menschen? Es wird also immer eben <hi>auf die Natur und
                            Uebung einiger Menschen</hi> ankommen, daß sie gerne an die höchste
                        Natur denken, und ihre neue seltenere Wirkung für wahr halten; wie es
                        hingegen in der Natur und Uebung anderer Menschen seinen Grund hat, daß sie
                        eine solche Relation des höchsten Wesens zu einigen Menschen nicht
                        voraussezen. Ich dächte, wir fänden diese <hi>doppelte <index indexName="subjects-index">
            <term>Gesinnung</term>
          </index>Gesinnung oder Neigung</hi> der Menschen so gar gewis und
                        historisch wirklich: daß wir es für ganz unnütz hielten, darüber ferner zu
                        streiten, <hi>damit nur der Eine Theil allein recht habe</hi>. Es ist und
                        bleibt <hi>Geschichte der Natur</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_253" n="253" edRef="#f"/>
        <hi>der so ungleichen Menschen</hi>, daß die Menschen sich hierüber
                            <hi>recht bedächtig, ernstlich</hi>, gewissenhaft theilen. Aus der
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Natur des Menschen</term>
        </index>Natur der Menschen <hi>kann man nicht eine und dieselbe <index indexName="subjects-index">
            <term>Anwendung</term>
          </index>Anwendung</hi> ihrer innern Kraft, und einerley Bewustseyn der
                        innern Veränderungen, noch weniger einerley <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache, moralische</term>
        </index>moralische Sprache herleiten; da die Natur der Dinge, oder der Grund
                        ihrer <hi>innern Bewegung von kleinern zum grössern</hi>, uns ganz gewis
                        iezt noch eben so unbekannt ist und bleibt, als ehedem. <index indexName="subjects-index">
          <term>Unsichtbare, das</term>
        </index>Das <hi>Unsichtbare</hi> gehet noch immer vor und neben allen
                        Sichtbaren her; das Denken und Urtheilen über dieses innere <index indexName="subjects-index">
          <term>Unsichtbare, das</term>
        </index>Unsichtbare, mus daher immer unter den Menschen eben so ungleich und
                        verschieden seyn, als die Stimmung der Menschen durch verschiedene Talente
                        und Vorzüge sich an den Tag legt, ohne daß diese Stimmung eine
                            <hi>algemeine</hi> Beschaffenheit aller Menschen werden kann. Oder
                            <hi>wäre es schon Beschimpfung</hi>, daß Menschen sich über die Natur
                        der <index indexName="subjects-index">
          <term>sinnlich</term>
        </index>sinnlichen Dinge gern erheben? Durch den Ausdruck <index indexName="subjects-index">
          <term>Offenbarung, übernatürliche</term>
        </index><hi>übernatürliche</hi> Offenbarung beiahen also die Christen etwas,
                        das die <choice>
          <sic>Naturalisten?</sic>
          <corr type="editorial">Naturalisten</corr>
        </choice> nicht bejahen. Ist diese Verschiedenheit beider Classen etwas an
                        sich Ungereimtes bey den Naturalisten? Mus es nun auch <pb xml:id="bs_f_page_254" n="254" edRef="#f"/> bey dem Christen
                            <hi>ungereimt seyn</hi>? wo käme denn dieses Muß her? anziehende und
                        abstossende Kraft mus doch wol in der <index indexName="subjects-index">
          <term>Welt, moralische</term>
        </index>moralischen Welt eben so immer zugleich da seyn, als in der
                        physischen körperlichen Welt; beiderley Kraft gehört auch <hi>in die <index indexName="subjects-index">
            <term>Natur des Menschen</term>
          </index>Natur</hi> der Menschen in Ansehung dieser Aufgabe.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_30_1"><label>der und
                            jener Prophet redet davon, er war getrieben durch den Geist
                            Gottes</label><p>Anspielung auf 2Petr 1,21.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_30_2"><label>nun
                            trifft es ein, es wird erfüllet, was da geschrieben
                            stehet</label><p>Anspielung auf Lk 24,44.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_30_3"><label>uns hat
                            es Gott näher offenbaret durch eben diesen Geist</label><p>Anspielung
                            auf 1Kor 2,10.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_30_4"><label>eine
                            geistliche viel vollkomnere Beschneidung</label><p>U.a. Anspielung auf
                            Kol 2,11; vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_12_5"/>.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_31">
      <head type="question">31. Hiemit wird sich aber der <index indexName="subjects-index">
          <term>Fanatismus</term>
        </index><hi>Fanatismus</hi> oder <index indexName="subjects-index">
          <term>Enthusiasmus</term>
        </index><hi>Enthusiasmus</hi> unter den Menschen ferner ausbreiten, der
                        immer so viel Böses befördert hat, als man dem Naturalismus nicht Schuld
                        geben kann!</head>
      <p>Es kann gleichwohl kein billiger bedächtiger Beobachter der
                        Menschengeschichte so geradehin absprechen, der so genante <index indexName="subjects-index">
          <term>Fanatismus</term>
        </index><hi>Fanatismus</hi> (welcher Name einen sehr ungleichen Zustand
                        begreift) habe <hi>lauter Böses</hi> für die Menschen mit sich gebracht. Man
                        hat vielmehr immer zu allen grossen schweren, standhaft ausgefürten
                        Unternemungen einen <hi>besondern nicht gewönlichen Einflus und Beistand der
                            Gottheit</hi>, als ungezweifelt angenommen. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_31_1"/><foreign xml:lang="grc">ἐπιπνοην</foreign> <foreign xml:lang="lat">adspirationem dei</foreign> nente man schon
                        lange <hi>vor der Zeit der Christen</hi>; <pb xml:id="bs_f_page_255" n="255" edRef="#f"/> und <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_31_2"/><hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Stoiker</term>
          </index>Stoiker</hi> erinnerten ihre Schüler an den <index indexName="subjects-index">
          <term>Geist Gottes</term>
        </index><hi>Geist Gottes</hi>, der in ihnen wonen und wirken wolle: an <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_31_3"/>die geheimen
                        Grundsätze der <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Magisten</term>
          </index>Magisten</hi> will ich nicht erinnern, die historisch
                        hergehören. Genug, es ist historisch wahr, daß oft ein besonderes Bewustseyn
                        oder <index indexName="subjects-index">
          <term>Vertrauen</term>
        </index>Vertrauen mancher Menschen, das eine grössere unsichtbare
                        mitwirkende <index indexName="subjects-index">
          <term>Kraft, unsichtbare</term>
        </index>Kraft zum Grunde sezte, sehr viel grosse neue Vortheile zum Besten
                        anderer Menschen zu wege gebracht hat; <hi>Es ist also nicht wahr</hi>, daß
                        aller sogenante <index indexName="subjects-index">
          <term>Fanaticismus</term>
        </index>Fanaticismus, der ohnehin, wie gesagt, einen sehr ungleichen Zustand
                        begreift, wenn man gleich <hi>einerley Wort</hi> gebraucht, lauter oder mehr
                        böse Folgen für die Menschen immer gehabt habe und haben werde, als sich
                        Vortheile und gute Folgen eben daher berechnen lassen. Man muß die Lage und
                        Verknüpfung der Menschen und die Folgen ihres Thuns und Lassens sich in
                        einem gar zu kleinen Umfange und eigenliebig vorstellen, wenn man so leicht
                        über das Gute und Böse unter den Menschen überhaupt absprechen wil. Es gibt
                        immer Misbrauch so gar des ganz ausgemachten Guten. Wenn also listige
                        boshafte Menschen die grossen Ideen von Gottes <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung zu ihren <pb xml:id="bs_f_page_256" n="256" edRef="#f"/>
                        bösen Absichten gemisbraucht haben: so ist es deswegen doch nicht wahr, daß
                        alle Aufmerksamkeit und Zuversicht auf besondere <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkungen Gottes, allemal ein schädlicher <index indexName="subjects-index">
          <term>Fanaticismus</term>
        </index>Fanaticismus, und für uns und für alle Menschen geradehin eine sehr
                        nachtheilige Gesinnung seie, die einmal einen wirklichen Grund hätte, sehr
                        gute Folgen zu erschaffen; und daß man also vielmehr sich von dieser
                            <hi>Hypothese</hi> ganz entfernen, und den Naturalismus als eine
                        reichere und sichere Quelle von lauter <hi>guten Folgen</hi> in der
                        Menschenwelt, vorziehen müsse. Wie so gar ungleich ist doch selbst dieser
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalismus</term>
        </index>Naturalismus, indem ja <index indexName="subjects-index">
          <term>Natur des Menschen</term>
        </index><hi>Natur</hi> einzeler Menschen ebenfals <hi>nicht einerley Umfang
                            oder Anlage begreift</hi>! Wie wenig ausgemacht wahr ist es, daß jeder
                        Naturalist einen jeden so genanten fanatischen Christen, in Absicht des
                        moralischen eigenen Zustandes, und des schuldlosen Betragens gegen andre
                        Menschen, ganz gewis immer sehr weit übertreffe! Wo solte also der Grund
                        hergenommen werden, zu der gleichsam pflichtmäsigen Bemühung, alle so
                        genante fanatische Gesinnung überal auszurotten, also auch alle christliche
                        und biblische <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache, biblische</term>
        </index>Sprache, welche einen nähern Zusam<pb xml:id="bs_f_page_257" n="257" edRef="#f"/>menhang mit Gott anzeigt, geradehin abzuschaffen? Es ist
                        doch wahr, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_31_4"/>in Gott
                        leben, weben und sind wir; wie soll lauter Böses daher entstehen? Aller
                        Misbrauch ist und war doch immer nur zufällig; nicht immer hat ihn böse
                        Meinung oder Gesinnung <hi>erzeuget</hi>; er würde, wenn diese Menschen auch
                        ausser <index indexName="subjects-index">
          <term>Europa</term>
        </index>Europa, ausser der christlichen Religionsgesellschaft lebten und
                        gelebt hätten, dennoch statt gefunden haben. Böse, verdorbene Menschen
                        würden also überal sich als <index indexName="subjects-index">
          <term>Bösen, die</term>
        </index>Böse gezeigt haben, wenn sie auch keine Gestalt von <index indexName="subjects-index">
          <term>Fanaticismus</term>
        </index><hi>Fanaticismus</hi>, keine Behauptung oder Meinung von
                        übernatürlicher <index indexName="subjects-index">
          <term>Offenbarung, übernatürliche</term>
        </index>Offenbarung dazu hätten misbrauchen können. Allen andern Menschen
                        aber muß doch auch diese ihre <index indexName="subjects-index">
          <term>Übung, moralische</term>
        </index>moralische Uebung, <index indexName="subjects-index">
          <term>Erfahrung, moralische</term>
        </index>Erfarung, Fertigkeit, als ihr innerer Zustand frey bleiben, da sie
                        doch wirklich nicht immer mit einem Nachtheil, oder Misbrauch verbunden ist,
                        den ein Naturalist durchaus hier übereilt voraussezt. Es ist und bleibt,
                        auch in der <index indexName="subjects-index">
          <term>Welt, moralische</term>
        </index><hi>moralischen</hi> Welt Tag und Nacht, Wärme und Kälte, gleich
                        notwendig, wenn es an manchen Arten moralischer Producte, die auch nicht
                        gleich sind, wenn wir auch ihren Nutzen nicht <pb xml:id="bs_f_page_258" n="258" edRef="#f"/> einsehen, als doch hier der Fall nicht ist, nicht
                        ganz felen sol; Und wie kann doch ein Naturalist sich anmassen, mehr
                        Freiheit hier zu brauchen, als er dem Anhänger an eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Offenbarung, übernatürliche</term>
        </index>übernatürliche Offenbarung erlauben wil? hat er Gründe, die ihn
                        hindern, sie in Absicht seiner für wahr oder auch für ungleich zu halten: so
                        sind es ja doch nur Gründe <hi>für ihn</hi>, die auf gar keine Art eben so
                        allen andern Menschen zu kommen können, eben wegen des vorausliegenden
                        Unterschieds. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_31_5"/>So sagt
                        einer erst neuerlich: Gott würde durch eine übernatürliche Belerung den
                        natürlichen Gang einzler Menschen stören und es würde mit sich bringen daß
                        Gott durch die schöpferische Einrichtung nicht alle seine Werke habe
                        erreichen können; ja es würde durch eine Offenbarung in Ansehung der schon
                        daseienden Verkettung der Ideen des Menschen so etwas geschehen, als wenn
                        man einen Haufen Sand in eine Uhr schütten wolte <choice>
          <abbr>etc</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice>. Nun so mag dieser <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalist also diese Gedanken für so wichtig halten, daß er keine
                        übernatürliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Offenbarung, übernatürliche</term>
        </index>Offenbarung selbst annimt; aber muß denn nun auch ein jeder Christ
                            <hi>um seines eigenen Besten willen</hi>, ein solcher Naturalist werden?
                        Wenn der <hi>natür</hi><pb xml:id="bs_f_page_259" n="259" edRef="#f"/><hi>liche Gang</hi> mancher Menschen diesen Begriff von <index indexName="subjects-index">
          <term>Übernatürliche, das</term>
        </index><hi>Uebernatürlichen</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Unsichtbare, das</term>
        </index><hi>Unsichtbaren</hi> schon mit sich bringt, wie es historisch wahr
                        ist: wie kann durch die Bejahung einer übernatürlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Belehrung</term>
        </index>Belerung eben dieser natürliche Gang dieser Menschen gestöret
                        heissen? In der <index indexName="subjects-index">
          <term>Natur des Menschen</term>
        </index>Natur mancher <hi>Menschen</hi> liegt also dieser Begrif. Wie folgt
                        aber eine Unzulänglichkeit der weisen <index indexName="subjects-index">
          <term>Schöpfung</term>
        </index>Schöpfung, wenn neben der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bewegung, physische</term>
        </index>physischen natürlichen Bewegung, auch eine nicht physische <index indexName="subjects-index">
          <term>Bewegung, moralische</term>
        </index>moralische in manchen Menschen mit wirket? Es ist ja doch gar
                        schlecht geurtheilet, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_31_6"/>wenn der <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalist die <hi>unendliche <index indexName="subjects-index">
            <term>Weisheit Gottes, unendliche</term>
          </index>Weisheit</hi> Gottes dahin ziehen wil, daß ausser der physischen
                        Ordnung aller Dinge, die doch von Gott immer abhängt, Gott gar keine <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung weiter übrig haben könne; als wenn die Natur aller Dinge dem
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten <hi>so bekannt wäre</hi>, daß er nun wüßte, es seie gar
                        keine weitere <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes übrig; und als wenn Gott nicht selbst unendlich mehr
                        seie und wirke, als was Menschen in der und der guten oder schlechten <index indexName="subjects-index">
          <term>Übung, moralische</term>
        </index>moralischen Uebung von Gott bejahen mögen! so leicht ist die <index indexName="subjects-index">
          <term>Unendlichkeit Gottes</term>
        </index>Unendlichkeit Gottes abgeschaft, durch das Wort <index indexName="subjects-index">
          <term>natürlich</term>
        </index><hi>natürlich</hi>; und es ist doch selbst die so genante Natur,
                        körperliche und <pb xml:id="bs_f_page_260" n="260" edRef="#f"/> geistliche
                        für uns immer <hi>unendlich</hi>! Mit unendlicher <index indexName="subjects-index">
          <term>Weisheit Gottes, unendliche</term>
        </index>Weisheit hat Gott die Geseze aller Dinge ein für allemal verordnet!
                        Und – – – daher folgt, er hat daneben eine Wirkung auf manchen Menschen
                        übernatürlich, wie einige Menschen reden, auch noch anwenden können? Aber es
                        konte ja in dieser <index indexName="subjects-index">
          <term>Weisheit Gottes, unendliche</term>
        </index>unendlichen Weisheit <hi>für einige Menschen</hi> eben bestimt seyn,
                        daß sie an eine übernatürliche Weisheit Gottes denken, neben der so genanten
                        Natur; wie sie auch an das <index indexName="subjects-index">
          <term>Unsichtbare, das</term>
        </index><hi>Unsichtbare</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Unkörperliche, das</term>
        </index><hi>Unkörperliche</hi> denken, das immer eher ist, als das Sichtbare
                        und Körperliche. Warum sol <hi>Offenbarung</hi> Gottes zugleich einen Streit
                        mit der Weisheit und Güte Gottes mit sich bringen? Andere Menschen finden
                        viel mehr Weisheit und Güte Gottes darin und sind zu bescheiden, als daß sie
                        dem höchsten Wesen aus ihren Kopfe hierbey anweisen, oder auch gar alle
                        andre Menschen Vorschriften machen wollen was sie von dem <index indexName="subjects-index">
          <term>Unsichtbare, das</term>
        </index>Unsichtbaren denken sollen. So lange die Folgen der beiaheten
                        Offenbarung nur in den bejahenden Menschen selbst einfallen, und ihre
                        moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Besserung</term>
        </index>Besserung mit sich bringen: kann kein anderer Mensch über ungerechte
                        Beeinträchtigung klagen; wenn <pb xml:id="bs_f_page_261" n="261" edRef="#f"/> aber jemand aus Offenbarung <hi>äusserliche</hi> Zerrüttungen der
                        bürgerlichen Gesellschaft vornemen wil, so wird der Beweis bald da seyn,
                        durch den hinlänglichen Widerstand der Gesellschaft, daß Gott dieses nicht
                        haben wolte. Aber wo sol der Widerstand herkommen, der die Christen am
                        fernern <index indexName="subjects-index">
          <term>Glaube</term>
        </index>Glauben einer Offenbarung Gottes hindern solte? durch den Namen,
                        Dumkopf, Fantast, läßt sich kein vernünftiger Mensch dazu bringen, sich
                        alles eigene Urtheil zu untersagen.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_31_1"><label><foreign xml:lang="grc">ἐπιπνοην</foreign> adspirationem dei
                            nente man schon lange vor der Zeit der Christen</label><p>Gemeint sein
                            dürfte „<foreign xml:lang="grc">ἐπίπνοια</foreign> a(d)spirationis dei“.
                            Die griechisch-lateinische Phrase bedeutet „Einhauchen des Odems
                            [eigentl. Anhauchen; Ausdünstung] Gottes“; vgl. Gen 2,7.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_31_2"><label>Stoiker
                            erinnerten ihre Schüler an den Geist Gottes</label><p>Eine gängige
                            stoische Definition spricht vom Wesen Gottes (<foreign xml:lang="grc">τὴν τοῦ θεοῦ οὐσίαν</foreign>) als intellektuellem, „feuerartigen“
                            Atem/Geist (<foreign xml:lang="grc">πνεῦμα νοερὸν καὶ
                            πυρῶδες</foreign>), der alles durchdringt, alles nach seinem Plan formt
                            (Aetius; <hi>Stoicorum Veterum Fragmenta</hi> II, 1009). Die mit
                            Notwendigkeit ablaufende, gesetzmäßige Umsetzung dieses Plans
                            bezeichneten die Stoiker als <hi>fatum</hi> (gr. <foreign xml:lang="grc">εἱμαρμένη</foreign>). Die Vernünftigkeit und Unentrinnbarkeit des
                            Fatums zu akzeptieren (sich an sie zu „erinnern“), ist Voraussetzung
                            eines guten Lebens. Vgl. auch <ptr type="page-ref" target="#erl_b_v_18"/> (Epiktet).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_31_3"><label>die
                            geheimen Grundsätze der Magisten</label><p>Es ist nicht klar, auf wen
                            und was Semler sich hier bezieht. Gemeint sein könnten: a) antike
                            Anhänger magischer Praktiken im Allgemeinen; b) zoroastrische Priester,
                            genannt „Magi(ere)“ (vgl. Mt 2,1: <foreign xml:lang="grc">μάγοι</foreign>, „Weise aus dem Morgenland“); c) Anhänger des Simon
                            Magus (1. Jh.; Apg 8,9–25), der ähnlich wie die Stoiker (s. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_31_2"/>) gelehrt zu haben scheint,
                            Gott sei das „feuerartige“ Prinzip des Kosmos, eine unendliche Kraft
                            oder Potentialität (vgl. Hippolyt von Rom, s. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_27_6"/>, <hi>Refutatio omnium haeresium</hi>, 6,
                            7–20; v.a. 9 u. 17). Die dritte Lesart erscheint aufgrund des Kontexts
                            zwar plausibel, allerdings werden die vor allem im 2. und 3. Jh. in Rom
                            aktiven Anhänger Simons in der Literatur fast ausschließlich als
                            „Simonianer“ angesprochen, die Bezeichnung „Magisten“ lässt sich für sie
                            nicht belegen.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_31_4"><label>in Gott
                            leben, weben und sind wir</label><p>Apg 17,28.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_31_5"><label>So sagt
                            einer erst neuerlich: Gott würde durch eine übernatürliche Belerung den
                            natürlichen Gang einzler Menschen stören [...] als wenn man einen Haufen
                            Sand in eine Uhr schütten wolte etc.</label><p>Semler bezieht sich auf
                            Bahrdts politischen Roman <hi>Ala Lama oder der König unter den
                                Schäfern, auch ein goldner Spiegel</hi>, 2 Bde. (1790). Vgl. Bd. 1,
                            226: „Wenn [der Gott] Bohama den natürlichen Gang vernachlässigen und
                            ganz neue und auf dem Wege der Natur unentdekbare Theorien uns
                            mittheilen wolte; so würde das unsere ganze Seele zerrütten, und alle
                            Räder der Maschine stoken machen. Denn wenn alles nach dem Gange der
                            Natur verkettet ist, wenn alle Ideen des Menschen, die er durch Sinne,
                            Erfahrung und Vernunft sich samlete, unter sich associiret sind und ein
                            homogenes Ganzes ausmachen; so müßte das Hinzukommen hetrogener Ideen
                            durch eine Offenbarung, ohngefähr das anrichten, was die Einschüttung
                            eines Haufen Sandes in eine Uhr, anrichten würde.“ – Der Titel der
                            Schrift spielt auf Wielands utopischen Roman <hi>Der goldne Spiegel oder
                                die Könige von Scheschian</hi> (1772) an. In der „Vorrede“ des
                                <hi>Ala Lama</hi> erklärt sich ein gewisser „Johan Niklas,
                            Illuminat“ zum Übersetzer des anonymen Werks „aus dem Deutschen“ (!),
                            was gewiß „sonderbar“ klinge, aber ein „Räthsel“ sei, das „nicht eher,
                            als im Jahre 2442“ aufgelöst werden könne. Auch angesichts dieser für
                            Bahrdt charakteristischen Art von Humor dürfte Semler über die Identität
                            des Verfassers im Bilde gewesen sein.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_31_6"><label>wenn
                            der Naturalist die unendliche Weisheit Gottes dahin ziehen wil, daß
                            ausser der physischen Ordnung aller Dinge, die doch von Gott immer
                            abhängt, Gott gar keine Wirkung weiter übrig haben könne</label><p>Vgl.
                                <ptr type="page-ref" target="#erl_b_v_15"/> und <ptr type="page-ref" target="#erl_f_v_13"/>.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_32">
      <head type="question">32. Aber es ist doch unter den Christen durch ihre <index indexName="subjects-index">
          <term>Offenbarung</term>
        </index>Offenbarung, die <index indexName="subjects-index">
          <term>Schwärmerei</term>
        </index>Schwärmerey von <index indexName="subjects-index">
          <term>Geister</term>
        </index>Geistern, Erscheinungen, unsichtbaren Wirkungen und täglichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Wunder</term>
        </index>Wundern zu allernächst befördert worden? Dies kann doch keine Folge
                        von einer wahren <index indexName="subjects-index">
          <term>Belehrung</term>
        </index>Belehrung Gottes seyn, also ist bey den Christen keine göttliche
                        Offenbarung, wenn sie gleich dergleichen bejahen. Die Historie lehret es
                        ganz unwidersprechlich, daß es bey keinem Staat so viel anhaltenden und
                        immer wachsenden <index indexName="subjects-index">
          <term>Aberglaube</term>
        </index>Aberglauben gegeben hat, als bey den Christen.</head>
      <p><pb xml:id="bs_f_page_262" n="262" edRef="#f"/> Und hieraus sol also
                            <hi>diese Historie</hi> eingesehen werden, daß die ersten Urheber dieser
                        Bejahung, es habe eine neue Offenbarung Gottes ihnen bessere Erkentnis
                        geschaft, und sie also von Juden und Heiden getrent, sich selbst geirret,
                        oder daß sie es bedächtig vorgegeben haben, um sich desto mehr Anhänger zu
                        schaffen! Ich dächte doch nicht daß jener Schlus und gar eine wirkliche
                        Historie, aus solchen Gedanken, notwendig entstehen müssen; vielmehr dieses,
                        daß nachher manche, daß viele Christen den wahren moralischen Inhalt der
                        neuen Belerung, die bey einigen Menschen <hi>durch Offenbarung entstanden
                            hies</hi>, vernachlässiget, und gar bedächtig gemisbraucht haben. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_32_1"/>Wir wissen aber
                        ohnehin, daß die guten Früchte einer neuen Belerung – kein physischer
                        unausbleiblicher Erfolg heissen können, sondern eine <index indexName="subjects-index">
          <term>moralisch</term>
        </index><hi>moralische Natur</hi> behalten; oder, daß es nun auf die
                        Menschen ankömt, ob sie diese neue Belerung (die so oder so von Gott kam,
                        nach der Ueberzeugung einiger Menschen) moralisch gut für sich anwenden,
                        oder mit Beibehaltung ihrer sinlichen Begierden gar zum Mittel verkehren,
                        andere Menschen zu hintergehen. Hienächst kann man <pb xml:id="bs_f_page_263" n="263" edRef="#f"/> ja nicht sagen, daß diese
                        neue Belerung <hi>unter allen Christen</hi> ohne einen verhältnismässigen
                        guten Erfolg geblieben seie; daß aber alle Christen nun eben so lauter guten
                        Gebrauch von einer neuen Belehrung machen solten, kann ja niemand zu einem
                        unausbleiblichen Merkmal der Wirklichkeit dieser Belerung Gottes so machen,
                        daß alsdenn es keine solche Belerung einiger Christen gegeben habe, wenn
                        diese Belerung nicht lauter vortrefliche Folgen bey allen Christen immer
                        hervorbrachte. Oder sind Vorschriften und Geseze darum so gleich nicht gute
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorschriften</term>
        </index>Vorschriften, weil sie nicht durchgängig von allen Mitgliedern zu
                        ihrem Nutzen beobachtet werden? Wenn wir also die Ursachen des <hi>felenden
                            grössern Erfolges</hi>, immer bey den <hi>ungleichen</hi> Menschen
                        selbst finden können, warum sol es nun gar ein Beweis werden, daß in der
                        That dies neue <index indexName="subjects-index">
          <term>Mittel</term>
        </index>Mittel als neu, oder als von Gott iezt veranstaltet gar nicht in dem
                        Bewustseyn der Menschen gegeben habe: dieweil sehr viele Christen es gar
                        nicht oder nicht gut und <hi>zu grossen <index indexName="subjects-index">
            <term>Folgen</term>
          </index>Folgen</hi> genüzt haben? Da es nun doch gewis ist, daß viele
                        Menschen diesen Begriff einer göttlichen Offenbarung sehr gut an<pb xml:id="bs_f_page_264" n="264" edRef="#f"/>gewendet haben zur
                        Hintansezung des Juden- und Heidentums auch zum eigenen grossen <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlstand, moralischer</term>
        </index>moralischen Wohlstand, so ist also mehr moralisch Gutes damit
                        befördert worden, in allen Jahrhunderten bis hieher, als ohne diesen Begriff
                        sonst statt gefunden hätte. Da wir es so gar zur Pflicht haben, ehmalige
                        Feler und Misbräuche, welche durch unwürdige Lehrer und falsche Christen
                        eingefüret worden sind, sorgfältig aufzusuchen, und diese Offenbarung Gottes
                        gar nicht von uns so gebraucht werden soll, daß wir in einer steten
                            <hi>blinden <index indexName="subjects-index">
            <term>Abhängigkeit</term>
          </index>Abhängigkeit</hi> von den vorigen sogenanten Christen und ihren
                        guten und schlechten Lehrern <hi>stehen bleiben</hi>: so hört aller jener
                            <hi>Aberglaube bey uns ganz gewis auf</hi>, wenn wir diese Offenbarung
                        für uns richtig anwenden werden; und die aus einem Misbrauch entstandenen
                        Folgen eines grossen Aberglaubens fallen geradehin weg; können wenigstens
                        von billigen Gegnern nicht für iezt <hi>uns vorgehalten werden</hi>.
                        Uebrigens wird ja keine bestimte <hi>einzelne Art und Weise dieser
                            Offenbarung, allen Christen zu glauben</hi> aufgelegt; denn sie ist und
                        bleibt unbekant. Genug, die Christen liessen <hi>den Ursprung</hi> der neuen
                        Religion <pb xml:id="bs_f_page_265" n="265" edRef="#f"/> mit einer <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes zusammen hängen; ob nun dieses blos ihr Aberglaube
                        war, oder ob sie selbst einen Grund hatten, eine solche <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes <hi>in ihm als nur daseiend zu glauben: ist die
                            Aufgabe</hi>, die kein Theil <hi>wider den andern</hi> schon entscheiden
                        kann.</p>
      <p>Es ist aber auch noch weiter wahr, daß <hi>nicht alles als schändlicher
                            Aberglaube anzusehen ist</hi>, was so leicht iezt von vielen
                        Naturalisten dafür angerechnet wird. Es war freilich unrecht, daß man ehedem
                        den Christen, welche nicht zur Clerisey gehörten, allen eigenen freien
                        Gebrauch dieser Bücher, der neben dem öffentlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchengebrauch</term>
        </index>Kirchengebrauch noch statt finden konte, durchaus verboten und
                        verwehret hat; denn es ist die erste Forderung der neuen Belerung, daß die
                        Menschen ja <hi>mit eigener <index indexName="subjects-index">
            <term>Aufmerksamkeit</term>
          </index>Aufmerksamkeit</hi> über die ihnen gehörige Stufe der Religion
                        nun <index indexName="subjects-index">
          <term>nachdenken</term>
        </index>nachdenken und urtheilen sollen. Nicht alle Christen solten ein und
                        dasselbe <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, einerlei</term>
        </index>Maas ihrer Erkentnis und der Uebung dessen, was sie erkanten, ein
                        für allemal als die einzige Religion, behalten. Folglich war es auch keine
                        Vorschrift dieser neuen Belehrung, daß alle <pb xml:id="bs_f_page_266" n="266" edRef="#f"/> Christen <hi>aus allen Büchern</hi> der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel oder des <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice>
        <hi>einerley Summe</hi> zu ihrer gegenwärtigen Erkentnis samlen solten; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_32_2"/>das Alte ist
                        vergangen, es ist alles neu worden, (oder das Alte sol als unnötig immer
                        mehr erkant werden, und neue iezige Erkentnis sol an die Stelle des Alten
                        kommen) war gleichsam die Hauptsumme der neuen Belehrung; weil die
                        moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Vollkommenheit, moralische</term>
        </index>Volkommenheit und <index indexName="subjects-index">
          <term>Herrlichkeit Gottes</term>
        </index>Herrlichkeit Gottes nur <hi>in einem unbegränzten Raume</hi>
                        gleichsam erblikt wurde; da jedem Christen das <index indexName="subjects-index">
          <term>Glaubens, Maß des</term>
        </index>Maas seines Glaubens oder seiner Religion für ihn selbst, <hi>ganz
                            frey blieb</hi>; und es war und blieb doch <hi>ein christlicher <index indexName="subjects-index">
            <term>Glaube</term>
          </index>Glaube</hi>, in eigner neuen Fertigkeit aller Christen. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_32_3"/>Wie es <hi>Eine</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Taufe</term>
        </index>Taufe war, sie mochte im Jordan, oder in einem Teiche, oder in einem
                        Brunnen irgend eines Landes ertheilet werden; es blieb ein und derselbe
                        Grund der neuen Religion, zu der man durch die Taufe als ein nun kentliches
                        Mitglied neben andren aufgenommen wurde. Daß aber nun Lehrer <hi>alle</hi>
                        Schriften der Bibel, und <hi>allen</hi> Inhalt <hi>aller</hi> Kapitel, und
                        alle Anzeigen <hi>damaliger Vorstellung und Urtheile</hi>, nach und nach
                        ebenfals mit zu dieser neuen <hi>unveränderlichen Belehrung für</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_267" n="267" edRef="#f"/>
        <hi>alle Christen</hi> gerechnet haben: <hi>ist ein gar sichtbarer Feler
                            oder Irrtum</hi> voriger Zeit; oder ist doch eigenes Urtheil mancher
                        Christen, die sich dabey moralisch wohl befinden; wenn auch andere Christen
                        anders urtheilen, und ebenfals keinen moralischen Schaden davon haben. Wenn
                        man auch eine gesellschaftliche Uebereinstimmung der <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchendiener</term>
        </index>Kirchendiener im öffentlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel, Gebrauch der</term>
        </index>Gebrauche der Bibel als ein rechtmäsiges Mittel ansehen konte, eine
                        solche Gesellschaft vor täglicher Zerrüttung durch immer neue Anfänge zu
                        behüten: so hätte man dies doch nicht mit zum steten unveränderlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Offenbarung, Endzweck der</term>
        </index>Endzweck der Offenbarung rechnen sollen, was durchaus nur
                            <hi>ieziger</hi> besonderer <hi>äusserlicher Endzweck</hi> der
                        Kirchenlehrer und der Vorsteher einer schon grossen christlichen
                        Religionsgesellschaft heisen konte. Blos durch diese <hi>Mischung</hi> aller
                        Bücher und alles ihres so gar sehr ungleichen Inhalts in eine
                        unveränderliche Summe, hat man <hi>so gar jüdischen alten Aberglauben, der
                            darin gemeldet wird, auch den Christen als geoffenbarte Wahrheiten</hi>
                        mitgetheilt, und hiedurch freilich die immer volkommenere geistliche
                        Religion, die in <hi>gegenwärtigen</hi> eigenen Thun und Lassen, also in
                            eig<pb xml:id="bs_f_page_268" n="268" edRef="#f"/>ner immer grössern
                        Erkentnis und Ausübung bestehet, in eine ängstliche <hi>Widerholung und
                            Mischung aller Zeilen der Bibel</hi> verwandelt. Nun stunden alle
                        Christen immer fort in einem Kreise stille, aus dem sie nie heraus gehen
                        durften, um nicht Kezer und also ewig verdamt zu werden. Aber alle diese
                        Einwürfe und Vorwürfe, welche selbst von manchen Protestanten schon wider
                        die falsche Kirche gebraucht worden sind, <hi>treffen</hi> die an sich
                        selbst behauptete neue Offenbarung, neue moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Haushaltung Gottes</term>
        </index>Haushaltung Gottes, unter den bisherigen Juden und Heiden, <hi>ganz
                            und gar nicht</hi>. Wir würden diese neue Belehrung Gottes, oder bessere
                        Begriffe von moralischer <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes, moralische</term>
        </index>Verehrung Gottes, haben und behalten, wenn wir auch nicht so viel
                        Bücher des <choice>
          <abbr>A.</abbr>
          <expan>Alten</expan>
        </choice> und <choice>
          <abbr>N. T.</abbr>
          <expan>Neuen Testaments</expan>
        </choice> in Händen hätten, wenn wir auch viele Erzehlungen von so genanten
                        Wundern gar nicht wüsten. Alle Christen werden immer mehr selbst davon
                        gewis, daß sie <hi>von Gott</hi> durch unaufhörliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Mittel</term>
        </index>Mittel <hi>beleret werden</hi>; sie haben selbst höhere Begriffe von
                        Sünde und aller <index indexName="subjects-index">
          <term>Unordnung, moralische</term>
        </index>moralischen Unordnung, aber auch nun von der unendlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Gnade, unendliche moralische</term>
        </index>moralischen Gnade und <index indexName="subjects-index">
          <term>Liebe Gottes</term>
        </index>Liebe Gottes. <hi>Diese neue <index indexName="subjects-index">
            <term>Einsicht</term>
          </index>Einsicht</hi> der Christen, diese eigene <pb xml:id="bs_f_page_269" n="269" edRef="#f"/> Betrachtung über die
                            <hi>moralische</hi> Güte Gottes, neben der bekannten sichtbaren
                        Schöpfung, gehöret zu der so genanten <hi>neuern viel herrlichern
                            Offenbarung Gottes</hi>; auf diese eigene practische Uebung und <index indexName="subjects-index">
          <term>Erfahrung</term>
        </index>Erfarung der Christen kommt die <index indexName="subjects-index">
          <term>Hauptsache</term>
        </index><hi>Hauptsache</hi> an, wenn sie eine neue Offenbarung Gottes in
                        jener Zeit immer noch bejahen. Auf die geschriebenen Bücher, auf ihre
                        Vielheit oder Abkürzung, auf eine Samlung von jüdischen alten und spätern
                        Ideen, <hi>als Samlung</hi>, oder in <hi>damaliger Verkündung</hi> komt nur
                        wenig an; denn <hi>dies wird nicht unsre eigene Religion</hi>; und ist
                        wenigstens den Lesern frei gelassen. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_32_4"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Geist und Leben</term>
        </index>Geist und Leben, <index indexName="subjects-index">
          <term>Geist und Wahrheit</term>
        </index>Geist und Wahrheit, Volkommenheit, <index indexName="subjects-index">
          <term>Geist und Kraft</term>
        </index>Geist und Kraft zum göttlichen Leben und Wandel ist <hi>die <index indexName="subjects-index">
            <term>Hauptsache</term>
          </index>Hauptsache</hi> in der neuen Religion; und die läßt sich ohne
                            <hi>eigene Versuche</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Erfahrung</term>
        </index><hi>Erfarung</hi> solcher Wirkungen Gottes, gar nicht erkennen; läßt
                        sich aber auch, wenn es einmal eigene Fertigkeit und Erfarung ist, durch
                        allerley Einwürfe oder Spott und lustige Wendungen eines Naturalisten, aus
                        dem Christen nicht so gleich wieder entfernen. Dieser Charakter enthält den
                        kentlichen Unterscheid von <hi>Naturalismus</hi>; der <pb xml:id="bs_f_page_270" n="270" edRef="#f"/> siehet jenes alles für
                            <hi>fanatische</hi> Verirrung an; aber hiemit wird die Erfarung der
                        Christen nicht zum <hi>Undinge</hi> oder <index indexName="subjects-index">
          <term>Fanaticismus</term>
        </index><hi>Fanaticismus</hi> gemacht.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_32_1"><label>Wir
                            wissen [...], daß die guten Früchte einer neuen Belerung [...] eine
                            moralische Natur behalten</label><p>Möglicherweise Anspielung auf Gal
                            5,16–25: „Ich sage aber: Wandelt im Geist [...]. Die Frucht aber des
                            Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue,
                            Sanftmut, Keuschheit.“</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_32_2"><label>das
                            Alte ist vergangen, es ist alles neu worden</label><p>Anspielung auf
                            2Kor 5,17.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_32_3"><label>Wie es
                            Eine Taufe war</label><p>Anspielung auf Eph 4,5.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_32_4"><label>Geist
                            und Leben, Geist und Wahrheit, Volkommenheit, Geist und
                            Kraft</label><p>Anspielungen auf Joh 6,63 („Die Worte, die ich zu euch
                            geredet habe, die sind Geist und sind Leben“); Joh 4,23f. (Anbeten „im
                            Geist und in der Wahrheit“); Mt 5,48 („Darum sollt ihr vollkommen sein,
                            wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“); 1Kor 2,4 („Erweis des
                            Geistes und der Kraft“).</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_33">
      <head type="question">33. Zugegeben, was diese eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Erfahrung</term>
        </index>Erfarung und <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissheit</term>
        </index>Gewisheit mancher Christen betrift, eben so bleibt einer bey seiner
                        Erfarung, der ein Gespenst gesehn oder gehört hat; daraus entstehet doch
                        eben gar kein Beweis für einen andern. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_33_1"/>So heißt es, Gott ist dem <index indexName="persons-index">
          <term>Abraham</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6sz">Abraham</persName>, dem <index indexName="persons-index">
          <term>Mose</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t7">Moses</persName> – – erschienen; ein
                        Engel ist erschienen; hiemit bekömt ein anderer keinen Grund ebenfals zu
                        glauben, was ein anderer also beschreibt, wie er es erfaren haben wil <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice>
      </head>
      <p>Ganz gewis; aber ist das <hi>Nichtglauben</hi> anderer nun auch eine
                        Widerlegung für den, der da glaubt oder überzeugt ist, daß er <hi>Gottes
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Gottes Wirkung</term>
          </index>Wirkung</hi> erfärt? hat deswegen <index indexName="persons-index">
          <term>Abraham</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6sz">Abraham</persName>, <index indexName="persons-index">
          <term>Paulus</term>
        </index><persName ref="textgrid:251kf">Paulus</persName> – keine neue
                        grössere Erkentniß bekommen, weil andre diese Beschreibung gar nicht gelten
                        liessen oder verspotteten? Man darf es keinem Naturalisten übel nehmen, daß
                        er dergleichen Beschreibung nicht <pb xml:id="bs_f_page_271" n="271" edRef="#f"/> so leicht oder gern gelten läßt, als manche andre Menschen;
                        es sollen auch solche Beschreibungen nicht in wörtlicher Abfassung
                        eigentlich eine besondre <index indexName="subjects-index">
          <term>Kraft</term>
        </index>Kraft beweisen in Absicht aller andern Menschen. Es ist vielmehr
                        eine alte ungegründete Forderung der Pfaffen und Mönche, daß nun alle
                        Menschen die <index indexName="subjects-index">
          <term>Offenbarung</term>
        </index>Offenbarung Gottes nebst der ehemaligen auch wol schlechten
                        Beschreibung derselben so gleich auch immer gelten lassen, und <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenchristen</term>
        </index>Kirchenchristen werden müssen, wo sie nicht ewig verdamt heissen
                        wollen. Ich behaupte hier nur umgekehrt eben so viel: es ist gar kein Grund
                        da, daß alle Christen nun um ihres grössern Wohlergehens willen, <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten werden sollen; wenn gleich Naturalisten immerfort
                        solche Gründe nicht finden oder gelten lassen, welche bey den Christen noch
                        immer zu ihrer Gewisheit einer göttlichen Belehrung gelten. Die neue
                        Offenbarung fand vornehmlich Statt, zu einer bessern volkommenern <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis, moralische</term>
        </index>Erkentnis moralischer Wahrheiten, als <hi>bis dahin unter Juden und
                            Heiden schon da war</hi>; zumal zur Widerlegung der falschen Begriffe
                        von einem Messias und zur freien Uebung in der eigenen ernstlichen Verehrung
                        Gottes. Diese neue Gesellschaft hat also keinen An<pb xml:id="bs_f_page_272" n="272" edRef="#f"/>theil mehr an der alten kleineren jüdischen
                        Religion, an ihren Opfern – sie kent eine geistliche oder volkommenere
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, geistliche</term>
        </index>Religion. Es wurden hier viel jüdische <index indexName="subjects-index">
          <term>Redensarten</term>
        </index>Redensarten behalten; aber <hi>in neuer Bedeutung</hi>; ob gleich
                        viele Leser das alte hielten, um der alten <index indexName="subjects-index">
          <term>Redensarten</term>
        </index>Redensarten willen. Die Menschen sind ja ungleich. Von der ersten
                        Pflanzung der neuen Religion unter den eigentlichen Heiden als Heiden, im
                        Unterschied von Juden, <hi>wissen wir zu wenig</hi>, als daß wir <hi>die
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Lehrmethode</term>
          </index>Lehrmethode</hi> näher kennen und betrachten könten; selbst die
                        Schuzschriften oder <hi>Apologien</hi>, die wider die gröbsten heidnischen
                        Lehrmeinungen vornemlich sich herauslassen, kann man hier nicht brauchen.
