|d[8]| Erster Abschnitt.
Ueber den Begrif der Seligkeit.
§. 1.
So wenig deutliche Sacherklärungen man von dem Begriff der Seligkeit in theologischen Vorträgen antrift, so leicht lassen sich doch aus den ohngefehren Beschreibungen und mancherley uneigentlichen Ausdrücken, welche in Predigten und christlichen Lehrbüchern häufig zur Bezeichnung derselben gebraucht werden, die Vorstellungen samlen, welche die mehresten sich von der Seligkeit bilden. Der allergemeinste Begrif ist wol dieser: daß die Seligkeit ein Zustand einer süßen Ruhe nach dem Tode sey, wo wir frey von allen physischen Uebeln im Zusammenflusse mannigfaltiger äußern, jetzt noch ungedenkbaren Annehmlichkeiten, Gott Ewigkeiten hindurch preisen würden. Uebrigens stellet man sich unter dem Namen des Himmels einen besondern Ort vor, wo diese Annehmlichkeiten uns vorbereitet sind, und schränket die hier genießbare Seligkeit blos auf das Tröstliche, welches die Hofnung zur Seligkeit nach dem Tode darbietet, ein. Wer sich die Seligkeit auf diese Art denket, findet keine Schwierigkeit, ferner anzunehmen, daß Gott den Menschen allerley willkührliche Bedingungen, unter welchen er ihnen die Seligkeit schenken oder sie in den Himmel aufnehmen wolle, vorschreiben könne; und überredet sich leicht, daß in der Lehre Christi wirklich dergleichen angetroffen werden. Wie ausgebreitet aber der Einfluß dieser unrichtigen Begriffe auf die gesamte Anweisung zur Glückseligkeit sey, und wie weit der menschliche |d9| Witz, wenn er einmal etwas willkührliches in der Religion voraussetzet, in abergläubische Erfindungen, sich Gott so gar durch Selbstquälung, angenehmer zu machen, verfallen könne; verdienet in der Geschichte des Christenthums und der Kirche wohl bemerket, und zur Warnung beherziget zu werden.
Eine förmliche Widerlegung und Berichtigung des Irrigen in der angeführten herrschenden
Vorstellung von der Seligkeit ist hier nicht möglich und auch nicht nöthig, da die folgende genauere Entwickelung des wahren Begrifs, Berichtigung und Widerlegung desselben zugleich ist. Allein dieses bitte ich, theureste Amtsbrüder, lassen Sie uns die üblen Folgen der falschen Vorstellungen von der Seligkeit nicht in dem Lehrbegriffe fremder Kirchen allein, sondern ein jeder von uns in seinem eigenen Glaubenssysteme sorgfältig aufsuchen: diese Folgen sind ausgebreiteter und erheblicher, als man es der ersten Hinsicht nach glaubt.
§. 2.
Die Seligkeit ist kein äußerer, sondern ein innerer Zustand der Seele. Sie ist der Zustand einer fortdaurenden Zufriedenheit und des herrschenden Vergnügtseyns unsres Gemüths. Bedarf es noch eines Beweises, daß diese Erklärung den Begrif der Seligkeit erschöpfe? Kan man wol selig seyn, wenn man unzufrieden und mißvergnügt ist? oder kan dem noch etwas zu seiner Seligkeit fehlen, in dessen Seele Heiterkeit, Zufriedenheit und Vergnügen wohnet? Wird nicht alles, wornach wir uns bestreben, nur darum begehrt, weil wir durch Erlangung desselben zufriedner und vergnügter zu werden hoffen? Ich besorge demnach keine Einwendung gegen diese Erklärung, sie wird auch bereits von den mehresten zugestanden; und es komt also nur vornemlich darauf an, weiter zu erforschen, wie Zufriedenheit und Vergnügen in menschlichen Seelen erzeuget, genährt und fortdaurend unterhalten werden können.
§. 3.
