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|f[1]| 1. Was ist christliche Religion? was ist unter diesem Ausdruck zu verstehen?
So bekannt und geläufig dieser Ausdruck ist, so sehr unbestimmt und ungleich ist doch immer der Begriff, der damit von denen verbunden wird, welche von der christlichen Religion sich diese oder jene Vorstellung machen. Weder alle
Liebhaber oder Theilnemer an christlicher Religion haben einerley Begriff davon, noch alle jene andern Religionsparteyen, welche eine jüdische, muhamedanische,
braminische, – –
natürliche Religion geradehin und immerfort aller christlichen Religion vorziehen. Diese Frage müste also getheilet werden; was begreift die christliche Religion bey denen, welche selbst Liebhaber und Theilnemer sind? und was für Vorstellung und Begriffe haben hingegen alle jene Anhänger an eine Religion, die das |f2| Beiwort christliche nicht hat? Nun müste man weiter fragen, woher kommt der stete Unterschied nicht nur der Anhänger der christlichen Religion von allen andern, die daher Unchristen heissen; sondern auch der so vielen christlichen Parteien selbst, die sich von dem Anfange ihrer neuen besondern Religion an bis hieher, weder in dem Hauptinhalte, noch in der Uebung ihrer christlichen Religion haben vereinigen können, oder vielmehr nicht haben vereinigen wollen? Diese Frage würde nun wieder dieses in sich fassen: ist der erste und fortdauernde Grund dieses Unterschieds der christlichen und unchristlichen Religion in diesen getheilten Menschen selbst, oder ausser ihnen in äusserlichen Umständen, oder in beiden Quellen zugleich zu suchen? Nun müssen wir die Anhänger dieser so verschiedenen Religionsformen selbst zuerst antworten lassen, was sie von dem ersten Ursprunge und Anfange ihrer Religion, in so fern sie eine neue Religion heißt, wissen oder glauben; und nun wird sich zunächst finden, daß überall, oder bey allen Religionsparteien, eine äussere Religion, oder ein bürgerlich festgesetztes Verhältnis öffentlicher oder gemeinschaftlicher feyerlicher Handlungen das neue besondere Band einer jeden Re|f3|ligionspartey ausmacht. Es ist bürgerlich festgesezt, daß es so viel öffentliche Religionsdiener geben soll, deren öffentliche oder feierliche Verrichtungen und Geschäfte einmal wie allemal, ihnen zugetheilt
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und bestimmt sind; Geschäfte, welche sonst niemand verrichten darf, er mag übrigens noch so sehr von der ungezweifelten Wahrheit des Ursprungs dieser gemeinschaftlichen Religion, und von dem Vorzuge dieser also bestimmten Verehrung der Gottheit, sich selbst überzeugt finden. Diese öffentliche Religionsform, woran die gemeinen Mitglieder, die nicht selbst Religionshandlungen verrichten, nur leidender Weise oder durch vorübergehende Subordination an die bestellten Religionsdiener theilnemen, beruhet ganz auf der Einrichtung oder Einwilligung der zusammen gehörigen Gesellschaft, in Absicht der festgesetzten Umstände, unter welchen die Mitglieder die jedesmalige gemeinschaftliche Darstellung und Uebung des Betragens wiederholen, welches sie also zur öffentlichen Verehrung der Gottheit rechnen, daß sie es für eine ihnen unerlaubte oder sündliche Aufführung halten, wenn sie nicht diese kentlichen feierlichen Merkmale ihrer gesellschaftlichen oder brüderlichen Verbindung eben |f4| so gegen andre darlegen, als von andern annemen wollten. Alle feierliche Handlungen, die von den öffentlichen Religionsdienern einmal wie allemal verrichtet werden, beziehen sich auf die erste Historie, auf den ersten Anfang aller Religionsparteyen; und sind in dieser Absicht der stete Grund von der Fortdauer dieser besondern Religionsparteien, die neben der neuen Religionsform auch gemeiniglich einen neuen besondern Staat ausmachen; so klein auch die Bedeutung dieses Namens, neuer Staat, anfänglich seyn mochte, ehe sein Umfang groß genug zu seyn schien, sich aus der bisherigen Stille und Verborgenheit nun öffentlich aufzustellen, und mit dem übrigen grössern Staat entweder sich zu messen, oder in ein solches Verhältnis zu sezen, durch Verträge oder gute Anerbietungen, als man wirklich zu erlangen zur Zeit hoffen konte.
Aber neben dieser öffentlichen Religionsform, welche alle Mitglieder durch ihre Einwilligung in einer besondern Verbindung mit einander erhält, die mit ihrer bürgerlichen Verfassung immer zusammen hängt: gibt es unter allen Religionsparteien auch eine innere oder Privat-Religion vieler ein|f5|zelnen Menschen, die übrigens immer zu der öffentlichen Religionsform, als öffentliche Mitglieder gehören können; wiewol es auch bürgerlich hie und da (leider unter den Christen am wenigsten,) frey stund, seine Gegenwart jener öffentlichen feierlichen Versammlung zu entziehen; wenn nur sonst die bürgerlichen oder gesellschaftlichen Abgaben ferner entrichtet wurden, welche zur Erhaltung der öffentlichen Religionsdiener, oder Gebäude, oder zu andern legitimen Beyträgen, gehörten. In jedem Staat war eine öffentliche Religionsform zunächst zum festern Bande der bürgerlichen Gesellschaft durch Gesetze eingefüret; ohne die freistehende moralische Privat-Religion den einzelnen Mitgliedern der bürgerlichen Gesellschaft hiemit zu untersagen; sie mußten sie nur der öffentlichen Religion nicht entgegen stellen und einen neuen Staat anfangen wollen. Diese Privat-Religion so wol unter den Christen als Unchristen war zu allen Zeiten da, neben der öffentlichen oder gesellschaftlichen Religionsform, aber auch immer eben so verschieden, eben so ungleich als diese; wenn gleich alle Liebhaber und Theilnemer ebenfalls darin übereinkommen, daß sie in ihrem Thun und Lassen der Gottheit ihre Ver|f6|ehrung, ihre Danksagung, ihre Zuversicht, in stillem eignen Bewustseyn beweisen wolten; wie alle Theilnemer an einer öffentlichen Religion es voraussetzten, daß diese feierliche Ordnung der Gottheit mehr gefalle, als wenn sie eine andre Art der Verehrung einfüren wollten. Bey aller öffentlichen Religionsform ist ein besonderer Charakter, der in der wirklichen oder vorausgesetzten Historie einer Nation oder der bürgerlichen Gesellschaft seinen Grund hat, und also gewis nicht zugleich für andere Staaten oder Nationen sich anpassen läßt, so lange diese ihrer ebenfals besondern alten Geschichte den Vorzug noch geben können; oder keine neue Historie erleben, welche ihnen nun wichtiger ist, als die Religionsform, welche sie ehemals vorzogen. Es ist ganz ausgemacht, daß die öffentliche Religionsform nur so lange noch fortgesezt wird, als die Gesellschaft selbst eine solche Einrichtung ihrem übrigen ganzen bürgerlichen Zustande für gemäs und nützlich ansiehet. Denn die öffentliche Religionsverbindung ist geradehin auf einer bürgerlichen Einwilligung gegründet, und sie enthält stets kenntliche Merkmale eben dieser besondern Gesellschaft, welche sich wissentlich zu einer solchen öffentlichen |f7| Religionsform vereiniget. Wie es blos von den äusserlichen localen Umständen einer christlichen Gesellschaft abhängt, ob sie so oder so viel Religionsdiener halten kann und will, ob sie schlechte oder prächtige Religionsgebäude unterhalten kann;
ob sie 2 oder 3mal an Sontagen und Festtagen sich versammeln will; ob alle Sontage, oder alle Monate Abendmal gehalten werden soll: so ist es überhaupt von der ganzen äußerlichen oder öffentlichen Religionsform wahr, daß sie, weil sie local ist und bleibt, nur einen menschlichen, bürgerlichen Ursprung hat und behält. Alle Religionsparteien in alten Zeiten haben zu dem Anfange einer Religionsordnung ein göttliches Ansehen vorausgesetzt; weil man in allen Zeiten und in allen Theilen des Erdbodens, wo Menschen wonten, die Gottheit gleich gut als unsichtbare Ursache neuer großen Begebenheiten nennen konnte; aber die besondere Localität brachte einen steten Unterschied aller Religionsformen mit sich, nach dem steten Unterschied der Völcker, die ihre Gesellschaft nun durch ein gemeinschaftliches Band der Gesammtreligion, oder durch Einheit der Religionsform zu einem festen fortdauernden Ganzen vereinigen wolte. Daher eine feierliche Einheit |f8| der Merkmale eingefürt worden, wodurch die Mitbürger einander als fernere Theilnemer an einer gemeinschaftlichen öffentlichen Verehrung der Gottheit immer erkennen, und sich auf die Wahrheit und Gewißheit bürgerlicher Verträge verlassen könnten. Die nächste Absicht aller öffentlichen Religionsformen war diese bürgerliche Vereinigung und Sicherheit alles bürgerlichen Wohlstandes; wenn man auch von Wohlthaten oder vom Zorn der Götter öffentlich redete, verstund man immer bürgerliches oder häusliches Wohlergehen, das zunemen oder abnemen würde; auf moralische Privat-Religion, in so fern sie auf fortgehender eigener Erkenntnis und ihrer Anwendung beruhet, war die öffentliche oder gemeinschaftliche Religions-Form, welche alle Mitglieder einmal wie allemal zusammen hielte, gar nicht berechnet.