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_33_2"/>Indes bejahen
                        doch so gar mehrere christliche Schriftsteller, daß <hi>Philosophen,
                            Dichter, Historiker – eben dieselben moralischen Begriffe und
                            Wahrheiten</hi> schon so oder so weit gekant hätten, wenn gleich der
                        gemeine Haufe nicht davon belehret worden, daß es einen <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_33_3"/><foreign xml:lang="grc">λογος</foreign>
        <choice corresp="#bs_f_corr_1">
          <sic><foreign xml:lang="grc">ἐνσαρκος</foreign></sic>
          <corr type="authorial"><foreign xml:lang="grc">ἐνσπαρτος</foreign></corr>
        </choice>
        <hi>durch die <index indexName="subjects-index">
            <term>Vernunft</term>
          </index>Vernunft</hi>, die in einigen Menschen so weit reichen könte,
                        immer gebe; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_33_4"/><foreign xml:lang="lat">nemo
                            <hi>sine</hi>
          <index indexName="persons-index">
            <term>Jesus Christus</term>
            <term type="alternative">Christus</term>
          </index><hi><persName ref="textgrid:255cd">Christo</persName> nascitur</hi></foreign>,
                        sagte so gar <hi>Hieronymus</hi>. Es ist uns aber kein aneinander hängender
                            Vor<pb xml:id="bs_f_page_273" n="273" edRef="#f"/>trag übrig, wie er zur
                        Einladung der Heiden zur christlichen practischen Religion eingerichtet
                        gewesen, wenn auch von der gesellschaftlichen Religionsordnung etwas gesagt
                        wird. Es war aber doch die besondere Einwirkung Gottes auf die <index indexName="subjects-index">
          <term>Gemütskräfte</term>
        </index>Gemütskräfte der Menschen, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_33_5"/>eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Theurgia</term>
        </index><choice corresp="#bs_f_corr_1">
          <sic><hi>Therugia</hi></sic>
          <corr type="authorial"><hi>Theurgia</hi></corr>
        </choice>, vielen platonischen Schülern gar geläufig, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_33_6"/>wie die <index indexName="subjects-index">
          <term>Stoiker</term>
        </index><hi>Stoiker</hi> davon reden, daß Gott in manchen Menschen
                            <hi>wone</hi>. Genug aber; ich lasse es den <hi>Naturalisten</hi> gern
                        frey, daß sie durch die und jene Begriffe oder Lehrsäze mancher Theologen
                        immer mehr Anstos gefunden haben, als Reitzung, sich zu einer christlichen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Erfahrung, christliche</term>
        </index>Erfarung und Uebung (die von der blos <hi>gesellschaftlichen</hi>
                        Religionsform gar sehr unterschieden ist;) auf einige Zeit zu entschliessen.
                        Ich behaupte nur, daß wir Christen eben so viel Recht und Freiheit haben
                        müssen, alle bisher bekanten Gründe für den <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalismus</term>
        </index>Naturalismus ebenfals noch immer für ganz <hi>unwirksam auf uns
                            anzusehen</hi>. Kein verständiger geübter Christ kann dahin gebracht
                        werden, den Tausch mit dem Naturalisten für seinen ausgemachten moralischen
                        Gewinn schon anzusehen; er verliert vielmehr das Bewustseyn, das ihn so
                        gewis beruhiget, eben durch diesen Widerstand beruhiget.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_33_1"><label>So
                            heißt es, Gott ist dem Abraham, dem Moses – – erschienen; ein Engel ist
                            erschienen</label><p>Anspielung auf Gen 18; Ex 3,2 und Lk 1.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_33_2"><label>Indes
                            bejahen doch so gar mehrere christliche Schriftsteller, daß Philosophen,
                            Dichter, Historiker – eben dieselben moralischen Begriffe und Wahrheiten
                            [...] gekant hätten</label><p>Vgl. hierzu als ein Beispiel unter vielen:
                            Clemens von Alexandrien (ca. 150–215): <hi>Stromateis</hi> (Teppiche),
                            1, 20,99: „Freilich machte einst auch die Philosophie allein die
                            Griechen gerecht“; man beachte aber auch Clemens’ – für christliche
                            Autoren der Zeit genauso typische – direkt anschließende Einschränkung:
                            „wenngleich sie sie nicht zur Gerechtigkeit <hi>überhaupt</hi> [καθόλου]
                            führte“. Vgl. auch 1, 5,28.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_33_3"><label><foreign xml:lang="grc">λογος
                            ἑνσπαρτος</foreign></label><p>Während im Druck das in der Christologie
                            gebräuchliche λογος ἐνσαρκος („fleischgeborenes Wort“) steht, folgen wir
                            den autorschaftlichen Corrigenda am Ende der Vorrede und am Ende des
                            Werks. Gemeint ist hier das <hi>insitum verbum</hi> („eingepflanzte
                            Wort“), vgl. Jak 1,21, also eine Art natürlicher Glaube an Christus in
                            allen Menschen. Vgl. auch Semler, <hi>Unterhaltungen mit Herrn
                                Lavater</hi> (1787), 458.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_33_4"><label>nemo
                            sine Christo nascitur, sagte so gar Hieronymus</label><p>Eine
                            vergleichbare Formulierung gibt es bei Hieronymus (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_1_16"/>) in seinen <hi>Commentarii in
                                Epistolam Pauli Apostoli ad Galatas</hi>, I, 1,15 (CCL 77A, 31). Die
                            von Semler gebrauchte Formel dann etwa bei Louis Thomassin, <hi>De verbi
                                Dei incarnatione</hi> I (1680), 46. Vgl. auch Semler, <hi>Freimütige
                                Briefe über die Religionsvereinigung</hi> (1783), 143.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_33_5"><label>eine
                            Theurgia, vielen platonischen Schülern gar geläufig</label><p>Die
                            fehlerhafte Schreibung im Druck wurde bereits in den autorschaftlichen
                            Corrigenda am Ende der Vorrede vermerkt und ist hier stillschweigend
                            verbessert worden. – Der aus dem Griechischen stammende Ausdruck
                            „Theurgie“ (wörtlich „Gotteswerk“) bezeichnete in der Antike rituelle
                            Praktiken, die mit der Absicht vollzogen wurden, in Verbindung mit Gott
                            (oder Göttern) zu treten. Das Ziel bestand in der Herbeirufung einer
                            göttlichen Wirkung oder in der Herstellung einer Einheit (Henosis;
                                <foreign xml:lang="grc">ἕνωσις</foreign>) mit dem Göttlichen. Schon
                            der platonische Sokrates forderte im <hi>Theätet</hi> (176a–b) dazu auf,
                            der irdischen Welt zu entfliehen und, soweit es Menschen möglich ist,
                            wie Gott zu werden. Einige (wenngleich keineswegs alle) Neuplatoniker
                            verfochten die Theurgie als Mittel eines solchen Aufstiegs der Seele von
                            der irdischen in die geistige Welt, darunter Iamblichos von Chalkis (ca.
                            245–325), Proklos (412–485) und Pseudo-Dionysius Areopagita (6. Jh.).
                            Iamblichos verfasste auch eine Schrift, <hi>De mysteriis
                                Aegyptiorum</hi>, die unter dem Namen <hi>Theurgie</hi> bekannt
                            ist.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_33_6"><label>wie die
                            Stoiker davon reden, daß Gott in manchen Menschen
                            wone</label><p>Anspielung auf Seneca (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_86"/>), Brief 41,2: „In unoquoque
                            virorum bonorum – quis deus incertum est – habitat deus“. (In jedem
                            einzelnen guten Menschen wohnt Gott – welcher Gott ist unsicher). Vgl.
                            1Kor 3,16. Zur Rolle Gottes im Denken der Stoa s. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_31_2"/>.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_34">
      <head type="question"><pb xml:id="bs_f_page_274" n="274" edRef="#f"/> 34. Aber
                        wie kann denn ein <index indexName="subjects-index">
          <term>Christen, verständige</term>
        </index>verständiger Christ die gewöhnliche öffentliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsordnung</term>
        </index>Religionsordnung selbst genem halten oder mit halten? Was für
                        unschickliche Gesänge, Gebete, Vorträge, und was für seltsame Cerimonien muß
                        er sich gefallen lassen? Viel besser thät er ja, wenn er sich hievon
                        geradehin losmachte, und als ein freier Naturalist sich von so schlechten
                        Mitchristen als die meisten sind, nun absonderte?</head>
      <p>Sollen denn alle verständige <index indexName="subjects-index">
          <term>Christen, verständige</term>
        </index>Christen den Unterschied vergessen, der <index indexName="subjects-index">
          <term>Christen, äußerliche</term>
        </index>äusserliche und <index indexName="subjects-index">
          <term>Christen, innerliche</term>
        </index>innerliche Christen so weit von einander theilet? Ein Christ, der
                        verständig heißt, findet bey dem Naturalismus nichts, das ihm fehle, so
                        lange er ein Christ ist; und bey den schlechten Christen findet er immer
                        mehr Ursache, ferner der wahre Christ zu bleiben, und vielleicht andern
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>moralisch nützlich</term>
        </index>moralisch nützlich zu werden, die erst leichtsinniger Weise sich
                        noch mehr verderben lassen. Solten denn wol so viel <index indexName="subjects-index">
          <term>Christen, äußerliche</term>
        </index>äusserliche Christen, worunter auch wirklich innerliche wahre
                        Christen sind, gerade um jener Mängel willen, sich gar der
                        Religionsgesellschaft ent<pb xml:id="bs_f_page_275" n="275" edRef="#f"/>ziehen? Niemand kann um so vieler bösen verdorbenen Menschen willen, die
                        ganze Gesellschafft seiner Stadt, oder seines Orts, meiden, oder sich davon
                        trennen. Sehr viele Pflichten würden alsdenn gar nicht geleistet werden,
                        wenn jeder <hi>seine gröste Bequemlichkeit und ganze Behaglichkeit</hi> nur
                        in Rechnung brächte. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_34_1"/>Wenn nun viele unfähigere Menschen bisher an den <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchengesänge</term>
        </index>Kirchengesängen und gemeinsten <index indexName="subjects-index">
          <term>Zeremonien</term>
        </index>Cärimonien nicht nur keinen Anstos finden, sondern umgekehrt an- und
                        umgestossen würden, wenn verständige Christen so gleich <hi>öffentliche
                            Veränderungen</hi> eigenmächtig anfingen oder beförderten, ehe diese
                        vielen Menschen zu einer auch nur kleinen eigenen Erkenntnis gebracht
                        werden, so veranlassete man ja wol gar wilde <index indexName="subjects-index">
          <term>Schlägereien</term>
        </index>Schlägereien und öftere Tumulte in solchen Gemeinen, und zerrüttete
                        nach und nach die ganze bürgerliche gemeinschaftliche Verbindung, ohne bey
                        andern mehr Gutes wirklich zu machen. Und gesezt dis wäre wirklich eine
                        wohlfeil und leicht bewerkstelligte moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Aufklärung, moralische</term>
        </index><hi>Aufklärung</hi> des gemeinen Haufens; wäre man auch sicher, von
                        den viel grössern guten Früchten solcher blos <hi>äusserlichen</hi>
                        Veränderung? Denn <hi>äusserliche</hi> müssen <pb xml:id="bs_f_page_276" n="276" edRef="#f"/> sie doch nur heissen. Wir wollen aber verständige
                        Christen daneben ferner annemen; die manches Lied nicht mitsingen; es stehet
                        ihnen frey; manche Gebetsformel selbst ganz übersehen; gelegentlich aber
                        darüber ganz sanft und vorsichtig sprechen so wol mit den Predigern, als mit
                        andern in der Gemeine. Hiemit ist noch gar nichts geschehen, das
                            <hi>vorgegriffen</hi> heissen könne worüber eben immer die erste
                        Misbilligung entstehet; der eine ehrliche Mann spricht mit einem andern und
                        dritten; der gemeinnützige <index indexName="subjects-index">
          <term>Prediger</term>
        </index>Prediger stimt sich auch herab, und erwartet gleichsam von der
                        Gesinnung der Zuhörer die Erlaubnis. Nach und nach läßt er manche Lieder
                        liegen; vertauscht oder verknüpft manche Zeilen in Gebetsformeln mit
                        gemeinnüzlichern. – Auf gar viele Art und Weise werden also diese
                        verständigen Christen den andern noch immer <index indexName="subjects-index">
          <term>nützlich</term>
        </index>nüzlich; sie hindern auch die leichtsinnige, gewis unmoralische
                        Einbildung vieler übereilten Zeitgenossen, die sich über alles wegsezen, und
                        wenigstens gern Naturalisten heisen wolten, weil sie einige Spöttereien
                        aufgefangen haben. Im Ganzen mus der <index indexName="subjects-index">
          <term>Prediger</term>
        </index>Prediger das Seine durch Aufmerksamkeit auf die Zeitumstände,
                        rechtschaffen thun; die Zuhörer <pb xml:id="bs_f_page_277" n="276[!]" edRef="#f"/><!-- TE: statt 277--> selbst zum <index indexName="subjects-index">
          <term>Mitdenken</term>
        </index>Mitdenken antreiben, <hi>nicht auf die <index indexName="subjects-index">
            <term>Vernunft, schelten auf die</term>
          </index>Vernunft selbst schelten</hi>, wo er nur den Misbrauch oder gar
                        den Mangel tadeln solte; nicht immer von Naturalisten und Kezern reden, weil
                        es ganz zur Unzeit und von ganz unchristlichen Folgen ist; den wirklichen
                        Unterschied der <index indexName="subjects-index">
          <term>Stufen</term>
        </index>Stufen des <hi>eigenen</hi> Christentums, <hi>von aller Religion
                            aller Menschen</hi> immer mehr anzeigen und darthun, bis aus Kindern
                        moralische, erwachsene, immer bessere Christen werden. Eben so muß er alle
                            <hi>unrechte Hochachtung</hi> der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel immer besser entblössen; denn <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_34_2"/>die Christen sind <hi>nicht um der Bibel willen
                            da</hi>, allen ihren Inhalt nach der Reihe selbst eben so zu deuten und
                        zu bejahen wie es jene Juden thaten, und Juden blieben; sondern die <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel ist um der Christen willen da, daß sie immer bessere,
                        glücklichere Kenner <hi>des ihnen zunächst nötigen Inhalts der <index indexName="subjects-index">
            <term>Bibel</term>
          </index>Bibel</hi> ganz frey werden sollen <hi>mit Unterscheidung des
                            ihnen unnüzlichen</hi>. Nun würde der Vorzug und das Lob des
                        Naturalismus seine wahren Schranken behalten müssen, und die <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten fänden nicht alle Tage an dem schlechten Amte des
                        Predigers und an den Lastern der falschen Christen den alten <pb xml:id="bs_f_page_278" n="278" edRef="#f"/> Stoff, sich geltend zu
                        machen; und gute thätige Christen nämen es überal mit dem Naturalisten auf,
                        was den Beweiß betrifft, in gemeinnüziger, unverlezlicher Tugend. Wenn nun
                        dennoch der Naturalist den freien <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel, Gebrauch der</term>
        </index>Gebrauch der Bibel seinen Zeitgenossen entziehen und seinen eigenen
                        Naturalismus dafür aufstellen wolte: so überträte er seine Pflicht als
                        Nebenmensch und als geselliger Unterthan, der über die Einrichtung der
                                <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Religion, öffentliche</term>
          </index>öffentlichen Religion</hi>, was das feste Verhältniß gegen den
                        ganzen Staat betrifft, öffentlich nichts zu verordnen hat. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_34_3"/>Denn <hi>in der
                            Gesellschaft schon leben</hi>, und doch auf den <index indexName="subjects-index">
          <term>Stand der Natur</term>
        </index>Stand der so genannten Natur sich berufen, welche Natur doch
                        ebenfals nicht alles auf einmal oder in gleichen Maas aus allen Menschen
                        gemacht hat: ist eben kein Grund, der ruhige Bürger aufmerksam und lüstern
                        machen würde, einen ungewissen <index indexName="subjects-index">
          <term>Stand der Natur</term>
        </index>Stand der so ungleichen Natur, ihrer so festen gesellschaftlichen
                        Lage aufs ungefäre vorzuziehen.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_34_1"><label>Wenn
                            nun viele unfähigere Menschen bisher an den Kirchengesängen und
                            gemeinsten Cärimonien nicht nur keinen Anstos finden</label><p>Semler
                            denkt hier wohl vor allem an Gesangbuchstreitigkeiten, zu denen es im
                            Zuge aufklärerischer Reformbemühungen in Berlin (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_39_3"/>) und anderswo gekommen war.
                            In seiner <hi>Lebensbeschreibung</hi> I (1781), 207, stellt er dazu
                            fest: „Es ist sehr rümlich und löblich, daß [...] in vielen Kirchen eine
                            solche gemeine Revision der <hi>Gesangbücher</hi> vorgenommen wird
                            [...]. Nur mus doch gleichwol sehr viel Vorsichtigkeit dabey statt
                            finden, um nicht, durch ganz unnötige Veränderung oder Vertilgung
                            mancher Lieder, viele gute Christen unruhig und unzufrieden zu machen,
                            deren wahre feste Erbauung oft auf einem solchen alten Liede oder Verse
                            gegründet ist.“</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_34_2"><label>die
                            Christen sind nicht um der Bibel willen da</label><p>Anspielung auf die
                            jesuanische Lockerung des jüdischen Sabbatgebots in Mk 2,27.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_34_3"><label>Denn in
                            der Gesellschaft schon leben, und doch auf den Stand der so genannten
                            Natur sich berufen</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_20_5"/>.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_35">
      <head type="question">35. Es ist also doch der <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalismus</term>
        </index>Naturalismus mancher Zeitgenossen selbst für die sonst schlechte
                        öffentliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, öffentliche</term>
        </index>Religion der so schlechten Christen sehr nützlich worden?</head>
      <p><pb xml:id="bs_f_page_279" n="279" edRef="#f"/> Ganz gewis! aber wird er
                        allen Staaten wirklich geradehin noch nüzlicher seyn, durch Aufhebung aller
                        christlichen Religion, als wenn er neben der christlichen Religion in
                        solchen Schranken gehalten wird, als weise Regenten das Verhältniß aller
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, öffentliche</term>
        </index>öffentlichen Religion selbst beurtheilen? <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_35_1"/>Alles, was wirklich
                        nüzlich ist, ist es <hi>nur durch die Schranken und durch das gehörige
                            Maas</hi>; also hat auch der <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalismus</term>
        </index><hi>Naturalismus</hi>, was seine äusserlichen Folgen betrift,
                            <hi>äusserliche Schranken</hi>. Zu viel essen und trinken, zu viel
                        Thätigkeit und Unthätigkeit, – kurz, zu viel ist allemal nicht mehr
                        nützlich. Der Feler, den man der öffentlichen Religion wirklich vorhalten
                        konte, war ebenfals das <hi>zu Viele</hi>, das <foreign xml:lang="lat">nimium</foreign>. Man hatte zu viel
                        Göttliches, Unveränderliches, nach und nach in der öffentlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsordnung</term>
        </index>Religionsordnung vorausgesezt; und es ist doch in allen menschlichen
                        Einrichtungen das Göttliche nicht da, das ein für allemal volkommen und also
                        unveränderlich ist. Viele Theologi hatten zu viel von der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel, so wol von <index indexName="subjects-index">
          <term>Inspiration</term>
        </index>Inspiration des Textes, als auch von ihrer gleichen Notwendigkeit
                        zur <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>moralischen Wohlfart, bejahet; zu viel von den Lehrsäzen, und <pb xml:id="bs_f_page_280" n="280" edRef="#f"/> Artikeln, die nach und nach
                        ein <foreign xml:lang="lat">Systema theologicum</foreign> ausmachten, und das <foreign xml:lang="lat">Systema</foreign> war doch nicht mehr, als
                        ein periodisches Lehrbuch für Candidaten einer gewissen Zeit, worauf immer
                        wieder andre Bücher in immer andrer Zeit folgen konten. Zu viel hatte man
                        der <index indexName="subjects-index">
          <term>Theologie</term>
        </index>Theologie beigelegt, und die <index indexName="subjects-index">
          <term>Theologie</term>
        </index>Theologie war doch kein Unterricht von Seligkeit aller Menschen;
                        sonst konten alle Ungelerte nicht selig werden. Zu viel hatte sich die
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Polemik</term>
        </index><hi>Polemik</hi> angemaßt, ohne weiter die Parteien zu besiegen, als
                        durch hämische Folgerungen. Zu viel hatte man als ausgemachte Wahrheit in
                        die Kirchenhistorie gerechnet, und vieles waren alte Meinungen und sehr
                        ungewisse <index indexName="subjects-index">
          <term>Tradition</term>
        </index>Tradition. – – Von der <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirche</term>
        </index>Kirche selbst hatte man zu viel Gutes geprisen, bis gar zur
                        Entscheidung der Seligkeit <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> alles dieses, was freilich zu viel, und ohne gleich guten Grund
                        war, haben so viel gelerte und ungelerte Naturalisten aufgedeckt. <hi>Aber
                            sie thun auch selbst zu viel</hi>, wenn sie alle christliche Religion
                        selbst in so vielen Stufen der einzelnen Fertigkeiten, für blossen <index indexName="subjects-index">
          <term>Fanaticismus</term>
        </index>Fanaticismus erklären; das können sie ja nicht wissen; solten also
                        auch den Christen den Gebrauch ihres <index indexName="subjects-index">
          <term>Verstand</term>
        </index>Verstandes und <index indexName="subjects-index">
          <term>Herz</term>
        </index>Her<pb xml:id="bs_f_page_281" n="281" edRef="#f"/>zens, in Anwendung
                        der Bibel gegen das Unendliche höchste Wesen, ganz frey lassen; fromme,
                        tugendhafte Christen nicht darum immer verspotten, weil sie dem höchsten
                        Wesen mehr Wirkung beilegen, als Naturalisten. Denn dieses eigne Christentum
                        beleidigt keinen Nebenmenschen, der Christ mag sich selbst damit
                        beschäftigen, wie er will. Zu schlecht versahen allerdings viele Prediger
                        ihr öffentliches <index indexName="subjects-index">
          <term>Amt</term>
        </index>Amt; es war und ist häufig blos <hi>ein guter Narungsstand</hi>, der
                        vorher wenig Aufwand so gar in <index indexName="subjects-index">
          <term>Moralität</term>
        </index>Moralität erforderte, <choice>
          <sic>uud</sic>
          <corr type="editorial">und</corr>
        </choice> nachher fast auf eine Handwerksordnung sich stüzte, und bloßen
                        Gehorsam bey andern forderte. Da war es kein Wunder, daß man alle schlechten
                        Pfaffen und Priester bey allen Nationen nach und nach herbey fürte, um die
                        christlichen Priester eben so ganz verächtlich zu machen; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_35_2"/>obgleich Protestanten
                        gar keine Priester haben, als in der alten Sprache, die vor der Zeit der
                        Protestanten diesen Namen mit einem <index indexName="subjects-index">
          <term>Messopfer</term>
        </index><hi>Meßopfer</hi> eingefürt hatte. So unausbleiblich also der
                            <hi>Naturalismus</hi> eben <hi>unter diesen <index indexName="subjects-index">
            <term>Kirchenchristen</term>
          </index>Kirchenchristen</hi> war, da so wenig Kraft und Würde in der
                        gemeinen christlichen Religion sich zeigte; so gewis ist nun auch der
                            <hi>Naturalismus</hi> in zu vie<pb xml:id="bs_f_page_282" n="282" edRef="#f"/>les ganz unwürdiges Spotten geraten, ohne die alte Stelle
                        moralischer Schranken, die nun mit der christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache, christliche</term>
        </index>Sprache verlassen werden sollen, durch alles Lob der <index indexName="subjects-index">
          <term>Vernunft, Lob der</term>
        </index>Vernunft bei den Unfähigen, die immer die größte Anzahl ausmachen,
                        gewis zu ersezen. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_35_3"/>Wenn die ganze natürliche Religion zunächst im Genusse alles <index indexName="subjects-index">
          <term>sinnlich</term>
        </index>sinnlichen Vergnügens, in <index indexName="subjects-index">
          <term>Fröhlichkeit</term>
        </index>Frölichkeit und Lustigkeit der Menschen bestehet: so kann es dem
                        Naturalismus freilich nicht felen an sehr großem Beifall. Die christliche
                        Religion hielte durch eigne <index indexName="subjects-index">
          <term>Erkenntnis Gottes</term>
        </index>Erkentnis der <index indexName="subjects-index">
          <term>Würde Gottes</term>
        </index>Würde Gottes <hi>die Sinnen und Begierden, die Gedanken und
                            Absichten</hi> sogar stets unter der Beurtheilung und Prüfung, nach
                        einer freien, also auch steigenden hohen <index indexName="subjects-index">
          <term>Moral</term>
        </index>Moral; die Beispiele des armen <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Jesus</persName>, der armen Apostel,
                        waren sehr eindrüklich; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_35_4"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Augenlust</term>
        </index>Augenlust, Fleischeslust, hoffärtiges Leben, auch <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_35_5"/>schandbare Worte und
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Narrentheidung</term>
        </index>Narrentheidung, wurden in der <index indexName="subjects-index">
          <term>Moral, neue</term>
        </index>neuen Moral als moralische Feler und wirkliche Sünden, die den
                        Menschen entwürdigen, beschrieben, und von guten Christen immer mehr selbst
                        ohne äussern Beifall, ja wider allen Reiz der bösen Beispiele aufrichtig
                        vermieden. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_35_6"/>Man
                        samlete sich aus der Bibel jene alten Psalmen, <pb xml:id="bs_f_page_283" n="283" edRef="#f"/> als Beweise des Alters dieser innern eignen täglich
                        heiligenden Religion; man vertauschte die Bilder, die <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christum</persName> so fruchtbar
                        beschreiben, Hirte, Lehrer, vollkommner Priester, Licht der Welt, Weinstock,
                        Lamm Gottes, Opfer für die Sünden der Juden und Heiden <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> von Zeit zu Zeit frey und unabhängig miteinander, um die <index indexName="subjects-index">
          <term>Einbildung</term>
        </index>Einbildung und das Gedächtnis für rohen blos sinnlichen Reizungen
                        und Bildern zu bewaren. Man dachte nach, wie man selbst konte, über so
                        herrliche Reden und Lehren Christi und der Apostel. Wenn auch manche
                        Christen von dem Blute Christi und seiner Kraft gern sinnlich dachten, daß
                        sie sich selbst andächtig gerürt fanden: so war es doch gewis alles eine
                        innere Religionsübung und <index indexName="subjects-index">
          <term>Privat-Fertigkeit</term>
        </index>Privat-Fertigkeit, die den Christen selbst täglich ruhig, und gegen
                        andre Menschen sanft und nachgebend machte, allen andern Zeitgenossen aber
                        keinen Schaden brachte. <hi>Diese christliche innere <index indexName="subjects-index">
            <term>Religionsübung</term>
          </index>Religionsübung</hi>, diese moralische Praxis, <hi>ist gar nicht
                            beim Naturalismus</hi>; ob nun die Menschen als Naturalisten sich noch
                        glücklicher finden werden, ob sie unter ihrer lieben Obrigkeit ein ruhiges
                        und stilles Leben noch mehr befördern werden, in al<pb xml:id="bs_f_page_284" n="284" edRef="#f"/>ler <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottseligkeit</term>
        </index>Gottseligkeit und Ehrbarkeit: sol erst die Zeit lehren. Die Christen
                        waren aber vom Anfange an berufen in ihrem Glauben, oder in ihrer Religion,
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_35_7"/><bibl type="biblical-reference"><citedRange from="2Petr:1:5" to="ff">2 Petri <choice>
              <sic>1-5</sic>
              <corr type="editorial">1, 5</corr>
            </choice>
            <choice>
              <abbr>folg.</abbr>
              <expan>folgende</expan>
            </choice></citedRange></bibl> immerfort darzureichen, kentlich
                        darzustellen, die Tugend, die Erkentnis, die Enthaltung, die Gedult, die
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottseligkeit</term>
        </index>Gottseligkeit, die <index indexName="subjects-index">
          <term>Liebe, brüderliche</term>
        </index>brüderliche Liebe, die Liebe auch gegen Unchristen. – Diese neue
                        Beschäftigung aller einzelnen Christen <hi>ist die rechte Erkentnis unsers
                            Herrn</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:255cd">Jesu Christi</persName></hi>
        <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> gar nicht jene Historien und <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_35_8"/>Erzälungen von <hi>Besessenen</hi> von Engeln, von
                        alten todten Meinungen und Hofnungen der Juden. Ich brauche das übrige aus
                        dieser gar ernstlichen Anzeige nicht abzuschreiben. Es enthält, wie alle
                        Briefe der Apostel, wie alle Lehren Christi, den <hi>allergewissesten
                            Charakter</hi> der ganz und gar <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>praktischen, gemeinnüzigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, moralische</term>
        </index>moralischen Religion der Christen, wovon freilich die äusserliche
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsordnung</term>
        </index>Religionsordnung desto weiter entfernt ist, je mehr sie leider nur
                        ein Geständnis ist, daß dieser neue Charakter bisher häufig selbst unter den
                        jezigen Christen fele, da so gar viele <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrer</term>
        </index>Lehrer nur den Schein haben eines gottseligen Wesens, nur das Ihre
                        suchen, nur den <pb xml:id="bs_f_page_285" n="528[!]" edRef="#f"/>
                        äusserlichen Anstand einer ehrbaren Gesellschaft, eine oder 2 Stunden lang
                        unterhalten; im eignen Gebrauche aller dieser innern Religion weit zurück
                        sind, um nicht Lob und Beifall ihrer Zuhörer zu verlieren; wenn sie selbst
                        eifrige thätige Christen würden. Es ist also gar kein Wunder, daß der
                        Naturalismus diese äusserliche blos <index indexName="subjects-index">
          <term>Konvenienz, lokale</term>
        </index>locale Convenienz, die eine <index indexName="subjects-index">
          <term>patriotisch</term>
        </index>patriotische Behaglichkeit und Zufriedenheit mit sich füret, und gar
                        nicht das Gefolge großer Tugenden in den Gesellschaften der Christen vor
                        Augen leget, so leicht gering schäzen, so ernstlich kritisiren und angreifen
                        kann! Kirchliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Redensarten</term>
        </index>Redensarten und hergebrachte Sprache gegen Untergebene oder
                        unwissende Zuhörer sind an die Stelle jenes eigenen lebendigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Glaube, lebendiger</term>
        </index>Glaubens, jener <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>praktischen Religion eingerückt, und dis heilige glänzende Gefolge
                        praktischer gewisserer Tugenden felet, das den Naturalisten gewis anhalten
                        würde, sich viel genauer nach dieser Kraft eines so heiligen Lebens zu
                        erkundigen. Der ganze Eifer für <hi>reine Lehre</hi> von Dreieinigkeit, von
                        der Person und den Naturen <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>
        <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> ist für den Naturalisten ohne alles Interesse, weil er keine
                        moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Früchte, moralische</term>
        </index>Früchte findet, sondern gesellschaftliche Eifer<pb xml:id="bs_f_page_286" n="286" edRef="#f"/>sucht. Er siehet gar keine
                        täglichen Folgen von dieser reinen Lehre zum unfelbaren Segen der Menschen,
                        die doch Gottes nähere Offenbarung besizen und kennen wollen. Die
                        allermeisten Christen sind moralisch unrein in ihrem ganzen Thun und Lassen
                        mehr als er sich selbst vorwirft. Viele Prediger findet er, ihre Kleidung
                        zuweilen ausgenommen, in eben dem ganz gemeinen Zustande des menschlichen
                        Lebens und Wandels, worin gar nichts vorzügliches ist, das ihn moralisch
                        anziehen möge. Es ist also wol leicht zu sehen, daß jene wirkliche
                        christliche eigene Religion, die in den Menschen so große Vorzüge und
                        Fertigkeiten mit sich brachte, in der gemeinen Ordnung der öffentlichen
                        Religion, gar nicht wirklich und merklich da ist. Der Naturalist kann also
                        seine <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, natürliche</term>
        </index>natürliche Religion, (worin keine alte Historie ist, über welcher
                        die Menschen sich theilten,) gar leicht vorziehen: da so viel Lehrer und
                        Zuhörer ihm in der moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesinnung, moralische</term>
        </index>Gesinnung und Fertigkeit nicht einmal ganz gewis, ganz ausgemacht
                        gleich kommen. Wahr genug ist es also, daß der Naturalismus dazu hilft, den
                        kleinen bisherigen Erfolg der gemeinen blos öffentlichen oder
                        gesellschaftlichen <pb xml:id="bs_f_page_287" n="287" edRef="#f"/>
                        christlichen Religion genauer zu würdigen; aber die wirkliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privatreligion der guten Christen, welche jene Mängel nicht
                        fortsezt, hat der Naturalist dadurch nicht besieget, wenn er sie nun eine
                        fanatische Verirrung nennt. Ihre Hofnung mus er den wahren Christen doch
                        eben sowol frey lassen: als er seine sich nicht durch sie nemen läßt; durch
                        alles Spotten vermehrt er seinen moralischen Vorzug nicht und hebt den der
                        wahren Christen nicht auf.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_35_1"><label>Alles,
                            was wirklich nüzlich ist, ist es nur durch die Schranken und durch das
                            gehörige Maas [...] Der Feler [...] war ebenfals das zu Viele, das
                            nimium.</label><p>Anspielung auf das Prinzip der richtigen Mitte
                                (<foreign xml:lang="grc">μεσότης</foreign>), das seinen Ursprung in
                            der aristotelischen Ethik hat (eth. Nic. 1106b–1107a), sowie auf den
                            Ausspruch Senecas (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_86"/>), <hi>de tranquilitate
                                animi</hi> 9,6: „vitiosum est ubique, quod nimium est“ (Fehlerhaft
                            ist all das, was zu viel ist); sprichwörtlich als „omne nimium nocet“
                            oder „omne nimium vertitur in vitium“.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_35_2"><label>obgleich Protestanten gar keine Priester haben, als in der alten
                            Sprache, die vor der Zeit der Protestanten diesen Namen mit einem
                            Meßopfer eingefürt hatte</label><p>Gemeint ist, dass es im
                            Protestantismus keine (sakramentale) Weihe von Pfarrern (Priestern) mehr
                            gibt, denen im Rahmen eines Pontifikalamts die Messopfergewalt (s. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_21_22"/>) übertragen wird.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_35_3"><label>Wenn
                            die ganze natürliche Religion zunächst im Genusse alles sinnlichen
                            Vergnügens, in Frölichkeit und Lustigkeit der Menschen
                            bestehet</label><p>Möglicherweise Anspielung auf Bahrdts Anthropologie
                            und Pädagogik, vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_a_1_32"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_35_4"><label>Augenlust, Fleischeslust, hoffärtiges Leben</label><p>1Joh
                            2,16.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_35_5"><label>schandbare Worte und Narrentheidung</label><p>Anspielung auf Eph
                            5,4; „Narrent(h)eiding“: mhd., Narrengeschwätz.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_35_6"><label>Man
                            samlete sich aus der Bibel jene alten Psalmen [...] Bilder, die Christum
                            so fruchtbar beschreiben, Hirte, Lehrer, vollkommner Priester, Licht der
                            Welt, Weinstock, Lamm Gottes, Opfer für die Sünden der Juden und
                            Heiden</label><p>Vgl. Ps 23 mit Joh 10,11–16 (Hirte); Ps 25,5; 71,17;
                            94,10 mit Joh 3,2 (Lehrer/lehren); Ps 110,4 mit Hebr 7,24–27
                            (vollkommener Priester); Ps 27,1 mit Joh 8,12; 9,5; 12,46 (Licht der
                            Welt); Ps 80,9–14 mit Joh 15,1–8 (Weinstock); Ps 50/51 mit Hebr 10,12
                            (Sündopfer). Lediglich das Bild vom „Lamm Gottes“ (z.B. Joh 1,29) taucht
                            nicht im Buch der Psalmen auf, wohl aber in einem anderen berühmten
                            poetischen Text des Alten Testaments, im vierten sog. Gottesknechtlied
                            (Deutero-)Jesajas 52,13–53,12; 53,7.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_35_7"><label>2 Petri
                            1,5 folg.</label><p>Von den Herausgebern korrigiert. Die Textvorlage hat
                            „2 Petri 1–5 folg.“ Diese Angabe kann jedoch nicht stimmen, da der 2.