Die Zufriedenheit erwächset aus dem Bewußtseyn des Uebergewichts des Guten oder der Vollkommenheiten |d10| unsres gesamten Zustandes über die Uebel und Unvollkommenheiten desselben, besonders in Beziehung auf die Zukunft. Diese Erklärung ist ausnehmend fruchtbar, und verdienet die sorgfältigste Aufmerksamkeit und weitere Entwickelung. Zuvörderst stimmet sie mit dem allgemeinen Sprachgebrauche überein. Man frage einen Mann, der ein Amt bekleidet, ob er mit seiner Lage zufrieden sey? Er wird sogleich die Annehmlichkeiten und die Unannehmlichkeiten seiner Verhältnisse zu berechnen anfangen, und z. B. uns sagen: ich habe zwar viele Arbeit, sie wird mir aber sehr reichlich belohnt; oder, ich habe zwar viele Mühe und Verdruß, auch nur geringe Einnahmen bey meinem jetzigen Amte, dabey aber die sichere Erwartung, durch meinen Fleiß in demselben eine der ansehnlichsten Versorgungen in kurzem zu verdienen, und dieses veranlasset mich, mit meiner Lage zufrieden zu seyn. Hieraus erhellet, daß zum Zufriedenseyn nicht der Inbegrif alles einem Geiste möglichen Guten, sondern nur die Vorstellung von dem Uebergewicht des vorhandenen Guten über die bösen Bestimmungen unsres Zustandes gehöre. Unzufriedenheit entstehet dagegen, wenn wir mehr auf die Unvollkommenheiten unsres Zustandes sehen, und insonderheit, wenn wir schlechte Hofnungen für die Zukunft darinnen wahrnehmen. Hieraus folget nun zunächst, daß es eine wahre, gegründete und eine eitle, vorübergehende Zufriedenheit geben müsse. Unsere Zufriedenheit ist gegründet, wenn in unserm Zustande das Uebergewicht des Guten über das Böse wirklich so und in dem Grade vorhanden ist, wie wir uns solches vorstellen; und sie ist dagegen bloß träumerisch, wenn wir uns übertriebene Begriffe von dem Uebergewichte der Vollkommenheiten unsres Zustandes bilden, und uns mit eitlen Erwartungen in Absicht der Zukunft schmeicheln. Ferner fließet hieraus, daß je mehr das Gute unsres Zustandes die Unvollkommenheiten desselben überwieget, desto größere und reinere Zufriedenheit des Gemüths auf eine gegründete Art statt finden könne; daß sie aber erst alsdann wirklich in uns empfunden werde, |d11| wenn das Uebergewicht des vorhandenen Guten von uns gehörig bemerket und anschauend vorgestellet wird. Daher kommt es, daß viele Menschen in den vortheilhaftesten Umständen, in welche sich tausend andere versetzt zu sehen wünschen, in fortdaurender Unzufriedenheit leben, weil sie entweder das Gute darin zu wenig beahnden und schätzen, oder die kleinern Uebel und Unbequemlichkeiten derselben sich durch Einbildung vergrößern, und dadurch ihre Aussichten in die Zukunft verdunkeln.
Noch weiter in der Zergliederung zu gehen, und zu entwickeln, was an sich und in Beziehung auf den Menschen gut oder böse in den Bestimmungen seines Zustandes sey, erlaubt und erfordert mein Zweck für jetzt nicht; doch rathe ich jungen Gottesgelehrten diese Untersuchung mit Hülfe der metaphysischen Lehrbücher bis zur Erlangung einer vollständigen Deutlichkeit über die verschiedenen Gattungen des Guten und Bösen fortzusetzen. Im folgenden Abschnitte werden jedoch die Hauptgattungen der menschlichen Güter und Uebel angeführet werden.
§. 4.
Aus diesen Betrachtungen folget nun auch, daß man auf eine dreyfache Art Zufriedenheit bey Menschen hervorbringen, unterhalten und verstärken könne.
Erstlich, wenn man thätig das Uebergewicht des Guten in ihrem Zustande zu vermehren und zu erhalten, die Mängel und Uebel desselben aber zu verringern sucht, z. B. in Absicht des äussern Zustandes, wenn man jemand seinen täglichen Unterhalt reicht, oder ihm freye Wohnung giebt, so befördert man offenbar desselben Zufriedenheit.
Zweitens, wenn wir Menschen belehren, wie sie ihren innern und äußern Zustand verbessern können, ihnen dazu Gelegenheit und Veranlassung geben, und sie zur Benutzung derselben aufmuntern. So kan man z. B. einem Menschen, der sich in Verlegenheit befindet, seine verlorne Zufriedenheit durch bloße Rathgebung, wie er sich aus derselben helfen könne, wieder verschaffen.