So bekannt es unter den Christen ist, daß die Juden sich von allen andern Nationen so unterschieden, daß diese unter dem allgemeinen Namen Goim (Heiden) begriffen wurden, sie aber sich als ein Volck Gottes mit besonderer stolzer Einbildung ansahen, das allein eine solche Verehrung Gottes |f9| kenne, und durch seine
Priester und Leviten leiste, die allen andern Völkern, zu ihren Nachtheil, unbekannt sey: so ganz ausgemacht ist doch
der allererste Grundsaz der neuen christlichen Religion, daß ein und derselbe Gott aller Menschen und Völker Herr und Vater sey, daß er nicht auf die äusserlichen Umstände sehe, wodurch sich Juden von andern Völkern ganz unmoralisch unterscheiden; sondern das Thun und Lassen der Menschen
nach demnach dem
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Maße ihrer Erkenntnis vom Guten und Bösen beurtheile. In Christo , oder nach der reinen Lehre Christi von dem allgemeinen gleichen Verhältnis Gottes über alle Menschen, war nun der falsche Unterschied, den die Juden zum Vortheil ihrer Nation eingefürt hatten, ganz aufgehoben; Jude,
Hellen,
Skythe,
alle Nationen haben eben so wenig schon einen moralischen Vorzug, als Mann und Frau, Herr und Knecht. Dis wissen wir aus den christlichen Urkunden, welche jetzt das neue Testament oder der neue Bund, die Grundstüze der neuen bessern Verehrung Gottes, heissen, welche nun fast in jedermans Händen sind, und in allen Sprachen gelesen werden können, um einen Inhalt der christlichen öffentlichen oder beson|f10|dern Privat-Religion daraus zusammen zu sezen. Desto sonderbarer und auffallender ist es für uns,
daß schon Tertullian am Ende des 2ten christlichen Jahrhunderts, und nach ihm andere christliche Lehrer, von einer dritten Nation reden; und daß sie die neue Nation der Christen neben Juden und Heyden sezen, daß sie also jenen jüdischen, blos jüdischen Unterschied, nun fortsezen, und Juden, Heiden und Christen neben einander stellen, um alle Menschen unter diese 3 Hauptklassen zu bringen. Da nun Juden und Heiden eine öffentliche National-Religion hatten, welche mit der bürgerlichen Gesellschaft allemal zusammen hing, und blos eine politische Absicht hatte: so legte man eben hiemit den Grund zu einer neuen politischen Gesellschaft, und die ganz andre moralische Natur der christlichen Religion, welche auf alle einzelne Menschen sich bezog, und eine bessere moralische Verehrung des besser erkannten Gottes mit sich brachte, wurde wieder in eine eben so unmoralische blos politische Religion verwandelt. Wenn man diese neue Religion einer dritten, von nun an sich ausbreitenden Nation beschreiben will: so muß man sagen, diese neue christliche Religion begreift |f11| neue historische Grundsätze, welche sich von der politischen Historie der Juden und aller andern Nationen unterscheiden, damit die Menschen durch Vorhaltung grösserer äusserlicher oder sinnlicher Wohlfahrt sich von ihrer bisherigen bürgerlichen Gesellschaft losmachen, und in diese vortheilhaftere Gesellschaft der neuen christlichen Partey sich begeben. Daß dieser Endzweck keinesweges in der Lehre Christi und seiner Apostel gegründet sey: wissen wir so gleich, weil wir die christliche Urkunden oder neuen Bücher selbst lesen und ihren ganz gemeinnützigen Inhalt gewiß genug ausmachen können. Allein eben diese christliche Urkunden waren in den ersten 2 und 3 Jahrhunderten noch nicht in den Händen aller der Menschen, welche zu einer neuen christlichen Religionsgesellschaft eingeladen wurden. Der Inhalt dieser Bücher war daher noch lange nicht überall da bekannt, wo es schon christliche Gesellschaften gab; wir könten uns sonst den erstaunlichen Unterschied der Grundsäze und Meinungen eben so wenig erklären, als den gar schlechten moralischen Zustand so vieler Christen, selbst so vieler Personen, die schon zur Clerisey, oder zu den kirchlichen Obern gehören; welchen schlechten, ganz |f12| unwürdigen Zustand wir doch theils aus den
elenden Schriftstellern, theils aus
den lauten Klagen eines Cyprians ,
Eusebius , (bey der
Verfolgung unter dem Diokletian )
Hieronymus etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
so gewiß kennen, daß die gewönlichen guten Vorurtheile von dem Vorzug der so genannten ersten Christen, uns um so weniger irre machen können, als sie ohnehin nicht eine öffentliche Religionsform betreffen, sondern blos manche einzelne Christen angehen, deren wirklich gute Privat-Religion ihr eigener persönlicher Vorzug ist. Nachdem es wirklich mehr christliche Gesellschaften giebt, welche eben diese Urkunden der neuen Religion bey sich eingefürt haben: so ist dennoch die öffentliche Religionsform dieser Gesellschaften keinesweges Eine und dieselbe, wenn sie gleich nur durch das Beiwort christliche Religions-Ordnung von der jüdischen und allen heidnischen öffentlichen Religionsformen allesamt verschieden sind. Diese Verschiedenheit gleichzeitiger neuen Gesellschaften beruhete zwar häufig auf den sehr ungleichen äusserlichen und localen Umständen: es hatte aber auch die Verschiedenheit der Talente und der eigenen Einsicht der ersten Lehrer, einen fast eben so großen, eben so gewissen Einflus. |f13| Und eben diese innere Ungleichheit der Christen, die eben so wenig von ihnen selbst abhing, als ihre locale Verschiedenheit ihres menschlichen Daseyns, erzeugete unumgänglich eine Privat-Religion zugleich, neben der äußerlichen öffentlichen Religionsordnung, in welche sie selbst mit einander einwilligten. Denn wie alle bürgerlichen Gesetze und öffentliche eingefürte Ordnungen sich nicht auf die innere stets ungleiche Fähigkeiten, Talente, Natur-Gaben oder Anlagen der Mitglieder in der Absicht beziehen, daß alle Bürger nun einander gleich gemacht und alle zu einer einzigen Stufe der Naturgaben erhoben würden, als welches geradehin unmöglich ist, sowohl an sich selbst als auch in Absicht einer gesellschaftlichen Verbindung, welche durchaus schon eine Ungleichheit und Verschiedenheit der sich verbindenden mehreren Mitglieder einschlieset, um durch zusammengesetzte ungleiche Kräfte desto gewisser den Endzweck, grösserer und gewisser Wohlthat, für alle Mitglieder zu erreichen: so hat auch alle öffentliche Religionsordnung, oder alle äusserliche festgesetzte Form eines gemeinschaftlichen Bekenntnisses der christlichen Verehrung Gottes, in einer bürgerlichen Gesellschaft, keines|f14|weges die besondere Privat-Religion aller dazu fähigen Christen aufheben oder vertilgen können und sollen; wenn wir nicht eine rohe Tiranney und Beherrschung des Gewissens, oder der inneren Seelenkraft für die beste Verehrung der unendlichen Gottheit gelten lassen wollen, deren Unmöglichkeit wir doch alle schon eingestehen, wenn wir vernünftige würdige Verehrer des höchsten Wesens seyn wollen. So wenig der Eine Staat für alle andre Staaten, die von ihm nicht abhängen, eine allgemeine Regierungsform festsetzen kann: eben so wenig kann irgend eine christliche Religionspartey einen rechtmäßigen Grund haben, für alle andern christlichen Parteien eine allereinzige gemeinschaftliche öffentliche Religionsform einzufüren; und gar niemalen kan sich irgend ein Regent es vorsezen,