                            Petrusbrief nur aus drei Kapiteln besteht.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_35_8"><label>Erzälungen von Besessenen, von Engeln</label><p>Semler bezieht
                            sich auf Berichte über Besessenheit (z.B. Mk 1,21–28) und Engel (z.B. Mt
                            4,11) im Neuen Testament, die er der akkommodierenden (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_5_15"/>) Lehre Jesu
                            bzw. Erzählweise der Evangelisten zuschreibt.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_36">
      <head type="question">36. So wird es ferner auf den <index indexName="subjects-index">
          <term>Staat</term>
        </index>Staat ankommen, auf die <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, öffentliche</term>
        </index>öffentliche Religion so zu sehen, daß die so gute, so wirksame
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privatreligion der Naturalisten eben so wenig durch die christliche
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Ordnung</term>
        </index>Ordnung unterdrückt werde, als die öffentliche christliche Religion
                        die Privatreligion der so ungleichen Christen nicht hindern oder bezwingen
                        darf; indem beide immer dazu helfen können, daß die Diener der öffentlichen
                        Religion weniger Mängel haben, und ihre wirklichen Mängel des sogenannten
                        Amtes nicht gar in lauter <pb xml:id="bs_f_page_288" n="288" edRef="#f"/>
                        Vorschriften Gottes, oder in Privilegien des <choice>
          <abbr>heil.</abbr>
          <expan>heiligen</expan>
        </choice> Standes nach und nach <choice>
          <sic>verwandelnk</sic>
          <corr type="editorial">verwandelt</corr>
        </choice>?</head>
      <p>Allerdings kann oder muß so gar der Staat hierauf sehen, wenn er den
                        Misbrauch und Schaden abwenden will, den übereilte und selbstliebige Lehrer
                        des Christenthums oder des <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalismus</term>
        </index>Naturalismus, sonst wirklich den Unterthanen und endlich dem Staate
                        selbst zuziehen können. Die ersten müssen es wissen, daß Gott weder durch
                            <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christum</persName> noch durch
                        Apostel eine äusserliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsordnung</term>
        </index>Religionsordnung ein für allemal so angefangen habe, daß sie
                        immerfort unveränderlich allen Christen blos vorzusagen und von den Christen
                        blos anzunemen seie, und hiemit <hi>die beste Verehrung Gottes</hi> schon
                        geleistet werde. Die Naturalisten müssen es beobachten, daß ihre
                        Privatkentnis von der ihnen gehörigen Religion vom Staat <hi>eben so wenig
                            erhoben werden könne</hi>, daß alle Unterthanen sich von ihnen diesen
                        Naturalismus nun müsten einpredigen lassen, weil sie als Christen etwa nicht
                        so glücklich leben und sterben könten als der Naturalist. Die Entscheidung,
                        was dem ganzen Staat vortheilhaft seie, haben weder die Theo<pb xml:id="bs_f_page_289" n="289" edRef="#f"/>logen der Christen noch die
                        Vertheidiger des Naturalismus sich besonders anzumassen. Haben sich ehedem
                        Bischöfe und Theologen mit dieser Beurtheilung übereilt und anmassend
                        abgegeben, so war es damalen Bedürfnis oder Zustand des schlecht regierten
                        Staats. Wenn Naturalisten sich den Beruf jezt geben, <index indexName="subjects-index">
          <term>Projekte, moralische</term>
        </index>moralische Projekte als ausgemachte Vortheile der ganzen Menschheit
                        in die Höhe zu bringen: so wird doch der Staat die Lage der Unterthanen und
                        überhaupt die Lage der Menschen viel sicherer schon wissen und in gute
                        Rechnung bringen, als diese neuen gar zu eifrigen Theoristen. Und wenn sie
                        auch so gar mehr Eingang und Beifall fänden, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_36_1"/>als ihnen selbst
                            <index indexName="persons-index">
          <term>Friedrich II. (Preußen)</term>
        </index><persName ref="textgrid:3r6cq"><hi>Friedrich</hi> der
                            Zweyte</persName> verstatten oder zugeben wollte; so würde doch <hi>der
                            Einflus der unsichtbaren Welt</hi>, auf den die Christen so gewis
                        rechnen, eben den <index indexName="subjects-index">
          <term>Widerstand, moralischer</term>
        </index>moralischen Widerstand ernstlich aufbieten, der von je her da war;
                        man mag ihn mit Tag oder Nacht vergleichen, mit <index indexName="subjects-index">
          <term>Aufklärung</term>
        </index>Aufklärung oder <index indexName="subjects-index">
          <term>Finsternis</term>
        </index>Finsternis. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_36_2"/>Selbst das so liebe Losungswort, <index indexName="subjects-index">
          <term>Freiheit</term>
        </index><hi>Freiheit</hi>, bringt eine Gegenkraft mit sich; es gehört nur
                        Zeit dazwischen, und die felet ja nie, sie läßt sich auch von Menschen nicht
                            <pb xml:id="bs_f_page_290" n="290" edRef="#f"/> bezwingen. Da aber das
                        eigene Christentum nicht in den Formeln bestehet, welche eine jede
                        Religionsgesellschaft bürgerlich vereinigt, sondern in der heiligen <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesinnung, heilige</term>
        </index>Gesinnung, alle Tugenden sich immer mehr nach eignem <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen zur moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes, moralische</term>
        </index>Verehrung Gottes zu schaffen: so dächte ich, daß alle guten
                        Naturalisten, die ja auch die reine Tugend vornemlich zur Religion rechnen,
                        mit dem <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatchristentum</term>
        </index>Privat-Christentum <hi>um des gemeinen Bestens willen</hi>, gar
                        keinen Streit haben könten. Und da dieses eigene Christentum von einem
                        Naturalisten eine ihm noch nötige Belehrung eben so wenig zu erwarten hat,
                        als ein besonderer Professionist von dem andern: so ist es eine unanständige
                        Zudringlichkeit die gar nicht zu gesellschaftlichen wahren <index indexName="subjects-index">
          <term>Pflicht, gesellschaftliche</term>
        </index>Pflichten gerechnet werden kann, wenn Naturalisten alle Christen
                        unter der Gestalt grösserer <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>moralischer Wohlfart, beunruhigen. Der Staat muß vielmehr den eben
                        so guten Bürger, den treuen Christen wider solche tägliche Störung und
                        Beunruhigung schützen, und den Naturalisten endlich in seine Schranken
                        weisen, daß er die für sich ruhigen Christen nicht in dem so gewissen
                        Eigentum und moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Hausrecht, moralisches</term>
        </index>Haus<pb xml:id="bs_f_page_291" n="291" edRef="#f"/>recht, durch
                        Spöttereien täglich beleidige. Die Wahl der Privatreligion, wie aller
                        Privatbeschäftigungen, muß jedem in der Gesellschaft ganz frey und
                        unbeeinträchtiget bleiben; hierin hatte ja selbst der <hi>Naturalismus</hi>
                        seinen <hi>Grund</hi>. Wenn der Bäcker sein Privaturtheil, wonach er so gern
                        und zufrieden, ein Bäcker ist, so übertreiben wolte, daß er den Mäurer, den
                        Schneider <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> lächerlich machen, und dahin bringen wil, ihre bisherige
                        lächerliche Beschäftigung zu verachten, und ebenfals Bäcker zu werden: so
                        entstünde durch diese <hi>immer neueren Umtauschungen</hi> des einmaligen
                        bürgerlichen Lebens, eine öffentliche Zerrüttung der bisher so glücklichen
                        gemeinschaftlichen Verbindung der grossen bürgerlichen Gesellschaft. Die
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit der Privatreligion macht eben so verschiedene <index indexName="subjects-index">
          <term>Stände, verschiedene moralische</term>
        </index><hi>moralische Stände und Innungen</hi> schon aus; keiner muß alle
                        andern unterdrücken. Sonst hätte ja die alte grosse Kirche völlig Recht, daß
                        sie alle andere Religionsparteien durchaus unterdrückt, und sich zur
                            <hi>Monarchie über alle <index indexName="subjects-index">
            <term>Religionsklassen</term>
          </index>Religionsclassen</hi> erhoben hat. Es muß also der Regent dahin
                        sehen, daß <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_36_3"/>die vielen
                        Romane von <hi>platonischen</hi> schönen <index indexName="subjects-index">
          <term>Republiken, platonische</term>
        </index>Republiken, <pb xml:id="bs_f_page_292" n="292" edRef="#f"/> die im
                        Monde sind, nicht die iezt schon blühenden bürgerlichen Verfassungen
                        umwerfen, durch <hi>blosse Gemälde und Risse</hi> von noch grösserer
                        bürgerlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Glückseligkeit</term>
        </index>Glückseligkeit. Das heißt nun freilich nicht, daß <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_36_4"/><hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Inquisition</term>
          </index>Inquisition</hi> und äusserliche Macht irgend eine einzige
                        öffentliche Religionsform behaupten oder über alle andre erheben sol; aber
                        es muß doch jeder Bürger für solchen Behandlungen sicher seyn, die ihn
                        beinahe <hi>zum vogelfreyen Märtyrer</hi> seiner eigenen Religion machen,
                        und ihm die <index indexName="subjects-index">
          <term>Geduld</term>
        </index>Gedult und Ertragung solcher ungerechten Beunruhigungen auflegen,
                        und ihn in Gefahr bringen <choice>
          <sic>überdiese</sic>
          <corr type="editorial">über diese</corr>
        </choice> Gesinnung noch mehr verspottet und verächtlich zu werden. Die
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Welt, moralische</term>
        </index>moralische Welt hat eben so ungleichen Acker und Erdboden, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_36_5"/>daß nicht alle <index indexName="subjects-index">
          <term>Früchte, moralische</term>
        </index>Früchte gleich gut überal wachsen und fortkommen können, als unsre
                        Erdkugel so verschieden ist; nicht lauter <hi>helle <index indexName="subjects-index">
            <term>Vernunft</term>
          </index>Vernunft</hi> ist das gleiche Antheil aller Menschen; es ist
                        also ganz ungegründet wenn allen so ungleichen Menschen eine
                            <hi>algemeine</hi> natürliche Religion angeboten werden wil. Dies wusten
                        alle Staaten, die in der Menschenwelt eine historische sinnliche Religion
                        für das Volk <hi>sancirt</hi> haben; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_36_6"/>man schränkte daher so gar die <index indexName="subjects-index">
          <term>Philosophie</term>
        </index><hi>Philosophie</hi> ein, <pb xml:id="bs_f_page_293" n="293" edRef="#f"/> die ja freilich ihre vielerley Lehrmeister nicht zugleich
                        zur <index indexName="subjects-index">
          <term>Volksregierung</term>
        </index>Volksregierung erheben konte, so gewis jede gute Regirung allen
                        denkenden Menschen die Freiheit eigener Urtheile gewäret, ohne die
                            <hi>Handlungen</hi> wider die Subordination frey zu lassen. Jezt aber
                        erheben sich Privatschriftsteller wider die im Staat eingefürte <index indexName="subjects-index">
          <term>Volksreligion</term>
        </index>Volksreligion, um sie durchaus abzuschaffen, und ihre geliebten
                            <hi>Romane</hi> dafür einzufüren. Ungezämt werden eben die Lehrer der
                        gemeinschaftlichen Religion beschimpft und verächtlich gemacht: unter denen
                        sich doch so viel moralisch <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_36_7"/>würdige, edle Männer befinden, die nie eine
                        Bittschrift erst nötig hatten, welche um <hi>Abolition</hi> ihrer
                        anstössigen Auffürung nachsuchte. Und eben diese Lehrer hatten doch auf das
                        Wort, auf die Auctorität des Staats bisher gerechnet, da sie sich dazu
                        verstunden, in einen öffentlichen Stand zu treten, den der Name des
                            <hi>Regenten autorisirte</hi>. Immer mochte man die Buben und Dumköpfe
                        schildern und entlarven, in noch so viel Schriften; aber es muste nicht der
                            <hi>ganze Stand</hi> aller <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionslehrer</term>
        </index>Religionslehrer gleichsam ganz rechtmäsig, geradehin so beschrieben
                        werden, daß er nur aus Dumköpfen und Schurken bestünde, wonach es ebenfals
                            lau<pb xml:id="bs_f_page_294" n="294" edRef="#f"/>ter Dumköpfe heisen
                        müssen, welche der christlichen Religion eine Realität beilegen, die doch
                        gewis blos von ihrer täglichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Erfahrung</term>
        </index>Erfarung, und gar nicht von den so genannten Priestern oder Pfarrern
                        abhängt. Ueberal stehet es frey, daß man in der <hi>Philosophie, Physik,
                            Astronomie, Medicin</hi> sich die oder jene <hi>Hypothese</hi> oder
                        Theorie selbst erwälet; nur die christliche Religion, die doch in allen noch
                        so erhabenen Wissenschaften so grosse Männer in sich begreifft, sol als eine
                        ausgemachte <index indexName="subjects-index">
          <term>Pfafferei</term>
        </index>Pfafferey angesehen werden, dieweil einige Leute, aus eigner Schuld,
                        sich auch von den bürgerlichen Folgen gerade durch die Regierung, durch die
                        Geseze, ausgeschlossen fanden. Es ist doch aber sehr viel gefordert, daß der
                        Staat um dieser vorsezlichen <hi>Dissidenten</hi> willen die bisherigen
                        Grundsätze der Regierung, oder die politische Landesverfassung aufheben, und
                        statt ihrer so bewärten Politik die gefärliche Probe einer ganz neuen
                        Regierung auf gerade wohl machen sol! Gibt es wirklich geheime Verbindungen,
                        eine mächtigere <hi>Hierarchie</hi> wieder einzufüren: so ist die
                        protestantische Religionsordnung ein festerer Widerstand, als die <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewohnheit</term>
        </index>Gewonheit über die ganze christliche Reli<pb xml:id="bs_f_page_295" n="295" edRef="#f"/>gion zu spotten. Es gab gar viel Christen, welche
                        Gut und Blut <hi>wider jene <index indexName="subjects-index">
            <term>Pfaffenreligion</term>
          </index>Pfaffenreligion wagten</hi>; aber wir haben doch keine
                        Pfaffenreligion, wenn wir unsre christliche eigene Religion behalten.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_36_1"><label>als
                            ihnen selbst Friedrich der Zweyte verstatten oder zugeben
                            wollte</label><p>Anspielung auf die weitreichende religiöse Duldung in
                            Preußen unter Friedrich II. (s. <ptr type="page-ref" target="#erl_e_4_4"/>).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_36_2"><label>Selbst
                            das so liebe Losungswort, Freiheit, bringt eine Gegenkraft mit sich, es
                            gehört nur Zeit dazwischen</label><p>Als der römische Senat nach der
                            Ermordung Caligulas im Jahre 41 n. Chr. die Republik wiederherstellen
                            wollte, benutzte er (angeblich) das Losungswort „Freiheit“
                                (<hi>libertas</hi>); vgl. Flavius Josephus, ant. Iud. 19,186. Nach
                            nur wenigen Tagen oder Wochen obsiegten jedoch die imperialen
                            „Gegenkräfte“ und setzten Claudius (10 v. Chr./41–54 n. Chr.) als
                            Alleinherrscher ein. Semler mag auch an die Französische Revolution und
                            die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 (vgl. Art. 4)
                            denken.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_36_3"><label>die
                            vielen Romane von platonischen schönen Republiken, die im Monde
                            sind</label><p>Semler spielt hier auf das Urbild utopischer (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_22"/>)
                            Staatsentwürfe, Platons <hi>Politeia</hi> (frühes 4. Jh. v. Chr.), an.
                            Ein Beispiel für eine utopische Erzählung, die auf einem fremden
                            Planeten, wenngleich nicht dem „Mond“, angesiedelt ist, bildet Christoph
                            Martin Wielands (1733–1813) Frühwerk <hi>Gesicht von einer Welt
                                unschuldiger Menschen</hi> (1755). In ihm schildert das lyrische Ich
                            die Vision einer der Erde ähnlichen, von intelligenten Wesen bewohnten
                            Welt ohne Sünde oder Privateigentum, voller Liebe, Schönheit und
                            Harmonie. Der anonyme Herausgeber des <hi>Theologische[n]
                                Briefwechsel[s] eines Laien: über die Versöhnung unsers Planeten und
                                anderer Welten mit Gott durch Christum</hi> (1782), an dem auch
                            Semler sich beteiligte, gab Wielands Werk als Inspiration an. Zum
                            „Mond-Roman“ Bahrdts vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_28"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_36_4"><label>Inquisition [...] vogelfreyen Märtyrer</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_15_2"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_36_5"><label>daß
                            nicht alle Früchte gleich gut überal wachsen</label><p>Anspielung auf Mt
                            13,1–23.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_36_6"><label>man
                            schränkte daher so gar die Philosophie ein, die ja freilich ihre
                            vielerley Lehrmeister nicht zugleich zur Volksregierung erheben
                            konte</label><p>Anspielung auf Platons Konzept der
                            Philosophenherrschaft, das er in seiner <hi>Politeia</hi> entfaltete
                            (vgl. z.B. 473c–d), auch Leibniz und Wolff sympathisierten mit ihm (z.B.
                            Wolff, De rege philosophante et Philosopho regnante, <hi>Horae
                                Subsecivae Marburgenses</hi> 2, 1732, 563–632). Semler, der Wolffs
                            Aufsatz gekannt haben dürfte (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_23_6"/>), lässt hier erneut die Ansicht durchblicken,
                            dass durch gemeinschaftliches Philosophieren oder vernünftiges
                            Nachdenken kein Konsens in politischen oder religiösen Fragen zu
                            erzielen sei und es immer „vielerley Lehrmeister“ geben werde. Einen
                            Einwand ganz anderer Art, den bereits Platon in seinem Spätwerk
                                <hi>Nomoi</hi> gegen sein jüngeres Ich erhob, formuliert Kant in
                                <hi>Zum ewigen Frieden</hi> (1795): „Daß Könige philosophiren, oder
                            Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu
                            wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft
                            unvermeidlich verdirbt“ (AA 8, 369).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_36_7"><label>würdige, edle Männer [...], die nie eine Bittschrift erst nötig
                            hatten, welche um Abolition ihrer anstössigen Auffürung
                            nachsuchte</label><p>Vermutlich Anspielung auf Bahrdt, der in seinem
                            Leben häufig in die Verlegenheit kam, Bittschriften verfassen zu müssen,
                            ganz zu schweigen von den zahlreichen Fällen, in denen
                            Familienangehörige, Gemeindemitglieder oder Kollegen gute Worte für ihn
                            einlegten (vgl. etwa <ptr type="page-ref" target="#erl_a_1_10"/>). Zuletzt wandte Bahrdt sich
                            nach seiner Verhaftung im Jahre 1789 (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_v_15"/>) u.a. an den von ihm zuvor verspotteten
                            Minister Woellner und brachte auch Semler dazu, sich höheren Orts für
                            ihn zu verwenden. Vgl. Bahrdt, <hi>Geschichte und Tagebuch meines
                                Gefängnisses</hi> (1790), 114–133.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_37">
      <head type="question">37. Ich dächte aber nicht, daß so grosse <index indexName="subjects-index">
          <term>Neuerungen</term>
        </index>Neuerungen zu nächst zu befürchten wären; jene
                            <hi>naturalistische</hi> Schriftsteller haben wol zunächst nicht diese
                        Absichten die christliche Religion aufzuheben; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_37_1"/>sie lassen sich für
                        jeden Bogen bezalen; sie genießen bey ihres gleichen eine Genemhaltung
                        solcher besondern Projecte, und die Hofnung eines noch grössern Einflusses
                        und Sieges könnte man ihnen frey lassen; wenigstens solten Prediger es sich
                        auch nicht zur Pflicht machen, vornemlich wider den <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalismus</term>
        </index><hi>Naturalismus</hi> zu eifern, und die so genannte reine Lehre
                        nicht blos also geltend machen, daß sie selbst hiemit schon das grosse
                        Verdienst eines öffentlichen christlichen Lehrers zu haben meinten. Es
                        gehört mehr zu dieser Ehre als der Stand allein; wider diesen alten Stolz
                        ist der <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalismus</term>
        </index>Naturalismus vornemlich gerichtet.</head>
      <p><pb xml:id="bs_f_page_296" n="296" edRef="#f"/> Ich glaube es ganz zu
                        verstehen, was dieses sagen sol; ich denke aber auch, daß ich in dieser
                        Antwort auf die bisherigen Fragen ganz unparteiisch meine Meinung schon
                        gesagt habe; ohne wider irgend einen rechtschaffenen <hi>Naturalisten</hi>,
                        das alte Kirchenanathema, unnüzer Weise, in Andenken oder gar in Vorschlag
                        zu bringen; noch auch den grossen Inhalt zu schmälern, der jezt, in unserer
                        Zeit, zu jenen Formeln gehöret, ich als ein berufener Diener <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>
        <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> Die politischen Folgen des <hi>Naturalismus</hi>, wenn er
                        geradehin die <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, öffentliche</term>
        </index>öffentliche christliche Religion und alle Lehrer derselben
                        verspotten und umwerfen darf, gehen mich nichts an; der Staat allein hat
                        sie, freilich sehr bedächtig, ohne einige volllautende Theilnehmung an der
                        Frage, zu berechnen. Zunächst wäre aber wol doch dies zu erwarten, daß der
                        ganze christliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrstand</term>
        </index>Lehrstand wirklich eine solche viel würdigere Lage erhielt; die
                        nicht so gleich blos von der Gottheit hergeleitet würde, sondern in dem
                        kentlichen wichtigen Verhältnis eines solchen öffentlichen Lehrers, und in
                        seinem untadelhaften Charakter ihren steten gewissen Grund hätte. Die
                        Vorschriften dazu sind lange da; aber man hat schon lange <pb xml:id="bs_f_page_297" n="297" edRef="#f"/> vorausgesezt, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_37_2"/>es gebe keinen <index indexName="persons-index">
          <term>Timotheus (Biblische Person)</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:3r6cr">Timotheus</persName></hi> und
                            <index indexName="persons-index">
          <term>Titus (Biblische Person)</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:3r6cs">Titus</persName></hi> in unsern
                        Zeiten; die musten <hi>damalen</hi> unsträflich seyn. Um es anders zu sagen,
                        man hat wol zu wenig auf die kentliche Stufe des moralischen Charakters
                        gesehen (oder sehen wollen, oder sehen können,) ob der Candidat selbst durch
                        die ausgemachten Wahrheiten der christlichen Religion eine solche <index indexName="subjects-index">
          <term>Gemütsfassung</term>
        </index>Gemütsfassung und neue Fertigkeit erlangt habe, als ja bey den
                        Zuhörern <hi>immer die nächste Folge</hi> seines ganzen Unterrichts <hi>seyn
                            sol</hi>? Hiemit sol nicht eine besondre <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache</term>
        </index>Sprache, ein Formular gleichsam eingefüret werden, woran man nun den
                        Candidaten als hinlänglich moralisch bewäret erkennen solle; welches eine
                        Zeitlang ein Feler der freilich zweideutigen Schule war, die man <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_37_3"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Pietisten</term>
        </index><hi>Pietisten</hi> nente, da nach und nach <hi>neue Redensarten</hi>
                        vornemlich gäng und gäbe und gleichsam ein <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_37_4"/><hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Schibboleth</term>
          </index>Schibboleth</hi> wurden; sondern, ob der Candidat den grossen
                        Umfang der eigenen moralischen Veränderung selbst, in Absicht der neuen
                        Folgen kent, wozu sonst alle <hi>einzele <index indexName="subjects-index">
            <term>Redensarten</term>
          </index>Redensarten</hi> gebraucht werden, welche eben von den
                        christlichen Parteien so ganz unrecht <hi>für die Sachen selbst</hi> schon
                        angesehen worden sind. Wie es hier eine <pb xml:id="bs_f_page_298" n="298" edRef="#f"/> grosse Ausbreitung der historischen Kentnisse, von den
                        verschiedenen Lehrbegriffen gibt, nebst den Gründen, die dazu gebraucht
                        wurden, welches freilich viel mehr ist, als aus bloßen Büchern oder Heften
                        auf immer eingeweihet wird: so ist diese Uebung in <index indexName="subjects-index">
          <term>praktisch</term>
        </index><hi>practischen</hi> gesunden Urtheil <hi>das einzige
                            Gegenmittel</hi> wider die grosse Selbstgenügsamkeit und Nachlässigkeit,
                        wider übereiltes Absprechen, wider stolze Anmassung, wider die falsche
                        schleichende Politik, der künftigen Lehrer; in welchen Felern eben die
                        Verachtung einer so unwirksamen Religion liegt, und die so grossen Mängel
                        der so genanten Christen vornemlich ihren Grund noch immer haben und
                        behalten. Die Lehrer sollen ja nicht von der christlichen Religion blos
                            <hi>künstlich</hi> oder <hi>schön reden</hi> und ihren Inhalt einmal wie
                        allemal erzälen, wenn es allen Christen geradehin oblieget, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_37_5"/><hi>nicht blos Hörer
                            sondern Thäter des Worts</hi> oder der Lehre oder Religion zu seyn!
                        Neben jener <index indexName="subjects-index">
          <term>Gelehrsamkeit</term>
        </index>Gelersamkeit, die in richtiger historischer Kentnis vornemlich
                        bestehet, die ihm selbst als Candidaten nötig ist, und gar nicht zur <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>praktischen Religion gehört, daher eben nicht ein jeder praktischer
                        Christ zugleich ein öffentlicher Lehrer <pb xml:id="bs_f_page_299" n="299" edRef="#f"/> seyn kann, muß er eine eigene jezige Erkentnis und Uebung
                        dieser christlichen Verehrung Gottes <hi>in den Zuhörern befördern</hi>, die
                        sich an die andre historische Kentnis, die vor der eigenen schon hergehet,
                        um und um <hi>anschliesset</hi>. Historischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Glaube, historischer</term>
        </index>Glauben unterschieden die Protestanten schon lange von
                            <hi>ihrem</hi> eigenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Glaube, tätiger</term>
        </index><hi>thätigen</hi> Glauben. Schon diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrgeschicklichkeit</term>
        </index>Lehrgeschiklichkeit sezt eine eigne practische Uebung voraus, und
                        die eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Anwendung</term>
        </index>Anwendung der Wahrheiten muß er doch auch selbst aus seiner <index indexName="subjects-index">
          <term>Erfahrung</term>
        </index>Erfarung als eine wirkliche freie Begebenheit kennen, wenn er sie
                        andern leicht machen wil. Kurz, zu der wahren Würde eines Lehrers, der den
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Nutzen der Religion</term>
        </index>Nutzen der christlichen Religion glüklich anempfelen wil, gehört
                        freilich mehr als der so leichte Eifer wider Naturalisten, <index indexName="subjects-index">
          <term>Sozinianer</term>
        </index>Socinianer, oder der Eifer für die buchstäbliche Kirchenlehre seiner
                        Gesellschaft. Daran ist gar kein Zweifel. Indes kann es unter manchen
                        Umständen doch nüzlich seyn, wenn eine bescheidne sanfte Vergleichung
                        angestellet, und den Zuhörern es wirklich erleichtert wird, selbst darüber
                        zu denken, daß es <hi>vielerley</hi> Christen gibt, daß man nicht durch
                        Befelen ein <hi>innerlicher</hi> Christ wird; daß es auch keine Befele gibt,
                        daß niemand selbst ein Na<pb xml:id="bs_f_page_300" n="300" edRef="#f"/>turalist seyn solle. Aber zuerst müßte der Lehrer selbst innerlich Christ
                        seyn; sonst wird er schon mit der äusserlichen Religionsordnung <hi>in
                            Absicht vieler Menschen</hi> unzufrieden seyn, und das ist nicht viel
                        vom Naturalismus unterschieden. Wenn der Prediger glaubt, durch Worte und
                        Redensarten der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel, durch die Lehrartikel würde man zum <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_37_6"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Selbstchristen</term>
        </index>Selbstchristen: so ist er selbst noch kein Christ, seinem innern
                        Zustande nach, und wird jene falschen Urtheile ferner ausbreiten, als gäbe
                        es eine unveränderliche Summe von Vorstellungen, worin die christliche
                        Religion einmal wie allemal bestünde. Hiemit wird aber allemal nur eine
                        Religionsgesellschaft äusserlich fortgesezt, und diese kann sich freilich
                        dem moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalismus, moralischer</term>
        </index>Naturalismus nicht mit dem Erfolge vorziehen, daß nun diese
                        äusserliche Religion für die allein gottgefällige oder seligmachende
                        Verehrung Gottes, von Naturalisten angesehen werden könte. Da kann man
                        freilich auf Abschaffung einer solchen Religion auftragen, weil es keine
                        praktische Christen gibt, die den Unterschied ihrer innern Religion
                        behielten. </p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_37_1"><label>sie
                            lassen sich für jeden Bogen bezalen; sie genießen bey ihres gleichen
                            eine Genemhaltung solcher besondern Projecte</label><p>Womöglich
                            Anspielung auf Bahrdts Vielschreiberei (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_a_1_16"/>) und Projektmacherei (vgl. z.B.
                                <ptr type="page-ref" target="#erl_f_v_15"/>). Zumindest was den
                            Ausstoß an Publikationen anging, saß Semler allerdings im Glashaus: Die
                            bereits beachtliche Bahrdt’sche Produktivität wurde von ihm noch einmal
                            deutlich überboten (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_v_3"/>) –
                            und man darf annehmen, dass er den Verlegern die jeweiligen Manuskripte
                            nicht umsonst überließ.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_37_2"><label>es gebe
                            keinen Timotheus und Titus in unsern Zeiten</label><p>Timotheus und
                            Titus waren Mitarbeiter des Apostels Paulus und begleiteten ihn auf
                            einigen seiner Reisen (vgl. z.B. Apg 16,1–5; Gal 2,1–10). Zumindest
                            Timotheus scheint auch unter Verfolgungen gelitten zu haben (Hebr
                            13,23); die nur apokryph belegte Geschichte seines späteren Martyriums
                            im Jahre 97 dürfte aber erfunden sein. Die paulinische Autorschaft der
                            beiden Timotheusbriefe und des Briefs an Titus wird heute in der
                            Forschung – anders als zu Semlers Lebzeiten – mehrheitlich
                            bestritten.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_37_3"><label>Pietisten</label><p>Ursprünglich als „Frömmlerei“ (lat.
                                <hi>pietas</hi>; „Frömmigkeit“) verspottet, entwickelte sich der
                            Pietismus im 17. und 18. Jh. zu einer der wirkmächtigsten
                            Reformbewegungen innerhalb des Protestantismus, deren Kritik an den
                            bestehenden kirchlichen Verhältnissen teils bis zur Separation
                            (radikaler Pietismus) führen konnte. Das pietistische Ideal von
                            gesteigerter Innerlichkeit und Soziabilität äußerte sich etwa in eigenen
                            Kirchenliedern und umfangreicher Erbauungsliteratur.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_37_4"><label>Schibboleth</label><p>D.i. Losungswort, nach Ri
                        12,5f.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_37_5"><label>nicht
                            blos Hörer sondern Thäter des Worts</label><p>Anspielung auf Jak
                            1,22.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_37_6"><label>Selbstchristen</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_25_8"/>.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_38">
      <head type="question">38. Dieses ohngefähr wolte ich sagen, wenn viele <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrer</term>
        </index>Lehrer der Christen von ihrer allein se<pb xml:id="bs_f_page_301" n="301" edRef="#f"/>ligmachenden reinen Lehre und Religion einseitig und
                        übereilt reden, und daher alle andern Lehrsäze sowol anderer christlichen
                        Parteien, als der Unchristen, Juden und Naturalisten so beurtheilen, daß sie
                        ihren Anhängern alle <index indexName="subjects-index">
          <term>Übung, moralische</term>
        </index>moralische wahre Uebung und eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Besserung</term>
        </index>Besserung, alle eigene rechtmäßige Zufriedenheit, allen Antheil an
                        Gott, der doch von niemand in Beschlag genommen werden kann, absprechen. Dis
                        ist doch ein Misbrauch des eigenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissens, andere gar zu beherrschen; die Clerisey hat ehedem mit
                        Zuthun des Staats <index indexName="subjects-index">
          <term>Symbole</term>
        </index>Symbole, Glaubensbekentnisse, <index indexName="subjects-index">
          <term>symbolische Bücher</term>
        </index>symbolische Bücher, eingefürt; gewiß in großer rechtmäßiger Absicht;
                        aber auch nach und nach über die Gebür erhoben; und Regenten haben häufig
                        der Clerisey zu viel nachgegeben. Hiedurch ist Menschenhaß gleichsam unter
                        den Christen geheiliget worden; und dis widerspricht doch allen gesunden
                        Begriffen von den verschiednen Stufen der <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottesverehrung, Stufen der</term>
        </index>Gottesverehrung in der so großen Menschenwelt. Christen müssen sich
                        als Christen moralisch zeigen, nicht blos durch <pb xml:id="bs_f_page_302" n="302" edRef="#f"/> politische Gerechtsame schüzen; hier waren sie nur
                        Bürger.</head>
      <p>Dis ist freilich eine ernstliche Rüge, eine sehr gegründete Klage, wider die
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Übertreibung der äußerlichen Religion</term>
        </index>Uebertreibung einer blos <hi>gesellschaftlichen</hi>, politischen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsordnung, bloß politische</term>
        </index>Religionsordnung, <hi>sogar zur öffentlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Verdammung</term>
          </index>Verdammung aller andern Menschen</hi>; die doch, was ihr
                        Verhältnis gegen Gott betrift, keinem Menschen unterworfen sind. Diese
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Anmaßung</term>
        </index>Anmaßung ist so gar wider den <hi>allerersten Inhalt</hi> der neuen
                        bessern Religion, welche den wahren Begriff von der <index indexName="subjects-index">
          <term>Liebe Gottes</term>
        </index>unendlichen Liebe und Gnade Gottes eben über jene jüdische
                        Niedrigkeit alle Unjuden zu verdammen, so ganz deutlich erhebet, daß eben
                        deswegen <hi>ein ganz neuer Grund geleget wird</hi>, durch den freien
                        Begriff von einer geistlichen viel vollkommenern Religion, neben allen
                        äusserlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Feierlichkeiten, lokale</term>
        </index>localen Feierlichkeiten; damit dieser so gemeine gleiche Antheil
                        aller obgleich verschiednen Menschen an den unendlichen Gott nicht mehr an
                        die so <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, partikuläre</term>
        </index><hi>partikuläre</hi> Religion der Juden, und an ihre alten Begriffe
                        oder Historien ihrer Nation gebunden werden möchte; sondern die freie Uebung
                        des eignen <pb xml:id="bs_f_page_303" n="303" edRef="#f"/> Gewissens nun
                        immer durch solche Kenner der neuen Religion befördert würde. Freilich war
                        nun <hi>der Schuz</hi> der römischen Obrigkeit nötig, da die Vorsteher und
                        Obern der Juden diese Einsicht und Uebung der Freiheit von dem Gesez <index indexName="persons-index">
          <term>Mose</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t7">Mosis</persName> durchaus nicht
                        zugeben sondern bürgerlich hindern wolten, damit nicht die vielen
                        Geldbeyträge oder Abgaben wozu Juden verbunden waren, und die bisherige
                        Gewalt des <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_1"/><hi>Synedriums</hi> endlich gar aufhören möchten. Aber es war doch
                        keine Folge eines Befels, daß eine neue Religion in den Gemütern der
                        Christen sich anfing; sondern die <hi>neue <index indexName="subjects-index">
            <term>Erkenntnis</term>
          </index>Erkentnis</hi> der Christen von einer innern viel vollkommnern
                        Religion, darum sie nach und nach die alte geringere Religion verliessen,
                            <hi>ging schon vorher</hi>, und machte die <index indexName="subjects-index">
          <term>Rabbinen</term>
        </index>Rabbinen und Priester aufmerksam, und bewegte sie also zur
                            <hi>bürgerlichen Verfolgung</hi> dieser Christen, die sie für <index indexName="subjects-index">
          <term>Abtrünnige</term>
        </index>Abtrünnige von ihrem Gesez ansahen; wenn sie gleich eine Offenbarung
                        Gottes eben so zum Grunde legten, als die jüdische Religion that. Diese
                            <hi>bürgerliche</hi> Bedrückung und Beeinträchtigung konten die Christen
                        durch Anrufung der eigentlichen höchsten römischen Landesobrigkeit
                        abzuwenden suchen; denn die <pb xml:id="bs_f_page_304" n="304" edRef="#f"/>
                        römische Hoheit ging über die alte Nationalobrigkeit. Die Unterthanen konten
                        also diesen Schuz suchen. Ein gleiches geschahe nachher in Absicht der
                        heidnischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsdiener</term>
        </index>Religionsdiener, welche eben so wenig eine neue
                        Religionsgesellschaft, die schon aus einzelnen Christen entstehen konte,
                        neben sich ins Große aufkommen lassen wolten. Auch hier war alles <index indexName="subjects-index">
          <term>politisch</term>
        </index><hi>politische Aufgabe</hi>; und selbst die Historie, welche bei den
                        ersten Christen kaum einem kleinen Theile nach übrig ist, zeiget deutlich
                        genug, daß die neue christliche Religionsgesellschaft schon weit mehr auf
                        ihre äusserliche Vergrösserung gerichtet gewesen, als in stiller Anwendung
                        moralischer Kentnisse vorzüglich bestanden habe. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_2"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Geheimnis</term>
        </index><hi>Geheimnisse</hi> fingen auch unter den Christen an, die
                        hauptsächliche Reizung und Empfelung für den Zutritt zur neuen Religion zu
                        werden; statt der ganz freien innern Religion erwartete man <hi>geheime
                            Vorzüge</hi> von den Obern; und diese erdichteten, was man hoffte. Seit
                        der Mitte des 4ten Jahrhunderts <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_3"/>kam die <hi>große bischöfliche Gesellschaft</hi>
                        blos historisch in die Höhe, die vornemlich wundervolle Historien <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>, der <index indexName="persons-index">
          <term>Maria</term>
        </index><persName ref="textgrid:3phsp">Maria</persName>, der Apostel, der
                        Märtyrer und ihrer <index indexName="subjects-index">
          <term>Reliquien</term>
        </index>Reliquien und noch <hi>bevor</hi><pb xml:id="bs_f_page_305" n="305" edRef="#f"/><hi>stehender Dinge</hi>, nun zum <hi>Gegenstande</hi> der
                        öffentlichen Religion machten, und durch gemeinschaftliche Beihülfe, die sie
                        aus allen Provinzen zusammenzogen, ihre Verbindung und Verbrüderung mit
                        allen Vorstehern der katholischen Religionsgesellschaft, täglich erweiterten
                        und befestigten. Von da an wurde den gemeinen Christen immer beigebracht,
                        daß nur allein in der Gemeinschaft mit dieser katholischen Kirche, oder
                        Hauptloge, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_4"/>die auch
                            <hi>Mutter</hi> aller Christen hies, die moralische beste Religion, die
                        rechte Verehrung Gottes, und die künftige unbestimmte Seligkeit statt fände.