Drittens, wenn man Unachtsame oder Unzufriedene und Bekümmerte auf das in ihrem Zustande schon vorhan|d12|dene Gute aufmerksam macht, den wahren Werth desselben ins Licht setzet, ihre Aussichten in die Zukunft daraus erheitert, und ihnen den Ungrund ihres Kummers und ihrer Besorgnisse darthut. Dieses ist für Lehrer das fruchtbarste Mittel, Zufriedenheit bey ihrer Gemeine zu befördern.
Die ganze Ausdehnung des Gebrauches dieser Mittel werden wir nur alsdann erst zu übersehen im Stande seyn, wenn wir die Empfänglichkeit und Anlagen des Menschen zur Seligkeit im folgenden Abschnitt entwickelt haben werden.
§. 5.
Das Vergnügen ist nicht so wohl der Gattung als dem Grade nach von der Zufriedenheit unterschieden. Beides sind angenehme Empfindungen der Seele; das Vergnügen aber ist lebhafter und mit merklichern Bewegungen der Lebensgeister im Körper begleitet. Es entstehet aus der anschauenden Vorstellung des Anwachses des Guten oder aus der Empfindung vortheilhafter Veränderungen unsres Zustandes. So sind selbst die Vergnügungen, welche wir durch sinnliche Empfindungen erhalten, nichts anders als klare Vorstellungen von angenehmen Veränderungen des Zustandes unsres Körpers z. B. wenn wir den Hunger stillen, den Durst löschen, unser Ohr durch die Harmonie der Töne angenehm gerühret wird. Eben so verhält es sich mit dem geistigen Vergnügen. Nur die Neuheit der Gegenstände unsrer Vorstellungen bringt die Lebhaftigkeit des angenehmen Zustandes unsres Gemüths hervor, den wir Vergnügen nennen. Ein neuer Anwachs von Erkenntnissen; eine eben verrichtete gute Handlung, welche den Keim neuer Hofnungen enthält; eine neue Entdeckung von der Achtung oder Liebe, welche andre für uns haben, macht uns in hohem Grade vergnügt. Man gebe nur auf sich selbst acht, wenn man sich freuet oder vergnügt wird, ob es nicht allemal aus der Bemerkung irgend einer vortheilhaften Veränderung unsres Zustandes und also des Anwachses der Vollkommenheit desselben entspringt: und ob nicht gegenseitig in allen Fällen, wo wir merkliches Mißvergnügen oder Ver|d13|druß empfinden, die Entdeckung einer schon vorgegangenen oder noch bevorstehenden Verschlimmerung unsres Zustandes die Quelle davon ist. Es kan daher kein Vergnügen bey dem Menschen in einerley Grade der Lebhaftigkeit fortdauren, und was uns anfänglich die gröste Freude verursachet hat, rühret uns in einiger Zeit nur wenig, obgleich der fernere Besitz desselben zu unsrer Zufriedenheit mitwirken wird.
Man prüfe diesen Begrif vom positiven Vergnügen und Mißvergnügen, aus welchem wir nachher sehr praktische Folgerungen ziehen werden, durch Anwendung auf allerley Fälle. Es ist z. B. ein lebhaftes Vergnügen den Hunger zu stillen, so bald wir aber gesättiget sind, höret das Vergnügen auf, und verwandelt sich in bloße Zufriedenheit. Man freuet sich lebhaft, wenn man unerwartet ein ansehnliches Geschenk erhält, oder von einer schmerzhaften Krankheit geneset, aber bald lässet die Lebhaftigkeit der angenehmen Gemüthsbewegungen nach, und wir besitzen nachher das geschenkte Gute, und die wieder erlangte Gesundheit Jahre lang, ohne ein merkliches Vergnügen oder Freude darüber zu empfinden; bis wir eins oder das andere verlieren, da sogleich das Mißvergnügen sich unsrer bemächtiget durch die hervorgebrachte lebhafte Vorstellung, daß unser Zustand verschlimmert worden sey.
§. 6.