alle Privat-Religion durch eine Vorschrift der öffentlichen gesellschaftlichen Religionsform zu hindern oder abzuschaffen. Es gibt kein bürgerliches Gebot und Verbot über die eigene Grösse und Anwendung des Verstandes und Urtheils; weil es keine menschliche Gewalt und Macht gibt, welche die logischen unbesieglichen Geseze des Verstandes und Urtheils einschränken könnte. Es gab also und gibt noch |f15| immer neben aller äusserlichen Religionsordnung, welche für die Mitglieder einer Parthey auf eine schon bestimmte Zeit gehört, zugleich auch eine besondere Privatreligion, so gar als ausgemachte Pflicht aller fähigen Christen; wenn auch viele andere Christen jenes gemeinschaftliche bürgerliche Bekenntnis für die einzige und beste Verehrung der Gottheit ansahen, in so fern die bestalten öffentlichen Diener der Gesellschaft gewisse feierliche Handlungen verrichteten, bey denen andre Christen als Zuschauer und leidentliche Theilnehmer zugegen zu seyn pflegten. Je mehr eine eigene, tägliche, fortgehende Verehrung Gottes den Christen, welche keine Religionsdiener sind, ganz felet: desto weniger haben sie selbst moralischen eigenen Vortheil von jener fremden feierlichen Beschäftigung; sie sezen blos ihre äusserliche Rechte fort, wonach sie das öffentliche Amt der Religionsdiener in seiner Ordnung einmal wie allemal erwarten, und seine Vollziehung für gerecht und untadelhaft erklären. Hiemit üben sie blos äusserliche gesellschaftliche Rechte aus, wornach sie die Religionsdiener auch wälen, bestallen, oder wieder verabschieden. Diese ganze äusserliche gesellschaftliche Religionsform und gleich|f16|förmige Religionsordnung, ist weder zugleich die beste Privatreligion oder besondere Verehrung Gottes, wie sie allen den so ungleichen Christen zukommen mag, welche Mitglieder der Gesellschaft sind: noch hat sie eine innere Unveränderlichkeit, da sie sich auf den steten innern und äussern Unterschied nach Zeit und Ort beziehet, wodurch die Menschen selbst immer schon von andern unterschieden werden. Es ist also auch die Absicht der öffentlichen Religionslehrer, der Religionsbeschützer, der gemeinen Mitglieder der Religionsgesellschaft, nicht geradehin eine und dieselbe; wenn wir diese Absicht nach dem ersten Anfange, nach dem Fortgange und der Ausbreitung dieser neuen Religion beurtheilen. Selbst der Inhalt der neuen christlichen Urkunden belehret uns von dem grossen Unterschied dieser Absichten; und so weit wir eine Historie der Christen kennen, finden wir die ganz gewissen Folgen der sich ausbreitenden neuen Religion so sehr ungleich und verschieden, daß man gar nicht daran zweifeln kan, welches die wirklichen Absichten der christlichen öffentlichen oder heimlichen Lehrer, der Regenten und Anhänger gewesen seyn. Wenn also gleich immer ein und derselbe Name, christliche Religion, |f17| behalten worden ist, bis auf unsre Zeit: so ist es doch ganz ausgemacht, ganz unumgänglich, daß die unzäligen Millionen Christen, die sich auf dem Erdboden nach und nach ausgebreitet haben, weder einen und denselben Sachinhalt in ihren Vorstellungen, Urtheilen und Neigungen einmal wirklich angenommen und beibehalten haben, noch auch eine solche Einheit und Gleichheit zur Pflicht und zum moralischen Endzweck haben konnten. Blos in äusserlichen Veränderungen und Handlungen kan es ein und dasselbe Maas geben, sie können nach ihrem Anfang, nach ihrer Dauer bestimmt werden; da aber die Verehrung Gottes eine innere moralische Uebung ist, und die Bewegung des Verstandes und Urtheils von gar keiner äusserlichen Gewalt abhängt, so gar von unserm Vorsatz nicht abhängt, sondern unzäliger Modificationen fähig bleibt: so ist es freylich eine gar natürliche Begebenheit, daß die so ungleichen Menschen, welche christliche Grundsäze zur Verehrung Gottes annamen, weder in den Vorstellungen eines und desselben Inhalts noch in den daraus hergeleiteten Urtheilen und in der Anwendung überein kommen konnten. Diese stete unaufhörliche Ungleichheit |f18| und Verschiedenheit ist bei allen Christen, die nicht ganz ein Echo und ein mechanischer Wiederhall todter Töne ihrer Lehrer sind; und sie erstreckt sich auf alle Lehrsätze der Gegenstände, welcher nun christliche heissen. Blos ganz dumme, ganz unfähige Menschen wiederholen alle Worte ihres Lehrers, so lange sie selbst keine eigene Vorstellung ihres Sinns oder Sachinhalts zusammen sezen; in allen fähigern, zum eignen Nachdenken aufgelegten Menschen erzeuget der Unterricht gleichsam einen unsichtbar, unvertilgbar wirkenden Samen, zur eignen Bewegung des Verstandes. Alle diese Ungleichheit und Verschiedenheit der Vorstellungen über die neuen christlichen Gegenstände, verändern nichts in der moralischen Art, oder in der Natur, und in den steten moralischen guten Folgen dieser neuen Vorstellungen; sie unterscheiden nicht nur eine besondere Uebung und Stufe der Gesinnung und Neigung des Christen, von der Uebung und Gesinnung der Juden und Heiden, so weit sie auf einer besondern Historie beruhet; sondern sie verändern auch die vorige innere Gemütsfassung des Menschen, durch die würdigern Begriffe von dem moralischen Verhältnisse Gottes, |f19| daß er nun selbst in unaufhörlicher innerer Verehrung Gottes fortgehet. Diese innere Religion ist für den Christen um seines eigenen moralischen besten Zustandes willen die Hauptsache; ist für ihn ganz frey, und hängt blos von seiner eignen Erkenntnis alles moralisch Guten ab; oder er folgt seinem eigenen Gewissen, in seiner Privatreligion; läßt sich aber alle äusserliche oder öffentliche Religionsordnung gern gefallen, wie sie von der grössern Gesellschaft, oder von der Obrigkeit eingerichtet wird, weil der Endzweck derselben sich auf eine große Menge beziehet, die durch einerley feierliche Merkmale sich als Mitglieder einer localen Gesellschaft immer einander wieder zu erkennen geben wollen, und keinen Grund finden, warum sie zu andern Religionspartheien übergehen sollten. Dis ist wol vorläufig hinlänglich, um auf den steten Unterschied der öffentlichen christlichen Religionsform, die zur äusserlichen Vereinigung einer großen Menge zunächst bestimmt ist, aufmerksam zu machen; da hingegen die Privatreligion der einzeln Christen nur für sie selbst zu ihrem eigenen moralischen Wohlseyn gehöret, und nur durch ihr eigen Gewissen bestimmt wird. Wenn nun viele so genannte Chri|f20|sten selbst keine tägliche immerwärende, innere Verehrung Gottes kennen und bedächtig anwenden, in allem ihren Thun und Lassen: so finden wir daher in allen Religionsparteien so viele Menschen, die einander so gar in allen Lastern, und in allen öffentlichen Bosheiten ganz gleich sind.
Es giebt hie und da sehr nützliche Verzeichnisse öffentlicher Missethäter, die als Mörder, Räuber, geflissentliche Diebe, als Kindermörderinnen, Giftmischer u. s. w.
Abkürzungsauflösung von "u. s. w.": und so weiter
hingerichtet worden sind; z. E.
Abkürzungsauflösung von "z. E.": zum Exempel
Seit 100–150 Jahren, sind in diesen Stadt- oder Amtsgerichten öffentlich am Leben gestraft worden, folgende Personen, männlichen und weiblichen Geschlechts: Zwanzig waren katholischer Religion; 17 waren lutherischer Religion; 11 waren reformirter Religion; 30 waren jüdischer Religion. Muß man nicht durchaus erschrecken, über diese Erscheinung? In allen diesen Religionsformen liegt ein Bekenntnis der Verehrung Gottes zum Grunde; die ersten Grundsätze der neuen Religion der Christen brachten es mit sich, daß kein Christ von nun an als Mörder, Dieb, Ehebrecher, Uebelthäter der bürgerlichen Obrigkeit zur Ausrottung aus der Gesellschaft überliefert werden möge; weil |f21|
der Christ durch neue Erkenntnis gleichsam aus Gott geboren ist, der alle vorigen unordentlichen Lüste und Begierden ein für allemal verabscheuet und nun so in einem neuen Leben wandelt, daß er sein Licht in edlem Thun und Lassen zum Vortheil anderer Menschen leuchten läßt, daß auch diese zu eben solcher Verehrung Gottes gereizet werden, durch das anziehende Beyspiel so würdiger Menschen. Nun wiederhole man diese große Frage, was ist (jetzt, bisher,) die christliche Religion?