                        Die <index indexName="subjects-index">
          <term>Symbole</term>
        </index><hi>Symbole</hi>, als unveränderliche Formeln, gehören allemal zu
                        einer besondern gesellschaftlichen Religion, nicht aber zur allgemeinen
                        eigenen Religion aller Christen; sie haben alle eine Beziehung <hi>auf die
                            Ausschliessung anderer Gesellschaften</hi>, und auf die stete
                        vorzügliche Fortsezung der katholischen Kirche. Es gab immerfort verständige
                        Zeitgenossen, die es einsahen, daß diese Formeln zunächst <hi>eine
                            äusserliche Absicht hätten</hi>, nicht aber den Grund und Inhalt der
                        moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, moralisch vollkommene</term>
        </index>vollkommenen Religion, ausschließungsweise, in sich fasseten. Dieser
                        Grund und Inhalt war allen <pb xml:id="bs_f_page_306" n="306" edRef="#f"/>
                        Christen ganz frey für ihr eigen Gewissen; es mochte in der öffentlichen
                        Lehrformel immerfort die <index indexName="subjects-index">
          <term>Einheit</term>
        </index>Einheit und <index indexName="subjects-index">
          <term>Unveränderlichkeit</term>
        </index>Unveränderlichkeit herrschen. Diese andern Zeitgenossen fanden also
                        keinen algemeinen Grund, der sie innerlich dazu verbunden hätte, jene als
                        die Norm der einzig wahren Verehrung Gottes überhaupt anzunemen. Es gab also
                        immer mehrere christliche Gesellschaften oder Familien, welche nicht zu der
                        katholischen großen Kirche gehören wolten, wie immer mehr eine christliche
                        Religion sich auch in entlegenen Ländern anfing, wo man von dieser
                        katholischen Kirche nichts wuste, geschweige ihre Religionsform erst
                        vergleichen konte. Da aber jede christliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Parteien</term>
        </index>Partei eben darum in einigen Lehrsäzen besonders immer vereinigt
                        blieb, weil sie von andern Parteien schon nach Ort und Zeit abgesondert,
                        entstanden war: so hatten alle besondern Religionsparteien ein locales
                        christlich <index indexName="subjects-index">
          <term>Glaubensbekenntnis, lokales</term>
        </index>Glaubensbekentnis, wodurch sie immer <hi>gesellschaftlich,
                            äusserlich vereinigt blieben</hi>; und so hatten auch alle einerley
                        Zuversicht und Gewisheit, daß sie an der christlichen Religion wirklich den
                        Antheil hätten, der ihnen zukäme. Denn die innere Religion konte nicht
                        umschränkt oder umpfälet werden, so <pb xml:id="bs_f_page_307" n="307" edRef="#f"/> wenig als das <index indexName="subjects-index">
          <term>Gemüt</term>
        </index>Gemüth oder die <index indexName="subjects-index">
          <term>Seelenkräfte</term>
        </index>Seelenkraft der Menschen. Und diese eigene Ueberzeugung oder freie
                        Beurtheilung und Zuversicht macht immer die wirkliche gegenwärtige
                            <hi>Verbindlichkeit</hi> aus, in dieser Gesellschaft bürgerlich ferner
                        zu bleiben. Sie war bey allen fähigern Christen immerfort da, neben der
                        öffentlichen oder gemeinschaftlichen Religion, die freilich eine feste
                        Ordnung bekommen muste, (<foreign xml:lang="lat">in uno tertio</foreign> musten die vielen übereinkommen;)
                        indem nicht ein jeder verständiger Christ sein eigenes besonderes
                        Glaubensbekentnis zum öffentlichen erheben und aufstellen konte. Er wuste,
                        daß jeder seines eigenen Glaubens leben, oder seinem Gewissen selbst, <index indexName="subjects-index">
          <term>privatim</term>
        </index>privatim folgen müsse, so bald er eine grössere Erkentnis, <hi>zu
                            seinem grössern moralischen <index indexName="subjects-index">
            <term>Nutzen, moralischer</term>
          </index>Nuzen</hi> vorfindet; dieser tägliche <hi>Zuwachs</hi> oder
                            <hi>freie Umtrieb</hi> ist in der geschriebenen oder gedrukten Formel
                        freilich <hi>nicht möglich</hi>; er entstehet aber <hi>in allen <index indexName="subjects-index">
            <term>Christen, denkende</term>
          </index>denkenden Christen</hi>, ohne einigen Nachtheil für die übrige <choice>
          <sic>Religionsordnnng</sic>
          <corr type="editorial">Religionsordnung</corr>
        </choice>, die ihr <hi>blos äusserliches Verhältnis</hi> immer behält. Ich
                        wil mich hier nicht darein einlassen, ob ein solcher Christ auch verbunden
                        ist, <hi>seine bessere Erkentnis andern</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_308" n="308" edRef="#f"/> Christen
                            <hi>mitzutheilen</hi>? Es ist allemal gewis, daß dis <hi>nicht geradehin
                            statt finden konte</hi>, wegen des <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_5"/><hi>Unterschieds der <index indexName="subjects-index">
            <term>Schwache</term>
          </index>Schwachen und Unfähigern</hi> andrer Christen. Daß aber so gar
                        Christen und Lehrer den falschen Satz aufgestellet haben, es müsse die
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Privaterkenntnis</term>
        </index>Privat-Erkentniß aller Christen durchaus, <hi>auch in Absicht ihrer
                            selbst</hi>, durch die öffentliche Lehrformel einmal wie allemal
                            <hi>eingeschränkt bleiben</hi>: ist, wie ich eben gezeigt habe, ganz
                        unchristlich und wider die Natur der eignen subjektivischen christlichen
                        Religion; die ja auch eine <hi>Privat-Fertigkeit</hi> der so verschiedenen,
                        immer verschiedenen Christen seyn sol. Nun wurde aber durch solche
                        äusserliche Ordnung sehr unrecht die freie <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, moralische</term>
        </index>moralische innere Religion ganz und gar aufgehoben, und alle
                        Christen geriethen unter eine äusserliche Herrschaft und Botmäßigkeit der
                        Lehrer, die doch gar nicht statt findet <hi>über allen innern Gebrauch</hi>
                        des eigenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Denken, eigenes</term>
        </index>Denkens und Gewissens. Es ist wol historisch entschieden, daß alle
                        <foreign xml:lang="lat">Concilia</foreign> zunächst die <foreign xml:lang="lat">Clericos</foreign> oder <hi>Kirchendiener</hi> verbunden haben,
                        in Absicht der <hi>öffentlichen Religionsordnung</hi>, welche nun diese und
                        jene <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchensprache</term>
        </index><hi>Kirchensprache</hi> über die gesellschaftlichen Lehrartikel <pb xml:id="bs_f_page_309" n="309" edRef="#f"/> enthält; und freilich den
                        Stand und das Amt der Kirchendiener über die Gebür erhoben hat: denn die
                        <foreign xml:lang="lat">Clerici</foreign> allein hatten die öffentlichen Religionsgeschäfte; alle andern
                        Christen durften nichts davon ausrichten; sie waren nicht heilig genug, Gott
                        (in diesen Verrichtungen) zu verehren; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_6"/>die sogenannten Geistlichen allein musten den
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottesdienst</term>
        </index>Gottesdienst öffentlich verrichten. Aber auch hier blieben manche
                        würdige Lehrer dem größern Berufe treu, <hi>eine innere freie Religion</hi>,
                        annoch neben der äusserlichen, zu befördern <hi>bei allen, die dazu fähig
                            waren</hi>; und noch mehr gab es wirklich verständigere Zeitgenossen,
                        welche es immer wusten, daß <hi>diese äusserliche <index indexName="subjects-index">
            <term>Ordnung</term>
          </index>Ordnung</hi> keinen notwendigen ausschliessenden Zusammenhang
                        habe, mit der eigenen besondern innern Verehrung Gottes; ob sie gleich
                        zufällig, durch <hi>mystische</hi> oder algemeine Ideen ganz unschädlich, ja
                        manchen Menschen so gar nüzlich werden kann; wie durch <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_7"/><hi>allegorische,
                            mystische</hi> Deutung, es <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_8"/>einen geistlichen <index indexName="persons-index">
          <term>Simson (Biblische Person)</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:3r6ct">Simson</persName></hi>, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_9"/>geistlichen <index indexName="persons-index">
          <term>Ahasveros (Biblische Person)</term>
        </index><hi><persName>Ahasverus</persName></hi>, geistliche <index indexName="persons-index">
          <term>Esther (Biblische Person)</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:3r6cw">Esther</persName></hi>, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_10"/>Braut <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>
        <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> in der Vorstellung des <hi>jezigen</hi> Lesers geben konte; so
                        wenig der Verfasser jener hebräischen Aufsäze, an eine <pb xml:id="bs_f_page_310" n="310" edRef="#f"/> geistliche Anwendung damalen
                        gedacht hatte. In allen Jahrhunderten gab es diese bessere Einsichten, deren
                        Liebhaber freilich <hi>Kezer</hi> hiessen, und, wenn man der Kirche glaubte,
                        gerade darum gar nicht selig seyn und werden konten, weil sie mehr wusten
                        und beurtheilten, als die gesellschafftliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchensprache</term>
        </index>Kirchensprache bisher in sich fassete oder genem hielte.</p>
      <p>Alle <index indexName="subjects-index">
          <term>symbolische Bücher</term>
        </index>symbolischen Bücher der Protestanten hatten vom Anfange her, eben
                            <hi>diese äusserliche gesellschaftliche Relation, daß die öffentlichen
                            Lehrer</hi> dieser neuen Parteien die freie innere Religion in ihrem
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Unterricht</term>
        </index>Unterricht mehr befördern, und die vorige äusserliche historische
                        Gewonheit nicht also fort sezen solten, daß die christliche Wohlfart ferner
                        von Pabst und von der Kirche abhängig bliebe. Diese freie, unabhängige <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_11"/><hi>Absonderung</hi>
                        von der <hi>despotischen</hi> Kirche, die allen Gebrauch des eigenen
                        Gewissens bey den Christen aufgehoben hatte, <hi>war die <index indexName="subjects-index">
            <term>Hauptsache</term>
          </index>Hauptsache</hi>, in der <hi>Augspurgschen Confession</hi>, in
                        ihrer <hi>Apologie</hi>, in den <hi>schmalkaldischen</hi> Artikeln, und den
                        Catechismis, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_12"/>die
                            <index indexName="persons-index">
          <term>Luther, Martin</term>
        </index><persName ref="textgrid:254tm">Luther</persName> ohnehin nur für
                        Pfarrhern oder für die <hi>gar einfältigen</hi> Lehrer aufgesezt hat. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_13"/>Selbst <pb xml:id="bs_f_page_311" n="311" edRef="#f"/> die formula concordiae hat
                        eben diese <hi>äusserliche</hi> Absicht, eine <hi>Absonderung</hi> und
                            <hi>Entfernung</hi> solcher <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrsätze</term>
        </index>Lehrsäze aus dem öffentlichen Vortrage zu Stande zu bringen, worüber
                        die öffentliche Lehrer zeither einander nicht ohne tägliche Aergernisse und
                        bürgerliche Zerrüttung, bestritten, weil manche gar den <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_14"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Kryptocalvinismus</term>
        </index><hi>Cryptocalvinismus</hi>, wie es damalen hies, in die lutherische
                        Kirche einfüren wollten. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_15"/>Man muß aber hier die politische Lage nicht
                        vergessen, wornach besonders die <hi>schweizerischen</hi> Lehrsäze durchaus
                        im teutschen Reiche nicht gedultet werden, und die lutherischen Stände den
                                <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Religionsfriede</term>
          </index>Religionsfrieden</hi> nicht verletzen solten, der allein auf die
                        augspurgische Confession zur Noth noch gegründet hies. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_16"/>Unsere Fürsten sagen
                        daher selbst am Ende: es ist am Tage und öffentlich, daß <hi>wir mit allem
                            Fleisse verhütet</hi> haben, damit je <hi>keine neue</hi> und
                            <hi>gottlose</hi> Lehre sich <hi>in unsern Kirchen einflechte</hi>. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_17"/>Oder wie es <index indexName="persons-index">
          <term>Melanchthon, Philipp</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:24h48">Melanchthon</persName></hi>
                        ausdrückt, daß nicht neue <hi>unchristliche</hi> Lehre bey uns angenommen
                        würde. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_18"/><hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Jesuiten</term>
          </index>Jesuiten</hi> suchten wenigstens alle abermalige oder fernere
                            <hi>Freiheit</hi>, den <index indexName="subjects-index">
          <term>Lutheraner</term>
        </index>Lutheranern, durch solche politische <index indexName="subjects-index">
          <term>Schreckbilder, politische</term>
        </index>Schreckbilder, Abweichung von der Confession <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> zu nemen. Daß aber durch <pb xml:id="bs_f_page_312" n="312" edRef="#f"/> diese <hi>symbolische Bücher</hi>, welche blos öffentliche
                        Prediger <hi>in ihrem <index indexName="subjects-index">
            <term>Amt</term>
          </index>Amte</hi> angingen, die ganze <index indexName="subjects-index">
          <term>Gelehrsamkeit</term>
        </index>Gelersamkeit, <hi>Philosophie</hi>, Historie, Sprachkentnis, also
                        auch alle <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatkenntnis</term>
        </index>Privat-Kentnis <hi>geradehin freigelassen werden</hi>: beweisen die
                        vielen <hi>academischen Vorlesungen</hi> und Bücher, worin ganz ausgemacht
                        viel mehr Gelersamkeit und freie Prüfung enthalten ist, als je in allen
                        symbolischen Büchern für die gemeinen Pfarrherrn vorkommen konte. Es wurde
                        auch niemand gezwungen, ein Lutheraner zu bleiben; so ganz frey war alle
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privat-Religion, daß man sogar die bisherige gesellschaftliche
                        verlassen konnte.</p>
      <p>Eben so gewis ist es, daß die <index indexName="subjects-index">
          <term>symbolische Bücher</term>
        </index><hi>symbolischen</hi> Bücher <hi>nur</hi> <foreign xml:lang="lat">auctoritatem externam,
                        politicam</foreign> <hi>wirklich haben, durch die Landesherrliche Obrigkeit</hi>. Es
                        gibt Millionen <index indexName="subjects-index">
          <term>Lutheraner</term>
        </index>Lutheraner, die von einer <foreign xml:lang="lat">formula concordiae</foreign> nie etwas gehört haben,
                        wie sie ja auch in vielen lutherischen Ländern nicht angenommen worden. Es
                        stehet also gewis uns frey, die <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_19"/>gar elende Beschaffenheit dieser schlecht
                            <hi>compilirten</hi> Samlung, formula concordiae, so zu beurtheilen, als
                        wir sie jezt finden, wie wir <hi>das</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_313" n="313" edRef="#f"/>
        <hi>ganze Vorhaben</hi>, (eine feststehende <foreign xml:lang="lat">concordiam</foreign> aller lutherischen
                        Lehrer zu stiften), <hi>als ein Ueberbleibsel der päbstlichen
                        Grundsäze</hi>, mit allem Recht ansehen, ohne unächte untreue Lutheraner
                        hiedurch zu werden. Ich weis es, daß ehedem leider <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_20"/><hi>lutherische</hi>
                        Theologen diese <index indexName="subjects-index">
          <term>symbolische Bücher</term>
        </index><hi>symbolischen</hi> Bücher dazu gemisbraucht haben, eine Art von
                            <hi>päbstlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Inquisitionsgericht</term>
          </index>Inquisitionsgericht</hi> damit wider einander in Gang zu
                        bringen; aber die Zeiten sind auch vorüber. Das alte Gebiet der <index indexName="subjects-index">
          <term>Theologie</term>
        </index>Theologie, die falsche Mischung der so <hi>successiven</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Theologie, sukzessive</term>
        </index>Theologie, mit der innern christlichen freien Religion, ist nun
                        aufgehoben. Es war <hi>periodische academische Theorie</hi>, die auf <index indexName="subjects-index">
          <term>Infallibilität</term>
        </index><hi>Infallibilität</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Unveränderlichkeit</term>
        </index>Unveränderlichkeit keinen gerechten Anspruch machen konte. Die
                        alleinseligmachende christliche Religion kann <hi>ihrer Wirkung nach in
                            keine Formeln eingeschlossen werden</hi>, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_21"/>weil niemand Gott
                        ausschließen kann, wenn Menschen ihn suchen; er ist aber überal von allen
                        Christen, von allen Menschen ganz gewis zu finden. Freilich solten Christen
                        eine desto vollkommnere kentlichere <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes</term>
        </index>Verehrung Gottes darlegen, da sie selbst sagen, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_22"/><hi>es seie ihnen
                            mehr gegeben worden als andern</hi>; sie müssen aber ihren Vorzug nicht
                        in <pb xml:id="bs_f_page_314" n="314" edRef="#f"/> die christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Redensarten</term>
        </index><hi>Redensarten</hi> und historischen Beschreibungen sezen, welche
                        ehedem den katholischen Inhalt der öffentlichen Religion ausmachten; sondern
                        darein, daß sie immer mehr innere Tugend und moralische Reinheit in ihrem
                        Leben zeigen, als andre, die so viel Erkentnis nicht hatten. Was die
                            <hi>mancherley <index indexName="subjects-index">
            <term>Vorstellungen</term>
          </index>Vorstellungen</hi> betrift, welche daher entstehen, ob die und
                        jene <index indexName="subjects-index">
          <term>Redensarten</term>
        </index>Redensarten <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_23"/>buchstäblich und <foreign xml:lang="lat">proprie</foreign>, oder aber <foreign xml:lang="lat">logice, improprie</foreign> in Absicht der
                            <hi>Sachen</hi>, verstanden werden sollen: so mus kein christlicher
                        Lehrer ferner so entscheiden, daß er andre Christen nun verurtheilet, als
                        Verächter der so klaren Bibel, und nun sie in böse Nachrede, ja gar in Haß
                        und Verachtung bringe; da weder <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> noch die Apostel
                        ein allereinziges Register gegeben haben, was zu dem allein erbaulichen
                        Sinne gehöre; die <index indexName="subjects-index">
          <term>Erbauung</term>
        </index>Erbauung oder moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Vollkommenheit, moralische</term>
        </index>Vollkommenheit der so verschiedenen Menschen, kann nicht ein
                        einziges <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, einerlei</term>
        </index>Maas für alle haben. In vielen Stellen ist es wol bedächtig
                        unterlassen worden, eine einzige Summe der Vorstellung anzugeben; wie wir
                        daher auch kein wörtlich <hi>Formular</hi> finden, das allen Christen gleich
                        notwendig seie, um wahre Christen zu seyn. <pb xml:id="bs_f_page_315" n="315" edRef="#f"/> Ein jeder muß das <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß</term>
        </index>Maaß zu erreichen suchen, das möglich ist; aber nicht alle können
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, einerlei</term>
        </index>einerley Maas erreichen; und nie ist einer schon vollkommen fertig;
                        alle aber sollen ihren Glauben, ihre Religion in immer grösserer <index indexName="subjects-index">
          <term>Liebe gegen Gott</term>
        </index>Liebe gegen Gott und Menschen thätig beweisen; sonst heissen sie
                        alle eine <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_38_24"/><hi>klingende Schelle</hi>; wenn sie blos von Ehre Gottes oder <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> reden, und sogar
                        die <hi>Unendlichkeit</hi> dieser Ehre nicht einsehen.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_1"><label>Synedriums</label><p>Das Synedrium (von gr. <foreign xml:lang="grc">συνέδριον</foreign>; Synhedrion, „Zusammensitzen“)
                            war ein vermutlich zwischen Beginn der Makkabäerzeit (165 v. Chr.) und
                            Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.) existierendes, religiöses und
                            politisches Gremium der Juden, das aus 70 Ältesten bestand und unter dem
                            Vorsitz des Hohepriesters tagte. Luther übersetzte schlicht „Rat“. Dem
                            Synedrium kam die höchste Gerichtsbarkeit im Judentum zu, es wurde in
                            seinen Kompetenzen allerdings von Herodes (73/37–4 v. Chr.) und den
                            Römern beschnitten (vgl. Joh 18,31). Laut den synoptischen Evangelien
                            wurde Jesus vom Synedrium verhört und vor Pilatus verklagt (z.B. Lk
                            22,66–23,5).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_2"><label>Geheimnisse fingen auch unter den Christen an, die
                            hauptsächliche Reizung und Empfelung für den Zutritt zur neuen Religion
                            zu werden</label><p>Semler scheint hier einen Einfluss antiker
                            Mysterienkulte (Mithraismus u.a.) auf das frühe Christentum anzudeuten –
                            eine Auffassung, die in der Forschung erst Ende des 19. Jh.s vermehrten
                            Zuspruch fand. Vgl. auch Semler, <hi>Neue Versuche die Kirchenhistorie
                                der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären</hi> (1788), 12: „Alle
                            [frühchristlichen] Partheien beobachten geraume Zeit diese Nachahmung
                            der Mysterien, oder geheimen Brüderschaften. [...] Ich denke immer mehr,
                                <hi>daß dieses gerade zur ersten Geschichte der Christen
                            gehört</hi>; so sehr wir bisher das Gegentheil glauben.“</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_3"><label>kam die
                            große bischöfliche Gesellschaft blos historisch in die Höhe, die
                            vornemlich wundervolle Historien Christi, [...] und noch bevorstehender
                            Dinge, nun zum Gegenstande der öffentlichen Religion
                            machten</label><p>Gemeint sind die zahlreichen apokryphen Schriften (s.
                                <ptr type="page-ref" target="#erl_f_6_5"/>).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_4"><label>die
                            auch Mutter aller Christen hies</label><p>Vgl. z.B. Augustinus, <hi>De
                                Moribus Ecclesiae Catholicae</hi> [388], Kap. 30.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_5"><label>Unterschieds der Schwachen und Unfähigern andrer
                            Christen</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_a_1_17"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_6"><label>die
                            sogenannten Geistlichen allein musten den Gottesdienst öffentlich
                            verrichten</label><p>Semler baut erneut einen Gegensatz zum
                            protestantischen „Priestertum aller Gläubigen“ auf, s. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_28_4"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_7"><label>allegorische, mystische Deutung</label><p>Gemeint ist eine
                            übertragene Deutung und innere Bedeutung jenseits der wörtlichen Lektüre
                            der heiligen Schriften, wie sie in der christlichen Exegese eine lange
                            Tradition haben; vgl. auch 2Kor 3,6.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_8"><label>einen
                            geistlichen Simson</label><p>Simson ist eine Figur aus dem Buch der
                            Richter (Ri 13,1–16,31), die oftmals als Vorausdeutung auf Christus
                            interpretiert wurde (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_38_7"/>
                            und <ptr type="page-ref" target="#erl_b_5_10"/>): Die
                            Geburten Simsons und Christi wurden beide von Engeln angekündigt; Simson
                            wurde von einer unfruchtbaren Frau, Jesus von einer Jungfrau geboren;
                            Simson bezwang einen Löwen, Christus den Teufel; Simson war mit einer
                            Tochter des Feindes verheiratet, Christus mit der ihm feindlich
                            gesonnenen Menschheit; Simson wurde von Delila, Jesus von Judas
                            Ischariot für Silbermünzen verraten; beide wurden vor ihrem Tod
                            misshandelt und gedemütigt. Vgl. dazu etwa Daniel Cramers (1568–1637),
                                <hi>Biblische Außlegung</hi> (1627), 192–195: Simson ist für Cramer
                            „Bildnuß Christi“ (192; 195) und Christus „unser geistlicher Simson“
                            (193).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_9"><label>geistlichen Ahasverus, geistliche Esther</label><p>Bei Ahasveros
                            und Est(h)er handelt es sich um Figuren aus dem Buch Est(h)er. Es
                            erzählt die Geschichte der Jüdin Esther, die sich mit dem persischen
                            Herrscher Ahasveros vermählt. Dieser wird heute zumeist mit Xerxes I.
                            (ca. 519/486–465 v. Chr.) identifiziert, die ältere Tradition hält ihn
                            für Artaxerxes I. (?/465–424 v. Chr.) oder Artaxerxes II. (ca.
                            453/404–358 v. Chr.). Für keinen der drei Herrscher ist eine jüdische
                            Gemahlin außerbiblisch belegt. – Einige römisch-katholische Theologen
                            sahen in Ahasveros und Esther das Abbild Gottvaters und der Jungfrau
                            Maria. Das Versprechen Ahasvers, Esther sein halbes Königreich zu
                            überlassen (Est 5,3), wurde von Gabriel Biel (ca. 1410–1495) etwa wie
                            folgt gedeutet: „Wir fliehen aber zuerst zur allerseligsten Jungfrau,
                            Königin des Himmels, der der König der Könige, der himmlische Vater die
                            Hälfte seines Reichs gegeben hat. Dies wird angezeigt durch die Königin
                            Esther, der Ahasverus [...] die Hälfte seines Königreichs versprach. So
                            hat unser himmlischer Vater, der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit besaß,
                            die Gerechtigkeit behalten und die Ausübung der Barmherzigkeit an die
                            jungfräuliche Mutter abgetreten“ (<hi>Sacri Canonis Missae Lucidiss.
                                Expositio Profundissimi</hi> [1576], Lectio 80, 799 [Übers.
                            Hgg.]).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_10"><label>Braut
                            Christi</label><p>Der Ausdruck „Braut Christi“ dient in der christlichen
                            Tradition als Metapher für die Kirche, im Neuen Testament lässt er sich
                            explizit nicht finden (vgl. aber Mt 25,1–13; 2Kor 11,2; Eph 5,25–27;
                            Offb 19,7–9). Das Bild einer Beziehung zwischen Gott und den Menschen,
                            analog zu derjenigen zwischen Brautleuten oder Ehepaaren, ist im Alten
                            Testament vorgezeichnet, am deutlichsten wohl in Jes 62,5.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_11"><label>Absonderung von der despotischen Kirche, die allen Gebrauch des
                            eigenen Gewissens bey den Christen aufgehoben hatte, war die Hauptsache,
                            in der Augspurgschen Confession [...] und den Catechismis</label><p>Zur
                            Rolle des Gewissens in der protestantischen Abgrenzung von der
                            Papstkirche vgl. in den von Semler aufgeführten Bekenntnisschriften
                            exemplarisch: <hi>Confessio Augustana</hi> Art. 15 („das man die
                            gewissen damit [mit der Einhaltung von Kirchenordnungen] nicht
                            beschweren sol“, BSLK 69), <hi>Apologie</hi>, Vorrede (BSLK 141–144);
                                <hi>Schmalkaldische Artikel</hi>, Einleitungspassage des Dritten
                            Teils („Denn Conscientia [Gewissen] ist bey inen [= dem Papst und seinen
                            Anhängern] nichts, Sondern gelt, ehr und gewalt ists gar“, BSLK 433);
                                <hi>Großer Katechismus</hi>, Vom Sakrament des Altars („Das sol nu
                            das erste sein, sonderlich für die kalten und nachlessigen, das sie sich
                            selbs bedencken und erwecken. [...] man [muß] sich je mit dem hertzen
                            und gewissen befragen und stellen als ein mensch, das gerne wolt mit
                            Gott recht stehen“, BSLK 718).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_12"><label>die
                            Luther ohnehin nur für Pfarrhern [...] aufgesezt hat</label><p>Luther
                            widmete 1529 seinen <hi>Kleine[n] Katechismus</hi> „allen treuen fromen
                            Pfarhern und Predigern“ (BSLK 501). Schnell entwickelte er sich als
                            Basis für die grundlegende Katechese der Hausgemeinschaft und wurde auch
                            häufig im Schulunterricht benutzt. Sowohl der <hi>Kleine</hi> wie auch
                            der <hi>Große Katechismus</hi> (1529) wurden 1580 als zentrale
                            Bekenntnistexte ins <hi>Konkordienbuch</hi> aufgenommen.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_13"><label>Selbst
                            die formula concordiae hat eben diese äusserliche
                            Absicht</label><p>Vermutlich Anspielung auf folgende Passage aus der
                            Vorrede der <hi>Konkordienformel</hi> (1577): „Was dann die
                            Condemnationes, aussetzung und verwerffung falscher unreiner Lere [...]
                            betrifft, so in dieser erklerung und gründlicher hinlegung der
                            streitigen Artickeln ausdrücklich und unterschiedlich gesetzt werden
                            müssen, [...] ist gleicher gestalt unser wille und meinung nicht, das
                            hiemit die Personen, so aus einfalt irren und die warheit des Göttlichen
                            Worts nicht lestern, viel weniger aber gantze Kirchen in oder ausserhalb
                            des heiligen Reichs deutscher Nation gemeint, sondern das allein damit
                            die falschen und verführischen Leren und derselben halsstarrige Lerer
                            und lesterer, die wir in unsern Landen, Kirchen und Schulen keines weges
                            zugedulden gedencken, eigentlich verworffen werden, dieweil dieselbe dem
                            ausgedruckten Wort Gottes zu wider und neben solchem nicht bestehen
                            können, auff das fromme hertzen für derselben gewarnet werden möchten“
                            (BSLK 755f.).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_14"><label>Cryptocalvinismus</label><p>Ausgelöst von der postumen
                            Veröffentlichung des Arztes Joachim Curaeus (1532–1573) wurde 1574 in
                            Kursachsen Anhängern der Lehre Melanchthons (Philippisten) vorgeworfen,
                            sich in der Abendmahlsauffassung zu stark der Theologie Calvins (vgl.
                                <ptr type="page-ref" target="#erl_b_7_3"/>) und Bezas
                            (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_22_9"/>) angenähert zu haben.
                            Sie wurden daraufhin gefangen genommen und genötigt, ihrem
                            „Kryptocalvinismus“ abzuschwören.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_15"><label>Man
                            muß aber hier die politische Lage nicht vergessen</label><p>Zwar waren
                            die Anhänger der <hi>Confessio Augustana</hi> (1530) durch den
                            Augsburger Religionsfrieden (1555) reichsrechtlich geduldet, strittig
                            war jedoch, ob auch Anhänger des Reformiertentums darunterfielen.
                            Offiziell wurden die Reformierten erst 1648 gleichgestellt.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_16"><label>Unsere
                            Fürsten sagen daher selbst am Ende</label><p>So heißt es im Beschluss
                            des <hi>Augsburger Bekenntnisses</hi>: „es ist ye am tage und
                            offentlich, das wir mit allem vleis mit Gots willen on rhum zuredden
                            verhut haben, damit je kein neu und gotlose lere sich in unsern kirchen
                            heimlich einfluchte, einrissen und uberhant nemen“ (BSLK
                        134).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_17"><label>Oder
                            wie es Melanchthon ausdrückt, daß nicht neue unchristliche Lehre bey uns
                            angenommen würde.</label><p>Philipp Melanchthon, eigentlich Schwarzerdt,
                            (1497–1560) gilt als wichtigster Mitstreiter Luthers in Wittenberg. Nach
                            dem humanistischen Studium in Heidelberg und Tübingen kam er 1518 nach
                            Wittenberg, bekleidete zunächst den neugestifteten Lehrstuhl für
                            Griechisch und las als <hi>Baccalaureus biblicus</hi> ab 1519 biblische
                            Vorlesungen. Ab 1525 erhielt er wie Luther einen Sonderstatus, der es
                            ihm erlaubte, sich stärker der reformatorischen Bewegung zu widmen.
                            Entscheidend war sein Einfluss auf die frühen Kirchenvisitationen und
                            insgesamt auf die Konsolidierung des lutherischen Protestantismus. So
                            war er 1530 maßgeblich an der Formulierung des <hi>Augsburger
                                Bekenntnisses</hi> (CA) sowie der <hi>Apologie</hi> (AC) beteiligt.
                            Nach Luthers Tod haben sich Teile des Luthertums stärker auf Melanchthon
                            bezogen, weshalb sie von den „Gnesiolutheranern“ abschätzig als
                            „Philippisten“ bezeichnet wurden (s.o. Cryptocalvinisten). Die
                            deutschsprachige Ausgabe der CA wurde im besonderen Maße Melanchthon
                            zugeschrieben, vgl. dazu Baumgarten, <hi>Erleuterungen der im
                                christlichen Concordienbuch enthaltenen symbolischen Schriften</hi>
                            (1761), 47. Aus dieser Ausgabe zitiert Semler hier die Parallelstelle
                            des eben gebotenen Zitats: „das nicht neue unchristliche lar bey uns
                            geleret odder angenomen werden möcht“ (zitiert nach <hi>Confessio odder
                                Bekantnus des Glaubens</hi> [1530], vgl. BSLK 134 ).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_18"><label>Jesuiten suchten [...] Freiheit, den Lutheranern, durch solche
                            politische Schreckbilder [...] zu nemen</label><p>Ein Paradebeispiel
                            hierfür bildet das als Gegenschrift zu Niccolò Machiavellis (1469–1527)
                                <hi>Il Principe</hi> (1513) konzipierte Werk des spanischen Jesuiten
                            Pedro de Ribadeneira (1527–1611) <hi>Tratado de la religion y virtudes
                                que deue tener el principe christiano</hi> (1595). Das 27. Kap.
                            trägt die Überschrift: „Que las heregias son causa de reuoluciones, y
                            perdimientos de Estados“ (Wie Häresien Revolutionen und das Verderben
                            von Staaten verursachen); für eine Aufzählung der tatsächlich oder
                            vermeintlich von Protestanten verursachten Konflikte vgl.
                        184–187.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_19"><label>gar
                            elende Beschaffenheit dieser schlecht compilirten Samlung, formula
                            concordiae</label><p>Über Entstehungsgeschichte und Hauptaussagen der
                                <hi>Konkordienformel</hi> äußert sich Semler ausführlich im
                                <hi>Apparatus ad libros symbolicos Ecclesiae Lutheranae</hi> (1775),
                            252–432.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_20"><label>lutherische Theologen diese symbolischen Bücher dazu
                            gemisbraucht haben, eine Art von päbstlichen Inquisitionsgericht damit
                            wider einander in Gang zu bringen</label><p>Der Philosoph und
                            Mathematiker Thomas Abbt (1738–1766) – ein Freund Moses Mendelssohns,
                            zuletzt als Hofrat in der Grafschaft Schaumburg-Lippe tätig –
                            veröffentlichte in seinem Todesjahr anonym eine schmale Satire,
                                <hi>Erfreuliche Nachricht von einem hoffentlich bald zu errichtenden
                                protestantischen Inquisitionsgerichte und dem inzwischen in Effigie
                                zu haltenden erwünschten Evangelisch-Lutherischen Auto da Fe</hi>.