Es giebt auch ein wahres und ein falsches Vergnügen, so wie ein gegründetes oder ungegründetes Mißvergnügen, nachdem nemlich unsre Vorstellungen von den guten und üblen Veränderungen unsres Zustandes mit der wahren Beschaffenheit derselben übereinkommen oder nicht. Hiernächst finden unzählige Grade der Größe, so wol in Absicht der Lebhaftigkeit, als der Dauer des Vergnügens und Misvergnügens statt. Die körperlichen oder sinnlichen sind von der kürzesten Dauer, können aber ausnehmend lebhaft werden, so daß sie die Selbstthätigkeit der Seele eine Zeitlang gänzlich einschränken. Die geistigen sind um so dauerhafter, je mehrere und je mannigfaltigere gute Erwartungen daraus entwickelt werden können, und je länger daher die Seele mit Entwickelungen derselben sich beschäftigen, und |d14| neue Aussichten daraus eröfnen kan; und sie sind um so lebhafter, je anschauender die guten Folgen derselben und je mehrere auf einmal sich dem Gemüthe darbieten.
Da alle Schmerzen des Körpers zu dem positiven Mißvergnügen gehören, so bedarf es keines Beweises, daß sinnliche Veränderungen des Körpers einen solchen Grad der Wirksamkeit oder Lebhaftigkeit erhalten können, daß die Seele gezwungen wird, nur diese Veränderungen des Körpers allein zu denken. Es kan, wie die Erfahrung lehret, ein Mensch durch heftige Schmerzen ganz verstandlos und ohnmächtig werden. Angenehme Veränderungen des Körpers sind zwar ihrer Natur nach gemäßigter, doch benimt auch die Empfindung derselben zuweilen der Seele auf kurze Zeit das Bewußtseyn aller übrigen Bestimmungen ihres Zustandes.
§. 7.
Vergnügen kan nun ebenfalls, wie die Zufriedenheit, auf eine dreyfache Art in einem Menschen erwecket werden:
Erstlich, durch jede thätige Mittheilung eines neuen Guten oder durch merkliche Verbesserung des innern oder äußern Zustandes eines Menschen, insonderheit, wenn sie ihm unerwartet ist; desgleichen durch Versprechungen, welche ganz neue Aussichten in eine angenehme Zukunft eröfnen.
Zweitens durch Anweisung und guten Rath, wie jemand sich einen neuen Zuwachs der Vollkommenheit verschaffen könne. Man entdecke z. B. einem arbeitsamen Manne, welcher mit vieler Mühe wenig erwirbt, wie er mit weniger Mühe viel erwerben könne; wie vergnügt wird er darüber seyn, und wie oft wird dieses Vergnügen sich bey jedem merklichen Anwachs seines Wohlstandes erneuern!
Drittens, durch Erweckung der Aufmerksamkeit auf den von jemand nicht beahndeten Anwachs des Guten in seinem Zustande, und durch Aufklärung der guten Folgen, welche er davon zu erwarten berechtiget ist. Es hat z. B. jemand eine edle und großmüthige Handlung verrichtet; ich eröfne ihm, wie sehr er sich dadurch die Achtung und Liebe derer, von welchen sein Glück abhängt, erworben habe, oder wie vortheilhaft überall davon geurtheilt worden sey; so |d15| wird ohnfehlbar ein inniges Vergnügen ihn beleben, und sein Gemüth wird durch eine Menge neuer Hofnungen auf das angenehmste mehrere Tage hindurch beschäftiget werden.
Die Zufriedenheit beruhet mehr auf der Vorstellung von den schon vorhandenen fortdauernden guten Bestimmungen unseres Zustandes, in so fern wir sie als Gründe guter Folgen betrachten; das Vergnügen entspringet dagegen aus der Vorstellung eines neuen Guten oder eines Anwachses der Vollkommenheit, folglich aus den Veränderungen des Zustandes. Hieraus erhellet nun, wie die Mittel Zufriedenheit zu befördern, und die Mittel Vergnügen zu erwecken, theils mit einander übereinkommen, theils von einander verschieden sind. Jedes neue Gute, was dem Menschen zu Theil wird, erweckt bey der ersten Wahrnehmung Vergnügen. Ist nun dieses Gute etwas fortdaurendes, wie z. B. wenn jemand ein Amt bekomt, davon er mit Bequemlichkeit leben kan; so wird dieses auch nachher, wenn die erste lebhafte Freude über die Erlangung desselben vorüber ist, ein Grund der Zufriedenheit bleiben, weil es das Uebergewicht der bleibenden Vollkommenheiten seines Zustandes vermehrt; ist aber das Gute blos vorübergehend, so daß es im ersten Genusse selbst verschwindet, so trägt es nichts zur fortdaurenden Zufriedenheit bey. Z. B. wenn ein Armer nicht mehr empfänget, als sich nur einmal zu sättigen hinlänglich ist, so verlieret sich das Vergnügen mit dem Genusse, und das wiederkehrende Bedürfniß verstattet keine lange Fortdauer der Zufriedenheit.