2. Wie ist diese so ungleiche christliche Religion entstanden? die als eine neue Art oder Stufe der Verehrung Gottes sich von den damals bekanten öffentlichen Religionsgesellschaften mit Recht unterschied, und nun wieder, neben einer verschiedenen öffentlichen christlichen Religionsordnung, eine immer ungleiche innere Privatreligion mit sich brachte?
Auf die Frage wie – kann man nicht so geradehin antworten. Denn sie betrift zunächst zugleich die äussere und innere Historie, oder neue Geschichte der Christen; und einer neuen Religionsgesellschaft. Von diesem ersten Anfange einer neu|f22|en Religionsgesellschaft, giebt es selbst unter den Christen keine eigentliche zuverläßige Nachricht; sie waren noch nicht öffentliche Gesellschaften, wurden also von Griechen und Römern nicht gelitten; sie hielten sich auch geheim, geraume Zeit. Daher die christlichen von einander noch unabhängigen Gesellschaften, sehr verschiedene Erzählungen, lange Zeit ohne Urkunden, freylich zu ihrer Empfehlung, zusammengesezt und ausgebreitet haben. Es ist aber genug geantwortet, wenn man sagt, die neue Religion der Christen entstund durch die Anname neuer Begriffe und jetziger Urtheile über eine bessere und allgemeinere Verehrung Gottes, als man in der bisherigen öffentlichen Religion der Juden und Heiden antrift. Diese neuen Begriffe und Urtheile von einer bessern würdigern Verehrung Gottes, haben sich zunächst durch die öffentliche Lehre des Jesus als des rechten Messias oder Christus, und nachher durch seine wahren Schüler, Apostel und Jünger, unter Juden und Heiden, immer unter ungleichen Umständen, in ungleichem Inhalte ausgebreitet. Es gab aber schon vorher manche richtigere moralische Begriffe, sowol unter den Juden als auch unter |f23| den Heiden; die Liebhaber und Theilnemer aber hatten sich noch nicht zu einer neuen Gesellschaft öffentlich vereiniget. Unter den Juden selbst kommen
in dem so genannten alten Testament sehr viel wahre Begriffe vor, daß die rechte würdige Verehrung Gottes gar nicht darin bestehe, daß jemand den Priestern und Leviten gewisse Geschäfte, an seiner Statt aufträgt; sondern in der innern Gesinnung aller Menschen selbst, wodurch sie nun ihr Thun und Lassen so gern selbst bestimmen, um den Absichten Gottes gemäs zu leben. In vielen Psalmen und manchen Stellen der so genannten Propheten findet man auch diese moralische eigene Religion. Nun
hatten auch griechische Juden schon vielerley griechische moralische Aufsätze unter ihren Bekannten ausgetheilet; auch von der bald zu hoffenden Ankunft des Messias manche Vorstellungen aufgebracht und ausgebreitet; wie Pharisäer,
Essäer und Sadducäer schon aus griechischer Philosophie von neuen viel genützt hatten zu einer sehr verschiedenen Beurtheilung der alten öffentlichen Religion, unter der alle Parteyen begriffen waren. Diese vorausgehenden Stufen werden auch in manchen Büchern des N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
wieder |f24| angefüret; aber es wird auch gefunden, daß diese neue bessere Einsicht von der Allgemeinheit Gottes und seinen steten Absichten zum moralischen Besten aller Menschen,
ehedem noch ein Mysterium, oder unbekannt, nur sehr wenig bekannt gewesen; von nun aber durch jetzige neue grössere Offenbarung Gottes, (oder durch Belehrung, die Gott unter diesen Menschen beförderte) überall ausgebreitet werden solle, ohne Unterschied der Nation. Diesen Jesus Christus nennen die Apostel und neuen Lehrer ihren einzigen moralischen Herrn, weil, nach ihrer neuen Einsicht, die Menschen nicht mehr unter dem Moses , oder unter den
vielerley Engeln und Geistern stehen, welche die Juden seit der griechischen Uebersezung der so genannten
LXX, über die
Goim, oder Heiden, über die (Heiden) Welt zu sezen, angefangen hatten. Die Christen wissen es nun, daß alle Menschen unter einem Gott stehen, wie die Christen unter Einem Herrn, unter dem rechten Sohn Gottes sind, der alle jene Geister ihres Gebiets über die Menschen entsezt, und die Menschen von aller bisher vorausgesezten Gewalt des Teufels physisch oder moralisch erlöset hat. Diese neuen|f25|bessern Begriffe und Urtheile beziehen sich zunächst auf die vielen Vorurtheile und Meinungen, welche nach und nach unter den Juden, durch Pharisäer und
Rabbinen, und durch griechische, politische auch wohl fanatische Schriften ausgebreitet
worden waren; wozu selbst der Name und die angebliche Bestimmung des Messias zeither schon gemisbraucht worden war. Je mehr diese jüdischen, allerdings jüngeren Vorurtheile oder politische Irrtümer der Rabbinen, erst gesammlet und zusammen gesetzt werden, welches die meisten ältern Ausleger des N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
noch nicht thun konnten: desto gewisser und verständlicher werden nun viele Stellen des neuen Testaments, über deren unrechte Mischung und schon lange fortgehende Wiederholung die fähigern Christen zeither wenig gute Anleitung, also manchen Anstos gehabt haben. Eben diese bessern Einsichten und Urtheile, welche den Anfang einer christlichen Religion ausmachen, hätten unter den nunmerigen Christen als neue itzige christliche Vorstellung und Einsicht fortgesezt und immer mehr als unsre christliche Erkenntnis, befördert werden sollen; dafür aber hat man gar die Christen geradehin angewie|f26|sen, alle jene jüdischen Meinungen und Vorurtheile als aus göttlicher Offenbarung hergekommene Lehren, in ihrem eigenen Gemüte vollständig zu bewaren, selbst zu glauben oder für allgemeine Religionswahrheiten zu halten; welches doch der christlichen neuen Religion ganz entgegen ist, daher auch diese anfangende christliche Religion gar als eine unveränderliche Summe von stillstehenden Kenntnissen endlich angesehen worden ist.
Dieser folglich blos historische Glaube von äusserlichen ehemaligen Wirkungen hat freylich auch die großen neuen Früchte unter den Christen nicht zunächst ausbreiten können, in welchen gleichwohl die christliche Religion bey jedem Christen bestehen sollte, wenn diese neue Verehrung Gottes nach seinem eignen Gewissen eben so in ganz andern äusserlichen Umständen entstehet, wie sie damals entstanden.
3. Wer ist denn, oder wer war dieser Jesus als wahrer rechter Messias im Unterschied der falschen jüdischen Meinung, von einem National-Messias, oder politischen Wohlthäter ihrer Nation?
|f27| Diese Frage ist theils historischen theils moralischen Inhalts; daher denn selbst die sehr ungleichen Anhänger dieses Stifters einer neuen Religion, gar verschieden antworteten; nachdem sie theils diese oder jene Bücher, die zur neuen Religion gehörten, oder die Urkunden ihrer neuen Religion annamen, theils so oder so, selbst gebrauchten und erklärten. So ungleich die neuen Urkunden der christlichen Religion so wol an sich selbst sind, als auch von den Lehrern der christlichen Religion erklärt und verstanden werden: so konnten doch gewis alle Christen aller Zeiten und aller Parteien darin erkennen, daß Jesus , als der rechte Messias und Sohn Gottes, der rechtmäßige, annemungswürdige Stifter ihrer neuen Religion seie; daß Gott durch die Lehre des Jesus eine bessere Erkenntnis und Verehrung des höchsten Wesens aufgestellet habe, als die jüdische und heidnische gewönliche Religion bisher in sich begriff; daß alle Menschen nicht blos eine öffentliche Religion, und bestellete Religionsdiener haben, sondern auch eine eigene moralische Religion selbst immer besser ausüben müssen, nach dem Inhalt ihrer eigenen Erkenntnis des viel grössern und unendlichen Verhält|f28|nisses Gottes; welches moralische Verhältnis Gottes weder in der jüdischen noch heidnischen öffentlichen Religion, so gut und richtig schon enthalten war, als es nun die Grundsätze die Jesus lehrete, wirklich immer mehr entwickeln sollten. Diese Grundsätze stunden theils dem ganzen bisherigen Judentum, theils dem jetzigen Heidentum entgegen und empfahlen freylich eine höhere und reinere Moral, bessere Erkenntnis Gottes, wider alle jene sinnlichen Lüste und Begierden, welche Juden und Heiden mit ihrer öffentlichen Religion immerfort so gar beschützen und vereinigen konten. Noch für sehr wenige Liebhaber war diese moralische innere Religion, die keine äusserliche Revolution versprach schon umständlich oder annemlich; sehr viele Zeitgenossen hingen an einen historischen politischen Messias, der bald eine bürgerliche glückliche Revolution nach ihren sinnlichen Wünschen, bewerkstelligen sollte. Die Briefe Pauli und anderer Apostel lehren und empfehlen die moralische eigene Religion, und lassen den äusserlichen bürgerlichen Zustand aller Menschen das ferner seyn, was er schon war. Aber es waren schon allerley historische Erzälungen von dem, was der Mes|f29|sias zur Vertilgung der Heiden thun werde, ausgebreitet worden nach den Wünschen und Erwartungen der gemeinsten Juden. Wider diese fanatischen falschen Beschreibungen des Messias, wozu man auch schon Stellen der Propheten gemisbraucht hatte, sind die noch übrigen 4 griechischen Evangelia damalen gerichtet, worin die algemeine moralische Bestimmung des Messias der Hauptinhalt ist, der zur Belehrung der damaligen Heiden eine solche Einkleidung bekommen hat, wie sie für diese Zeiten das schicklichste Mittel war, sie endlich zur Veränderung ihrer jüdischen Grundsätze und Vorurtheile und eigener neuen Erkentnis und Ueberzeugung zu bringen
(μετανοειν, πιστευειν.) Aus solchen neuen Urkunden, aus mehrern oder wenigern, haben die Theilnemer an einem Messias ihren neuen Religionsbegriff von Zeit zu Zeit hergeleitet, und sich immer mehr in neue christliche Parteien oder Familien äusserlich getheilet, die daher auch auf diese Frage: wer istJesus Christus ? gar verschiedene Antwort zu geben pflegten; alle aber nur Anhänger einer neuen Religion waren, die von dem Stifter Christus, die christliche Religion heißt; ohne daß alle Parteien eben den|f30|selben Inhalt oder Lehrbegriff der christlichen Religion hatten, der allemal local ist, oder in besonderer Localität ungleich gesammlet wurde.
