Sechster Brief.
Noch einige Gedult, mein Freund! die
bahrdtische Beschuldigung, als wenn das kirchliche Lehrsystem der drey Kirchen,
der Schrift und Vernunft entgegen laufe, zum Unglauben führe – wird auf diese Art, wider mein eigenes Urtheil, wider meine Antwort, recht geflissentlich gerettet. Der Recensent sagt,
„
ich hätte bey der Vertheidigung diese Lehrsätze fast immer in einem gemilderten Sinne, also in einem andern genommen, als in welchem Hr.
D.
Bahrdt sie bestritten habe.“
Sie werden, lieber Freund, zusehen, ob diese
Retirade, die man für
Hrn.
D.
Bahrdt hier öffentlich besorget, in guter Ordnung geschehe? Ich muß wenigstens dahin sehen, daß ich dabey nicht unter die Füsse getreten werde. Zur Noth gesteht der Recensent doch,
„
freylich hätte Herr D.
Bahrdt seinen Tadel in gemässigtern und behutsamern Ausdrücken vorbringen sollen; indes habe er doch offenbar nur immer |d165| auf die härteste und unschicklichste Vorstellungsart der angeschuldeten Lehrgründe, Rücksicht gehabt?“
Ohne Zweifel werden biedermännische Leser von dieser Entschuldigung urtheilen, daß sie wenig edle Aufrichtigkeit und
bonam fidem des Urhebers entdecke. 1) Es ist lange ausgemacht, daß unsern Lehrern es gewis nicht freystehet, noch weniger es geheißen ist, eben die
unschicklichste Vorstellungsart vorzuziehen; daß sie vielmehr einen solchen
Vortrag schaffen müssen, wornach die innere Würde und Wahrheit der Sache von
jetzigen Zuhörern und Lesern eingestanden werden kann und mus; wenn sie nicht wider eigenes Gewissen, die Sache verdrehen wollen. Noch immer mus es
eine aller Annehmung würdige Lehre seyn, daß Jesus Christus
gekommen ist, bisherige Sünder in einen bessern Zustand zu bringen. Wir billigen nicht einmal
Flacianische Beschreibung der
Sünde, wie es bekannt genug ist; und
schon mehrmahlen habe ich
Augustini Stelle (
de catechizandis rudibus) nach dem
Hyperius , wiederholet,
aliter mus ein Lehrer handeln
cum urbanis,
aliter mit
agricolis;
aliter mit Hofleuten,
aliter mit Gelehrten;
aliter mit Lasterhaften; aliter mit ehrbaren Menschen. Selbst in meiner Antwort habe ich
S.
31. die Sache erklärt; und nun erwischt man diese meine ehrliche Anzeige, um Herrn
D.
Bahrdt zu helfen.
Wenn also der Recensent zugiebt, Herr
D.
Bahrdt könne die Wahrheit im
mildern Sin
|d166|ne, mit ehrlichen Grunde,
nicht leugnen, und aber kein Lehrer befehliget ist,
den gröbsten Sinn mit den gröbsten alten Beschreibungen zu behalten, und
dadurch jetzt Anstos zu erwecken; wenn endlich in allen
Lehrbüchern seit den 20–30 letzten Jahren gar keine von solchen
härtesten und
unschicklichsten Vorstellungen vorkommen: so bleibt es ja eine ganz unschickliche Beschuldigung aller drey großen Kirchen in
Teutschland, was
in dem Bekenntnis so unredlich geschrieben wurde. Wie so leicht ist es einem rechtschaffenen Mann, zu sagen, ich habe freylich hieran unrecht gethan! Ist das eine Beschimpfung für Herrn
D.
Bahrdt , oder für den Herausgeber dieses Bekenntnisses? Und ist es ehrlich und würdig gehandelt, in einer Zeit, wo man gleichsam schwärmt oder gaukelt, von lauter neuer Wohlthätigkeit und Glückseligkeit, daß man unsre so guten so ehrlichen Lehrer also beschreibet?
Aber 2) auch dieses näher zu untersuchen,
wo ist denn dieser härteste Sinn oder Unsinn jetzt anzutreffen? In welchen symbolischen Büchern oder ihren Erklärungen? Jetzt will man dem Bekenntnis dadurch helfen, es habe nur auf den
härtesten Sinn, von Erbsünde, Rechtfertigung, Genugthuung
etc.
gesehen – Kann man, ohne sich lächerlich zu machen, sagen, daß dis wirklich der Fall des Bekenntnisses ist? Und hat noch je jemand die öffentliche Religionslehre nach den privat Vorstellungen einzelner einfältiger Menschen, oder schlechter Verfasser, beurtheilet? Alle Leser
|d167| des Bekenntnisses sollen sich hiemit aufdringen lassen, was
der Sinn des Herrn
D.