                            Unter den für ein erstes Autodafé vorgesehenen Kandidaten zählt Abbt
                            Semler auf (12.21), während der damals noch als orthodox geltende Bahrdt
                            zu den die symbolischen Bücher schwingenden (17) Inquisitoren um die
                            Hamburger Pastoren Christian Ziegra (1719–1778) und Goeze gerechnet wird
                            (19f.23–26): „Hernach bittet der Hr. Magister [Bahrdt], daß die Akademie
                            den Juden Moses zwingen solle, jährlich einen Beweiß für die Wahrheit
                            der christlichen Religion anzuhören, der aber nicht so eingerichtet seyn
                            solle, daß man mit der Vernunft darüber nachdenken könne, [...] sondern
                            einen solchen (eben zur Demüthigung dieses stolzen Vernünftlers), der
                            blos und allein für den Glauben und gar nicht für den Verstand“ sei
                            (25).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_21"><label>weil
                            niemand Gott ausschließen kann, wenn Menschen ihn
                            suchen</label><p>Möglicherweise Anspielung auf Apg 17,26f.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_22"><label>es
                            seie ihnen mehr gegeben worden als andern</label><p>Anspielung auf Mk
                            4,11f., vgl. auch Lk 12,48.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_23"><label>buchstäblich und proprie, oder aber logice,
                            improprie</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_21_14"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_38_24"><label>klingende Schelle</label><p>Anspielung auf 1Kor 13,1.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_39">
      <head type="question">39. Könte es nun nicht gar wohl statt finden, daß die
                        verständigern Christen die <index indexName="subjects-index">
          <term>Mittelstraße</term>
        </index>Mittelstraße suchten, zwischen der so häufig übertriebenen
                        öffentlichen Religion, die doch mit der eigenen innern Religion nicht
                        geradehin einerley ist; und zwischen den leichtsinnigen Spöttereien vieler
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten, die freilich oft mehr über die sogenannten Priester
                        herfallen, und über die zufälligen Mängel und Misbräuche der christlichen
                        öffentlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsverfassung</term>
        </index>Religionsverfassung, als die innere Uebung guter Christen in der
                        praktischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>Religion angreifen; die sie entweder gar nicht kennen, oder sie
                        wirklich gelten lassen müssen?</head>
      <p><pb xml:id="bs_f_page_316" n="316" edRef="#f"/> Ich denke, diese Frage ist
                        ohne uns lange entschieden; weil sie das eigene freie Privat-Verhalten der
                        Zeitgenossen betrift; soll aber auch die <hi>öffentliche und immer
                            fortgesezte Aeusserung</hi> dieser <index indexName="subjects-index">
          <term>Privaturteile</term>
        </index>Privat-Urtheile darunter begriffen seyn: so erstrekt sich unsere
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Jurisdiktion, moralische</term>
        </index>moralische Jurisdiktion ohnehin viel weniger darauf, als bisher so
                        gar obrigkeitliche Verordnungen sich darauf, mit Wirksamkeit nicht eben
                        erstrekt haben. Ich will gar nicht an die so mannichfaltigen Charaktere
                        erinnern, wonach alle <hi>Individua</hi> schon gleichsam von vorne her,
                        wenigstens ohne eigenen Vorsaz, so verschieden gestimmt sind und bleiben,
                        daß alle Mühe anderer vergeblich ist, sie in Einer geraden Linie gleichsam
                        alle zu bewegen. Wenn auch viele sich den Schein geben, daß sie entweder
                        ernstliche Theilnemer an der öffentlichen Religion sind, oder daß sie zu den
                        angesehenen Naturalisten gehören: so sind doch auch viele andre für sich mit
                        Recht aufmerksam auf die Zeitumstände selbst, unter denen sie ihre eigenen
                        Urtheile an andre mittheilen müssen; daß also eine neue Vorschrift, wozu
                        diese Frage leiten möchte, immer ohne den dauerhaften Erfolg ist, den sich
                        die Eine Partey wider die andre vor<pb xml:id="bs_f_page_317" n="317" edRef="#f"/>sezen mag. Es wird nie an eben der Uebertreibung, oder doch
                        an der Betriebsamkeit felen, welche ein so genannter <index indexName="subjects-index">
          <term>Parteigeist</term>
        </index>Parteygeist in allen Jahrhunderten zu Hülfe nam, um wenigstens
                        einigermassen <hi>seinen besondern neuen Endzweck</hi> zu erreichen. Man
                        erhebe den grössern und gewissern <index indexName="subjects-index">
          <term>Nutzen</term>
        </index>Nuzen, den die ganze Gesellschaft haben werde, wenn die Eine Partey
                        grösser wird: so wird es an Widerlegung und Verunglimpfung, auch wol gar an
                        Unruhen nicht felen. Es ist aber daneben noch eine <hi>dritte Partey</hi>
                        übrig, die weder zu den Eiferern um die <hi>äusserliche</hi> feststehende
                        Religion, noch zu den jezigen Naturalisten gehöret, und sehr gros ist, wenn
                        sie gleich nicht öffentlich so bekannt werden wil, als jene Parteien, weil
                        sie von beiden eben keinen Beifall zu erwarten nötig hat, äusserliche
                        Absichten aber gar nicht in Rechnung nimmt. Die freien <index indexName="subjects-index">
          <term>Liebhaber</term>
        </index>Liebhaber der eigenen ganz unabhängigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes</term>
        </index>Verehrung Gottes, die in allen Jahrhunderten da waren, und besonders
                        im Occident den Weg zur Abwendung des eisernen Jochs jener päbstlichen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenreligion</term>
        </index>Kirchenreligion immer mehr offen erhalten, wo sie nicht gebauet
                        haben! Sie haben sehr vielerley Schimpfnamen bekommen, um sie desto eher bey
                            <pb xml:id="bs_f_page_318" n="318" edRef="#f"/> den gemeinen
                        Kirchgliedern verächtlich und verhaßt zu machen; sie sind kentlich genug,
                        wenn ich sie <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_39_1"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Mystiker</term>
        </index><hi>Mystiker</hi> nenne, die nachher <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_39_2"/><hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Theosophen</term>
          </index>Theosophen</hi>, und überhaupt wol noch jezt <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Fanatiker</term>
          </index>Fanatiker</hi> in Europa heissen. Ich sagte vorhin,
                            <hi>jezige</hi> Naturalisten, weil alle diese Zeitgenossen damalen
                        Naturalisten hiessen, oder Kezer, im Verhältnis auf die kirchliche Religion;
                        dagegen sie von Gottes täglicher <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung und jezigen Eingebung so viel bejaheten, daß sie von den
                        jüngern Naturalisten eben so sehr zu unterscheiden sind, als sie sich
                        damalen von der <hi>einheimischen</hi> Kirchenreligion <foreign xml:lang="lat">privatim</foreign> abgesondert
                        haben. Diese Partey hat noch dazu einen großen Theil der sonstigen Anhänger
                        an der periodischen Kirchenreligion auf ihrer Seite, und ist, was den
                        Naturalismus betrift, ganz unzugänglich; wie sie der öffentlichen Religion
                        stets eine solche <index indexName="subjects-index">
          <term>Privaterkenntnis</term>
        </index>Privat-Erkentnis unterlegte, daß sie von der kalten äusserlichen
                        Ordnung immer mehr Vortheil für ihre Theilnemer schaffen konte. So
                        lächerlich und verächtlich diese sehr eifrigen stillen Christen bei ihren
                        Gegenparteien waren: so ganz unwirksam war und ist noch diese Verachtung;
                        weil die <index indexName="subjects-index">
          <term>Liebhaber</term>
        </index>Liebhaber so genau auf ihre eigene ganz freie Uebung und tägliche
                            <pb xml:id="bs_f_page_319" n="319" edRef="#f"/>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Erfahrung</term>
        </index>Erfarung halten: daß ihnen aller Widerstand und Widerspruch lauter
                        tägliche Bestätigung ihrer bessern Grundsäze gibt: daß diese lauter fromme
                        arbeitsame Unterthanen sind, wenn sie auch viel mehr zu ihrer christlichen
                        Religion rechnen, als die öffentliche Lehrform begreift: das weis ihre
                        Obrigkeit. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_39_3"/>König
                            <index indexName="persons-index">
          <term>Friedrich II. (Preußen)</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:3r6cq">Friedrich</persName></hi> lies
                        auch dem <index indexName="persons-index">
          <term>Apitzsch, Samuel Lobegott</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:3r6cx">Apitsch</persName></hi> alle
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privatreligion ungekränkt, so sehr sie von der gemeinen
                        Kirchengewohnheit und von der <index indexName="subjects-index">
          <term>Aufklärung</term>
        </index>Aufklärung, die andre liebten, abstand. Daß alle Unterthanen die
                        ausgemachte Freiheit haben, ihre Privatreligion so oder so hoch nach der
                        Bibel, oder im Gebrauch derselben zu stimmen, wie Naturalisten eben diese
                        Freiheit haben, sehr wenig dazu zu rechnen, ist wohl ausser allen Zweifel.
                        Gleichwol redet man so viel vom Besten der Menschheit, von algemeinen
                        grössern Wohlergehen, das entstehen werde, wenn die christliche so wol
                        öffentliche als Privatreligion erst ganz aufgehoben würde. Ist dies aber wol
                        eine andre Sache, als wenn ehedem die Pfaffen sagten: das algemeine Beste,
                        die Ehre Gottes erfordert die Ausrottung der Kezer? <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_39_4"/>Haben wirklich die
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten den Auftrag, <index indexName="subjects-index">
          <term>Repräsentant</term>
        </index><hi>Repräsentanten der ganzen Menschheit</hi> zu seyn? <pb xml:id="bs_f_page_320" n="320" edRef="#f"/> Welchen Schaden haben doch
                        andre Menschen davon, wenn es fernerhin mehr Parteien der Christen gibt,
                        unter denen doch immer die fähigern Mitglieder ihre <index indexName="subjects-index">
          <term>Privaterkenntnis</term>
        </index>Privat-Erkentnis frey behalten? <index indexName="subjects-index">
          <term>Schaden, moralischer</term>
        </index>Moralischen Schaden und Nachtheil, denn davon ist die Rede,
                        berechnet hier jeder Mensch selbst für sich; oder läßt sich von andern
                        belehren, zu denen er ein freies Zutrauen hat; Naturalisten aber wollen
                        geradehin das <hi>Monopolium</hi> der <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, Monopolium der</term>
        </index>Religion oder Moral an sich bringen, welches alle Pfaffen ehedem
                        auch trieben. Gerade der freie eigene Gebrauch des <index indexName="subjects-index">
          <term>Verstand</term>
        </index>Verstandes und des moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Bewusstsein, moralisches</term>
        </index>Bewußtseyns that den Pfaffen immerfort Widerstand; warum sollen denn
                        jezige Zeitgenossen schon im voraus den Naturalisten es nachsagen, es gebe
                        gar keine geistlichen oder übernatürlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkungen Gottes – kurz, warum sollen Christen sich die besondere
                        Sprache und Uebung der Naturalisten gefallen lassen, und ihre moralische
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatsprache</term>
        </index>Privatsprache aufheben? Damit sie nicht Dummköpfe, Fantasten, <index indexName="subjects-index">
          <term>Schwärmer</term>
        </index>Schwärmer heissen? Aber können Christen, die ihre eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Freiheit</term>
        </index>Freiheit bisher hatten, und über Sinnen und Begierden siegten, wol
                        durch ein Schimpfwort dahin gebracht werden, den ganzen Zusammenhang <pb xml:id="bs_f_page_321" n="321" edRef="#f"/> ihrer eignen moralischen
                        Uebung zu verlassen? Wird man sogleich selbst, in eigenem Bewußtseyn
                        aufgeklärt, wenn man nun von andern kein Dumkopf genent wird? Noch nie war
                        es ein ehrlicher Grund seines eigenen Verhaltens, daß man sich blos <hi>nach
                            andern Urtheilen</hi> richtete; noch nie war dis schon an sich ein Lob,
                        wenn man blos vielen Vorgängern folgte; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_39_5"/><foreign xml:lang="lat">sequi antecedentem gregem, ire non qua eundum est,
                        sed qua itur</foreign>, war schon ein alter Tadel. Von jenen Christen, die nur der
                        Gewohnheit nach Christen sind, ist die Rede gar nicht; denn diese stehen den
                        Naturalisten nicht im Wege. Es kann aber auch kein noch so <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_39_6"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Christ, warmer</term>
        </index>warmer Christ, oder <index indexName="subjects-index">
          <term>Schwärmer</term>
        </index>Schwärmer, wie es nun heißt, es dahin bringen, daß es lauter würdige
                        Christen gebe; und Naturalisten solten es sich also auch nicht vorsezen, daß
                        sie über die freie <index indexName="subjects-index">
          <term>Welt, moralische</term>
        </index>moralische Welt durch ihre <index indexName="subjects-index">
          <term>Theorie</term>
        </index>Theorie allein herrschen wolten. Sie haben und behalten ihren
                        Erdstrich, ihr Land, das ihnen auch noch so eifrige Christen, noch so
                        eigennüzige Pfaffen nicht nemen können; denn alles <index indexName="subjects-index">
          <term>Land, moralisches</term>
        </index>moralische Land ist und bleibt frey und unsichtbar, und ist der
                        leiblichen Gewalt gar nicht unterworfen. Es können und sollen nicht alle
                        Menschen <pb xml:id="bs_f_page_322" n="322" edRef="#f"/> Christen werden;
                        viele kann man endlich bezwingen und zu Unterthanen eines christlichen
                        Königs machen; aber das sind nun noch nicht moralische Christen. Es können
                        aber auch eben so wenig alle Menschen gleiche Naturalisten werden, am
                        wenigsten, wenn diese ferner so ungesittet über gute Menschen spotten.</p>
      <p>Wenn hingegen christliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrer</term>
        </index>Lehrer immer nur von ewiger <index indexName="subjects-index">
          <term>Seligkeit</term>
        </index>Seligkeit so reden, als seie es ein und derselbe Zustand für alle
                        Menschen, die doch so unendlich verschiedene Menschen seyn müssen; wenn sie
                        einen christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Dialekt</term>
        </index><hi>Dialekt</hi>, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_39_7"/>daß <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> der Grund der
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Seligkeit, Grund der</term>
        </index>Seligkeit ist, (welches für die Christen wahr und gewis ist, aber
                        einen unendlichen Umfang hat;) zu einer algemeinen christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache, christliche</term>
        </index>Sprache erheben, und alle andere Christen um ihren eignen <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprachgebrauch</term>
        </index>Sprachgebrauch bringen wollen: so ist dis auch nur ihre <index indexName="subjects-index">
          <term>Anmaßung</term>
        </index>Anmaßung, die nur so lange einen Grund zu haben scheint, als lange
                        die christliche Belehrung die alte Mangelhaftigkeit behält. Wenn
                        Naturalisten die einmal daseiende historische Religion der Christen gar
                        ausrotten, und eine einzige natürliche dafür einfüren wollen: so vergessen
                        sie die innere <pb xml:id="bs_f_page_323" n="323" edRef="#f"/> und äussere
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit eben der Menschen, von denen sie als Naturalisten sich
                        doch jezt selbst unterscheiden. In der <index indexName="subjects-index">
          <term>Welt, moralische</term>
        </index>moralischen Welt hat die Zeit und der Raum, wie sie allen einzelnen
                        Menschen zukommen, ohne von Menschen abzuhängen, <hi>durchaus eben soviel
                            unwiderstehlichen unsichtbaren Einfluß</hi> als in der physischen Welt,
                        mit welcher oder hinter welcher die so ungleiche <index indexName="subjects-index">
          <term>Moralität, ungleiche</term>
        </index>Moralität der Menschen erst entstehet. Wer wil wol unter die <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_39_8"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Feuerländer</term>
        </index>Feuerländer, <index indexName="subjects-index">
          <term>Kamschadalen</term>
        </index>Kamschadalen – – die niederländische oder florentinische Schule der
                        Malerey, die Algebra, die neuere Astronomie <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> einfüren? Es möchte gleichwol ihnen sehr nüzlich heißen. Man müste
                        also erst den äusserlichen Zustand in einem sehr gleichen Maße verändern,
                        (und welche Menschenmacht kann dieses?) ehe jene Erhebung der beinahe ganz
                        felenden innern Bewegung in Einem Maaße angefangen werden kann. Und können
                        denn wirklich viele Menschen Astronomie, Mahlerkunst, Mechanik <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> zu ihren und anderer grössern Wohlseyn rechnen, und ihre bisherige
                        Beschäftigung damit vertauschen? <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalismus</term>
        </index><hi>Naturalismus</hi> und Christentum, haben noch dazu so viele
                        Stufen, deren jede zur moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>Wohlfart des Inhabers hin<pb xml:id="bs_f_page_324" n="324" edRef="#f"/>reicht; wenigstens kann das Urtheil anderer darin nichts
                        ändern, ohne Einwilligung des bisher zufriedenen Inhabers. Wenn man alle
                        Menschen zu Christen, zu einerley Christen machen wil: ist es eine
                        ausgemachte Anmaßung, die nur die besondern Absichten der <index indexName="subjects-index">
          <term>Projektmacher</term>
        </index>Projektmacher befördern sol; denn zur einzeln <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>moralischen Wohlfart der Menschen gehört durchaus ihre eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Einwilligung</term>
        </index>Einwilligung; mit der <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalismus, Anmaßung des</term>
        </index>Anmassung des Naturalismus hat es eben diese Bewandnis. Man redet
                        von innerer <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>moralischer Wohlfart aller Menschen; gerade wie ehedem der Pabst von
                        der Seligkeit aller Christen. Die eigene freie <index indexName="subjects-index">
          <term>Untersuchung, freie</term>
        </index>Untersuchung der besondern Absichten des Naturalismus kann sehr
                        vielen Menschen überflüßig heissen, so rechtmäßig oder notwendig sie wäre,
                        wenn man nicht etwa in <index indexName="subjects-index">
          <term>Entdeckung, moralische</term>
        </index>moralischer Entdeckung viel geschwinder fortgehen kann, als in
                        Prüfungen neuer physischen Aufgaben; die doch auch nicht für jederman
                        sind.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_39_1"><label>Mystiker</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_105"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_39_2"><label>Theosophen</label><p>Unter gr. <foreign xml:lang="grc">Θεοσοφία</foreign> („Göttliche Weisheit“) wurden recht
                            unterschiedliche mystische und naturphilosophische Ansätze
                            zusammengefasst. Im späten 18. Jh. muss hier zunächst an Anhänger von
                            Jacob Böhme (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_n_19"/>) gedacht werden, aber auch an
                            andere Einflüsse wie Paracelsus. Vgl. Baumgarten, <hi>Geschichte der
                                Religionspartheyen</hi> (1766), 1067–1082.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_39_3"><label>König
                            Friedrich lies auch dem Apitsch alle Privatreligion
                            ungekränkt</label><p>Der Kaufmann Samuel Lobegott Apitzsch (?–1786) war
                            ein Hauptprotagonist im Berliner Gesangbuchstreit. Nachdem 1780 unter
                            der Federführung von Johann Samuel Diterich (1721–1797), Spalding (vgl.
                                <ptr type="page-ref" target="#erl_f_v_18"/>) und Teller (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_d_3_20"/>) ein neues
                            Gesangbuch für Preußen erschienen war, das ganz im aufklärerischen Sinne
                            viele Liedtexte glättete oder ältere Lieder strich, rührte sich dagegen
                            Protest. Apitzsch zettelte eine Kontroverse an und forderte die
                            Abschaffung des neuen Gesangbuchs. Friedrich II. lehnte diesen Wunsch
                            ab, ließ ihn hingegen in einer Kabinettsresolution vom 18. Januar 1781
                            wissen, es stehe in Preußen allen frei zu singen, was sie wollten.
                            Privatreligion meint hier also nicht ein Zuviel an Neuem, sondern gerade
                            das Verharren in älteren Traditionen.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_39_4"><label>Haben
                            wirklich die Naturalisten den Auftrag, Repräsentanten der ganzen
                            Menschheit zu seyn?</label><p>Vgl. <ref target="#bs_a_page_22">a22</ref>; s. schon <ref target="#bs_b_page_112">b112f.</ref></p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_39_5"><label>sequi
                            antecedentem gregem, ire non qua eundum est, sed qua itur, war schon ein
                            alter Tadel</label><p>Leicht abgewandeltes Zitat aus Senecas (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_83"/>) <hi>De vita
                                beata</hi>, 1,3: „Nihil ergo magis praestandum est quam, ne pecorum
                            ritu sequamur antecedentium gregem pergentes non, quo eundum est, sed,
                            quo itur“ (Vor nichts sollten wir uns folglich mehr in Acht nehmen als
                            davor, wie Schafe der Herde zu folgen, die vor uns dahinzieht, und nicht
                            die Richtung einzuschlagen, in die man gehen müsste, sondern die, in die
                            man geht [Übers. G. Fink]). Kant stellte das Zitat der Vorrede seiner
                            Schrift <hi>Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte</hi>
                            (1746) als Motto voran.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_39_6"><label>warmer
                            Christ</label><p>Die Einteilung in „warme“, d.h. eifrige, „lau(warm)e“
                            und „kalte“ Christen war gängig, sie entstammt ursprünglich Offb
                            3,16.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_39_7"><label>daß
                            Christus der Grund der Seligkeit ist</label><p>Vgl. 1Kor
                        3,11.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_39_8"><label>Feuerländer, Kamschadalen</label><p>Die südamerikanischen
                            Ureinwohner Feuerlands und die indigenen Bewohner (Itelmenen) der
                            nordostasiatischen Halbinsel Kamtschatka galten Europäern des
                            ausgehenden 18. Jh.s als ganz besonders „primitiv“. Der Naturforscher
                            Johann Reinhold Forster (1729–1798), der zusammen mit seinem Sohn Georg
                            (1754–1794) Captain James Cook (1728–1779) auf dessen zweiter
                            Südseereise begleitet hatte, vermeinte in seinen <hi>Bemerkungen über
                                Gegenstände der physischen Erdbeschreibung</hi> (1783; engl. 1778;
                            Übers. G. Forster) „Dummheit“ und „Stumpfsinn“ in der „leeren
                            Physiognomie“ der Feuerländer zu erkennen (513) und bescheinigte ihnen,
                            weit unter allen anderen Südseevölkern, ja selbst unter den Grönländern
                            zu stehen (257–259; 274). – Georg Wilhelm Steller (auch: Stöller)
                            (1709–1746), Teilnehmer der zweiten Kamtschatkaexpedition unter Vitus
                            Bering (1681–1741), begegnete den Itelmenen zwar mit größerer Sympathie
                            und Einfühlungsvermögen als die Forsters den Feuerländern, stellte aber
                            u.a. fest: „Es ist diese Nation dem Gemuthe [sic!] nach, so biegsam zum
                            Guten als Bösen, und gleichen hierinn den Affen die ohne Untersuchung
                            alles nachmachen, was sie vor Augen sehen. [...] [Sie richten] einig und
                            allein alles dahin, ohne Sorgen allezeit fröhlich und völlig vergnügt in
                            ihrer Dürftigkeit zu leben“ (<hi>Beschreibung von dem Lande
                                Kamtschatka</hi>, postum hg. von J. B. Scherer, 1774,
                        285f.).</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_40">
      <head type="question">40. Ob viele oder mehrere <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten eine besondere Absicht und dazu gleichsam eine geheime
                        oder doch unbekannte Verbindung unter sich haben, weis ich wenigstens nicht;
                        es <pb xml:id="bs_f_page_325" n="325" edRef="#f"/> ist aber historisch wahr
                        genug, daß unter den Christen unaufhörliche neue geheime oder öffentliche
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Verbindung</term>
        </index>Verbindungen statt gefunden haben, bis in diese unsere Zeit, die
                        nicht zur eignen Religion gehören. Wenn gleich immer die edelsten
                        gemeinnüzigsten Absichten, zumal die Verfassung des innern Zustands der
                        andern Menschen vorgegeben wurden: so ist doch gar nicht unbekannt, daß die
                        besondern Absichten, den äusserlichen Stand und Wohlstand der Mitglieder
                        vorzüglich gut und sicher einzurichten, viel eher und gewisser erreicht
                        worden sind. Man kann es also den Naturalisten nicht besonders übel nemen,
                        daß sie manche christliche Masken abzureissen suchen, damit mehr eigne
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Freiheit</term>
        </index>Freiheit und Thätigkeit übrig bleibe. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_40_1"/>Es mag in <index indexName="subjects-index">
          <term>Europa</term>
        </index>Europa gar viel geheime Verbindungen geben, theils zur Erhaltung der
                        sogenannten christlichen Religion, theils zur Ausbreitung des Naturalismus,
                        die wol eben nicht zur Beförderung der freien moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, moralische</term>
        </index>Religion, also zur gewissern <index indexName="subjects-index">
          <term>Veredlung</term>
        </index>Veredlung der Menschen abzielen.</head>
      <p><pb xml:id="bs_f_page_326" n="326" edRef="#f"/> Das mag seyn oder nicht seyn;
                        ich habe es mit der Unbilligkeit solcher Naturalisten zu thun, welche allen
                        Christen es aufdringen, daß sie alle christliche Religion verwerfen sollen,
                        so bald sie mehr in sich begreift, als die so genante natürliche Religion,
                        die sie als gültigere Lehrer und Wolthäter aller Menschen empfelen. Dis ist
                        eine eben so unbillige <index indexName="subjects-index">
          <term>gewalttätig</term>
        </index>gewaltthätige Auffürung zur einseitigen Beherrschung der Menschen,
                        als je eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Pfaffenreligion</term>
        </index>Pfaffenreligion seyn mochte. Freilich haben viel christliche Lehrer
                        unter dem Namen einer schriftlichen Offenbarung gar über allen natürlichen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Verstand</term>
        </index>Verstand aller Menschen herrschen wollen, oder wirklich geraume Zeit
                        geherrschet. Dieser Vorwurf aber, dächte ich, fände in unserer Zeit nicht
                        sonderlich mehr statt, wie er niemalen unter den <hi>Protestanten</hi>
                        unbeantwortet geblieben ist, wenn die eine Partey jene Stellen der Bibel,
                        die den schon bisher verdorbenen oder verkehrten Verstand, also den
                        Misbrauch des Verstandes angingen, auf allen Gebrauch des natürlichen
                        Verstandes ziehen wolte; da es doch nicht wahr ist, daß alle Menschen <index indexName="subjects-index">
          <term>Natur, von</term>
        </index>von Natur in einerley gleich grosser moralischer <index indexName="subjects-index">
          <term>Unordnung, moralische</term>
        </index>Unordnung sich befinden, wie sie auch nicht einerley Anlagen und
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Talente</term>
        </index>Talente <index indexName="subjects-index">
          <term>Natur, von</term>
        </index>von Na<pb xml:id="bs_f_page_327" n="327" edRef="#f"/>tur haben. Es
                        muste aber auch solchen Christen frey bleiben, welche mit dem Worte <index indexName="subjects-index">
          <term>Natur</term>
        </index><hi>Natur, <index indexName="subjects-index">
            <term>Verstand</term>
          </index>Verstand, <index indexName="subjects-index">
            <term>Vernunft</term>
          </index>Vernunft</hi>, allemal schon einen ausgemachten Widerspruch
                        gegen die Offenbarung, gegen die Bibel vorauszusezen pflegten. Wer kann die
                        unzäligen <index indexName="subjects-index">
          <term>Stufen</term>
        </index>Stufen des menschlichen Vermögens, also auch alle Fehler aller
                        Christen, ganz und gar wegschaffen, und allen Menschen eine und dieselbe
                        richtigere Bewegung ihrer <index indexName="subjects-index">
          <term>Seelenkräfte</term>
        </index>Seelenkraft zur gemeinsten Ordnung machen? <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_40_2"/>Haben dort Schüler des
                            <index indexName="classics-index">
          <term>Augustinus von Hippo</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:2r5hd">Augustinus</persName></hi> und
                            <index indexName="persons-index">
          <term>Flacius (Illyricus), Matthias</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:254bk">Flacius</persName></hi> ihres
                        Theils sich zu viel herausgenommen, und selbst in dieser (gewis auch
                        menschlichen, natürlichen) Vorstellung so gar ihren christlichen Vorzug
                        gefunden: so ist es ihre <index indexName="subjects-index">
          <term>Geschichte, moralische</term>
        </index>moralische Geschichte, die in der <index indexName="subjects-index">
          <term>Welt, moralische</term>
        </index>moralischen Welt durchaus nicht ausbleiben konte. Diese
                        Uebertreibung einer <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewohnheit</term>
        </index>Gewonheit zu denken, konnten aber andre Zeitgenossen vermeiden, wie
                        es auch immer geschehen ist; indes folgt nun nicht hieraus, daß geradehin
                        lauter Naturalisten die glücklichere Anbauung der <index indexName="subjects-index">
          <term>Welt, moralische</term>
        </index>moralischen Welt zum ausgemachten Vorrecht bekommen haben müßten.
                        Das System der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel, System der</term>
        </index>Bibel, oder ihre Grundlage, betrift in der That <hi>eine
                            unaufhörliche <index indexName="subjects-index">
            <term>Gottes Wirkung</term>
          </index>Wirkung Gottes un</hi><pb xml:id="bs_f_page_328" n="328" edRef="#f"/><hi>ter den Menschen</hi>, in und durch ihr Bewußtseyn; es
                        gibt gar keine <index indexName="subjects-index">
          <term>Natur ohne Gott</term>
        </index>Natur ohne Gott, es gibt keine Wirkung dieser <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottheit</term>
        </index>Gottheit, ohne in der so genanten Natur. Diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes in die sonst geringere <index indexName="subjects-index">
          <term>Natur des Menschen</term>
        </index>Natur der Menschen nanten diese Menschen eine <index indexName="subjects-index">
          <term>übernatürlich</term>
        </index><hi>übernatürliche</hi> Wirkung; weil sie freilich Gott als das
                        höchste Wesen <hi>über die Natur aller ihnen bekannten Dinge sezten</hi>,
                        also auch über die Menschennatur. Manche Menschen haben ihre Natur in
                        manchen Stufen immerfort selbst verdorben, so lange sie blos sinnlich
                        lebten; über diese verdorbene Natur lehren die Christen eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes, der über die menschliche Natur eben so gewis erhaben
                        blieb, als er über die ganze Natur aller von ihm abhangenden Dinge erhaben
                        ist. Ob sich diese und jene Menschen darin geirret haben, daß sie nun hie
                        und da eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes angenommen haben, die über die Natur gehet: ist und
                        bleibt nun eine Aufgabe, welche von verschiedenen Theilen nur freilich sehr
                        verschieden beantwortet wird. Aber diese noch so ungleiche Entscheidung
                        macht nicht, daß jene Menschen geradehin unrecht und thörigt daran gehandelt
                        hätten, wenn sie Gottes übernatürliche oder <pb xml:id="bs_f_page_329" n="329" edRef="#f"/> göttliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung zu ihrem <index indexName="subjects-index">
          <term>Bestes, moralisch</term>
        </index>moralischen Besten so gern geglaubt und angenommen haben. <hi>Es
                            kann durchaus keine algemeine Entscheidung hierüber geben</hi>, ob
                        dieses eine wahre oder nicht wahre <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes in diesen Menschen gewesen seie! Es hinge weder von
                        den <hi>Theologen</hi> ab, diese Wirkung jezt gerade durchaus so und so zu
                        bestimmen, und nun ihre Bestimmung, in die dortige Geschichte und Erfarung
                        iener Christen zu verwandeln; noch auch hängt es von Naturalisten ab, durch
                        ihr Leugnen und Bestreiten es zu schaffen, daß jene Menschen darin nicht
                        gewis waren, daß sie übernatürliche Wirkung zu ihren innern bessern
                        Charakter erfaren hätten. Warum soll man nicht es zu dem besondern Vorzuge
                        und gleichsam <index indexName="subjects-index">
          <term>Talent, moralisches</term>
        </index>moralischen Talent solcher Menschen rechnen? Man kann es doch eben
                        so wenig erklären, daß jemand gleichsam ein geborner Mahler, Mathematiker,
                        Mechaniker, Dichter <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> ist, und hiemit über die gemeinste Natur und Uebung so vieler
                        anderer Menschen ganz gewis weit erhoben ist. Ich dächte, daß auch diese
                        Anlage oder dieser Vorzug mancher Menschen in der <index indexName="subjects-index">
          <term>Welt, moralische</term>
        </index><hi>moralischen</hi> Welt, desto eher einer <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes zugeschrieben werden konte, da <pb xml:id="bs_f_page_330" n="330" edRef="#f"/> seine so guten mächtigen
                        Folgen wenigstens durch keine Naturkraft anderer Menschen bis hieher
                        unterdrückt oder aufgehalten werden konten. Oder durften jene Menschen und
                        mehrere jezt, nicht selbst eine moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache, moralische</term>
        </index>Sprache unter sich einfüren, die ihrer Vorstellung gemäs war, bis
                        eine andre Classe Menschen diese Vorstellung und Sprache ihnen erlauben
                        würde? Alle Protestanten lehrten geradehin göttliche Wirkungen zu einer
                        christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Besserung</term>
        </index>Besserung der Menschen, die über ihre verdorbene Natur sich erhub;
                        es ist auch gewis die Sprache der Bibel, und sie traf zu mit der
                        gegenwärtigen eigenen Geschichte und <index indexName="subjects-index">
          <term>Erfahrung</term>
        </index>Erfarung dieser Menschen, welche sich den <index indexName="subjects-index">
          <term>Geist Gottes</term>
        </index>Geist Gottes oder eine übernatürliche moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Kraft, übernatürliche moralische</term>
        </index>Kraft, und nicht mehr ihre sinnlichen Begierden leiten liessen. Ist
                        diese biblische <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache, biblische</term>
        </index>Sprache nun eine kentliche moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Unvollkommenheit, moralische</term>
        </index>Unvollkommenheit gewesen, dieweil <hi>die Sache</hi>, wovon geredet
                        wird, nicht nur allen Naturalisten unbekant, oder verächtlich ist, sondern
                        auch den allermeisten sogenannten Christen leider ganz unbekannt bleibet?
                        Ich weis es, daß man sagen kann, es seie eben die <index indexName="subjects-index">
          <term>Sprache, moralische</term>
        </index>moralische Sprache von Gott noch kindisch und mangelhaft gewesen; es
                        ist auch wahr, wenn <pb xml:id="bs_f_page_331" n="331" edRef="#f"/> auf so
                        viele blos sinnliche bildliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Redensarten, bildliche</term>
        </index>Redensarten mancher alten Zeiten gesehen wird, die wir nun freilich
                        mit bessern Vorstellungen und Beschreibungen vertauschen können. Aber ist
                        und war auch <hi>die Sache selbst</hi> ein kindischer Irrtum, den Gott nicht
                        mit in die <index indexName="subjects-index">
          <term>Welt, moralische</term>
        </index>moralische Welt eingerechnet hatte? hört sie nun gänzlich auf, etwas
                        wirklich gewesen zu seyn, wenn es kindische und mangelhafte Beschreibung
                        gewesen war? Ist es nun baarer dummer <index indexName="subjects-index">
          <term>Fanaticismus</term>
        </index><hi>Fanaticismus</hi> der Christen, wenn sie <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Gottes Wirkung eben so gern zu ihrem innern Vortheil denken, als
                        Wirkung, die sie natürlich nennen, wenn sie gleich auch diese natürliche
                        Wirkung nicht erklären können? Sol Natur nun so gleich Gott aufheben? Dis
                        ist <hi>die <index indexName="subjects-index">
            <term>Hauptsache</term>
          </index>Hauptsache</hi>, worauf es ankommt selbst in der Verschiedenheit
                        der <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatchristen</term>
        </index>Privatchristen und ihrer christlichen eigenen Religion, <hi>von den
                            kleinern Grundsäzen des Naturalismus</hi>. Hier waren sehr oft so gar
                        Lehrer und Mitglieder der öffentlichen christlichen Religion eben so wol
                        Gegner dieser <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privatreligion, wenn sie eine freie Uebung seyn solte, als es
                        Naturalisten nun sind. Wenn die eingefürte öffentliche Religion in Bejahung
                        älterer historischer Beschreibungen bestehet, wodurch <pb xml:id="bs_f_page_332" n="332" edRef="#f"/> eine christliche
                        Religionspartey ihre Verbindung fortsezt: so ist dieses doch noch nicht die
                            <hi>eigene</hi> Religion, die einem jeden Christen <hi>insbesondere</hi>
                        ganz frey gehört, um die moralischen Folgen derselben immer mehr zu seinem
                        innern Wohlseyn zu erfaren. Diese Privatreligion ist <hi>in allen
                            christlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Parteien</term>
          </index>Parteien möglich</hi>, wie bisher mehrmalen hier ist behauptet
                        worden. Es ist ein sehr grober Irtum, daß die besondern Parteien der
                        Christen diesen <hi>eigentlichen, wesentlichen, vornemsten Charakter der
                            christlichen neuen Religion</hi>, den grossen Umfang der moralischen
                        eignen Uebungen, so sehr gleichsam verkennet haben: daß sie die ganz
                        unumgängliche äusserliche Ungleichheit des christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrbegriff</term>
        </index>Lehrbegrifs gar für eine Abweichung von der <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, wahre christliche</term>
        </index>wahren christlichen Religion ausgegeben, und einander um der
                        verschiedenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionssprache</term>
        </index>Religionssprache willen so übel, so ganz unchristlich beurtheilt
                        haben! Die <hi>Algemeinheit</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Gottes und seiner moralischen Wirkungen zur innern <index indexName="subjects-index">
          <term>Vollkommenheit</term>
        </index>Volkommenheit der unzäligen Menschen, zur immer grössern moralischen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Gott, Ähnlichkeit mit</term>
        </index>Aenlichkeit mit Gott: <hi>ist der neue Grund der bessern
                            Religion</hi>; hiezu ist der <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_40_3"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Erstgeborner</term>
        </index>Erstgeborne und <index indexName="subjects-index">
          <term>Eingeborner</term>
        </index>Eingeborne Sohn Gottes, <hi>als ein neuer ganz un</hi><pb xml:id="bs_f_page_333" n="333" edRef="#f"/><hi>bestimmter Begriff</hi>
                        aufgestellet in den neuen Schriften der Christen; nicht, daß die Christen
                        nun über <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_40_4"/>seine
                        Erzeugung aus dem Wesen, oder Hervorbringung durch den Willen des Vaters,
                        vor allen Geschöpfen oder in noch kleinerer <index indexName="subjects-index">
          <term>sozinianisch</term>
        </index><hi>socinianischer</hi> Bedeutung, miteinander Jahrhunderte lang
                        streiten und disputiren solten; indem dieser Sohn Gottes eben so
                        unbegreiflich und unendlich ist, als sein Vater, es mögen katholische oder
                        arianische, <index indexName="subjects-index">
          <term>sozinianisch</term>
        </index>socinianische Beschreibungen gemacht werden; sondern, daß das
                            <hi>jüdische System</hi>, von einem bisherigen Reiche des <index indexName="subjects-index">
          <term>Teufels, Reich des</term>
        </index>Teufels und böser Engel unter den Unjuden durch diesen neuen Begrif,
                        mit allen jüdischen Meinungen von der äusserlichen Religion, wozu jüdische
                        Ceremonien gehören, umgeworfen, und eine freie innere Religion, die zu dem
                        unendlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Reich Gottes</term>
        </index>Reiche Gottes allein gehört, eingesehen und vorgezogen werden solte.
                        Durch diesen neuen innern <index indexName="subjects-index">
          <term>Glaube</term>
        </index>Glauben können alle Menschen, die sonst Juden waren, ohne jüdische
                        Ceremonien, mit diesem unendlichen Sohn Gottes in einer freien Vereinigung
                        stehen, und haben von ihm den unendlichen Geist Gottes zum fernern Lehrer;
                        dis ist die <index indexName="subjects-index">
          <term>Hauptsache</term>
        </index><hi>Hauptsache</hi>, die nun erkannt werden sol. <pb xml:id="bs_f_page_334" n="334" edRef="#f"/> Wegen ihres äusserlichen
                        Lebens aber befinden sie sich in einer <index indexName="subjects-index">
          <term>Gesellschaften, lokale</term>
        </index><hi>localen</hi> äusserlichen Geselschaft, die sie entweder wälen,
                        oder von der Geburt an darinn sich befinden; und alle <hi>äusserliche</hi>
                        Geselschaft hat einen Schuz der Obrigkeit nötig, daher steht die Geselschaft
                            <hi>verbunden</hi>, ohne sich erst so vielen Ceremonien zu unterwerfen.