4. Welches sind denn die neuen Urkunden, oder die neuen Grundbücher der christlichen Religion, durch deren so verschiedene Anname und Erklärung die Christen sich in so viele Parteien immer getheilt haben, da sie nun selbst öffentliche christliche Religionsformen einfürten?
Sie werden unter den Namen neues Testament, oder neuer Bund begriffen; dieser Name bezieht sich auf den alten Bund, oder das alte Testament, welches die öffentlichen Urkunden der jüdischen Religion und ältere Geschichte dieses Volcks begreift. Diese jüdische Religionsordnung
hieß ein Bund, den Gott mit dem Patriarchen Abraham schon gemacht, und nachher durch den Moses noch mehr wider alle andre Religionsformen aller andern Völker, bestätiget habe. Dieses mosaische Gesez, welches die ganze Nation der Juden zusammen hielt, wurde nach und nach von der viel |f31| bessern eigenen innern Religion, wozu weder Tempel noch Priester gehören, immer mehr unterschieden; daher selbst in jenen spätern Schriften der Juden, die hinter den so genannten Büchern Mosis gesammlet wurden, schon von dieser rechten moralischen Religion, oder von dem
bessern Bunde, als der mit den Vätern und Vorfahren des Volks errichtet worden war, gleichsam von weitem Anzeige und Belehrung vorkommt, wornach einst
alle Heiden, alle Völker Gott loben und preisen, und ein reines Opfer bringen möchten in allen Ländern und Inseln; ohne jüdisches Gesez, oder ohne die jüdische Nationalreligion annemen zu müssen.
Diese Prophezeiungen oder Weissagungen reden zuweilen, (können wenigstens so verstanden werden,) von einem besondern Knecht oder Diener Gottes, von einem rechten König, oder Gesalbten Gottes, Messias, durch welchen Gott die Ausbreitung seiner Erkenntnis, und den Wachsthum der moralischen Welt befördern würde; wenn gleich viele zumal griechische Juden in einer engen patriotischen Denkungsart dergleichen Stellen blos von einer politischen Wohlfahrt und Erhebung ihrer Nation durch einen politischen Messias zu verstehen pfleg|f32|ten. In allen Büchern des neuen Testaments werden daher solche ältere jüdische Anzeigen, um dieser Juden willen, welche eine höhere moralische Gesinnung nach und nach annemen solten, häufig eingemischt mit der
Nachricht, daß dieses nun erfüllet seie, oder eintreffe an diesem Jesus als Christus; alle andern schon gewönlichen Erwartungen aber keinen vorzüglichen Grund hätten. Durch solche jetzige neue Urtheile wurden immer mehrere damalige Juden in eigenem Nachdenken, überzeugt; sie verliessen also nach und nach die alten jüdischen Grundsätze, und ergriffen diese neue bessere Religion; freylich noch in sehr ungleichen Stufen; daher auch diese Bücher des N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
einen sehr ungleichen Inhalt haben. Die historische Existenz dieser nun erst anfangenden neuen Religionsgesellschaft der Christen wird durch diese Bücher so beurkundet, daß über diese neue Begebenheit gar kein Zweifel statt finden kann. Es entstehen mehrere neue Religionsgesellschaften im ganzen römischen Reich, und in andern bekannten Ländern; man muste viele Mitglieder nun auch thätig unterstützen, da sie bey den Juden keinen Unterhalt mehr fanden, daher entstund eine gesellschaft|f33|liche Einrichtung, wo es an Verschiedenheit nicht fehlen konnte. Diese Verschiedenheit und Vielheit der neuen Religionsparteien wird durch diese neuen christlichen Schriften selbst immer mehr vergrössert; indem auch aus manchen Gründen oder Absichten, einige Lehrer oder Urheber neuer Gesellschaften so und so viel aus der jüdischen Religion, oder aus anderer Völker Gebrauch oder Cultur, mit in diese Religionsformen einmischten; wie hingegen andre Christen alles jüdische ganz absonderten, durch ihre bessere Erkenntnis; nachher hat man alle neuen Bücher und alle neuen Traditionen zu vereinigen gesucht, um desto mehr eine einige grosse Gesellschaft zu verschaffen.
5. Ist denn ein jedes Buch dieses neuen Testaments dem Inhalte nach den übrigen gleich, daß also eins so gut als das andere eine Urkunde der neuen oder christlichen Religion abgeben kann?
Wenn auf den neuen Grund und Inhalt gesehen wird, wie er dem unmoralischen Juden- und Heidentum entgegen stehet, kan man diese |f34| Frage wirklich bejahen. Denn diese neue Religion hat noch nicht ihre ganze Ausbreitung und bestehet nicht in einer einzigen gleich grossen Summe der neuen Einsichten und Urtheile von einer bessern Gottesverehrung, als bisher die gemeinste jüdische und heidnische Religion enthielt. Die 3 neuen Grundbegriffe der christlichen Religion, die sich auf Vater, Sohn und Geist Gottes beziehen, kommen in allen diesen Büchern vor; aber ohne eine feststehende Bestimmung der Vorstellungen, die dazu gehören. Daher sich eben die Christen am allermeisten über diese 3 Grundbegriffe und ihre Verknüpfung, wenn sie gleich nun zur christlichen Religionssprache, einmal wie allemal gehören, getheilt haben. Das Allgemeine davon könnte wol so angegeben werden. 1) Es ist ein einiger Gott, aller Menschen, sowol Juden als Heiden, gemeinschaftlicher Vater und Oberherr. 2) Es ist kein solcher Messias, wie ihn die Juden beschreiben, zu erwarten. Dem Sohne Gottes muß man ein eben so allgemeines Verhältnis über die ganze unsichtbare moralische Welt beilegen, als das Verhältnis des Vaters ist, daß er aller Heiden moralischer Herr und Wohlthäter |f35| ist. Der Sohn Gottes und Messias, lehrt die allgemeine Gnade und Liebe Gottes zum moralischen Besten aller Menschen; ihr moralischer unglücklicher Zustand mag so oder so von ihm beschrieben werden. 3) Der Geist Gottes wirket nicht blos unter den Juden in ihren Propheten, sondern unter allen Menschen, zur Beförderung der Absichten Gottes in der ganzen moralischen Welt. Da aber diese einzelnen Bücher eine lokale, historische besondere Veranlassung hatten, und ihre erste Leser sich unter sehr ungleichen Umständen befanden: so ist auch der Inhalt und seine Einkleidung in einem verschiedenen Maase, mit damaliger Einschränkung abgefaßt, und nicht in allen gleich viel von dem Sohn und Geist Gottes gesagt worden. Manche Leser oder erste Schüler der neuen Religion hatten schon eine andere Uebung und Vorbereitung, als viele andre noch nicht hatten; zumal durch den Gebrauch der griechischen Uebersezung und anderer moralischen Schriften, die von
alexandrinischen Juden herkommen. Daher selbst die Beschreibungen, die den Sohn Gottes angehen, in diesem N. T. nicht einander gleich sind; wenn in manchen Schriften so gar jüdische Traditionen und Mei|f36|nungen von Engeln vorkommen, ohne hiemit Vorschriften für alle ganz andern Christen zu werden. Der Unterschied zwischen
moralischen Kindern, Unmündigen, oder fleischlichen, sehr unfähigen, sinnlichen Christen, wird selbst in diesen Büchern angezeigt, die
starke Speise, oder allgemeine Begriffe noch nicht alle vertragen können; die von dem Christus noch immer manche äusserliche Revolutionen, oder ein
tausendjähriges Reich auf Erden, erwarten; weil sie unter dem Subjekt, Christus, Sohn Gottes etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
einen kleinern halbjüdischen Begriff hatten etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
6. Da es also ausser diesen Büchern des N. T. damalen noch manche andre Schriften gegeben hat, die schon ihre Liebhaber hatten; als eben diese LXX und so genannte
Apocrypha, oder ihres Inhalts wegen geheim gehaltenen Bücher: aus was für Grunde hat man nun nachher so verschiedene sehr ungleiche Schriften, gleichwohl in ein zusammengehöriges Ganzes vereiniget, und sie unter dem Einen Namen neues Testament allesamt begriffen? Sie gehörten nicht gleich gut für alle Christen, wie moralische Kinder und Er|f37|wachsene oder Männer sehr ungleiche moralische Narung haben müssen?