§. 8.
Nachdem wir aus einander gesetzet haben, worin eigentlich die Zufriedenheit und das Vergnügen im Menschen bestehe, wie sich solche erzeugen, und wie viele Grade bey denselben statt finden können, so wird sich nun der Begrif der Seligkeit selbst mit wenigen Worten deutlicher und bestimter angeben lassen. Niemand wird denjenigen für selig erklären, in dessen Gemüthe Zufriedenheit und Vergnügen seltener, oder nur eben so oft als Unmuth und Mißvergnügen angetroffen werden. Wolten wir aber die Seligkeit blos nach dem höchsten Grade derselben erklären, und darauf einschränken, daß nur blos derjenige selig zu nennen sey, in dessen Seele eine ganz unvermischte reine Zufriedenheit und eine ununterbrochne Reihe des man|d16|nigfaltigsten Vergnügens ohne die geringsten Anwandlungen des Unmuths fortwalteten, so würde die Seligkeit überall kein Loos der Sterblichen seyn. Da aber die heiligen Schriften versichern, daß wahre Christen schon hier selig sind, ob sie gleich eine noch größere Seligkeit erwarten, so müssen wir unsre Erklärung ihrem Sprachgebrauche gemäßer einzurichten versuchen. Es giebt, wie wir schon gezeiget haben, ungemein viele Grade der Zufriedenheit und des Vergnügtseyns, so wol der innern Empfindung als der Fortdauer nach, und daher wird es schwer, genau zu bestimmen, bey welchem Grade man anfangen solle, die niedrigste Staffel der Seligkeit anzusetzen. Wir können aber nun schon so viel sicher behaupten, daß ein Mensch um so seliger sey, je mehr oder je fortdaurender und lebhafter er sich des wachsenden Uebergewichts der Vollkommenheiten seines gesamten Zustandes über die Unvollkommenheiten desselben bewußt ist.
Je mehr der Mensch sich des Uebergewichts des Guten seines Zustandes bewußt ist, desto zufriedner, und je mehr des Anwachses desselben er sich bewußt ist, desto vergnügter ist er.
§. 9.
Diese Erklärung von der Seligkeit ist auf alle endliche Geister, von deren Existenz eine unaufhörliche Folge von Veränderungen des innern und äußern Zustandes nicht abgesondert werden kan, in jeder gedenkbaren Scene ihres Daseyns ohne Ausnahme anzuwenden. Wir lehren nemlich hierdurch vollständig:
- 1. Daß keine gegründete Seligkeit in einem endlichen Geiste statt finden könne, in dessen gesamten Zustande nicht wirklich
- a) ein Uebergewicht des Guten über das Böse,
- b) insonderheit mehr Gründe zu guten als üblen bevorstehenden Veränderungen,
- c) ein Wachsthum der Vollkommenheiten, wodurch die Gründe zu neuen guten Erwartungen zugleich vermehret werden, vorhanden sind. |d17|
- 2. Daß aber die Seligkeit nur alsdann erst wirklich entstehe, wenn wir uns dieser vortheilhaften Beschaffenheit unsres Zustandes bewußt werden: folglich wenn wir
- a) das Uebergewicht der guten Bestimmungen unsres Zustandes anschauend erkennen,
- b) aus den vorhandenen Gründen erfreuliche Hofnungen wirklich herleiten, und klar uns vorstellen,
- c) den Wachsthum unsrer Vollkommenheiten, und die sich uns eröfnenden neuen Aussichten in eine noch bessere Zukunft wirklich bemerken.
- 3. Daß demnach die Grade der Seligkeit bestimt werden
- a) den Gründen nach oder objectiue, theils durch die Größe des Uebergewichts der fortdaurenden Vollkommenheiten unsres Zustandes über die Unvollkommenheiten desselben, theils durch die Menge neuer nach und nach hinzukommender Vollkommenheiten oder angenehmer und vortheilhafter Veränderungen.