                        Dis ist die <index indexName="subjects-index">
          <term>Toleranz</term>
        </index>Toleranz im Staat gleich hinter dem Judentum. Ohne jenen eignen
                        Glauben, ohne innere Religion bringt keine äusserliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsgesellschaft</term>
        </index>Religionsgeselschaft moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Nutzen, moralischer</term>
        </index>Nuzen, und eben so kann eine noch so unvolkommene Religionsordnung
                        an dieser innern geistlichen Religion nicht geradehin ändern. Selbst gesezt,
                        man lebte unter einer so genannten <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturreligion</term>
        </index>Naturreligion im äusserlichen Zustand; man würde doch aus der Bibel,
                        ja auch durch andere Christen oder aus eigener Erfarung diese grössere
                        geistliche Religion finden und fortsezen können, weil man die geistlichen
                        unendlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohltaten Gottes</term>
        </index>Wohlthaten Gottes überal ferner eben so finden und geniessen würde,
                        wie man Gott im Reich der Natur, das auch sehr ungleich vertheilt ist,
                        überal mit Lob und Dank finden, und nicht blos in sinnlichen Empfindungen,
                        wie viele andre <pb xml:id="bs_f_page_335" n="335" edRef="#f"/>
        <choice>
          <sic>schen</sic>
          <corr type="editorial">Menschen</corr>
        </choice>, dahin leben würde. Daß nun diese eigene freie <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsübung</term>
        </index>Religionsübung und innere <index indexName="subjects-index">
          <term>Gemütsfassung</term>
        </index>Gemüthsfassung der Christen, wodurch sie über Judentum und Heidentum
                        sich erheben, gar <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>fanatisch</term>
          </index>fanatisch</hi> und <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_40_5"/><hi><index indexName="subjects-index">
            <term>schwärmerisch</term>
          </index>schwärmerisch</hi> heißt: war theils eine <hi>Politik</hi> der
                        Pfaffen und Mönche, welche die äusserliche einförmige Religionsordnung zur
                        Seligkeit gerechnet haben, damit niemand <hi>ohne ihre Beihülfe</hi>,
                        allein, noch in diesen innern Glauben an Gott durch <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christum</persName>, (<hi>in
                            vielerlei Sinne</hi>,) selig zu sein und zu werden, wissen solle; theils
                        war es ein <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_40_6"/>Feler
                        mancher <hi>Protestanten</hi>, davon selbst <index indexName="persons-index">
          <term>Luther, Martin</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:254tm">Luther</persName></hi> und <index indexName="persons-index">
          <term>Calvin, Johannes</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:24h4b">Calvin</persName></hi> nicht frei
                        waren, die ihre neue <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsordnung, lokale</term>
        </index><hi>locale</hi> Religionsordnung zu sehr erhuben, mit Vergessenheit
                        der <index indexName="subjects-index">
          <term>Stufen, moralische</term>
        </index>moralischen Stuffen und <index indexName="subjects-index">
          <term>Klassen, moralische</term>
        </index>Classen, die, nach der neuen Erkenntnis der Christen, immer da sind,
                        wenn sie auch das äussere, leibliche Wort der christlichen Lehre nicht
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>gleichförmig</term>
        </index>gleichförmig haben, oder nicht in Einer allereinzigen Lehrform
                        fassen. Dieser Begrif einer innern <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes, ausser, neben und über der <index indexName="subjects-index">
          <term>Natur des Menschen</term>
        </index>Natur der Menschen, liegt nun immer zum Grunde der christlichen
                        Religion von ihrem Anfange an; viele Christen haben nach und nach eine <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_40_7"/><hi>sacramentliche</hi> Wirkung auf die Seele <pb xml:id="bs_f_page_336" n="336" edRef="#f"/> daneben gesezt; manche haben
                        auch gar <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_40_8"/>Wirkungen in
                        der körperlichen Welt <hi>von <index indexName="subjects-index">
            <term>Reliquien</term>
          </index>Reliquien</hi>, <index indexName="subjects-index">
          <term>Bilder</term>
        </index>Bildern und <index indexName="subjects-index">
          <term>Sachen, geweihte</term>
        </index>geweiheten Sachen erwartet. So lange aber es den Christen selbst
                        frei bleibet, (und als Menschen haben sie immer ungleiche Fähigkeiten und
                        Gelegenheiten,) ihren eigenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Verstand</term>
        </index>Verstand und ihr eigen Urtheil in Absicht Gottes zu üben: würden
                        auch diese zwei leztern Meinungen die höheren Stuffen der christlichen
                        Religion bei andern Christen nicht aufheben, wie wir es in täglicher
                        Erfarung gewis genug wissen. Sol aber nur dieses eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes, vernünftige</term>
        </index><hi>vernünftige</hi> Verehrung Gottes heissen, die in Wirkung der
                        Natur des Menschen ganz allein bestehet, und alle <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes auf den Menschen ausschließet: so ist dieses doch
                        ebenfals nur eine moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatübung</term>
        </index>Privatübung, wodurch niemand <hi>alle andre Menschen</hi>
                        beherrschen und ihren auch häufigen Beifal geradehin einen Beweis der
                        volkommensten Verehrung Gottes einseitig nennen kann. Wenn die Reihe, <index indexName="subjects-index">
          <term>Verfolger</term>
        </index>Verfolger zu werden, nicht nun an die Naturalisten kommt: so wird es
                        immerfort Christen von sehr ungleichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Stufen</term>
        </index>Stufen und Classen geben, neben eben so verschiedenen Classen der
                        Naturalisten; und wenn diese jenes al<pb xml:id="bs_f_page_337" n="337" edRef="#f"/>les für Aberglauben halten, so wird es doch eben, zum Glük
                        der freien Menschenwelt, dahin nicht kommen, daß aller so genannte
                        Aberglaube dieser einseitigen Behauptung ganz aufhöre. Die noch so grosse
                        menschliche Erkenntnis behielt zeither doch ihre gar kentlichen Schranken
                        und gewisse Perioden; es wird also auch diese moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Stufen, moralische</term>
        </index>Stufe, welche Naturalismus heißt, weder der Zeit und Dauer nach,
                        noch der Ausbreitung und Herrschaft nach, ohne eben diese Schranken sein,
                        welche aus unsichtbarer Macht sich über alle Wünsche und Absichten der
                        Menschen zu immer grössern Erfolgen, erstreken, an welche Folgen freilich
                        die Menschen, Christen und Naturalisten nicht dachten.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_40_1"><label>Es mag
                            in Europa gar viel geheime Verbindungen geben</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_v_15"/> und <ptr type="page-ref" target="#erl_f_v_20"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_40_2"><label>Haben
                            dort Schüler des Augustinus und Flacius [...] sich zu viel
                            herausgenommen</label><p>Semler spielt auf die radikalen Sündenlehren
                            des Kirchenvaters Augustinus und des Reformators Flacius an. Seit einer
                            theologischen Kehrtwende im Jahre 396/397 behauptete Augustinus, dass
                            die Menschheit als Konsequenz aus dem Fall Adams einen einzigen
                            „Sünden“- oder „Sünderklumpen“ (massa peccati bzw. peccatorum) bilde, zu
                            dem er selbst ungeborene Kinder rechnete (de. div. quaest. ad
                            Simplicianum I,2, 16.19). Dabei berief er sich vor allem auf Röm 9,9–29
                            und 1Kor 15,22. Im nämlichen Geiste hatte Flacius die Sünde zu einem
                                <hi>essentiellen</hi> Bestandteil der menschlichen Natur nach dem
                            Fall erklärt. Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_71"/> (Augustinus) und <ptr type="page-ref" target="#erl_d_6_5"/>
                        (Flacius).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_40_3"><label>Erstgeborne und Eingeborne Sohn Gottes</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_75"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_40_4"><label>seine
                            Erzeugung aus dem Wesen [...] Jahrhunderte lang streiten</label><p>Vgl.
                                <ptr type="page-ref" target="#erl_b_5_2"/>; <ptr type="page-ref" target="#erl_f_27_7"/> u.a.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_40_5"><label>schwärmerisch</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_0_17"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_40_6"><label>Feler
                            [...], davon selbst Luther und Calvin nicht frei waren</label><p>Gemeint
                            ist etwa Luthers harsche Verurteilung der Täufer und der Bauern als
                            „Schwärmer“ und „Fanatiker“ sowie die durch Calvin veranlasste
                            Hinrichtung Michel Servets.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_40_7"><label>sacramentliche Wirkung auf die Seele</label><p>Während
                            Orthodoxe, Katholiken und Lutheraner (vgl. CA, Art. 13 [BSLK 68])
                            annehmen, dass Sakramenten eine Gnadenwirkung zukommt, verstehen
                            Reformierte (vgl. <hi>Heidelberger Katechismus</hi>, Frage 66) und
                            Sozinianer sie als bloß symbolhafte Handlungen.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_40_8"><label>Wirkungen in der körperlichen Welt von Reliquien, Bildern und
                            geweiheten Sachen</label><p>In der orthodoxen und römisch-katholischen
                            Volksfrömmigkeit wurde (und wird) Reliquien (Überresten von Heiligen),
                            Heiligenbildern (Ikonen) und geweihten Dingen (Weihwasser, Weihekreuz
                            etc.) bei Berührung oder ehrfurchtsvoller Huldigung eine wundersame
                            Wirkung auf das körperliche Wohl und seelische Heil des Glaubenden
                            zugeschrieben. Schon im Jahre 386 ließ der Kirchenvater Ambrosius
                            Märtyrergräber öffnen, um die Gebeine an einen Altar zu überführen. Im
                            Laufe der Kirchengeschichte kam es immer wieder zu Versuchen, besagte
                            Art von Kult zu unterbinden (Ikonoklasmus, Bildersturm), u.a. im sog.
                            byzantinischen Bilderstreit (8./9. Jh.) oder bei Abfassung der
                            fränkischen <hi>Libri Carolini</hi> (794). Durchsetzen konnte sich
                            schließlich die Ansicht, eine Verehrung (<hi>veneratio</hi>) von Bildern
                            und Reliquien sei legitim, nicht jedoch die Anbetung
                            (<hi>adoratio</hi>). Während der Reformation kam es an verschiedenen
                            Orten (z.B. in Wittenberg und Münster) zum Bildersturm. Luther lehnte
                            zwar den Reliquienkult und die Weihe von Gegenständen ab, wollte Bilder
                            jedoch im Gegensatz zu Calvin (als vor allem pädagogisches Mittel)
                            weiterhin gelten lassen.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_41">
      <head type="question">41. Wir kommen also wol darin überein, daß die christliche
                        sowol öffentliche als <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privatreligion, nicht eine feststehende Summe von Erkentnissen, so
                        wol <foreign xml:lang="lat">intensiue</foreign> als <foreign xml:lang="lat">extensiue</foreign>, vom Anfange an gehabt hat; daß sie auch nicht
                        für alle Menschen von Gott bestimmt ist, als eine Bedingung zu irgend einer
                        Stufe moralischer <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>Wolfart; daß aber alle Menschen, die eine Kentnis von dieser
                        christlichen Religion bekommen können, aber als Men<pb xml:id="bs_f_page_338" n="338" edRef="#f"/>schen verbunden sind, sie zu
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>prüfen</term>
        </index>prüfen, weil sie durch Mängel oder Absichten der Lehrer sehr oft zur
                        Ungebür verändert und verfälschet worden, wie die christlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Parteien</term>
        </index>Parteien einander dis selbst vorwerfen; daß auch viele Christen,
                        welche gegen andre Parteien wegen der Vorstellung und Beschreibung der
                        Lehrartikel gar heftig eifern, gleichwol nur äußerliche geselschaftliche
                        Christen sind, und in Tugenden und Pflichten, oder in eigner Anwendung ihrer
                        Lehrartikel zur täglichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Verehrung Gottes</term>
        </index>Verehrung Gottes, fast wissentlich, oder <hi>ohne Scham, sehr weit
                            zurüke bleiben</hi>, ohnerachtet sie mehr <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung und Beistand Gottes behaupten zum ehemaligen und jezigen
                        Entstehen der christlichen Religion, als die <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten annemen. Nun sezen die <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten ihre ganze Religion in eine ernstliche moralische
                        Thätigkeit, in uneigennüziges Wohlthun oder doch Wolwollen gegen andre
                        Menschen, ohne Unterschied einer geselschaftlichen oder bürgerlichen
                        öffentlichen Religion. Ein Staat wäre also sehr glüklich, wenn er wirklich
                        tugenhafte Mitbürger hat, sie mögen einander Juden, Christen, Lutheraner <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice>
        <pb xml:id="bs_f_page_339" n="339" edRef="#f"/> oder Naturalisten nennen!
                        Denn auch bei jenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Sektennamen</term>
        </index>Sektennamen der Christen, Catholiken, Reformirten, Lutheraner,
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Mennoniten</term>
        </index>Mennoniten, <index indexName="subjects-index">
          <term>Sozinianer</term>
        </index>Socinianer, muß doch die Probe der rechten Kenntnis und Verehrung
                        Gottes <hi>in der thätigen <index indexName="subjects-index">
            <term>Liebe, tätige</term>
          </index>Liebe gegen andre</hi> zur <index indexName="subjects-index">
          <term>Nachahmung Gottes</term>
        </index>Nachamung Gottes; und <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_1"/><hi>in reiner <index indexName="subjects-index">
            <term>Tugend gegen sich selbst</term>
          </index>Tugend gegen sich selbst</hi> bestehen?</head>
      <p>Es ist <hi>allerdings</hi> zu hoffen, daß immer mehr eigenes Nachdenken und
                        gewissenhafte Beurteilung dieser <index indexName="subjects-index">
          <term>Hauptsache</term>
        </index><hi>Hauptsache in aller Religion</hi> (um Gottes Willen moralisch
                        gut handeln, und immer moralisch besser zu werden), die einzelnen Menschen
                        viel mehr dahin bringen wird, die thätige reine <index indexName="subjects-index">
          <term>Liebe, tätige</term>
        </index>Liebe Gottes und aller <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_2"/>Nebenmenschen, über die Gott einerlei Sonne
                        scheinen läßt, immer mehr <hi>als das Wesen der würklichen würdigern
                            Religion</hi> anzusehen; es mag nun der besondre <hi>äusserliche</hi>
                        Unterscheidungsname <hi>christliche</hi>, natürliche, jüdische <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> heissen; und also auch vornemlich sich dieser eigenen reinsten
                        Liebe Gottes und des Nächsten zu befleissigen, weil diese <hi>Nachamung
                            Gottes</hi> der kentlichste Charakter eines <hi>Gottesverehrers</hi>
                        ist. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_3"/><index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Jesus</persName> hat selbst dieses
                        als das vornem<pb xml:id="bs_f_page_340" n="340" edRef="#f"/>ste und gröste
                        Gebot anempfolen, woran alles Gesez und alle Propheten bei den Juden
                        gleichsam hängen. Es wird also wol <hi>bei den Christen eben so sein</hi>.
                        Darin hängen Evangelien <choice>
          <sic>nnd</sic>
          <corr type="editorial">und</corr>
        </choice> Episteln mit ihrem ganzen Inhalt. Nun möchten die
                            <hi>periodischen</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrartikel, lokale</term>
        </index><hi>localen</hi> übrigen Lehrartikel noch so viel Verschiedenheit
                        der besondern Vorstellungen über den unendlichen Gott mit sich bringen: so
                        kommen doch alle wirkliche ernstliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottesverehrer</term>
        </index>Gottesverehrer <hi>in diesem algemeinen Grundsaz schon überein</hi>,
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_4"/>daß niemand Gott
                        zu erkennen, zu lieben mit Grunde vorgeben kann, der seinen Bruder und
                        Nebenmenschen nicht <hi>um des gemeinschaftlichen Gottes willen</hi>,
                        liebet. Niemand könte also ferner es der Bosheit und dem Vorsaze der
                        Menschen zuschreiben, daß es so viele Ungleichheit und Verschiedenheit gibt
                        in Absicht der Gedanken und Urtheile über so vielerlei andere Gegenstände,
                        die nun <hi>neben jenem stets gemeinschaftlichen Grunde und Inhalt aller
                            eignen Religion</hi>, von den immer, schon ungleichen Menschen, <hi>um
                            ihrer selbst willen, oder um ihres besondern <index indexName="subjects-index">
            <term>Gewissen</term>
          </index>Gewissens willen</hi>, oder um unmoralischer Umstände willen,
                        noch dazu angehängt und verknüpft werden. Jener <hi>allgemein
                            eingewilligte</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_341" n="341" edRef="#f"/>
        <hi> Grund aller wahren Gottesverehrung</hi>, der allgemeine Charakter
                        moralisch aufstrebender Menschen, blieb immer das moralische göttliche
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Band, moralisches</term>
        </index>Band aller der Menschen, <hi>welche selbst wahre Gottesverehrer
                            sind</hi>; hiedurch fänden sie sich alle immer so heilig vereiniget zur
                        ganz ausgemachtesten Ehre des unendlichen Gottes: daß sie die übrige noch so
                        große Verschiedenheit in den besondern Vorstellungen über
                            <hi>historische</hi> und <hi>locale</hi> Aufgaben, <hi>einander ganz
                            frei ließen</hi>; weil sie es alle immer bedächten, daß es gar nicht an
                        diesen Menschen selbst, oder an ihrem bloßen Vorsatze liege, wenn sie von
                        manchen Gegenständen, die nun durchaus eine äußere unumgängliche
                        Unterscheidung der Menschen mit sich bringen, mehr oder weniger oder anders
                        nach eigenem Gewissen, denken und urtheilen, als jeder andere ebenfalls nach
                        eigenem Gewissen schon denkt. Alle diese nach Zeit und Ort, oder äußerlich
                        verschieden entstehende Vorstellungen von Gott, haben einen
                            <hi>historischen, localen, einzelnen Grund</hi>; diese Historie aber
                        konte nicht zu gleicher Zeit <hi>in allen Ländern und Orten</hi> eben
                        dieselbe Historie sein, da sie es nur in einem Lande war. So hoften ehedem
                        viele Juden auf einen König <index indexName="subjects-index">
          <term>Messias, König</term>
        </index>Messias, der ihre Nation über alle andre <pb xml:id="bs_f_page_342" n="342" edRef="#f"/> erheben würde. Ein solcher König kam aber nicht;
                        daher schon ehedem manche <index indexName="subjects-index">
          <term>Rabbinen</term>
        </index>Rabbinen diesen Begrif und Artikel ausstreichen, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_5"/>aus den <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Ikkanien (Ikkarim)</term>
          </index>Ikkanien</hi>, oder allgemeinen jüdischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsartikel</term>
        </index>Religionsartikeln der jüdischen Nation; er gehört nicht für alle
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Juden</term>
        </index>Juden in allen Ländern; sondern nur für die <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_6"/>Einwoner von
                            <hi>Palästina, die ihr Land für ein heilig Land</hi> ansahen, dem alle
                        andre unterworfen werden müsten. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_7"/>Viele <hi>fanatische</hi> Juden warteten dennoch,
                        und rechneten die Zeit aus, da der <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName> kommen, und den
                        heidnischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Antichrist</term>
        </index>Antichrist überwinden würde; sie waren daher von Zeit zu Zeit
                        geneigt zur Rebellion wider die Römer; sie kanten also die bessere Verehrung
                        Gottes, (die an kein Volk gebunden ist, weil Gott gleich gut aller Völker
                        Gott ist,) gar nicht. Aber viele andre Leser des alten Testaments entdekten
                        dieses <index indexName="subjects-index">
          <term>Reich Gottes, moralisches</term>
        </index>moralische Reich Gottes, wozu alle Menschen, alle Völker gehörten;
                        sie namen die <hi>neue Historie</hi> gern an, wodurch die alte Unwissenheit
                        ausgebessert wurde, daß der Messias gekommen seie, aber in <hi>moralischer
                            Lage</hi>; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_8"/>daß
                        sein Tod das größte <index indexName="subjects-index">
          <term>Opfer</term>
        </index>Opfer für die Sünden aller Menschen seie, in jedem Sinne proprie
                        oder improprie; daß also es nun gewis und entschieden ist, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_9"/>daß die Gnade und
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Liebe Gottes</term>
        </index>Liebe Gottes <hi>sich auch</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_343" n="343" edRef="#f"/>
        <hi>auf die <index indexName="subjects-index">
            <term>Heiden</term>
          </index>Heiden erstrecke</hi> ohne jüdischen Tempel und Hohenpriester
                        dieser Nation. Der Tod, die Auferstehung und Himmelfahrt <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> bestätigten es,
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_10"/>daß er <hi>kein
                            neues Reich in Palästina anfangen wolle</hi>; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_11"/>daß eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Beschneidung</term>
        </index>Beschneidung – – nicht mehr nöthig seie, weil man nun eine <hi>ganz
                            andre Beschneidung</hi> hatte kennen lernen. Durch diesen einzigen
                        rechten Sohn Gottes, durch den Geist Gottes, war alle bisher den wankenden
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Engel</term>
        </index>Engeln zugetheilte Macht und Gewalt, in der Einsicht dieser <index indexName="subjects-index">
          <term>Liebhaber</term>
        </index>Liebhaber der <index indexName="subjects-index">
          <term>Würde Gottes, moralische</term>
        </index>moralischen Würde Gottes, ganz aufgehoben. Wie die vielerlei Bücher
                        des neuen Testaments zusammen gebracht und als gleiche <index indexName="subjects-index">
          <term>Urkunden, christliche</term>
        </index>Urkunden der neuen christlichen öffentlichen Religion gebraucht
                        wurden, welches abermal eine <hi>neue Historie</hi> der Christen ist: <hi>so
                            entstehen mehr neue Artikel</hi>, die nun durch die Bischöffe der
                        verschiedenen christlichen Parteien ihre verschiedene einzelne
                            <hi>äußerliche</hi> Bestimmung erhielten, und also die Christen in mehr
                        große Gesellschaften <hi>äußerlich</hi> abtheilten; aber dieses alles hob
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_12"/>den
                            <hi>allerersten Artikel der wahren <index indexName="subjects-index">
            <term>Gottesverehrung</term>
          </index>Gottesverehrung nicht auf</hi>, (Gott, <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christum</persName>, Geist Gottes, in
                        der oder jenen Vorstellung, über alles zu lieben, und den Nächsten als sich
                        selbst;) wenn nicht die Bischöffe nun aus<pb xml:id="bs_f_page_344" n="344" edRef="#f"/>drücklich <hi>die eigene</hi> Gottesverehrung, (<ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_13"/>von ganzem Herzen,
                        aus allen Kräften der Seele,) und nun den Nächsten, (um Gottes willen, der
                        auch sein Gott ist, als sich selbst;) <hi>ganz aufgehoben</hi>, den Christen
                        das eigene Antheil darüber ganz entzogen, und gerade ihre <hi>jezigen</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrartikel</term>
        </index>Lehrartikel zu dem Wesen und Grunde aller wahren Gottesverehrungen,
                        aus falscher kirchlicher Macht, erhaben hätten. Denn keine äußerliche Macht
                        kan entscheiden, was zum <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Religion</term>
        </index>Wesen der christlichen Religion <hi>für alle Menschen gehört</hi>,
                        sie kan aber erzälen, was in <hi>ihrer Gesellschaft</hi> als dazu gehörig,
                            <hi>angenommen worden ist</hi>. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_14"/>So ist der <foreign xml:lang="lat">pluralis</foreign> im <foreign xml:lang="lat">symbolo nicaeno</foreign> <foreign xml:lang="grc">πιστευομεν</foreign>
        <hi> eine Erzählung</hi> der Bischöffe. Von nun an aber verurtheilen
                        Christen alle andre Christen und alle Menschen, wenn sie nicht diese ihre
                        einseitige <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchensprache</term>
        </index><hi>Kirchensprache</hi> die blos historische Anzeige ist, zur
                        einzigen wahren Religion, die doch im <index indexName="subjects-index">
          <term>Tun</term>
        </index>Thun, nicht in Sprache besteht, rechnen. Alle Streitigkeiten über
                        die Person <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>, über das <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_15"/>Ausgehen des heiligen
                        Geistes – werden nun so wichtig gemacht, daß aller Widerspruch, alle
                        Abweichung von dieser localen <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchensprache, lokale</term>
        </index>Kirchensprache zugleich eine Aufhebung aller wahren Gottesverehrung
                        ist; <pb xml:id="bs_f_page_345" n="345" edRef="#f"/> obgleich sogar alle
                        christliche Parteien, die in der <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchensprache</term>
        </index>Kirchensprache von einander abgehen, <hi>diese allgemeine Vorschrift
                            aller Gottesverehrung</hi>, liebe Gott von ganzem Herzen <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> wirklich behielten, und sich ganz recht der neuen Tirannei und
                        Anmaßung der katholischen Partei widersezten. Von ganzem Herzen, von allen
                        Kräften der Seele, Gott lieben, an seinen Sohn und den heiligen Geist
                        glauben, und nun nach der Lehre des Sohnes Gottes, den Nächsten lieben als
                        sich selbst: war die einzige wahre <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, tätige</term>
        </index>thätige Religion bei den Christen. Statt dieser <hi>eigenen</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottesverehrung, tätige</term>
        </index>thätigen Gottesverehrung, die alle Christen selbst behalten, um
                        wahre innere Christen zu sein: entstehet die <hi>ganz <index indexName="subjects-index">
            <term>Religion, falsche</term>
          </index>falsche Religion</hi>; die nicht aus und mit Gewissen der
                        einzelnen Christen frei geübet, thätigst geübet wird, sondern in einigen
                        Redensarten ganz und gar von nun an bestehet, <choice>
          <sic>uud</sic>
          <corr type="editorial">und</corr>
        </choice> blos den Befel, die Verordnung der Bischöffe zum Grunde hat. Alle
                        Christen sollen nun ihre Gottesverehrung nach diesen Vorschriften der
                        Kirche, <hi>in feststehenden <index indexName="subjects-index">
            <term>Redensarten</term>
          </index>Redensarten und Gedanken</hi>, ohne neue bessere <index indexName="subjects-index">
          <term>Privaterkenntnis</term>
        </index>Privaterkentnis, in eifriger Anhänglichkeit daran, und im täglichen
                        Haß und <index indexName="subjects-index">
          <term>Verfolgung</term>
        </index>Verfolgungen aller andern Menschen be<pb xml:id="bs_f_page_346" n="346" edRef="#f"/>stehen lassen, die nicht eben also von Gott Vater,
                        vom Sohne, vom heiligen Geiste reden; und eben gar keine Religion hätten,
                        weil sie nicht diese bischöfliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, falsche</term>
        </index>falsche Religion haben, und sie seien also auch von Gott ewig
                        verdamt. Diesen Widerspruch, den die Kirche begieng, wider die allein wahre
                            <hi>eigene</hi> Gottesverehrung, sahen viele Christen ein, und behielten
                        die wahre innere Religion, <hi>unter der periodischen Kirchenreligion</hi>;
                        als eine nicht von <choice>
          <sic>ihren</sic>
          <corr type="editorial">ihnen</corr>
        </choice> abhängende blos äußerliche Verfassung oder Polizei der Bischöffe,
                        wodurch lauter äußerliche Folgen entstehen. So gehet es mit <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_16"/>den sogenanten
                                <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Pelagianer</term>
          </index>Pelagianern</hi>, vorher mit den <hi>Griechen</hi>, mit den <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_17"/><hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Albigenser</term>
          </index>Albigensern, <index indexName="subjects-index">
            <term>Waldenser</term>
          </index>Waldensern, <index indexName="subjects-index">
            <term>Hussiten</term>
          </index>Hussiten, <index indexName="subjects-index">
            <term>Lutheraner</term>
          </index>Lutheranern, <index indexName="subjects-index">
            <term>Reformierte</term>
          </index>Reformirten</hi>. Wenn hier die <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten laut reden, laut schreien, und sich einer so
                            <hi>falschen Religion</hi> widersezen, die freilich keine <index indexName="subjects-index">
          <term>Offenbarung</term>
        </index>Offenbarung Gottes, sondern die tirannische Gewalt der Kirche zum
                        Grunde hatte: so wird sie auch der ware Christ nicht widerlegen! Selbst alle
                                <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Protestanten</term>
          </index>Protestanten</hi> müssen hier einerlei Klage füren, weil der
                        Misbrauch des Namens, <hi>christliche wahre <index indexName="subjects-index">
            <term>seligmachend</term>
          </index>seligmachende Religion</hi>, über alle Maßen groß und schreiend
                        ist. Wer will hier den Namen <pb xml:id="bs_f_page_347" n="347" edRef="#f"/>
                        wahre <hi>christliche</hi> Religion zum Deckmantel brauchen lassen, wo gar
                        keine wahre Gottesverehrung gemeint ist? Alle natürliche ehrliche Religion,
                        worin noch kein Gebrauch der Bibel statt fand, ist hier viel würdigere
                        Gottesverehrung, als diese bischöfliche kirchliche <hi>Carricatur</hi>. Aber
                        die wahre christliche Religion, abgesehen von den Pfaffen und politischen
                        Gestalten, ist nicht diese niedrige <hi>Carricatur</hi>; ist eine freie ganz
                        unabhängige <hi>Anwendung der eignen <index indexName="subjects-index">
            <term>Seelenkräfte</term>
          </index>Seelenkraft</hi> auf den unsichtbaren Oberherrn aller Menschen,
                        in so fern Menschen mehr als Körper und sinliche Phänomene sind; und sich
                        als Christen <hi>hinter der Bibel</hi>, mit freier Benuzung ihres Inhalts,
                        einer <hi>eigenen</hi> jezigen Gottesverehrung selbst befleisigen, welche
                        Verehrung Gott Vater, Sohn Gottes, und heiligen Geist begreift, <hi>ohne
                            eine ausschließende Bestimmung</hi> dieser Begriffe; blos in einer
                        Gesellschaft entstehet eine Bestimmung, wir reden aber nicht von einer
                        Gesellschaft; sondern von wahrer Privatreligion in allen christlichen
                        Gesellschaften. Hier kan kein Concilium, kein politischer Zusammenhang
                        befelen; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_18"/>der Christ
                        darf Gott durch <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christum</persName> selbst erkennen,
                        als ganz <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_19"/>unterminirlich, ganz offen, und als unbe<pb xml:id="bs_f_page_348" n="348" edRef="#f"/>schränkten <index indexName="subjects-index">
          <term>Vater, moralischer</term>
        </index>moralischen Vater der bedürftigen unerzogenen immer ungleichen
                        Menschen. So frei hier die geübten Christen ihre eigene Vorstellungen hinter
                        und neben jenen historischen localen Versuchen, selbst zusammen sezen, von
                        Gott und seinem Verhältnis und täglich ihre Neigungen an Gott, ihre
                        Zuversicht, ihren Dank dadurch bestimmen: so nachgebend sind sie als Brüder
                        gegen einander, um durch ihr freies <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen, freies</term>
        </index>Gewissen aller andern auch freie Gewissen nicht zu beherrschen,
                        welches ja keinesweges zur Ehre Gottes und <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> statt fände. Gern
                        und gewis willigen sie aber ein in eine äußerliche Verbindung mit andern
                        Christen, die ihnen <hi>bürgerlich schon die nächsten sind</hi>, um eine
                        gemeinschaftliche öffentliche Religionsübung mit andern fortzusezen. Diese
                        Geselschaft hatte aber auch schon ihre <hi>besondere Historie</hi>, die vor
                        ihrer Religionsform vorausgehet, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_20"/>in Sachsen, in der Schweiz <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> Nun ist es auch wahr, daß diese gesellschaftliche Religionsübung,
                        wenn die innere Beschäftigung der Seelenkräfte nicht dabei ist, den Namen
                        einer <hi>vorzüglichen</hi> oder besseren Gottesverehrung um besonderer
                        Redensarten willen, die hier gebraucht werden, <hi>gar nicht verdienet</hi>;
                        sie bestehet alsdenn <pb xml:id="bs_f_page_349" n="349" edRef="#f"/> nur in
                        einer <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewohnheit</term>
        </index>Gewohnheit oder Verabredung, wornach mehrere Miteinwoner sich zu
                        einer festgesezten Zeit, an einem und demselben Orte versamlen, und alle
                        bürgerliche sonstige Geschäfte unterlassen wollen, weil jezt eine
                        gemeinschaftliche Theilnemung an solchen sinnlichen, kenntlichen Handlungen
                        alle Anwesenden beschäftiget, dadurch sie allesamt die Fortsezung ihrer
                        äußerlichen Religionsordnung einander zu erkennen geben, und sie öffenlich
                        gerne halten. Allein, auch diese freilich geringere Gewonheit hat nicht nur
                        den gewissen Erfolg einer nähern Verbindung mit einander, daher Naturalisten
                        wenigstens keine bürgerliche Zerrüttung zum Zweck haben dürfen; sondern sie
                        erleichtert auch immer einigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Nutzen, psychologischer</term>
        </index><hi>psychologischen</hi> und <index indexName="subjects-index">
          <term>Nutzen, moralischer</term>
        </index><hi>moralischen</hi> Nuzen, weil gute nüzliche Begriffe erweckt
                        werden können; wenn auch die eigene innere Beschäftigung eine Zeitlang
                        gleichsam ausartet, und viele solche Mitglieder sich einen falschen Maaßstab
                        ihrer Gottesverehrung angenommen. Auch diese Mängel, so gewis sie von andern
                        als Mängel eingesehen werden, können nicht ganz weggeschaft werden, weil die
                        Menschen nicht einerlei moralisches <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, einerlei</term>
        </index>Maas bekommen können; weil sie durchaus äußerlich und innerlich
                        ungleich <pb xml:id="bs_f_page_350" n="350" edRef="#f"/> sind und bleiben
                        sollen. Es giebt unzählige Falten und Beugungen der <index indexName="subjects-index">
          <term>Seelenkräfte</term>
        </index>Seelenkräfte bei den einzelnen Menschen, worin sie sich sehr bald so
                        gefallen, daß sie es gleichsam zu ihrem rechtmäsigen Stande rechnen, daß sie
                        mehr darauf bestehen als andere; und es würde kaum ohne Herrschsucht und
                        Ohrenbeichte, oder ohne einer Art <index indexName="subjects-index">
          <term>Inquisition, moralische</term>
        </index><hi>moralischer Inquisition</hi> abgehen, wenn <index indexName="subjects-index">
          <term>Prediger</term>
        </index>Prediger hier bei jedem Mitglied der Gemeine, außer dem
                            <hi>allgemeinen</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Unterricht</term>
        </index>Unterricht, wozu sie auch eigentlich nur bestimt werden, sich
                        insbesondere einlassen, und gleichsam die Prüfung des Gewissens und Herzens
                        aus eigner Macht vorschreiben wolten. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_21"/>Sie müssen umgekehrt allen alles werden, um immer
                        einigen zu moralischer Besserung zu helfen; sie können aber durchaus nicht
                        fordern, daß alle Mitglieder ihrer Religionsgeselschaft <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, einerlei</term>
        </index>einerlei Maas der <index indexName="subjects-index">
          <term>Privaterkenntnis</term>
        </index>Privaterkentnis, der Uebung und Anwendung erreichen und halten, oder
                        sonst gar keine Christen sein solten. Es giebt auch geringere <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatchristen</term>
        </index>Privatchristen. Aus diesem immer <hi>ungerechten Vorhaben</hi> sind
                        alle jene immer neuen Anstalten entstanden, wodurch man die innere Religion
                        mehr befördern, und den meisten Mitgliedern <hi>einerlei kentlichen
                            Charakter aufdrücken</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_351" n="351" edRef="#f"/> wolte. Dies war die Quelle
                        von immer neuen <index indexName="subjects-index">
          <term>Zeremonien</term>
        </index>Cerimonien, <index indexName="subjects-index">
          <term>Legenden</term>
        </index>Legenden, <index indexName="subjects-index">
          <term>Mirakel</term>
        </index>Mirakeln, Bildern, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_22"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Brüderschaften</term>
        </index>Brüderschaften, besondern größern Andachtsübungen <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> Durch alle diese Anstalten ist eine <hi>moralische
                            Beherrschung</hi>, und ein Stillestand der freien Erkentnis vielmehr
                        eingeführt worden, als daß die ächte freie Verehrung Gottes der Christen
                        immer mehr bekant und erleichtert worden wäre. Gleichwol solte die <index indexName="subjects-index">
          <term>Würde Gottes</term>
        </index>Würde und <index indexName="subjects-index">
          <term>Herrlichkeit Gottes</term>
        </index>Herrlichkeit Gottes vornemlich nur von den Christen immer mehr
                        erkant und über alles geliebt werden! So wol Heuchelei als wilkürliche
                        Lasterhaftigkeit ist hiedurch gar natürlich mehr ausgebreitet worden;
                        anstatt, daß Christen es immer mehr lernen solten, was es heißt, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_23"/>Gott, <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName>, der Geist Gottes
                            <hi>wonet moralisch in den Christen</hi>, nicht im Tempel zu Jerusalem,
                        auch nicht <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_41_24"/>im todten
                        alten <index indexName="subjects-index">
          <term>Buchstaben, tote</term>
        </index>Buchstaben, in Formeln; die allemal eine <hi>öffentliche</hi>
                        Religion haben.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_1"><label>in
                            reiner Tugend gegen sich selbst</label><p>Die Rede von „Tugenden gegen
                            sich selbst“ hat Semler von seinem Lehrer Siegmund Jacob Baumgarten
                            übernommen; vgl. z.B. dessen postum erschienenen und von Semler mit
                            einer Vorrede versehenen <hi>[A]usführliche[n] Vortrag der Theologischen
                                Moral</hi> (1767), v.a. 1439–1460. Eine Tugend ist für Baumgarten
                            die „<hi>Fertigkeit zur Leistung seiner Pflicht</hi>“ (1384), eine
                            Tugend gegen sich selbst folglich die Fertigkeit zur Leistung einer
                            Pflicht gegen sich selbst (1399). Zu letzterer Art von Tugend zählt
                            Baumgarten u.a. rechtmäßige Selbstliebe, Demut, Mäßigkeit, Keuschheit,
                            Vergnügsamkeit, Gelassenheit, Sparsamkeit, Fleiß, Selbstbewusstheit,
                            Vernünftigkeit, Beständigkeit, Tapferkeit, Sorgfalt, Weisheit und Sinn
                            für das Himmlische.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_2"><label>Nebenmenschen, über die Gott einerlei Sonne scheinen
                            läßt</label><p>Anspielung auf Mt 5,45.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_3"><label>Jesus
                            hat selbst dieses als das vornemste und gröste Gebot anempfolen, woran
                            alles Gesez und alle Propheten bei den Juden gleichsam
                            hängen</label><p>Anspielung auf Mt 22,34–40.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_4"><label>daß
                            niemand Gott zu erkennen, zu lieben mit Grunde vorgeben kann, der seinen
                            Bruder und Nebenmenschen nicht um des gemeinschaftlichen Gottes willen,
                            liebet</label><p>Anspielung auf 1Joh 4,20.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_5"><label>aus den
                            Ikkanien, oder allgemeinen jüdischen Religionsartikeln der jüdischen
                            Nation</label><p>Es handelt sich hier offensichtlich um einen Satzfehler
                            und müsste vielmehr „Ikkarim“ heißen. Gemeint ist das <hi>Sefer
                                ha-Iqqarim</hi> („Buch der Grundlehren“, 1425) des spanischen
                            Rabbiners Josef Albo (1365–1444), das Semler an mehreren Stellen seiner
                            Schriften bemüht, vgl. etwa <hi>Beantwortung der Fragmente eines
                                Ungenanten</hi> (1779), 47. Albo hatte in der Tat den Juden den
                            Glauben an einen künftigen Messias freigestellt, vgl. <hi>Sefer
                                ha-Iqqarim</hi> I,1.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_6"><label>Einwoner von Palästina, die ihr Land für ein heilig Land
                            ansahen</label><p>Der auf Pälastina bezogene Ausdruck „Heiliges Land“
                            findet sich in den kanonischen Schriften des Alten Testaments nur
                            einmal: Sach 2,16 (vgl. aber 2Makk 1,7; Weish 12,3). Er tritt zurück
                            gegenüber Palästina als dem „Land der Verheißung“ (z.B. Gen 13,15). Der
                            Sache nach wird die Heiligkeit Israels in der rabbinischen Literatur
                            aber zumeist unterstellt, vor allem im Hinblick auf den eschatologischen
                            Vorzug, dort zu siedeln und begraben zu werden. Im Babylonischen Talmud
                            heißt es etwa: „Wer vier Ellen im Land Israel geht, dem ist ein Platz in
                            der Welt, die kommen wird, sicher“ (Ket. 111a).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_7"><label>Viele
                            fanatische Juden [...], rechneten die Zeit aus, da der Christus kommen,
                            und den heidnischen Antichrist überwinden würde, sie waren daher [...]