Dieser Name, neu Testament, als Inbegrif oder Anzal neuer Bücher der Christen, ist wie das Wort Evangelium für Historie Christi in Palästina, ein jüngerer Sprachgebrauch, der unter den Christen aufgekommen ist, da sie schon sich weit ausgebreitet und Kentnis von vielen solchen Büchern hatten. Einen neuen Bund, neue bessere Grundsäze von innerer Verehrung Gottes, ohne mosaisches Gesez, das nur für Juden gehörte, hatte Jesus, als rechter Christus, zu empfehlen angefangen; und durch seinen Tod bestätigt. Nun konte man kein weltlich Reich des Messias weiter erwarten. Diese neuen Grundsäze an sich selbst, ohne die und jene Einkleidung, machten den neuen Bund, oder den Grund einer bessern Religion aus. In allen diesen freylich sehr ungleichen Büchern gehört die Einkleidung oder die Lehrart nicht selbst, einmal für allemal, zu dem Sachinhalte dieser bessern Religion, oder zur Vorschrift einer einzigen Vorstellung; sondern ist eine damalige, vorübergehende Modification des Unterrichts, nach der |f38| ungleichen Fähigkeit dieser Zeitgenossen. Da sie nemlich durch manche Schriften oder Traditionen bisher schon allerley Gedanken und Meinungen angenommen hatten von einer Historie des Messias: so musten die Lehrer der bessern Religion auf diese Denkungsart so weit sehen, um sie, ohne jetzigen Anstos, wirklich auszubessern, das nur moralisch oder durch eigenes Nachdenken dieser Schüler nach und nach erst statt finden und die vorigen Ideen auslöschen sollte. Es waren also diese Aufsäze freylich so ungleichen Inhalts, als die Fähigkeiten der ersten Schüler ungleich waren, für welche sie bestimmt wurden. Diese Schriften waren also auch nicht an mehr als Eine Gesellschaft in Einer Stadt oder Provinz zuerst gerichtet; erst mit der Zeit wurden diese verschiedenen Gesellschaften mit einander bekannt, und fanden also auch andere mehrere neue christliche Schriften oder einzelne Urkunden, die ihnen bisher noch nicht bekannt waren. So wenig Ein gemeinschaftliches Oberhaupt aller dieser erst entstehenden neuen Gesellschaften da war,
wie denn aus der Apostelgeschichte und dem Briefe Pauli an die Christen in Galatien schon die grose erste Theilung ersehen wird, |f39| der Christen aus den Hebräern, und aus den Hellenen: eben so wenig stunden alle diese Christen schon in einer Verbindung, die ja auch, wegen Entfernung der Christen von einander und fortgehender Ausbreitung dieser neuen Grundsäze in mehr Länder eben so wenig möglich war, als wenig eine solche immer nur äusserliche Vereinigung zur eignen bessern und richtigen Religion der einzelnen immer ungleichen Christen, irgend etwas beitragen konnte. Es entstund also erst später im 4ten Jahrhunderte, daß die Vorsteher
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der localen Gesellschaften besonders die Bischöfe, in eine nähere äusserliche Vereinigung traten, und auf eine besondere neue gleichförmige Regierungsart aller Christen dachten, durch eine äusserliche Vereinigung unter sich selbst. Diese
Verbrüderung der Bischöfe gehört blos zu einer äusserlichen Absicht; gar nicht zur vorzüglichen christlichen Religionsform in Absicht aller Christen, oder zu ihrer Privat-Religion. Die Bischöfe tauschten also die bisher einzeln daseienden Urkunden gegen einander ein, und so entstund eine Sammlung aller jener zerstreueten Urkunden,
unter dem Namen Canon; oder ein kirchliches Verzeichnis aller der |f40| Schriften, welche die Bischöfe als rechtmäsige Urkunden der (öffentlichen, gemeinschaftlichen) christlichen Religion von nun an in ihren kirchlichen oder localen Gesellschaften gelten lassen wolten; nur aus solchen Büchern wurden die vorzulesenden Texte durch die Religionsdiener von nun an genommen.
Es wurden daher sehr viel andre bisher freistehende Schriften, allerley Evangelia, Geschichten und Briefe der Apostel, Offenbarungen (Prophezeiungen) von nun an den Kirchenbedienten, oder Clericis, untersagt, und nur unsre 4 Evangelia, Eine Apostelgeschichte des Lucas,
13 oder 14 Briefe Pauli , 7 oder 4 Briefe anderer Apostel, und eine Offenbarung Johannis, zum neuen Testamente, bey der katholischen bischöflichen Partey endlich gerechnet; und hiedurch eine äusserliche Vereinigung der sonst einander noch nicht unterworfenen Kirchen und ihrer Obern, zu Stande gebracht, also der Grund sehr sicher gelegt, zu einer Herrschaft der kirchlichen Obern über die bisher äusserlich noch freien Christen; welches der Grund einer äusserlich sehr gleichförmigen Religionsform worden ist, wodurch die an sich freie christliche Privat-Religion, die auf der eigenen noch so |f41| unterschiedenen Erkenntnis immer beruhet, immer mehr verdunkelt, und selbst das
Wesen der christlichen Religion, die innere heilige Wirksamkeit zur täglichen Besserung und Vollkommenheit der einzelnen Christen, gar sehr unterdrückt worden ist.
7. Haben denn alle diese Bücher bei den Christen einerley Göttlichkeit, oder eine gleiche göttliche Auktorität für alle nachherigen Christen, daß der Inhalt aller dieser Bücher von allen Christen als Theile ihrer eigenen Erkenntnis, einmal wie allemal behalten und unverändert fortgesezt werden muß?
Wenn diese Frage historisch ist, ob die Bischöfe und Lehrer der christlichen öffentlichen Religion dieses bejahet und alle Christen dazu angehalten haben, diesen schlechten Gebrauch dieser Bücher als ihre christliche vornehmste Pflicht anzusehen: so muß man die Frage bejahen. Die Bischöfe haben allen diesen Büchern und ihrem ganzen Inhalte geradehin einerley göttliches Ansehen beigelegt, und allen Christen diesen ganzen Inhalt, so ungleich er ist, als eine von Gott herkommende allgemeine Beleh|f42|rung immer fort zu denken und zu behalten anempfolen; damit sie selbst gar keine neuen christlichen jetzigen Einsichten und Urtheile anfangen solten, als wodurch sie geradehin ewig verdammt würden. Indes, obgleich die meisten Christen sich dieser bischöflichen Kirchenordnung unterworfen haben, da sie noch dazu weder griechisch, noch auch die ältern Uebersezungen verstunden, weil sie eine jüngere Landessprache hatten, also über den Inhalt der Bücher gar nicht selbst in ihren ganz andern Umständen nachdenken konnten: so stunden doch oft einzelne fähigere Lehrer auf, welche diese Last erleichterten. Die Bischöfe hatten die irrige Meinung (wol von griechischen fanatischen Juden) daß jene so genannte LXX Uebersezung aus einer göttlichen Inspiration ihrem Inhalte nach entstanden seie; und
schon Justinus und nach ihm mehrere bis noch auf den Augustinus , glaubten, diese LXX enthielten durch Inspiration ihrer Verfasser den wahren Grund aller christlichen Religion so gar durch solche Stellen, die im Hebräischen Texte gar nicht oder ganz anders stunden.
Daher sich unter den Christen eben diese Meinung auch in Absicht der Bücher desN.
Abkürzungsauflösung von "N.": Neuen
|f43|T.