Bahrdts seye, damit er ja noch könne entschuldiget, ich aber verdammt werden. Es sollen Herrn
Bahrdts unbehutsame Ausdrücke seyn; die Lehrsätze selbst aber sollen stehen bleiben. Gleichwohl redet das Bekenntnis von
den Artickeln selbst, die er glaubet oder
nicht glaubet. Es sind also so viel Kirchen, worinn Prinzen und Personen von erhabenem Rang, von Gelehrsamkeit und alter Frömmigkeit sind, es nicht werth, daß man sagen dürfte, Herr
Bahrdt that in der Sache geradehin zu viel? Jener Recensent vorhin that also auch unrecht, daß er dis
Bekenntnis so beurtheilte; er hätte nur sagen sollen, die
Ausdrücke waren nicht behutsam; Herr
Bahrdt redet wahr genug; denn er redet nur von dem gröbsten Sinn aller drey Partheyen. Nun, wenn solche grosse Kirchen ein mehreres
nicht verlangen dürfen, sondern sich erst hier belehren lassen müssen, das Bekenntnis fehle nur in unbehutsamen
Ausdrücken – so mus ich ja stille schweigen, und mus ja, wider alle Einsicht, glauben, was mir die christliche Religion zu glauben nicht auferlegte; ich mus glauben,
daß ich aus Bosheit, aus
politischen Absichten, oder aus – unrecht gethan habe, durch meine Antwort den Recensenten in eine solche Enge zu treiben. Politisch unrecht habe ich gehandelt, ist völlig wahr; der Recensent aber handelt also politisch recht und klug, und verstehet es, sich in die Zeit zu schicken.
|d168| Nun kommt der Text näher auf mich.
„
Hr.
D.
Semler hätte dergleichen Aeußerungen dem Herrn D.
Bahrdt nicht rügen sollen, da man in seinen Schriften auch dergleichen findet. So heißt es unter andern in der Vorrede des ersten Bandes seiner ascetischen Vorlesungen“ – Hier sind Sie wohl, guter lieber Freund, schon selbst auf dem Wege, mich zu beschützen. 1) Die Angabe oder Thesis ist: in meinen Schriften kämen
eben dergleichen Aeußerungen vor,
Erbsünde, Genugthuung
etc.
seyen wider Schrifft und Vernunft unter die christlichen Lehrsätze aufgenommen worden; seyen Quelle der Sünden und Verachtung der christlichen Religion. Diese,
dergleichen Aeußerungen sollten in meinen Schriften vorkommen? Nun, wenn es wahr wäre, würde ich dennoch nicht selbst es für unbehutsame
Ausdrücke erklären dürfen. Aber ich hatte schon wider Herrn
Basedows arme Urkunde gesagt, sucht ihr bis an den jüngsten Tag! 2) Wenn ich aber auch in der That also gröblich mich an den Lehrsätzen der christlichen Religion vergriffen hätte: würde dis etwas helfen zur Entschuldigung dieses Bekenntnisses?
Sonst war es schlechter Trost,
Socios habuisse malorum[.] 3) Aber gar aus der Vorrede zu
ascetischen Vorlesungen; die ich für meine Zuhörer zu allernächst bestimmt habe, die auch wahrlich
nicht zur Verachtung der Religion dadurch von mir sind verleitet worden! Lesen Sie doch, mein Lieber, meine Worte noch einmal:
[„]den meisten Streitigkeiten in der Formula concordiae gehet es so, |d169| daß man nemlich über die Art und Weise einer Vorstellung so eifersüchtig wurde, als wenn alle Kraft und Wirkung der Sache selbst (diese Partheyen behielten Erbsünde, Bekehrung, Rechtfertigung etc.
) z. E.
im Abendmal an solche einzige Vorstellung und Redensart, von Gott gebunden wäre. Diese Mangelhaftigkeit der Einsicht und eigenmächtige Bestimmung einer einzigen Art der Vorstellung von einer Sache, hat von je her die leichte und unanstößige Ausbreitung und Erfahrung der christlichen Religion gehindert, und noch jetzt ist dieses die vornehmste Ursache von sehr vielem Anstos, der endlich zur Verwerfung der ganzen Sache gereichet, weil es den Schein hat, eine Gesellschaft von Menschen wolle sich das Recht geben, die innern Vorstellungen andrer Menschen unter Vorschriften und gleichförmige Gesetze zu fassen; da doch Gott selbst dergleichen Verschiedenheit der Vorstellungen nicht nur zuläßt und duldet, sondern auch befördert und erhält.“
Ist diese meine so wahre so ernsthafte Aeusserung wirklich
eben dergleichen als das Bekenntnis enthält? Könnten Sie, lieber Freund, und noch etliche Biedermänner
sagen, ja: so wollte ich gern gestehen, ey so habe ich zu stark geschrieben; aber in guten Absichten; denen mein Lebenswandel auch eine Glaublichkeit schaft. Allein nehmen Sie diese Streitigkeiten in
formula concordiae. Sind
tres caussae conuersionis, wie
Melanchthon diese
Lehrart von dieser
Sache,
conuersio, hat, oder nicht? Dis ist die Frage; derjenige Mensch,
|d170| der seine
Bekehrung aus 3
caussis erkläret, hat eben dieselbe
eigene moralische Aenderung erfahren, als derjenige, der diese 3
caussas leugnet; und mit der
Formula concordiae nur 2
caussas vor der Bekehrung ansezt. Diese Zweierley Gelehrten stritten also über
modificationem ihrer Vorstellung, und über Bedeutung des Wortes
caussa. Daher konnte ich ja mit Recht angehende Lehrer warnen, ja nicht auf solche Streitigkeiten selbst zu fallen, und sie für wichtig zur christlichen Erbauung zu halten. Noch dazu ist
in unsern Staaten keine Formula concordiae den Lehrern vorgelegt. Weiter, redete ich etwa hiedurch von der
augspurgischen Confeßion, und andern, allen
lutherischen Lehrern gemeinen Büchern? Gewis nicht; denn nur ein Ungelehrter könnte sagen, es seyen darinn allgemeine Vorschriften über die
einzige Art der Vorstellungen für alle Lehrer und Zuhörer
schon enthalten; und die eigene Vorstellung seye einem privat Christen
genommen und untersagt worden.