                            geneigt zur Rebellion wider die Römer</label><p>Pälastina war seit dem
                            Einmarsch des Feldherrn Pompeius (106–48) im Jahre 63 v. Chr. Teil der
                            römischen Herrschaftssphäre. Rom übte zunächst über Vasallenkönige (am
                            bedeutendsten: Herodes 73/37–4 v. Chr.) Kontrolle aus, von 6–66 n. Chr.
                            fungierte Judäa mit einer kurzen Unterbrechung als römische Provinz.
                            Trotz der römischen Toleranzpolitik (<hi>pax romana</hi>) kam es immer
                            wieder zu Spannungen, die sich u.a. an der Steuerlast, dem jüdischen
                            Bilderverbot (im Angesicht römischer Standarten, Münzen etc.), dem
                            Versuch Kaiser Caligulas (12/37–41 n. Chr.), den Kaiserkult
                            durchzusetzen, oder der Anwesenheit und dem mitunter provozierenden
                            Verhalten der in Jerusalem stationierten römischen Garnison bzw. des
                            dortigen Statthalters entzündeten. Zu großen, von messianischen
                            Erwartungen befeuerten Aufständen kam es in den Jahren 66–70, 115–117,
                            und 132–135 (Bar-Kochba-Aufstand). Die erste Erhebung mündete in den
                            Jüdischen Krieg und führte zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch
                            die Truppen des späteren Kaisers Titus (39/79–81). Nach dem letzten
                            Aufstand wurden die jüdischen Einwohner Jerusalems vollständig enteignet
                            und die Stadt paganisiert. – Die Idee eines Gegenmessias (Antichrist)
                            taucht im Judentum erst ab dem zweiten vorchristlichen Jh. auf und auch
                            dann nur andeutungsweise, vgl. v.a. Dan 7f. sowie die vermutlich auf die
                            Zeit der genannten Aufstände zurückgehenden pseudoepigraphischen Texte
                            2Bar 39,5–40,3 (im 18. Jh. unbekannt) und Sib 2–5 .</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_8"><label>daß
                            sein Tod das größte Opfer für die Sünden aller Menschen
                            seie</label><p>Vgl. z.B. Hebr 10,12.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_9"><label>daß die
                            Gnade und Liebe Gottes sich auch auf die Heiden erstrecke</label><p>Vgl.
                            z.B. Eph 3,6.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_10"><label>daß er
                            kein neues Reich in Palästina anfangen wolle</label><p>Vgl. z.B. Joh
                            18,36.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_11"><label>daß
                            eine Beschneidung – – nicht mehr nöthig seie, weil man nun eine ganz
                            andre Beschneidung hatte kennen lernen</label><p>Anspielung auf Röm 2,29
                            und Kol 2,11; vgl. auch 1Kor 7,19.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_12"><label>den
                            allerersten Artikel [...] (Gott, Christum, Geist Gottes [...]) [...]
                            über alles zu lieben, und den Nächsten als sich selbst</label><p>Mt
                            22,34–40; Mk 12,28–31; Lk 10,25–28.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_13"><label>von
                            ganzem Herzen, aus allen Kräften der Seele</label><p>Erneute Anspielung
                            auf Mt 22,34–40.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_14"><label>So ist
                            der pluralis im symbolo nicaeno <foreign xml:lang="grc">πιστευομεν</foreign> eine Erzählung der Bischöffe</label><p>Vgl.
                            Semler, <hi>Apparatus ad libros symbolicos Ecclesiae Lutheranae</hi>
                            (1775), 30.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_15"><label>Ausgehen des heiligen Geistes</label><p>Semler denkt an den sog.
                                <hi>filioque</hi>-Streit: „Geht“ der Heilige Geist vom Vater „aus“,
                            wie es im nicäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis von 381
                            heißt, oder von Vater <hi>und Sohn</hi> (lat. <hi>filioque</hi>)? In der
                            Westkirche wurde der Zusatz seit dem 5. Jh. dem Bekenntnis häufig
                            hinzugefügt, Anfang des 13. Jh.s wurde er schließlich dogmatisch
                            fixiert, auch die Reformatoren behielten das <hi>filioque</hi> bei. Mit
                            der Formulierung sollte vor allem der Anschein einer Unterordnung
                            (Subordination) des Sohns unter den Vater vermieden werden (vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_a_1_36"/>). Bis heute
                            bildet der zugrundeliegende trinitätstheologische Dissens die wohl
                            größte dogmatische Differenz zwischen Katholizismus und
                        Ostkirche.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_16"><label>den
                            sogenannten Pelagianern</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_2_12"/>; s. auch <ptr type="page-ref" target="#erl_a_1_34"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_17"><label>Albigensern, Waldensern, Hussiten</label><p>Alle drei Gruppen
                            gehören zur traditionellen Häresiologie: Im südfranzösischen Albi lebten
                            im späten 12. Jh. sog. „Katharer“, die im Albigenserkreuzzug (1209–1249)
                            nahezu ausgerottet wurden. Unter Katharern werden Christen verstanden,
                            die in einer Art Gegenkirche eine private Devotion der „Reinen“ (gr.
                                <foreign xml:lang="grc">καθαροί</foreign>) anstrebten. – Die
                            Waldenser um den wohlhabenden Petrus Valdes aus Lyon verpflichteten sich
                            1180 zunächst innerhalb der mittelalterlichen Kirche zu Armut und einer
                            Lebensweise gemäß der Evangelischen Räte, was viele Anhänger fand und
                            langfristig zu einer Distanzierung von kirchlichen Strukturen führte. –
                            Der Prager Priester Johannes Hus (1370–1415) nahm bestehende
                            Reformimpulse auf, die sich im Streit um die Kelchkommunion entluden.
                            Die Bewegung fand auch nach Hus’ Verurteilung und Hinrichtung auf dem
                            Konstanzer Konzil vor allem in Böhmen zahlreiche Anhänger.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_18"><label>der
                            Christ darf Gott durch Christum selbst erkennen</label><p>Anspielung auf
                            Joh 14,7–9.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_19"><label>unterminirlich</label><p>Die sehr seltene Vokabel hat nichts mit
                            „unterminieren“ zu tun, sondern leitet sich vom lateinischen
                            „interminabilis“ (unbegrenzt, unendlich) ab.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_20"><label>in
                            Sachsen, in der Schweiz</label><p>Sachsen steht hier wieder einmal
                                <hi>pars pro toto</hi> für das Luthertum, die Schweiz für das
                            Reformiertentum.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_21"><label>Sie
                            müssen umgekehrt allen alles werden</label><p>Anspielung auf 1Kor
                            9,22.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_22"><label>Brüderschaften</label><p>Bruderschaften (lat.
                                <hi>fraternitates</hi>) waren freiwillige Personenvereinigungen, die
                            in erster Linie religiöse und karitative Aufgaben verfolgten. Neben
                            berufsspezifischen Bruderschaften im Kontext von Zünften und Gilden gab
                            es vor allem religiöse Bruderschaften, die stark von der
                            spätmittelalterlichen Laienbewegung des langen 15. Jh.s geprägt waren.
                            Sie bildeten spezifische Formen der Devotion und verbanden gesellige,
                            soziale und religiöse Zwecke, etwa in der Kranken- und Armenpflege und
                            beim Totengedenken. Einerseits nahmen sie somit teils Formen und
                            Funktion späterer Konventikel vorweg, andererseits verloren sie im
                            Protestantismus an Bedeutung, so dass Semler sie hier als Auswuchs der
                            vorreformatorischen Kirche brandmarken kann.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_23"><label>Gott,
                            Christus, der Geist Gottes wonet moralisch in den Christen, nicht im
                            Tempel zu Jerusalem</label><p>Anspielung auf 1Kor 3,16, vgl. auch Joh 4,
                            20–24.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_41_24"><label>im
                            todten alten Buchstaben</label><p>Vgl. 2Kor 3,6 und <ptr type="page-ref" target="#erl_f_22_15"/>.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_42">
      <head type="question">42. Nach dieser Erklärung müsten freilich die Christen
                        selbst diese ihre gemeinschaftliche öffentliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsübung</term>
        </index>Religionsübung gar nicht so hoch ansezen, daß dabei die innere und
                        thätige Ausübung felen dürfte, ohne ernstliche Rüge ihrer Leh<pb xml:id="bs_f_page_352" n="352" edRef="#f"/>rer; noch weniger sich über
                        ihre <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit und Verschiedenheit so sehr entzweien, oder sich (um
                        Gotteswillen, um Gott besser zu verehren!) gar hassen und verfolgen. Sie
                        hätten auch eben so wenig ein Recht, den <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalismus</term>
        </index><hi>Naturalismus</hi> durch ihre christliche Religionsordnung
                        bedächtig und absichtlich zu unterdrücken, da sie die innere Gottesverehrung
                        durch alle äußere Religionsform zunächst, zu einem <index indexName="subjects-index">
          <term>Maß, allereinziges</term>
        </index><hi>allereinzigen Maas</hi> zu erheben, sich gar nicht vorsezen
                        können, ohne ganz falsche <index indexName="subjects-index">
          <term>Begriffe, falsche</term>
        </index>Begriffe anzunemen, und selbst ihre <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel, Gebrauch der</term>
        </index>Bibel ganz unrecht zu brauchen.</head>
      <p>Alles zugestanden! es ist kein Zweifel hieran, bei allen verständigen
                        Christen. Aber haben denn nun umgekehrt die Naturalisten ein Recht, alle
                        christliche, so wol äußere <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsordnung</term>
        </index>Religionsordnung, als die freie innere besondere Verehrung Gottes,
                        welche mehr Gegenstände aus der Bibel einschließet, durch ihren Naturalismus
                            <hi>aufzuheben</hi>, als würde <hi>nun die gewissere und wirksamere
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Moralität</term>
          </index>Moralität</hi> vielmehr unter allen Menschen befördert werden,
                        ohne <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel, ohne historische Begriffe? Ich denke <pb xml:id="bs_f_page_353" n="353" edRef="#f"/> nicht; wenn sie nicht
                        zugleich das Recht haben, daseiende <hi>geselschaftliche</hi> bürgerliche
                        Verbindungen eigenmächtig aufzuheben. Sie können alle jene gar kentlichen
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_42_1"/>Betrügereien
                            <hi>einer sogenanten Priester- und <index indexName="subjects-index">
            <term>Pfaffenreligion</term>
          </index>Pfaffenreligion rügen und ganz ernstlich verwerfen</hi>; alle
                        verständigere Christen thun ein gleiches, ohne leeres Geräusche. Sie können
                        diese und jene unedle Gewonheit vieler Namen-Christen und alle jene
                        Lasterhaftigkeit tadeln und beurtheilen; dieses thun auch die treuen Lehrer
                        der Christen; die treuen Lehrer, sage ich, andre thun es freilich nicht. Sie
                        können die Unwissenheit und den Aberglauben des großen Haufens ferner dafür
                        halten, wofür sie ihn erkennen; auch geübtere Christen urtheilen eben so, ob
                        sie gleich alle Schonung und Nachsicht bedächtig anwenden, um nicht zu
                        geschwind und anstößig zu handeln, und bürgerliche Unruhen zu erregen, unter
                        moralischer Maske. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_42_2"/><hi>Unkraut und Waizen wächset mit einander</hi>. Da aber die
                            <hi>historische</hi> Kentnis eher ist als die allgemeine, und nicht alle
                        Menschen zur eigenen Anname des <hi>Algemeinen</hi> so leicht zu bringen
                        sind: so behält die christliche Religion, eben in so fern sie viel
                        historischen Inhalt <pb xml:id="bs_f_page_354" n="354" edRef="#f"/> hat, den
                        leichtern Eingang bei der größern Menge, ohne die fähigern Menschen eben so
                        daran zu binden. Die neue christliche Religion entstund <hi>durch eine neue
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Historie</term>
          </index>Historie, die alle Christen von Juden und Heiden nun
                            unterscheiden muste</hi>; so entstund die <index indexName="subjects-index">
          <term>Reformation</term>
        </index>Reformation; <hi>durch neue Historie in Sachsen, in der Schweiz, in
                            England</hi>, in Dänemark, Schweden. Ob nicht manche <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Naturalisten</term>
          </index>Naturalisten, <index indexName="subjects-index">
            <term>Illuminaten</term>
          </index>Illuminaten</hi> eine <hi>neue Historie</hi> im Sinne haben: ist
                        eine Aufgabe und Frage worden. Man mus es zugeben, daß ehedem viele Christen
                        sogar einer <hi>fernern neuen Historie</hi> entgegen sahen, und ein
                        bürgerliches glücklicheres Leben hoften, wozu freilich auch manche Fabeln
                        und Erdichtungen geraume Zeit angewendet wurden. Dieser ganze sinliche Hang,
                        der sehr lange geherrschet hat, ist von der wahren bessern <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottesverehrung</term>
        </index>Gottesverehrung gar weit entfernt; und diese dortige Religion jener
                        Christen, (die in bürgerlicher Geselschaft <hi>nicht mehr zufrieden leben
                            wolten</hi>,) ist nicht die christliche Religion, die wir <index indexName="subjects-index">
          <term>Protestanten</term>
        </index>Protestanten als die uns gehörige Religion selbst annemen und
                        fortsezen. Es gab zu eben der Zeit auch geübtere und verständigere Christen,
                        wie schon verständige Juden, die <pb xml:id="bs_f_page_355" n="355" edRef="#f"/>
        <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_42_3"/><foreign xml:lang="grc">σωμα</foreign> und <foreign xml:lang="grc">πνευμα</foreign>, oder alte äußerliche Historie, und <hi>gegenwärtige
                            innere</hi> moralische Historie in ihrer Religion unterschieden haben.
                        Wir kennen jenen Feler, als moralischen Feler der großen Kirche, die
                        durchaus nur <hi>alte feste Historie</hi> zum steten Grunde und Mittel aller
                        christlichen Religion auswälte, <hi>um ja keine freie <index indexName="subjects-index">
            <term>Erkenntnis, freie</term>
          </index>Erkentnis des Allgemeinen, gar keine innere <index indexName="subjects-index">
            <term>Historie, moralische</term>
          </index>moralische neue Historie der Christen aufkommen zu lassen</hi>.
                        Wir kennen die ganz unverschämten Lügen und <index indexName="subjects-index">
          <term>Legenden</term>
        </index>Legenden, welche, leider! so viel Jahrhunderte lang gar den
                        alleinigen öffentlichen Inhalt der christlichen Religionslehre ausmachten;
                        indem die Pfaffen sich die Beherrschung der Christen durchaus nicht
                        entziehen lassen wolten. Aber bei dem allen können doch Naturalisten den
                        Zeitgenossen das freie eigne Urtheil über das Verhältnis der Bibel nicht
                        dadurch geradehin nemen wollen, daß blos eine sogenante <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturreligion</term>
        </index>Naturreligion empfolen, und alle bisherige eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Historie, moralische</term>
        </index>moralische Historie der Christen ganz aufgehoben, und für <index indexName="subjects-index">
          <term>Fanaticismus</term>
        </index><hi>Fanaticismus</hi> erklärt würde. Warum soll in der <index indexName="subjects-index">
          <term>Welt, moralische</term>
        </index>moralischen Welt so gar weniger Freiheit und Unabhängigkeit übrig
                        bleiben, als überall in der bürgerlichen Geselschaft <pb xml:id="bs_f_page_356" n="356" edRef="#f"/> zum Privatleben statt finden
                        muß? Haben zuweilen die christlichen Lehrer ihres Theils diese Freiheit
                        aufgehoben, und es den Christen blos buchstäblich vorgesagt, die <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel seie durchaus eine solche <index indexName="subjects-index">
          <term>Offenbarung</term>
        </index>Offenbarung Gottes, <hi>wie es diese Lehrer zu denken und zu lehren
                            pflegten</hi>: so haben sie doch den eigenen freien Gebrauch des <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissens, freier Gebrauch des</term>
        </index>Gewissens nicht hindern können, wenn sie auch wolten. Warum aber
                        wollen nun <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten die Stufe ihrer Erkentnis und Einsicht allen Christen
                            <hi>zur Regel machen</hi>, da dieses doch durchaus nicht möglich ist,
                        wenn sie auch alle bisherige bürgerliche Verfassung, <hi>worin die Christen
                            ganz zufrieden leben</hi>, ganz umwürfen, und <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_42_4"/>aus dem bürgerlichen
                        Stande einen <index indexName="subjects-index">
          <term>Stand der Natur</term>
        </index><hi>Stand der Natur</hi> schaffen wolten? Aller christlicher <index indexName="subjects-index">
          <term>Unterricht</term>
        </index>Unterricht ist noch nicht an und für sich selbst diejenige Stufe der
                        Erkentnis, welche für jeden einzelnen fähigern Menschen möglich ist; denn
                        der Lehrer konte nicht für alle so verschiedene Fähigkeiten der Christen
                        schon das Maas festsezen; wenn er dies thun wolte, so war es sein Fehler,
                        und nur ganz unfähige Christen konte er also einschränken. Und aller
                        öffentliche Unterricht, worin eine daseiende Religionsgeselschaft fortgesezt
                            <pb xml:id="bs_f_page_357" n="357" edRef="#f"/> wird, hat hiemit noch
                        nicht ausschließender Weise ein göttliches Ansehen; dies mus erst im <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen der Christen von selbst dazu kommen. Nun ist aber die
                        Uebung des Verstandes, also auch des Gewissens, immerfort sehr ungleich,
                        ohne daß die Wahrheit und Göttlichkeit nur in der Einen Partei sich befinden
                        müsse. Alle Christen müssen vornemlich von der <index indexName="subjects-index">
          <term>Gegenwart Gottes, moralische</term>
        </index>moralischen Gegenwart und <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottes Wirkung</term>
        </index>Wirkung Gottes durch Erkentnis ganz gewis sein; also müssen sie auch
                        die innere Verehrung Gottes bei allen andern Menschen nicht an ihr besondres
                        und <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrgebäude, lokales</term>
        </index>lokales Lehrgebäude binden, obgleich die öffentliche Geselschaft
                        eine einzige gemeinschaftliche öffentliche Religionsform haben mus, wenn sie
                        als eine zusammengehörige Geselschaft sich fortsezen und von andern ferner
                        unterscheiden will. Soll sich nun eine besondre öffentliche
                        Religionsgeselschaft, als Naturalisten, von den Christen unterscheiden: so
                        kan sie keine besondere Vorschrift über die beste <hi>innere <index indexName="subjects-index">
            <term>Gottesverehrung</term>
          </index>Gottesverehrung</hi> zum Vorwande nemen; denn diese ist bei
                        allen öffentlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsgesellschaft</term>
        </index>Religionsgeselschaften <hi>ohnehin ganz frei, und <index indexName="subjects-index">
            <term>privatim</term>
          </index>privatim ganz unabhängig</hi>. Die Naturalisten müssen also
                            <hi>eine neue</hi> öffentliche Geselschaft als viel besser <hi>und
                            dem</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_358" n="358" edRef="#f"/>
        <hi>Staate nüzlicher voraussezen</hi>; und dazu müssen sie, wie alle
                        öffentliche Geselschaften, erst die Einwilligung des Staats haben. Sie
                        können aber nun <hi>nicht einen Grund zu dieser öffentlichen <index indexName="subjects-index">
            <term>Neuerungen</term>
          </index>Neurung und Forderung aus ihrer eigenen <index indexName="subjects-index">
            <term>Privatreligion</term>
          </index>Privatreligion entlenen</hi>; denn diese haben sie schon ganz
                        frei, sie mögen sich befinden in welcher bürgerlichen öffentlichen
                        Geselschaft sie wollen. Und wenn es auch wirklich eine öffentliche
                        Religionspartei der Naturalisten geben solte: so würde doch die innere
                        Privatreligion aller fähigen Naturalisten abermals frei und unabhängig sein
                        und bleiben. Der eigentliche wahre Grund also, warum Naturalisten alle
                        christliche Religion, selbst den Namen davon, aufheben wollen, <hi>ist
                            keinesweges eine größere sichere moralische <index indexName="subjects-index">
            <term>Vollkommenheit, moralische</term>
          </index>Volkommenheit aller Menschen</hi>, die durch alle
                        geselschaftliche Religionsordnung nicht geradehin erhalten werden kan; indem
                        hiezu stets die eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Übung, moralische</term>
        </index>moralische Uebung der einzelnen Menschen gehört, die nie zu einerlei
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Moralität, einerlei</term>
        </index>Moralität allesamt erhoben werden können. <hi>Was für einen andern
                            Grund</hi> nun Naturalisten hiezu haben mögen, daß sie, eben sie, die
                        Naturalisten, die öffentliche Religionsordnung aller christlichen Par<pb xml:id="bs_f_page_359" n="359" edRef="#f"/>teien, aufgehoben wünschen:
                        dürfen die Zeitgenossen freilich selbst überdenken und beurtheilen, die
                        bisher weder in Absicht des bürgerlichen geselschaftlichen Verhältnisses,
                        noch der eignen freien moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Vollkommenheit, moralische</term>
        </index>Volkommenheit schon selbst unzufrieden zu sein, ernstlich geäußert
                        haben; die vielmehr vornemlich daran denken, daß sie es keinesweges zur
                        ersten Pflicht haben, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_42_5"/>an moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>kosmopolitisch</term>
        </index><hi>kosmopolitischen</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Projekte, moralische</term>
        </index>Projekten Theil zu nemen; da sie ohnehin schon mehr täglich
                        moralisch und bürgerlich für sich und andre zu thun vorfinden, als sie
                        leisten und ausrichten können. Wenn die <index indexName="subjects-index">
          <term>Übung, moralische</term>
        </index>moralische Uebung und Bestrebung da ist, so ist die <index indexName="subjects-index">
          <term>Gottesverehrung</term>
        </index>Gottesverehrung wirklich da; die Vorstellungen aber über ehemalige
                        Historien können von gar <choice>
          <sic>verschiedenen</sic>
          <corr>verschiedenem</corr>
        </choice> Inhalte sein, ohne die Gottesverehrung jezt aufzuheben. Der Inhalt
                        war und ist allemal außerhalb des Menschen, ist nicht in seiner eigenen
                        Gewalt, kan aber allemal von Menschen moralisch gut zur Verehrung Gottes
                        angewendet werden, wenn er gleich durchaus nicht einerlei sein kan für alle
                        Menschen, wie sie nicht alle eine und dieselbe Narung und Ordnung ihres
                        menschlichen Lebens haben und annemen können, und doch gesunde glückliche
                        Menschen sind.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_42_1"><label>Betrügereien einer sogenanten Priester- und
                            Pfaffenreligion</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_19_1"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_42_2"><label>Unkraut
                            und Waizen wächset mit einander</label><p>Anspielung auf Mt
                            13,24–30.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_42_3"><label><foreign xml:lang="grc">σωμα</foreign> und <foreign xml:lang="grc">πνευμα</foreign></label><p>D.i. Körper und
                        Geist.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_42_4"><label>aus dem
                            bürgerlichen Stande einen Stand der Natur schaffen</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_20_5"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_42_5"><label>an
                            moralischen kosmopolitischen Projekten</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_20_5"/>.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_43">
      <head type="question"><pb n="360" edRef="#f"/> 43. Aber kan man wol den <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index>Naturalisten andere Absichten beimessen, als geradehin <index indexName="subjects-index">
          <term>patriotisch</term>
        </index>patriotische, gemeinnüzige? Die sogenante <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirche</term>
        </index><hi>Kirche</hi> mus doch endlich unter dem wahren Begriffe gedacht
                        werden, den uns die bald siebenzehn hundertjährige <hi>Historie immer mehr
                            darleget</hi>. Es mag also ehedem göttliche Belehrungen eines <index indexName="persons-index">
          <term>Petrus</term>
        </index><persName ref="textgrid:2z6t8">Petri</persName> und <index indexName="persons-index">
          <term>Paulus</term>
        </index><persName ref="textgrid:251kf">Pauli</persName> gegeben haben, wider
                        jüdische <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorurteile, jüdische</term>
        </index>Vorurtheile, und heidnische moralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Kälte, moralische</term>
        </index>Kälte – so gehören sie doch gar nicht zu dem ganzen <hi>nachherigen
                            Kirchenregiment</hi>, oder neuen <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_43_1"/><hi>politischen <index indexName="subjects-index">
            <term>Kirchenstaat</term>
          </index>Kirchenstaat</hi>, der noch immer einen kirchlichen Monarchen
                        oder Papst einschließet, welcher sogar die kaiserlichen und königlichen,
                        oder wahren landesherrlichen Rechte durchaus nicht gelten läßt, und die
                        Namen, <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christus</persName>, <persName ref="textgrid:2z6t8">Petrus</persName>, Kirche
                        immer in einem solchen Verhältnis fortsezet, das von göttlicher Belehrung
                            <hi>durchaus nichts in sich fasset</hi>, wenn man nicht wissentlich
                        politische <index indexName="subjects-index">
          <term>Heuchler</term>
        </index>Heuchler oder blos sogenante <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenchristen</term>
        </index>Kirchenchristen, das ist, gehorsame Unterthanen in einem Nebenstaate
                        haben will. Moralische Veredelung sucht jene Kirche gar nicht.</head>
      <p><pb xml:id="bs_f_page_361" n="361" edRef="#f"/> Diese ganze glänzende Gestalt
                        und prächtige Einrichtung der sogenanten Kirche, mit dem ganzen Jure
                        Canonico, hat wenigstens kein protestantischer Lehrer als <hi>eine Folge
                            göttlicher <index indexName="subjects-index">
            <term>Offenbarung</term>
          </index>Offenbarung</hi>, oder als <index indexName="persons-index">
          <term>Paulus</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:251kf">Pauli</persName>,</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Petrus</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:2z6t8">Petri</persName>,</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Johannes</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:2z6t3">Johannis</persName>,</hi>
        <index indexName="persons-index">
          <term>Jakobus</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:3r6cz">Jacobi</persName></hi> so
                        gemeinnüzige Lehre angesehen, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_43_2"/>wie sie auch ihr eigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenrecht</term>
        </index>Kirchenrecht nur als eine menschliche Ordnung gelten lassen. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_43_3"/>Alle Protestanten
                        haben aber schon lange den wahren <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirche, der wahre Begriff</term>
        </index>Begrif <hi>Kirche</hi>, wozu freilich kein Pabst, keine solche
                        gebieterische Clerisei, gehört, unterschieden; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_43_4"/>wie immer fort alle
                        verständigen Regenten und Zeitgenossen curiam und ecclesiam romanam
                        unterschieden haben; folglich hätten wol Naturalisten hier eben kein
                        besonderes Feld <hi>zu neuen Verdiensten</hi> erst zu entdecken; sie konten
                        als ächte Christen eben dies thun. Die ganze äußerliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsverfassung</term>
        </index>Religionsverfassung, in so fern sie zu einem jeden Staat gehört,
                        beruhet schon <hi>auf neuen daseienden Verträgen</hi> der schon vorher
                        bürgerlichen Geselschaft; und die Regenten in <index indexName="subjects-index">
          <term>Europa</term>
        </index>Europa lassen sich in Absicht eines Pabstes und der öffentlichen
                        Religionsverfassung ganz recht blos durch <index indexName="subjects-index">
          <term>politisch</term>
        </index><hi>politische</hi> Gründe und Umstände bestimmen, ohne bei den so
                        verschiedenen <hi>Naturalisten</hi>, und <pb xml:id="bs_f_page_362" n="362" edRef="#f"/> bei den Obern der Religionsparteien, sich Rats zu erholen.
                        Wenn auch alle <hi>Naturalisten</hi> in eigener moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Vollkommenheit, moralische</term>
        </index>Volkommenheit einander vielmehr gleich, und über alle wahren
                        Christen, deren es doch viele geben kan, mehr erhaben wären, als sie doch
                        keinesweges alle schon sind: so würden doch ihre noch so guten <index indexName="subjects-index">
          <term>patriotisch</term>
        </index><hi>patriotischen</hi> Absichten noch immer nicht ein solcher Grund
                        werden, daß ein Regent den <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalismus</term>
        </index><hi>Naturalismus</hi> in seinen bürgerlichen Staaten wirklich <hi>an
                            die Stelle</hi> der öffentlichen christlichen Religion in der bisherigen
                        bürgerlichen Geselschaft, zu erheben Ursache hätte. Es ist gar nicht
                        widersprechend, daß <index indexName="subjects-index">
          <term>Jesuiten</term>
        </index>Jesuiten und alle politische Religionsobern für sich selbst schon
                        Naturalisten sind, und dennoch eine allereinzige öffentliche christliche
                        Religion durchaus immer fortsezen und behaupten, weil sie nun zur gewissen
                        Regierung viel besser angewendet werden kan, als wenn dies daseiende so alte
                        und feste Gewebe des Staats und der Kirche mit allen sogenanten Ständen ganz
                        aufgelöset, und eine moralische ganz neue Theorie, die bisher <index indexName="subjects-index">
          <term>privatim</term>
        </index>privatim frei war, in eine algemeine feststehende Religionsordnung
                        verwandelt werden solte, wo eine ganz andre politische Regie<pb xml:id="bs_f_page_363" n="363" edRef="#f"/>rung erst erschaffen werden
                        müste. Ob nicht ganze Geselschaften schon lange <hi>mit dieser neuen
                            Regierung umgehen</hi>: ist eine Aufgabe, die nicht geradehin lächerlich
                        ist. Diese ganze <index indexName="subjects-index">
          <term>patriotisch</term>
        </index>patriotische Absicht übrigens, welche man auf diese Art freilich
                        nicht unwirksam aufstellen würde, ist, wie gesagt, von allen wahren Christen
                        immerfort schon in die Augen genommen worden, eben wenn sie besondere
                        Offenbarung Gottes als historisch wahr voraus sezten, und alle <index indexName="subjects-index">
          <term>Menschensatzungen</term>
        </index><hi>Menschensazungen</hi>, der Rabbinen oder der Bischöfe, dafür
                        ansahen: daß sie mit der stets wirksamen, nie schon vollendeten Absicht des
                        unendlichen Gottes, eben deswegen gar nicht zusammenhiengen, weil die
                        Menschen ihrer <hi>eignen</hi> freien <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privatreligion alsdenn wieder beraubet würden. Nie haben verständige
                        Christen sich es beibringen lassen, daß kirchliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Verordnungen, lokale</term>
        </index>locale Verordnungen der Päbste und Bischöfe mit der christlichen
                        praktischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>Religion <hi>eben denselben göttlichen Ursprung</hi>, also auch eine
                        algemeine Verbindlichkeit für sich hätten, aus einem ewigen Zusammenhange
                        mit der <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>moralischen Wohlfart des menschlichen Geschlechts; eben diese
                        Wohlfart hat und behält unendliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Stufen</term>
        </index>Stufen, oder vielerlei Mittel auch ohne die christliche Religion.
                        Viele Jahr<pb xml:id="bs_f_page_364" n="364" edRef="#f"/>hunderte lang
                        können wir die Lügen und wissentlichen Unwahrheiten nachweisen, welche die
                        sogenante Kirche zu Hülfe genommen hat, um ihren kirchlichen, häufig
                        unchristlichen und blos menschlichen Verordnungen gleichwol eben das
                            <hi>algemeine göttliche Ansehen</hi> zu geben, welches jene algemein
                        wohlthätigen Lehren <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> und seiner Apostel
                        ganz allein und vorzüglich noch immer haben, in und nach dem eigenen <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissen</term>
        </index>Gewissen der freien Christen. Jemehr also die wahre <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>praktische Religion, die freie Verehrung Gottes nach den Grundsäzen
                        des neuen bessern Bundes, sich ohne eiserne Form privatim ausbreitet: <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_43_5"/>desto gewisser mus
                        jene falsche Kirchengewalt immer mehr einfallen; desto mehr giebt man ferner
                        dem Kaiser was seine ist; weil das <index indexName="subjects-index">
          <term>Reich Gottes</term>
        </index>Reich Gottes, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_43_6"/>das Reich Christi doch nicht von dieser Welt, oder politischer Natur ist.
                        Da nun dieser große Erfolg ganz gewis in der wahren christlichen Religion
                        immer da ist, so kan der Naturalismus, wenn ihm eben diese gute große
                        Absicht beigelegt wird, wenigstens dieser wahren christlichen Religion nicht
                        als ein nötiges wohlthätigeres Mittel <hi>entgegen gestellet werden</hi>. Es
                        käme überhaupt noch auf eine genauere Unter<pb xml:id="bs_f_page_365" n="365" edRef="#f"/>suchung an, ob die Naturalisten sich nicht übereilt
                        haben; da sie sich durch einen Namen von allen Christen, (die in gar vielen
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Stufen, moralische</term>
        </index>moralischen Stufen stehn,) durchaus unterscheiden wolten, den
                        wirklich die <hi>Jesuiten</hi> gerade in den Streitigkeiten mit dem frommen
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_43_7"/><index indexName="persons-index">
          <term>Molinos, Miguel de</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:3r6d0">Michael Molinos</persName>, über
                            die freie Seelenruhe der wahren Christen</hi>, bei noch so vielen
                        unzähligen Cerimonien und kirchlichen Anstalten, zuerst aufgebracht haben,
                        um ja unter Naturalisten das <hi>gewisse Gegentheil aller noch so ungleichen
                            christlichen Religionen</hi>, auszudrücken, und also schon ein
                        ausgemachtes <hi>Präjudiz</hi> zu dem gewissen Vortheil der <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchenmonarchie</term>
        </index>Kirchenmonarchie auszubreiten. Es gehört also sehr viel Einsicht und
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Unparteilichkeit</term>
        </index>Unparteilichkeit dazu, daß dieser Name, Naturalist, nicht schon eine
                        gleichsam gerechte Abneigung, und zur Religion selbst gehörige Widrigkeit
                        sogleich mit sich füren sol; und zur <index indexName="subjects-index">
          <term>patriotisch</term>
        </index>patriotischen gemeinnüzigen Gesinnung gehörte es doch wol, sich
                        nicht selbst allen Eingang bei den Zeitgenossen zu erschweren. Es kan doch
                        übrigens noch immer eine billige oder gerechte Forderung heißen, daß
                        Naturalisten unter dem Namen, Christen, <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, christliche (der Name)</term>
        </index><hi>christliche Religion</hi>, nicht einerlei verächtlichen
                        unwürdigen Gegenstand eigenmächtig begreifen, und überhaupt nicht an <pb xml:id="bs_f_page_366" n="366" edRef="#f"/> Veränderung der
                            <hi>Namen</hi> und <hi>Worte</hi> schon ein ausgemachtes Verdienst
                        hängen solten. Kein billiger verständiger Christ wird leugnen, daß es
                        tugendhafte, große, gemeinnüzige Charaktere giebt, unter den sogenanten
                        Naturalisten und unter allen Unchristen; warum wollen nun nicht Naturalisten
                        nicht umgekehrt eben so <index indexName="subjects-index">
          <term>patriotisch</term>
        </index>patriotisch und billig in Absicht der Christen handeln, wenn diese
                        gleich sich nicht durch den angeblichen Ehrennamen Naturalisten
                        unterscheiden wollen, weil er durchaus den bisherigen Grund ihrer so
                        bewärten Religion <hi>in ihnen selbst</hi> aufheben, und sie zu Lügnern und
                        zu niedrigen <index indexName="subjects-index">
          <term>Menschenknechte</term>
        </index>Menschenknechten machen würde? Keinem Naturalisten hat ein wahrer
                        Christ eine Vorsorge oder Vormundschaft für seinen besten moralischen
                        Zustand aufgetragen; ein wahrer Christ kan gar nicht in diese Lage geraten,
                        und die Geselschaft hat auch an <hi>Lehrern</hi> keinen Mangel; Naturalisten
                        wil sie aber nicht zu Lehrern haben. Wenn nun gleichwol Naturalisten sich
                        eine solche Vorsorge eigenmächtig auflegen: kan ihre Absicht wirklich
                            <hi>nur diese sein</hi>, da sie es wissen, der Christ erwartet und
                        verlangt diese Mitsorge gar nicht? Oder mus ich es für Verdienst um mich
                        erkennen, wenn jemand sich auf meinem Wege, den ich ganz gewis <pb xml:id="bs_f_page_367" n="367" edRef="#f"/> und sicher gehe, mir
                        entgegen stellet, und mir durchaus einen andern Weg anweisen wil? Noch dazu
                        ist der wahre Christ zugleich schon ruhiger <index indexName="subjects-index">
          <term>Bürger</term>
        </index><hi>Bürger</hi> und rechtmäßiges <hi>Mitglied einer
                        Geselschaft</hi>; er ist zufrieden und vergnügt in seinem bürgerlichen und
                        christlichen Verhältnis; was für ein Recht haben also Naturalisten, diese
                        zufriedenen Christen und schon verpflichteten Bürger unaufhörlich gleichsam
                        vor ihren selbst erbaueten moralischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Richterstuhl, moralischer</term>
        </index>Richterstul zu fordern, sogar mit Spötterei zu fordern? Das Recht
                        der <index indexName="subjects-index">
          <term>Vernunft, Recht der</term>
        </index>Vernunft soll dies sein! Der Christ hat nicht nur als Bürger,
                        sondern auch als Christ sein ihm zugehöriges <index indexName="subjects-index">
          <term>Eigentum, moralisches</term>
        </index>moralisches Eigentum; heiße es durch Verträge, oder durch Geseze,
                        oder durch eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Erfahrung</term>
        </index>Erfarung. Kein Bürger darf den andern richten und verurtheilen, in
                        Absicht seines bürgerlichen Lebens. Die Gesetze geben algemeinen Schuz wider
                        einzelne Eingriffe und Anfälle. Die Anname und Uebung der christlichen
                        Religion, in dem und jenem Umfange, ist das rechtmäßige <index indexName="subjects-index">
          <term>Eigentum, moralisches</term>
        </index>moralische Eigentum des Christen, der in seiner bürgerlichen
                        Verfassung auch eine öffentliche durch Geseze gesicherte Religionsübung, zum
                        ausgemachten Rechte hat. So wenig es einem Juden, <index indexName="subjects-index">
          <term>Muhammedaner</term>
        </index>Muhamedaner, <index indexName="subjects-index">
          <term>Braminen</term>
        </index>Brami<pb xml:id="bs_f_page_368" n="368" edRef="#f"/>nen <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> frei stehet, die geselschaftliche Religionsübung der Christen zu
                        stören, durch Aeußerung und Darstellung seiner ganz andern Religionsübungen;
                        indem der Staat diese verschiedenen Religionsparteien, durch abgetheilte
                        Geseze wider einander beschüzt, um tägliche Unruhen abzuwenden, also jeder
                        Religionspartei in Absicht öffentlicher Uebungen, ihre Schranken anweiset:
                        eben so wenig solten Naturalisten sich so grobe tägliche Spöttereien über
                        die christliche Religion erlaubt haben, und dies gar zu <hi>Meriten</hi> um
                        die Menschheit rechnen, wenn sie Geselschaften zerrütten. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_43_8"/>Weder ein <index indexName="subjects-index">
          <term>Menschenrechte</term>
          <term type="alternative">Rechte der Menschheit</term>
        </index>Recht der Menschheit noch der Natur, konte diese Ungerechtigkeit,
                        (denn Wohlthat war es nicht,) beschönigen; denn die christliche Religion
                        entstund nicht im sogenanten <index indexName="subjects-index">
          <term>Stand der Natur</term>
        </index>Stande der Natur oder der Menschheit so wenig als alle Künste und
                        Wissenschaften, Früchte des <index indexName="subjects-index">
          <term>Stand der Natur</term>
        </index>Standes der Natur waren. Und wir Christen haben doch wol nichts
                            <hi>wider die Menschheit und wider unsre Natur begangen oder
                            gesündiget</hi>, wenn wir jenen ersten kleinen Stand – der dem Menschen
                        möglichen Veränderung so erweitert und erhöhet haben, daß wir immer mehr
                        neue wirkliche moralische Fertigkeiten uns schaffen, und noch mehrern immer
                        entgegen <pb xml:id="bs_f_page_369" n="369" edRef="#f"/> sehen konten!