Abkürzungsauflösung von "T.": Testaments
geradehin ausbreitete; und sich bis kurz vor unserer Zeit bei den meisten Theologis, oder Verfassern theologischer grosser und kleiner Lehrbücher für Kandidaten des Lehramts erhalten hat, daß so gar alle Worte und alle Wortfügungen aus göttlicher Inspiration herkämen, und also einen Stillestand eigener jetzigen Erkentnis mit sich brächten, durch blose Wiederholung alles jenes Inhalts in diesen Büchern. Nun man aber nach und nach die Geschichte des Textes des N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
etwas genauer zu sammeln angefangen hat: so sind wenig christliche Lehrer ferner so unwissend, daß sie Gottes unaufhörliche Wirkung oder Inspiration ferner an jene griechische Worte und ihren dortigen Inhalt fesseln wolten, da diese Worte geradehin allesamt in vielerley Veränderungen und Umtauschungen angetroffen werden, also auch nicht eine feststehende Summe der Gedanken enthalten können. Gottes Wirkung in den Aposteln oder Verfassern dieser Schriften, auf ihren Verstand und Urtheil zu einer neuen Erkenntnis ist uns nun genug. Es behalten aber alle Christen es frey, ihrer eignen Erkenntnis auch hier zu folgen; und die göttliche Auctorität aller dieser Bücher gerade|f44|hin zu behalten; alle Worte für göttlich eingegeben zu halten; so lange sie jene Historie des Textes nicht wissen, oder aber nur auf den Inhalt und Werth der Wahrheiten vornemlich zu sehen, welche in allen Sprachen nun eben dasselbe Verhältnis haben, und die christliche Religion immer über das Juden- und Heidentum erheben, wenn auch nicht aller sogar wörtlich verschiedner Inhalt dieser Bücher zu den Bestandtheilen dieser bessern Religion in Absicht aller und jeder Christen gehören kan.
8. Aber muß denn der Inhalt des Einen Buches mit dem Inhalte aller andern Bücher als ein vollständiges Ganzes zusammen gesezt werden? Haben die Christen würklich in Absicht der christlichen Religion, oder neuen moralischen Verehrung Gottes, vorzüglichen Nutzen davon, wenn sie aus allen diesen Büchern alles zu einem ganzen System oder Lehrbegriff, einmal wie allemal, für sich zusammen sezen?
|f45| Man muß wol den so ungleichen Christen, deren Lehrer sogar ebenfals sehr ungleich waren, es frey lassen, hierüber für sich zu entscheiden, sowol in Ansehung der öffentlichen als der Privat-Religion. Freilich hat Christus selbst nur vornemlich mit Juden zu thun gehabt, und es gab den Unterricht damals noch nicht vor dem Ende der Historie Christi, den die Apostel nachher, ebenfals stufenweise, bekannt machten. Kein Apostel hat die Vorschrift gegeben, daß alle nachherigen Schüler, die keine solche Juden waren, eben so behandelt werden solten als die damaligen Juden. Es waren auch diese vielerley Schriften vom Anfange an, über 300 Jahre lang, nicht alle zusammen gesammlet, daß man aus allen alles hätte zusammen sezen können. Da nun alle Christen ihre eigene Erkenntnis und Glauben an Vater, Sohn und heiligen Geist immer mehr erweitern, nicht aber die Meinung der damaligen Juden schon gar ihrer christlichen Religion einrechnen sollen, die bey den Juden noch gar nicht anzutreffen war: so kann es wenigstens nicht eine allgemeine Vorschrift für alle Christen heissen, wenn auch manche Christen eine solche Mischung jener Erzälungen und Anzeigen, |f46| würklich zum festen Grunde und Inhalte ihrer eigenen jetzigen Religion rechneten. Der Grund der christlichen neuen Religion begreift nicht die jüdischen Meinungen von Engeln, Dämonen,
Schoos Abrahams etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
sondern neue, freie, moralische Wahrheiten, welche Christus freilich im Umgange mit Juden also eingekleidet hat, daß er ihren Eingang bei den Juden nicht selbst erschwerte. Die Absicht aller dieser Bücher war doch wirklich, daß nun neue Gedanken und Urtheile, und eine neue jetzige Erkenntnis immer weiter entstehen sollte, in den Theilnemern an einer neuen moralischen Religion. Diese eigene neue Erkenntnis, wodurch man jetzt selbst ein Christ wird und bleibt, stehet noch nicht in diesen Büchern in einer entschiedenen und ausgemachten Vorschrift oder Verknüpfung da; wenn gleich die damalige Meinungen der Juden, welche Christus oder die Apostel besser belehren wollten, oft vorkommen und gemeldet werden mußten. Die Denkungsart der Juden konnte nicht so gleich in eine neue schon ganz christliche verwandelt werden, weil sie an eine jüdische Farbe gewönet waren; aber es stehet nun bei den Lehrern und Christen, was sie von dieser dama|f47|ligen localen Modification und Lehrart jetzt zur christlichen neuen Erkenntnis rechnen wollen. Es gehet nun nach der Abtheilung
in jener Parabel; ein Acker trägt 10–20, ein andrer 60 fältig; oder die Fähigkeit der neuen Christen ist sehr ungleich; sie müssen wenigstens nicht alle in ein einziges Maas gestellt werden, was ihre Privat-Religion betrifft. Sie mögen diese aus diesen Büchern in freier Wahl und Beurtheilung
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sich gewissenhaft aussuchen; wenn auch die öffentliche gesellschaftliche Religionsübung einer feststehenden Ordnung folget, welche sie in Absicht auf den öffentlichen Gebrauch dieser Bücher, bei einer großen Gesellschaft, so oder so angenommen hat.
9. Warum haben aber die Christen aller Parteien aus allen diesen Büchern für ihre öffentliche Religionsform eine feststehende Summe von Lehrsäzen zusammen getragen, von welcher Summe jede Partey die wahre christliche Religion und die ewige Seligkeit aller Christen oder Menschen abhängen läßt?
|f48| Diese lezte Meinung kan zwar auf dem Gewissen der Lehrer beruhen, und folglich auch die Gewissen solcher Christen verbinden, welche keine andere Einsicht haben. Im Grunde aber haben alle diese so ungleichen Lehrbegriffe nur eine äusserliche Absicht; nemlich die Vereinigung einer großen Menge zu einer besondern christlichen Religionsgesellschaft zu Stande zu bringen, und nun fortzusezen. Die jedesmaligen Urheber einer solchen Religionspartei hatten über diese Bücher oder Urkunden der christlichen Religion nicht einerley Grundsätze, und konnten sie nicht haben; sie waren aber immer die Anfänger einer besondern christlichen Gesellschaft, und sezten also den gemeinschaftlichen Lehrbegriff feste, der ihre Gesellschaft von andern unterschied, und alle ihre Mitglieder immer durch einen gleichförmigen Unterricht in eben dieser Gesellschaft erhielt, und die Mitglieder anderer christlichen öffentlichen Parteien ganz gewis immer absonderte, um äusserlicher Umstände willen, die schon voraus lagen. Es wurde also eine gleichförmige Erklärung und Anwendung dieser Bücher in jeder besondern Gesellschaft eingefüret mit jetziger Einwilligung der Mitglieder; wo|f49|durch diese einmalige Verbindung einer Religionsgesellschaft immer fortgesezt, und die Vermischung mit einer andern Religionspartey oder die tägliche Spaltung und Zerrüttung nun verhütet wurde. Diese allererste äusserliche Absicht der immer neuen Anfänger christlicher Gesellschaften, ist historisch gewis; und diese Vereinigung durch eine gleichförmige öffentliche Lehrordnung war ganz rechtmäßig, da es eine allereinzige allgemeine Lehrordnung weder gab noch geben konnte, die eines göttlichen Ursprungs wegen, oder wegen ausgemachter höchster Vollkommenheit, für alle Christen aller Zeiten schon gehöret hätte. Wenn aber nun Lehrer gar behaupteten, eben diese ihre Lehrartikel in ihrer Religions-Gesellschaft, die sie aus dem N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
gesammlet hatten, enthielten allein und ausschliessungsweise den wahren Grund der christlichen Verehrung Gottes, und der Wohlfart und Seligkeit, welche Christus wider alle blos äusserliche Religionsordnung so deutlich aufgestellet, gelehret und zuerst für Christen möglich gemacht hat: so ist diese Behauptung schon eine kentliche Abweichung von dem unendlichen Grunde und freien Umfange der christlichen Wohlfart, in besserer Erkenntnis |f50| und Verehrung
Editorische Korrektur von: Verehrnng (digital)
des unendlichen Gottes. Denn
die Erkenntnis und Verehrung Gottes im Geist und in der Wahrheit oder die immer vollkommener wird, und stets ohne äusserliche Einschränkung ist, kan von keinen Bischöfen und Lehrern oder Befehlshabern in ein einzelnes Maas gefasset werden, ohne eben diese vollkommnere fortgehende eigene Erkentnis durch menschliches abermaliges Ansehen unrechtmäßig zu hindern, und in einem einzelnen Kreise herum zu schieben, daß also der Christen eigene freie moralische Verschiedenheit geradehin aufgehoben würde. Der Unterricht Christi und der Apostel hatte kein vorausliegendes festgesetztes Maas, sondern wurde nach den Fähigkeiten der Zuhörer eingerichtet, um sie alle, jeden in besonderer Stufe zu der eigenen, gegenwärtigen, und fortwachsenden Religion anzuleiten. Daher ist auch keine Vorschrift, kein Model oder fester Maasstab für alle Lehrer abgegeben worden; weil ihre Zuhörer nicht immer eben dieselben und unter eben denselben Umständen seyn konnten.