Die Ueberschrift des 3ten Theils der
schmalkaldischen Artickel gehört wieder her. Der Lehrer soll bey seinen Zeitgenossen Vorstellungen erwecken, die sie wirklich zu den Ihrigen machen können; wenn sie gleich nicht gelehrt und systematisch denken. Eben darinn, in dieser
eigenen Erkenntnis ist die Zufriedenheit und Verbindung der Lutheraner gegründet; sie können kein anderes
Religionssystem verlangen; und ich, der diesen Sachen doch warlich zugesehen hat, konnte am wenigsten von der Parthey seyn, die es sich zur
Merite ma
|d171|chen will, alle
Religionspartheyen in einer einzigen Lehrform zu vereinigen; ich sehe den innersten Widerspruch, den Widerstand Gottes in seinem Plane. Und nun mus weiter folgen, auch aus Herrn
Bahrdts Bekenntnis kann und soll ein Lehrer alle diese Lehren eben so vortragen, daß die
Zuhörer über Bekehrung, Genugthuung – ferner eigene practische Gedanken bekommen. Ist dis nicht gar lächerlich?
Noch ein Beyspiel, daß ich mir eben solche Beschuldigungen vormals erlaubt hätte, als ich jezt an Herrn Bahrdt tadelte. In dem Versuche einer freien Lehrart, S.
454 – Ich brauche dis nicht abzuschreiben. Genug 1)
der
Recensent ist so
übereilt, daß er des
Richard Baxters Worte nicht einmal unterscheiden konnte. In der That sind es
die Worte dieses Engeländers vor 100 Jahren. 2) Umgekehrt aber ist es ein klarer Beweis von dem
Ungrund solcher Beschuldigungen wider die
protestantischen Kirchen. Wenn schon vor 100 Jahren Gelehrte stets darauf gesehen haben, daß bey uns nicht die
fehlerhafte Erbaulichkeit
einzelner Lehrer, an die Stelle der Lehre ohne solche
individuelle Modification, gesezt werden soll; wenn
sie ganz frey solche Fehler der Einbildungskraft getadelt und widerlegt haben: so ist es doch ganz gewis nicht an dem
, daß wir eine Lehrvorstellung von Genugthuung – forderten,
welche wider Schrift und Vernunft anstiesse. Will wohl jemand lauter neue ganz andre Gesänge schaffen, weil es hie und da schlechte giebt?
|d172| Oder ganz andere Gebete, weil manche schlechte ehedem gedrukt worden? Es ist also
nicht an dem daß in den
libris Symbolicis, eine
harte anstössige Lehre uns
vorgeschrieben seye. Es ist nicht an dem, daß wir die
Worte und Redensarten dieser Bücher jezt behalten und nach lallen müsten die sich doch nur aufs 16te Jahrhundert bezogen haben. Die
Lehrsätze, die
Sachen, gehören zu dem Inhalte der Grundbücher unserer Gesellschaft, wie ich schon gesagt habe; nicht aber
Formalia. Die Frage,
sollte Herr Bahrdt bey seinen Einwendungen gegen die Genugthuungslehre, nicht auch hauptsächlich die so gewöhnliche Entgegensetzung des Vaters und des Sohnes, beym Wercke der Erlösung im Sinn gehabt haben: kann ja niemand besser beantworten, als Herr
D.
Bahrdt selbst; er kann ja allen andern Sinn wiederrufen; aber folglich auch,
daß Gott blos um eines Menschenopfers willen Sünde vergebe, nicht uns als Lehrsaz andichten. Er sagte ja ausdrüklich
S.
22. 23. daß er
die Lehrsätze seiner Kirche hiemit geprüft, und das Resultat der Prüfung hiemit bekannt gemacht habe; soll dis aber ganz was anders heissen, die Entgegensetzung – so hätte er ja
auch ganz anders schreiben müssen.