                            <hi>Diese einzige</hi> Lage der Menschheit und der menschlichen so weit
                        cultivirten Natur, solten wir vertauschen mit einem <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturstand</term>
        </index>Naturstande, den wir doch zu unserm großen Vorzuge zurück gelegt
                        haben? Und wir solten hier glauben, daß alsdenn eine größere menschliche
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Glückseligkeit</term>
        </index>Glückseligkeit entstehen wird? Das könte immer in Absicht mancher
                        oder vieler Zeitgenossen statt finden, welche mit der einzigen politischen
                        Verfassung, bei der eine christliche öffentliche Religionsordnung zum Grunde
                        liegt, <hi>unzufrieden sind</hi>, weil sie dadurch eingeschränkt werden.
                        Warum soll aber umgekehrt die Unlust und Unzufriedenheit nun die christliche
                        ganze Geselschaft treffen? Die gleichwol bürgerliche Verträge und den
                        landesherrlichen Schuz bisher für sich hat, und gar nicht willens ist, ihre
                        ausgemachten Rechte, was öffentliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsverfassung</term>
        </index>Religionsverfassung in dem bürgerlichen Staate betrift, durch
                        allerlei Privatgedanken und moralische Anstalten aufheben zu lassen? Jeder
                        Zeitgenosse kan ja für sich selbst ein sogenanter Naturalist sein, wenn er
                        mehr <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, moralische</term>
        </index>moralische Wohlfart sich hiermit zu schaffen meinet; aber ein
                        ehrlicher Mann in jeder Geselschaft dringt seinen moralischen Vorzug seinen
                        Nebenmenschen eben so <pb xml:id="bs_f_page_370" n="370" edRef="#f"/> wenig
                        auf, oder sezt sich vor, sie stolzer Weise zu beherrschen; als wenig der
                        stärkere Mann die Schwächern oder Kranken zu eben solchen Arbeiten und
                        Geschäften auffordern darf, die ihm so leicht und gewönlich sind. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_43_9"/>Darum leben wir eben
                        in einer geselschaftlichen Verbindung, um nicht durch einzelne Menschen
                        täglich überwältiget und beunruhiget zu werden.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_43_1"><label>politischen Kirchenstaat</label><p>Gemeint ist jede Form von
                            Theokratie, in der – wie auch im päpstlichen Kirchenstaat, der damals
                            weite Teile Mittelitaliens umfasste – der Monarch sowohl weltliches als
                            auch geistliches Oberhaupt ist. </p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_43_2"><label>wie sie
                            auch ihr eigen Kirchenrecht nur als eine menschliche Ordnung gelten
                            lassen</label><p>Semler bezieht sich darauf, dass die
                            römisch-katholische Kirche im Unterschied zu den protestantischen ein
                                <hi>göttliches Recht</hi> (<hi>ius divinum</hi>) annimmt, das die
                            grundsätzliche Funktion und hierarchische Ordnung der Kirche
                            vorschreibt. Anders als das menschengemachte bloße Kirchenrecht (<hi>ius
                                mere ecclesiasticum</hi>) kann ein Gesetz, das auf den Willen Gottes
                            zurückgeht, nicht aufgehoben, modifiziert oder ausgesetzt werden.
                            Unterschieden wird häufig zwischen einem positiven göttlichen Recht
                                (<hi>ius divinum positivum</hi>), das aus der Offenbarung
                            entspringt, und dem natürlichen göttlichen Recht (<hi>ius divinum
                                naturale</hi>; s. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_16_11"/>), das
                            mit Mitteln der Vernunft anhand der Schöpfungsordnung erkannt werden
                            kann. Welche Rechtsinhalte genau göttlicher – und damit unabänderlicher
                            – Natur sind, war und ist umstritten. Zumindest die Unterscheidung von
                            Laien und Klerikern wird aber allgemein auf göttliche Weisung
                            zurückgeführt; auch das Primat des Papstes gilt als Ergebnis eines von
                            Christus selbst an Petrus und seine Nachfolger ergangenen Auftrags. Zur
                            Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Recht vgl. die
                            einleitenden Passagen des <hi>Decretum Gratiani</hi> (ca. 1140), das
                            Teil des zu Semlers Zeit einschlägigen <hi>Corpus Iuris Canonici</hi>
                            war; vgl. ferner im heutigen <hi>Codex Iuris Canonici</hi> (1983) Can.
                            24 § 1; außerdem Can. 207 § 1 (Priester/Laien) und Can. 331 (Primat des
                            Papstes).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_43_3"><label>Alle
                            Protestanten haben aber schon lange den wahren Begrif Kirche, wozu
                            freilich kein Pabst, [...] gehört, unterschieden</label><p>Vgl. dazu
                            Luther, An den Christlichen Adel deutscher Nation (1520), WA 6, 404–469;
                            407: „Dem nach szo werden wir allesampt durch die tauff zu priestern
                            geweyhet.“ Die <hi>Confessio Augustana</hi>, Art. 7, spricht von der
                            christlichen Kirche als einer „versamlung aller gleubigen, bey welchen
                            das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sacrament laut des
                            Evangelii gereicht werden“ (BSLK 61).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_43_4"><label>wie
                            immer fort alle verständigen Regenten und Zeitgenossen curiam und
                            ecclesiam romanam unterschieden haben</label><p>Semler denkt vor allem
                            an die <hi>Gravamina nationis Germaniae</hi>, Beschwerden gegen Papst
                            und Kurie, die von den Reichsständen u.a. auf dem Reichstag zu Augsburg
                            1518 vorgebracht wurden und sich der im Text genannten Unterscheidung
                            bedienten. Luther knüpfte daran in seinem 1. Galaterkommentar (1519) an:
                            „Quare et ego horum Theologorum laycorum exemplo pulcherrimo longissime,
                            latissime, profundissime distinguo inter Rhomanam ecclesiam et Rhomanam
                            Curiam.“ (WA 2, 448).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_43_5"><label>desto
                            mehr giebt man ferner dem Kaiser was seine ist</label><p>Anspielung auf
                            Mt 22,21; Mk 12,17; Lk 20,25.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_43_6"><label>das
                            Reich Christi doch nicht von dieser Welt</label><p>Anspielung auf Joh
                            18,36.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_43_7"><label>Michael
                            Molinos, über die freie Seelenruhe der wahren Christen</label><p>Der
                            spanische Jesuitenzögling und Priester Miguel de Molinos (1628–1696)
                            gilt als Zentralfigur des Quietismus, dessen großer Einfluss bis hin zum
                            römischen Papsthof reichte. In seinem Hauptwerk <hi>Guía espiritual</hi>
                            (dt. „Seelenführer“) lehrte er eine von der Mystik beeinflusste
                            Seelenruhe. Molinos’ Geringachtung äußerlicher Frömmigkeitspraktiken
                            weckte den Argwohn der Jesuiten, was zu einem Inquisitionsverfahren
                            gegen ihn und einer lebenslangen Klosterhaft führte. Besonders in
                            pietistischen Kreisen wurden Molinos’ Schriften sehr geschätzt. So
                            brachte August Hermann Francke die lateinische Fassung <hi>Manuductio
                                Spiritualis</hi> (1687) heraus sowie Gottfried Arnold die deutsche
                            Fassung <hi>Der Geistliche Wegweiser</hi> (<hi rend="superscript">1</hi>1699).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_43_8"><label>Weder
                            ein Recht der Menschheit noch der Natur [...] so wenig als alle Künste
                            und Wissenschaften, Früchte des Standes der Natur waren</label><p>Zum
                            Begriff des Naturzustandes vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_20_5"/>. Semlers folgende Bemerkungen lassen sich als
                            ein Kommentar zu Rousseaus viel diskutiertem <hi>Discours sur les
                                sciences et les arts</hi> (1750; dt. 1752) verstehen. Semler stimmt
                            mit Rousseau überein, dass Künste und Wissenschaften ein Ergebnis der
                            menschlichen Vergesellschaftung sind, betrachtet ihre Hervorbringung
                            aber anders als der französische Philosoph durchweg als „Vorzug“.
                            Während Rousseau beklagt, dass das Leben in der modernen Zivilisation
                            die Menschen unglücklich mache und der Aufstieg der Künste und
                            Wissenschaften sie moralisch korrumpiere („Bei einem Menschen fragt man
                            nicht mehr, ob er rechtschaffen ist, sondern ob er Talent hat“;
                            Rousseau, <hi>Schriften zur Kulturkritik</hi> [1995; Übers. K. Weigand],
                            47), spricht Semler umgekehrt von „neue[n] moralische[n] Fertigkeiten“,
                            die uns eine „cultivirte[.] Natur“ eröffnet habe (<ref target="#bs_f_page_369">f369</ref>).</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_43_9"><label>Darum
                            leben wir eben in einer geselschaftlichen Verbindung, um nicht durch
                            einzelne Menschen täglich überwältiget und beunruhiget zu
                            werden</label><p>Vgl. Hobbes’ berühmte Charakterisierung des
                            vorgesellschaftlichen Naturzustands (<hi>Leviathan</hi> [1651], Kap. 13)
                            als einer Zeit, „während der die Menschen keine andere Sicherheit als
                            diejenige haben, die ihnen ihre eigene Stärke und Erfindungskraft
                            bietet. In einer solchen Lage ist für Fleiß kein Raum, da man sich
                            seiner Früchte nicht sicher sein kann [...]. [E]s herrscht, was das
                            Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen
                            Todes – das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch
                            und kurz“ (Übers. W. Euchner). Vgl. auch erneut <ptr type="page-ref" target="#erl_f_20_5"/>.</p></note>
    </div>
    <div type="section" xml:id="bs_f_44">
      <head type="question">44. Ich gebe es zu, daß manche <hi>naturalistische</hi>
                        Schriftsteller hier eben nicht viel gerechten Ruhm erwarten konten, wenn sie
                        so übereilt, so anhaltend über alle christliche Religion, über alle ihre
                        öffentlichen Diener, über alle biblischen <index indexName="subjects-index">
          <term>Redensarten</term>
        </index>Redensarten, und über alle <index indexName="subjects-index">
          <term>Zeremonien</term>
        </index>Cerimonien <choice>
          <abbr>etc.</abbr>
          <expan>et cetera</expan>
        </choice> spotteten und lachten; dies konte keine Wohlthat für den Staat als
                        Staat heißen, und mußte freilich manche ungesunde Früchte erzeugen. Aber,
                        wenn diese unbillige Spötterei und Andringlichkeit bei Seite gesezt wird, so
                        könten doch <index indexName="subjects-index">
          <term>denkend</term>
        </index>denkende Zeitgenossen auch über die öffentliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsverfassung</term>
        </index>Religionsverfassung der Christen ihre Meinungen und Urtheile bekant
                        machen, und wirklich eine <pb xml:id="bs_f_page_371" n="371" edRef="#f"/>
                        gute Absicht haben, oder zur Aufklärung und Verbesserung ihrer Zeitgenossen
                        eben dadurch beitragen, daß sie als <index indexName="subjects-index">
          <term>Naturalisten</term>
        </index><hi>Naturalisten</hi> sich neben solche Christen hinstelleten,
                        welche eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, moralische</term>
        </index>moralische eigene Religion fast gar nicht kanten. Die öffentliche
                        Religionsverfassung, war doch wol nicht blos politische Vorschrift, sie
                        solte doch wenigstens unter den Christen die eigene <index indexName="subjects-index">
          <term>Religion, praktische</term>
        </index>praktische Religion nicht für unnötig und überflüßig erklären,
                        welches höchstens im Pabsttum der Fall sein konte. Und da es immer
                        mancherlei Mängel und Fehler selbst bei der öffentlichen Religionsverfassung
                        geben konte, oder von Zeit zu Zeit wirklich gab: so war es ja nicht schon
                        Beleidigung und Beeinträchtigung der Christen, wenn Naturalisten ihre
                        anderweitigen Einsichten und Urtheile öffentlich daneben stelleten.</head>
      <p>Diese bescheidene Beschreibung möchte wol nur für einige wenige
                        naturalistische Schriftsteller gelten. Freilich gründen sich viele auf eine
                        sogenante <index indexName="subjects-index">
          <term>Aufklärung</term>
        </index><hi>Aufklärung</hi>, die zumal allen Christen so unumgänglich nötig
                        sein sol, wenn sie nicht <hi><index indexName="subjects-index">
            <term>Fanatiker</term>
          </index>Fanatiker</hi>
        <pb xml:id="bs_f_page_372" n="372" edRef="#f"/> oder <hi>Dumköpfe</hi>
                        heißen wolten. Aber es war doch auch eine zu große <index indexName="subjects-index">
          <term>Anmaßung</term>
        </index>Anmaßung, wenn diese neue Schule so wol das Recht als das Maas der
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Aufklärung, Maß der</term>
        </index>Aufklärung <hi>sich ganz allein beilegte</hi>. Noch niemals ist eine
                        gesittete Untersuchung über irgend eine Frage oder Aufgabe unter den
                        Protestanten für überhaupt verboten oder religionswidrig erklärt worden;
                        wenn auch manche einzelne Theologen über den wirklichen Gebrauch der <index indexName="subjects-index">
          <term>Vernunft</term>
        </index>Vernunft sogar in Absicht ihrer blos theologischen Behauptungen,
                        nicht selten sehr einseitige Entscheidungen gegeben
                            haben<supplied>.</supplied> Sobald ist <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_44_1"/>das fruchtbare lehrreiche Buch, das <index indexName="persons-index">
          <term>Martini, Jakob</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:3r6d1">Martini</persName></hi> in
                            <hi>Helmstädt</hi> zu Anfange des vorigen Jahrhunderts unter dem Titel:
                            <hi>Vernunftspiegel</hi><ptr type="bibliographic-object" target="textgrid:3rns8"/>, drucken lassen, fast ganz und gar vergessen
                        worden! Wurde wirklich hie und da die sogenante <index indexName="subjects-index">
          <term>Zensur</term>
        </index><hi>Censur</hi> auch unter Protestanten zu weit erstrecket: so
                        geschahe dieses doch immer nach den wirklichen alten Gesezen der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bücherpolizei</term>
        </index>Bücherpolizei, oder nach einer <index indexName="subjects-index">
          <term>Observanz</term>
        </index><hi>Observanz</hi>, die der Staat so lange stehen lies. Man kan
                        freilich nicht sagen, daß der Geist der christlichen Religion diese <index indexName="subjects-index">
          <term>Observanz</term>
        </index><hi>Observanz</hi> aufgebracht oder beschüzt habe, weil sie ihm
                        unentberlich seie; aber die <hi>öffentliche</hi> Religion kan <pb xml:id="bs_f_page_373" n="373" edRef="#f"/> auch nicht den Geist der
                        christlichen Religion so zum Grunde haben, als die bürgerliche Verbindung
                        und <index indexName="subjects-index">
          <term>Wohlfahrt, bürgerliche</term>
        </index>Wohlfart. Es ist übrigens ein noch gar schlechter Christ, der um des
                        Namens Gottes und <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName> willen sich nicht
                        den Spott gefallen läßt, der sogleich vom Anfange dieser neuen Religion her
                        noch mehr statt fand, als thätige <index indexName="subjects-index">
          <term>Verfolgung</term>
        </index>Verfolgung durch Obrigkeiten. Aber desto sonderbarer ist auch die
                            <index indexName="subjects-index">
          <term>Anmaßung</term>
        </index>Anmaßung, daß ein jeder Christ aller der <index indexName="subjects-index">
          <term>Aufklärung</term>
        </index>Aufklärung in Absicht der eigenen Religion, <hi>unterworfen oder
                            ausgesezt sein müsse</hi>, welche irgend ein Naturalist ihm als ganz
                        notwendig zuerkennen will. Es hatten sich daher die Christen in besondre
                        öffentliche Religionsgeselschaften begeben: <hi>damit sie nicht täglich
                            neuen Lehrmeistern unterworfen sein wolten</hi>. Und nun wird es
                        allerdings eine Aufgabe, ob in eine jede Religionsgeselschaft allen
                        Critikern oder Zweiflern täglich der freie Eingang darin offen stehe, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_44_2"/>weil Critiker,
                        Spötter, Zweifler <hi>ihre <index indexName="subjects-index">
            <term>Menschenrechte</term>
          </index>Menschenrechte</hi> hiemit auszuüben vermeinen?
                            <hi>Oeffentliche</hi>
        <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsverfassung, öffentliche</term>
        </index>Religionsverfassungen, in so fern sie in Verträgen und
                        gemeinschaftlichen Einrichtungen bestehet, die der Landesherr
                            <hi>sanciret</hi> hat: müsten durchaus nicht beliebi<pb xml:id="bs_f_page_374" n="374" edRef="#f"/>gem Spotte öffentlich Preis
                        gegeben werden. Die Mitglieder solcher christlichen Religionsgeselschaft
                        verlieren sonst geradehin ihre öffentliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsfreiheit</term>
        </index>Religionsfreiheit, sogar durch die Herolde der <index indexName="subjects-index">
          <term>Menschenrechte</term>
          <term type="alternative">Rechte der Menschheit</term>
        </index>Rechte der Menschheit und der Vernunft, wenn sie ihre öffentliche
                        Religionsübung so öffentlich verspotten lassen müssen; und der Staat selbst
                        müste es wissen, daß die bürgerlichen Folgen hievon viel nachtheiliger und
                        gefärlicher sind, als der neue Ertrag je für baaren <index indexName="subjects-index">
          <term>Profit, moralischer</term>
        </index>moralischen Profit gerechnet werden kan, wenn nun manche Bürger und
                        Landleute einige lustige Einfälle und leichtsinnige Grundsäze für die alte
                        christliche Gesinnung einwechseln. Eben so solte niemand die öffentliche
                        Religionsordnung, die sich auf eine <hi>große Menge</hi> beziehet, darum für
                        überflüßig und unnötig erklären, weil er selbst zu seiner <index indexName="subjects-index">
          <term>Privatreligion</term>
        </index>Privatreligion jene öffentliche Anstalten nicht nötig hat. Dies
                        lezte ist ohnehin nur wahr, wenn die öffentlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Religionsdiener</term>
        </index>Religionsdiener ihr öffentliches Amt sehr schlecht verrichten, und
                        sich des Unterschieds ihrer Zuhörer zu wenig bewust sind. Es ist aber auch
                        das erste nicht wahr, daß ein jeder guter Bürger darum die öffentliche
                        Religionsordnung überhaupt verächtlich machen helfen <pb xml:id="bs_f_page_375" n="375" edRef="#f"/> möge, weil sie ihm keinen
                        besondern Nuzen für seine Privatreligion mehr gewäre. Jede Geselschaft ist
                        nicht vornemlich da, um des Privatvortheils einzelner Glieder willen; sonst
                        würde sie bald wieder zerrissen werden: sie müssen alle <hi>etwas sich
                            entziehen</hi> oder beitragen, um die ganze ungleiche Geselschaft <hi>zu
                            erhalten</hi>. Und alle öffentliche Geselschaften, die unter dem Schuz
                        des Staates da stehen, weil sie zum größern Besten des Staats noch immer
                        gehören können: müssen noch viel mehr öffentliche und gemeinschaftliche
                        Hochachtung durchaus behalten, bei allen <index indexName="subjects-index">
          <term>patriotisch</term>
        </index><hi>patriotischen</hi> guten Bürgern des Staats. Nun können freilich
                        aufmerksame Zeitgenossen und Mitbürger ihre besondern Gedanken und
                        Einsichten auch an andre mittheilen: aber ohne schon so abzusprechen, daß
                        eine wirkliche Trennung oder Zerrüttung der Religionsgeselschaft die nächste
                        Folge sein kan; weil hiedurch dem <index indexName="subjects-index">
          <term>Staat</term>
        </index>Staat selbst ein größeres Nachtheil zuwachsen mag, als je der
                        Vortheil für den Staat gros und gewis wird, wenn einige Bürger und <pb xml:id="bs_f_page_376" n="376" edRef="#f"/> Landleute anfangen, sich auf
                            <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_44_3"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Vielwissen</term>
        </index>Vielwissen etwas einzubilden und andere neben sich, auch wol die
                            <hi>politischen</hi> Ordnungen zu verachten; wenigstens mus der Staat
                        hierüber zunächst urtheilen, und nun Zeit suchen <hi>für die neue <index indexName="subjects-index">
            <term>Wissbegierde</term>
          </index>Wisbegierde</hi>, die doch der Verbesserung seiner Profession
                        oder seiner Wirtschaft immer zugewendet werden solte. Es ist eine sehr
                        unfreundliche Anmaßung, wenn man schon voraussezt, daß durch die
                        öffentlichen Lehrer der christlichen Gottesverehrung <hi>gar nichts zur
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Aufklärung</term>
          </index>Aufklärung und <index indexName="subjects-index">
            <term>Besserung</term>
          </index>Besserung der Christen, also auch zur Festigkeit des Staats,
                            geschehe</hi>, oder gethan werden könne; daß daher der ganze Grund und
                        Boden aller christlichen Religion umgerissen werden müsse. Alle verständige
                        Christen gestehen es ein, daß von Zeit zu Zeit viel Mängel sich in die
                        christliche so wol öffentliche als Privatreligion eingeschlichen haben; das
                        ist aber das gemeine <hi>unvermeidliche Schicksal</hi> aller Beschäftigungen
                        der Menschen, und die Mängel entstunden und entstehen allemal <hi>durch die
                            Menschen selbst</hi>, <pb xml:id="bs_f_page_377" n="377" edRef="#f"/>
                        welches durch noch so viel <index indexName="subjects-index">
          <term>Neuerungen</term>
        </index>Neuerungen nicht geändert werden kann. Der allererste Anfang der
                        christlichen Religion bestund in relativer <index indexName="subjects-index">
          <term>Aufklärung, relative</term>
        </index><hi>Aufklärung</hi>, wider die <index indexName="subjects-index">
          <term>Vorurteile, jüdische</term>
        </index>Vorurtheile und Mängel des Judentums. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_44_4"/><index indexName="subjects-index">
          <term>Erleuchtung</term>
        </index><hi>Erleuchtung</hi>, ein neues <index indexName="subjects-index">
          <term>Licht</term>
        </index>Licht, ein heller Schein, in dem eigenen Gemüt der Christen, neue
                        Erkentnis war ihr eigener Vorzug; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_44_5"/>sie solten selbst <index indexName="subjects-index">
          <term>prüfen</term>
        </index>prüfen, <foreign xml:lang="grc">δοκιμαζειν</foreign>, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_44_6"/><index indexName="subjects-index">
          <term>nachdenken</term>
        </index>nachdenken, <foreign xml:lang="grc">λογιζεσθαι</foreign>, über die
                            <hi>neuen Begriffe</hi> von besserer würdigerer Verehrung Gottes, die
                        sie selbst nur nach eignen Vermögen leisten sollen; sie solten <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_44_7"/><hi>immer selbst
                            wachsen</hi> in der Gnade und Erkentnis <index indexName="persons-index">
          <term>Jesus Christus</term>
          <term type="alternative">Christus</term>
        </index><persName ref="textgrid:255cd">Christi</persName>; der solte durch
                            <hi>ihren eigenen Glauben</hi>, durch ihre freie <index indexName="subjects-index">
          <term>Überzeugung, freie</term>
        </index>Ueberzeugung, in ihrem Herzen wonen; sie solten selbst Christum
                        moralisch anziehen –– kurz, die fähigern Christen <hi>solten alle ihre
                                <index indexName="subjects-index">
            <term>Seelenkräfte</term>
          </index>Seelenkräfte dazu anwenden</hi>, <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_44_8"/>aus dem Stande der
                        Kindheit fortzurücken, und ein vollkommener Mann zu werden, und durch den
                        Geist Gottes immer mehr moralische Belehrung und Offenbarung in sich zu
                        sammlen. <index indexName="subjects-index">
          <term>Aufklärung</term>
        </index><hi>Aufklärung eines jeden Christen</hi>, <pb xml:id="bs_f_page_378" n="378" edRef="#f"/> zu immer willigerer, reinerer Verehrung Gottes, war
                        die allernächste und immer erste, fortgehende Absicht der neuen Religion.
                        Diese freie <index indexName="subjects-index">
          <term>Bewegung, moralische</term>
        </index>moralische Bewegung des <index indexName="subjects-index">
          <term>Verstands, Bewegung des</term>
        </index>Verstandes und <index indexName="subjects-index">
          <term>Wille</term>
        </index>Willens der Christen, war aber nicht gleich gros in allen Christen,
                        sondern behielte das Maas, das jedem Subjekt gehörte; <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_44_9"/>nicht aller Acker gab
                        denselben Saamen dreißig, sechszig, hundertfältig wieder. Kein Lehrer konte
                        dem Subjekto ein so großes Maas geben, als andere schon hatten; und zu
                        welchem Endzwek hätte denn dieses geschehen mögen, da der stete Unterschied
                        aller Menschen von allen andern durchaus stehen bleiben mus? Unter den
                        Christen soll also die angefangene <index indexName="subjects-index">
          <term>Aufklärung</term>
        </index>Aufklärung ihrer selbst immer fort gehen; aber zunächst <hi>zu ihrem
                            moralischen Privatvortheil</hi>. Alle Verbindungen oder Verträge, die zu
                        einer öffentlichen Geselschaft gehören, <hi>sezen diese ungleiche <index indexName="subjects-index">
            <term>Privatreligion</term>
          </index>Privatreligion schon voraus</hi>. In der öffentlichen
                        Religionsform wird nur eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Einheit der Religionsform</term>
        </index><hi>äußerliche Einheit</hi> und Gleichheit eingefüret; wir müsten
                        schon eine päbstliche Dumm<pb xml:id="bs_f_page_379" n="379" edRef="#f"/>heit und Sklaverei unter uns begünstigen, wenn wir behaupten, diese
                        äußerliche <index indexName="subjects-index">
          <term>Gleichförmigkeit</term>
        </index>Gleichförmigkeit, worin eine große Menge <hi>eine nur kurze Zeit da
                            und da</hi> vereiniget wird, seie das <index indexName="subjects-index">
          <term>Wesen der christlichen Verehrung Gottes</term>
        </index>Wesen der christlichen Verehrung Gottes. Wenn nun der stete innere
                        und äußere Unterschied der Menschen, also auch der Christen, immer da ist;
                        und mancherlei Mängel sich in der öffentlichen Religionsform von Zeit zu
                        Zeit finden können: so ist eine immer wachsende christliche Erkentnis ganz
                        gewis immer zugleich da, in einigen Christen; in allen aber kan sie nie als
                        eben so stark wachsend und fortgehend angenommen werden. Nun haben aber
                        fähigere Christen <hi>ihren innern Vorzug</hi> nicht dazu anzuwenden, daß
                        sie immer die öffentliche Religionsform verändern wolten, als welche gerade
                            <hi>die vielen ungleichen Christen auf eine gewisse Zeit als äusserlich
                            vereiniget</hi> darstellen soll. Diese <hi>äusserliche <index indexName="subjects-index">
            <term>Vereinigung</term>
          </index>Vereinigung</hi> der immer ungleichen Christen soll den übrigen
                        steten Unterschied und die ganz unmoralische <index indexName="subjects-index">
          <term>Ungleichheit</term>
        </index>Ungleichheit der Christen nicht <pb xml:id="bs_f_page_380" n="380" edRef="#f"/> aufheben; also wird der fähigere Christ hiedurch nicht
                        gehindert in seiner innern eigenen Religion; (denn wir haben kein Pabsttum
                        behalten;) und die vielen unfähigern Geselschafter behalten zunächst die
                        äußerliche Religionsform als das Mittel, die ihnen selbst fehlende
                        Erkenntnis <hi>nach und nach auszubessern</hi>, durch den öffentlichen
                        Unterricht, und durch gute Beispiele. Wenn nun die öffentlichen <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrer, öffentliche</term>
        </index>Lehrer in der jezigen Anwendung der <index indexName="subjects-index">
          <term>Bibel</term>
        </index>Bibel, oder in unfruchtbarem Gebrauche einer <index indexName="subjects-index">
          <term>Kirchensprache</term>
        </index>Kirchensprache so fehlen, daß sie nicht auf den immer daseienden
                        Unterschied der Theilnemer an der öffentlichen Religionsform aufmerksam
                        bleiben: so sind sie Schuld an den jezigen daseienden Mängeln, welche der
                        gemeinschaftlichen äusserlichen Religionsordnung von Zeit zu Zeit zu
                        wachsen, daß die innere eigene Verehrung Gottes bei dem großen Haufen gar
                        verkant und vergessen wird. Aber eben diese eigene innere christliche
                        Verehrung Gottes wolten die <index indexName="subjects-index">
          <term>Protestanten</term>
        </index>Protestanten durch eine neue äusserliche Religionsform aufs
                        allergewisseste wider jene <pb xml:id="bs_f_page_381" n="381" edRef="#f"/>
                        todte schlechte Kirchenordnung beschüzen, und dazu haben die christlichen
                        Lehrer eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Lehrvorschrift</term>
        </index>Lehrvorschrift bekommen, damit ja nicht jüdische, päbstliche,
                        pfaffische Grundsäze von Hinlänglichkeit oder Unentberlichkeit einer
                        einzigen Kirchenordnung zur christlichen Seligkeit aller Christen, sich
                        wieder unter ihnen einschleichen könten, die selbst eine Beherrschung der
                        Regenten nach und nach wieder erleichterten. <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_44_10"/><hi>Protestanten</hi>
                        sezen das <foreign xml:lang="lat">jus circa sacra <hi>publica</hi></foreign> oder <foreign>multis <hi>communia</hi></foreign>,
                        ausdrüklich <hi>über den ganzen <index indexName="subjects-index">
            <term>Lehrstand</term>
          </index>Lehrstand</hi>, und hiemit ist die Freiheit des <index indexName="subjects-index">
          <term>Gewissensfreiheit</term>
        </index>Gewissens entschieden, bei aller Vorschrift über geselschaftliche,
                        öffentliche, gemeinschaftliche Religionshandlungen. Diese Geselschaft mag
                        von jeder Vorschrift so oder so eingerichtet werden; sie betrift, als
                        Vorschrift, <hi>nie die Privatreligion</hi>, weder der Lehrer, noch der
                        fähigern Christen. Wenn nun Naturalisten wirklich gar keine Absichten haben,
                            <hi>öffentliche <index indexName="subjects-index">
            <term>Neuerungen</term>
          </index>Neuerungen und Reformationen</hi> der Christen, ohne und wider
                        die <choice>
          <sic>christichen</sic>
          <corr type="editorial">christlichen</corr>
        </choice> Religionsformen, zu befördern: so ist nicht <pb xml:id="bs_f_page_382" n="382" edRef="#f"/> abzusehen, warum sie unter
                        den Christen eine <index indexName="subjects-index">
          <term>Aufklärung</term>
        </index><hi>Aufklärung</hi> betreiben wolten, da sie selbst keine Christen
                        sein wollen, und wir weder als Christen noch als Bürger irgend eine Ursache
                        haben, Naturalisten zu werden. Wir Christen wollen den <index indexName="subjects-index">
          <term>patriotisch</term>
        </index>patriotischen Schlußreim ernstlicher wiederholen, den <index indexName="persons-index">
          <term>Luther, Martin</term>
        </index><hi><persName ref="textgrid:254tm">Luther</persName></hi> zu Ende
                        des Katechismus gesezt hat: <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_44_11"/><lg rend="margin-horizontal">
          <l>Ein jeder lern und thu sein Lection,</l>
          <l>So wird es wohl in jedem Hause stohn!</l>
        </lg></p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_44_1"><label>das
                            fruchtbare lehrreiche Buch, das Martini in Helmstädt [...] unter dem
                            Titel: Vernunftspiegel, drucken lassen</label><p>Der Philosoph und
                            Theologe Jakob Martini (1570–1649) war ab 1602 Professor der Logik und
                            Metaphysik in Wittenberg, ab 1613 der Ethik und ab 1623 Professor der
                            Theologie. Sein <hi> Vernunfftspiegel. Das ist gründlicher vnnd
                                vnwidertreiblicher Bericht was die Vernunnft [...] sey [...] vnd
                                fürnemlich was für einen gebrauch sie habe in Religions-Sachen</hi>
                            (1618) gilt als eines der ersten philosophischen Werke in deutscher
                            Sprache und macht sich zur Aufgabe, Philosophie und Luthertum zu
                            vereinen. Anders als es Semler angibt, erschien dieses Werk nicht in
                            Helmstedt, sondern in Wittenberg, so auch richtig in Semlers
                                <hi>Lebensbeschreibung</hi> II (1782), 25. Womöglich verwechselt
                            Semler den Verfasser hier mit dem namensgleichen Helmstedter Theologen
                            Cornelius Martini (1568–1621), der ebenfalls in den durch den
                            philosophiekritischen Theologen Daniel Hofmann (1538–1611) ausgelösten
                            Streit um die aristotelisch geprägte Metaphysik verwickelt
                        war.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_44_2"><label>weil
                            Critiker, Spötter, Zweifler ihre Menschenrechte hiemit auszuüben
                            vermeinen</label><p>Anspielung auf <ref target="#bs_a_page_16">a16</ref>.<ref target="#bs_a_page_24">24</ref>. Vgl. auch <ref target="#bs_b_page_21">b21</ref>.<ref target="#bs_b_page_26">26</ref>.<ref target="#bs_b_page_63">63</ref>.<ref target="#bs_b_page_119">119</ref>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_44_3"><label>sich
                            auf Vielwissen etwas einzubilden</label><p>Der Topos der (bloßen)
                            Vielwisserei findet sich schon bei Heraklit (6./5. Jh. v. Chr.): „Viel
                            zu wissen, lehrt nicht Verstand“ (DK B40). Während der Renaissance und
                            im Barock galt die Polymathie (<foreign xml:lang="grc">πολυμαθής</foreign>; „vielgelehrt“) gleichwohl als Erkenntnisideal,
                            dem nicht nur Universalgenies wie Leonardo oder Leibniz folgten. – Die
                            Neologen betonen zwar in der Regel den Wert der Gelehrsamkeit, aber doch
                            nur insofern, als es sich bei ihr nicht um leeren Selbstzweck handelt,
                            sondern um ein Mittel, der Welt nützlich zu sein. Vgl. exemplarisch
                            Spalding, Bey der Jubelfeyer des Berlinischen Gymnasiums [1774], in:
                                <hi>Neue Predigten. Zweyter Band</hi> (1784, SpKA II/3), 32–51; v.a.
                            43f. und Nösselt, <hi>Anweisung zur Bildung angehender Theologen</hi>
                                (<hi rend="superscript">1</hi>1786, BdN VI), <ref target="textgrid:3rj88#section_1_4">29–34</ref>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_44_4"><label>Erleuchtung, ein neues Licht, ein heller
                            Schein</label><p>Anspielung auf 2Kor 4,6.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_44_5"><label>sie
                            solten selbst prüfen, <foreign xml:lang="grc">δοκιμαζειν</foreign></label><p>Anspielung auf 1Thess 5,21: „Prüfet [gr.
                                <foreign xml:lang="grc">δοκιμάζετε</foreign>] aber alles und das
                            Gute behaltet.“</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_44_6"><label>nachdenken, <foreign xml:lang="grc">λογιζεσθαι</foreign></label><p>Vgl. 2Kor 10,7.11: „Bedenke [gr.
                                <foreign xml:lang="grc">λογιζέσθω</foreign>]“ usw.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_44_7"><label>immer
                            selbst wachsen in der Gnade und Erkentnis Christi</label><p>Anspielung
                            auf 2Petr 3,18.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_44_8"><label>aus dem
                            Stande der Kindheit fortzurücken, und ein vollkommener Mann zu
                            werden</label><p>Anspielung auf Hebr 5,13f.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_44_9"><label>nicht
                            aller Acker gab denselben Saamen dreißig, sechszig, hundertfältig
                            wieder</label><p>Anspielung auf Mt 13,23 und Mk 4,20.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_44_10"><label>Protestanten sezen das jus circa sacra publica oder multis
                            communia, ausdrüklich über den ganzen Lehrstand</label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_b_10_13"/>.</p></note>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_44_11"><label>Ein
                            jeder lern und thu sein Lection, So wird es wohl in jedem Hause
                            stohn!</label><p>Semler zitiert den von ihm leicht abgewandelten
                            Schlussreim der „Haustafel“, die Luthers <hi>Kleine[m] Katechismus</hi>
                            (1529) angehängt wurde: „Ein jeder lern sein Lection./ So wird es wol im
                            Hause ston“ (BSLK 527).</p></note>
    </div>
    <div type="corrigenda" xml:id="bs_f_corr_2">
      <pb xml:id="bs_f_page_383" type="sp" n="383" edRef="#f"/>
      <head>Drukfehler.</head>
      <p rend="center-aligned">Seite 272 Zeile 5 von unten <ptr type="editorial-commentary" target="#erl_f_corr_1"/>statt <foreign xml:lang="grc">ἐνσαρκος</foreign> lies:<lb/><foreign xml:lang="grc">ἐνσπαρτος</foreign>.</p>
      <note type="editorial-commentary" place="end" xml:id="erl_f_corr_1"><label>statt
                                <foreign xml:lang="grc">ἑνσαρκος</foreign> lies: <foreign xml:lang="grc">ἑνσπαρτος</foreign></label><p>Vgl. <ptr type="page-ref" target="#erl_f_33_3"/>.</p></note>
    </div>
  </div>
</body>