- b) der Empfindung nach oder subjectiue, theils durch den Grad der Lebhaftigkeit, womit wir uns das Gute unsres Zustandes vorstellen; theils durch die Fortdauer unsres Bewußtseyns von dem Uebergewichte und Anwachse unsrer Vollkommenheiten; indem unsre Seligkeit jedesmal unterbrochen wird, so oft wir unsre Aufmerksamkeit mehr auf die Schranken und Mängel oder kleineren Verschlimmerungen unsrer Lage, als auf das überwiegende Gute unsres Zustandes und unsrer Hofnungen richten.
§. 10.
Um sich von der Wahrheit und allgemeinen Anwendbarkeit dieser Erklärung: daß die Seligkeit oder Glückseligkeit endlicher Geister in dem Bewußtseyn des Uebergewichtes der Vollkommenheiten ihres Zustandes über die Unvollkommenheiten, mit wahrscheinlicher Hofnung der Fort|d18|dauer und des fernern Anwachses desselben bestehe, noch mehr zu überzeugen, darf man sich nur zuvörderst deutlich machen, daß kein endlicher Geist jemals in einen Zustand, in welchem gar keine Uebel oder Mängel statt fänden, versetzt werden kan. So wol jede einzelne Vollkommenheit eines endlichen Dinges, als auch die Summe des mannigfaltigen Guten, welche es zugleich besitzen kan, ist nothwendig eingeschränkt und endlich. Diese Schranken und Mängel eines höheren Grades der Vollkommenheit sind aber wahre Uebel; und die meisten Uebel, worüber sich Menschen beklagen, sind nichts anders als Mängel höherer Grade des Guten, wovon sie zu wenig zu besitzen glauben. Hieraus erhellet die Wahrheit des ersten Theils unsrer Erklärung, daß zur Seligkeit nicht die Vorstellung von lauter Vollkommenheiten, sondern nur vom Uebergewichte derselben über die Unvollkommenheiten erfordert werde, und daß man, um zufrieden zu seyn, sich nur das Gute seines Zustandes klärer und lebhafter als die Mängel und Uebel desselben vorstellen müsse. Hiernächst versuche man selbst den allerglückseligsten Zustand, in welchen man sich versetzt zu sehen wünschet, völlig auszumalen, und man wird bemerken, daß so bald man denselben als unveränderlich fortdaurend denket, oder auch nur eine gewisse Gleichförmigkeit und Einerleyheit in irgends einer Beziehung annimt, aller Reiz sich verlieret. Wir müssen Gelegenheit haben, uns und unsern Zustand vollkomner zu machen, wenn wir vergnügt seyn sollen. Dies erfordert der Grundtrieb aller selbstthätigen Geschöpfe, deren Existenz durch eine Reihe auf einander folgender Abänderungen ihres innern und äussern Zustandes bestimt wird. Denn selbstthätig leben heißet nichts anders, als zur Verbesserung seines Zustandes wirken. Hierdurch wird die Wahrheit des zweiten Theils unsrer Erklärung, daß ein Bewußtseyn des Anwachses unsrer Vollkommenheiten zur Seligkeit nöthig sey, bestätiget: und daraus folget zugleich, daß es auch in dem allerglückseligsten Zustande eines endlichen Geistes noch immer Bedürfnisse geben müsse, |d19| die unsre Wirksamkeit unterhalten, und dem Grundtriebe aller Selbstthätigkeit, sich vollkomner zu machen, immerfort Nahrung und süße Befriedigung verschaffen. Es ist nun zu zeigen, theils in wie weit überhaupt der Mensch Empfänglichkeit und Anlagen Seligkeit zu erhalten habe, theils in welchem Grade dieselbe im gegenwärtigen Zustande bey uns statt finden könne.
Auch Hindernisse unsrer Bestrebungen nach Vollkommenheit sind dem Wachsthume der Kräfte förderlich, weil ohne solche der volle Gebrauch und die Anstrengung der Kräfte, wodurch sie sich verstärken müssen, nicht gedacht werden kan. In dem glückseligsten Zustande jedes endlichen Geistes sind daher innere und äußere Hindernisse und Widrigkeiten, der Seligkeit unbeschadet, und selbst zur Beförderung derselben anzunehmen: wie solche denn auch aus den physischen Einschränkungen endlicher Geister in jedem Zustande nothwendig folgen. Wenn nur die Aussicht und Hofnung vorhanden ist, sie nach und nach zu besiegen, so schwächen sie die Zufriedenheit nicht, und jeder Triumph über dieselbe bringet das lebhafteste Vergnügen hervor.