Editorische Korrektur von: konnten, (digital)
So bald aber eine grössere Menge von Schülern sich angab, die allesamt zur christlichen Gesellschaft aufgenommen werden wolten: so konnte der Lehrer nicht|f51|mit allen einzelnen handeln; und es entstunden nun Lehrformen, wodurch viele oder alle Schüler als wirkliche Glieder dieser Gesellschaft einander erkennen solten; es blieb aber ihre moralische Ungleichheit, wie sie war, wenn sie nicht gesellschaftliche Zusammenkünfte hatten. Da es nun immer mehr viel so genannte Clericos gab, oder Kandidaten, die in den öffentlichen Lehrstand treten oder öffentliche Religionsdiener werden wollten: so wurden auch den Clericis von den Obern oder Vorstehern, dergleichen Vorschriften ihres öffentlichen Lehramts, das sie für mehrere Mitglieder zugleich öffentlich füreten, gegeben. Wenn diese Christen ihre grössere innere Volkommenheit von eben dieser neuen christlichen Sprache, oder buchstäblichen Lehrartikeln schon erwarteten, ohne eigene fortgehende moralische Uebung und Fertigkeiten: so irrten sie freylich, sogar im Grunde einer eigenen besondern Verehrung Gottes; wenn gleich leider die Clerisey sich durch solche ganz falsche Behauptung immer mehr, nicht als Lehrer, sondern als Gebieter und Befehlshaber geltend machte. Aller Erfolg von solchen Lehrformen war in jeder Partei zunächst nur ein äusserlicher; die Fortse|f52|zung der gemeinschaftlichen Rechte dieser Religionsgesellschaft. Wenn Christen wirklich innerlich bessere Menschen, bessere Verehrer Gottes selbst wurden, so entstund dis durch ihre eigene Uebung, nicht durch die Lehrartikel, wie sie in der kirchlichen Sprache unverändert von allen Mitgliedern gemeinschaftlich, öffentlich wiederholet werden. Alle Lehrartikel, deren Inhalt eine Religionspartey jezt bestimmt und festsezt und bei ihren Lehrern und Mitgliedern öffentlich, gemeinschaftlich darauf hält: haben durchaus nur einen äusserlichen Endzweck; auf den die grössere Gesellschaft freylich bei den versamleten Gliedern halten kann; weil jede äusserliche durch Vertrag errichtete Religionsform, der Maasstab seyn kann, wornach die Gesellschaft ihre Lehrer und Mitglieder beurtheilt, ob sie dem Vertrage noch entsprechen. Ueber die innere Religion aber kan die Gesellschaft nichts verordnen; sie gehört in die unsichtbare moralische Welt, nicht in die bürgerliche.
10. So haben also die so vielen Parteien der Christen lange Zeit die öffentliche gesellschaftliche Religionsform, die von Menschen eine Ordnung bekommt, der fernern gesellschaft|f53|lichen Verbindung wegen gar verwechselt mit der eigenen Privat-Religion aller fähigern Christen, oder aller verständigen Menschen; die eine stets ungleiche Uebung und Fertigkeit mancher einzelnen Christen seyn und immer besser werden kann. Die so sehr ungleichen Folgen der Privat-Religion sind ja nicht schon in der Absicht der öffentlichen Religion enthalten, wenn gleich die Absicht der Lehrformen durch diese Einheit der Lehrordnung einmal wie allemal, gleichsam mechanisch erhalten wird. Denn bey allem gleichförmigen Gebrauche der äusserlichen festen Religionsordnung sind doch die einzelnen Christen einander sehr ungleich in Absicht der eigenen Uebung der ihnen immerfort Tag und Nacht obliegenden eigenen Religion; die öffentliche gesellschaftliche Religionsübung aber ist an eine gewisse Zeit, Ort und Reihe oder Ordnung, in Absicht aller jezt versammleten Christen, gebunden; ohne auf ihre einzelne Privat-Religion in so viel verschiedenen Stufen eben so vorschriftlich schon einzufließen?
|f54| Freilich haben die Obern oder Vorsteher der öffentlichen Religion diese grobe Vermischung meist wissentlich und bedächtig eingefüret, wenn auch viele gemeine einfältige Christen von selbst dahin geraten konten, die Verehrung Gottes in einer festen Gewonheit oder Hof-Ordnung gleichsam und Etiquette, christlicher Gesänge, Gebete, und kirchlicher gemeinschaftlicher Handlungen zu sezen, ohne eigene wachsende Erkentnis über das Algemeine, neben der ersten historischen Kentnis des neuen Inhalts dieser Religion: der sich freilich durch neue Vorstellungen und Urtheile von dem alten Inhalt der vorigen Gedanken von Gott und seiner Verehrung gar sehr unterscheiden muste. Rabbinen und jüdische Religionslehrer hatten bis dahin von ihrem Jehova, von seinem Messias, von dem sie als Juden politische Erhebung über alle Nationen hofften, und von dem Geiste Gottes, der solches Reich des Messias durch die Propheten geweissaget haben solte, sehr geringe, sehr niedrige Vorstellungen ausgebreitet und patriotisch genug unterhalten, die sich nur auf die jüdische Nation, auf ihr heiliges Land, auf Jerusalem, und den Tempel bezogen. Der Stand der grossen jüdischen |f55| Clerisey, die ganze politische Lage des Volks
Editorische Korrektur von: Vokls (digital)
, das unter Heiden lebte, und doch Gottes Volk wäre, war in dieser jüdischen Religion vornemlich berechnet; und der würdige Begriff von der Allgemeinheit Gottes, und seinem gleichen moralischen Verhältnis über alle Menschen, also die unendliche freie Verehrung Gottes, wie sie von einzelnen Menschen privatim geleistet wird, in immer verschiedenen Stufen war ganz verloren oder unbekannt worden, durch Uebertreibung der äusserlichen Religion, welche die ganze Nation, als einen politischen Körper zusammen hielt; ohnerachtet in jenen alten Büchern der Juden von dieser eigenen freien Privat-Religion fähiger Menschen so viel Belehrungen und Beispiele gefunden wurden. Durch die Bischöfe ist eben diese blos politische Beherrschung der Christen wieder so erneuert worden, als sie unter den Juden je gewesen ist; daher auch der reine edle freie Geist der neuen Religion, die doch von einem ganz andern moralischen Christus gestiftet, und worinn der offene Zugang zu Gott ohne Leviten allen Christen gewiesen war, durch die Uebertreibung der kirchlichen Religion, und durch zu grossen Einflus |f56| der Religionsdiener ganz unterdrückt worden. Es giebt aber doch immer fähigere Menschen, die ihre eigene Erkentnis sich selbst nicht untersagen lassen, wornach sie jene Verehrung Gottes im Geiste und in der Wahrheit selbst innerlich unaufhörlich leisten: wenn auch viele andre Christen dazu nicht aufgelegt sind, und nur die öffentliche Religion mit machen. Alles, was die öffentlichen Religionsdiener, oder Kirchendiener, dem ihnen zugetheilten Amte nach, so verrichten, daß die andern Christen diese Handlungen nicht selbst thun können, gehört zur gesellschaftlichen verabredeten Religionsordnung. Wenn in den Christen ein moralischer Nuzen dadurch entstehen sol, so gehören nun ihre eigenen besondern Uebungen noch dazu. Durch jene Beschäftigungen oder Verrichtungen der Religionsdiener allein wird der Mensch noch nicht seiner christlichen Wohlfart schon theilhaftig; noch weniger ist der Erfolg davon in allen Christen eines und desselben Umfanges. Hier haben aber die Bischöfe diese ganz unentberliche freie, ihnen gar nicht unterworfene Privat-Religion, für unnötig, ja gar für unerlaubt erklärt, und haben den feierlichen öffent|f57|lichen Handlungen, die sie selbst immer verrichten, oder durch ihre Unterbediente verrichten lassen, ausschliesender Weise alle Wirkung und Kraft Gottes beigelegt, wodurch alle andre Christen nun ganz gewis schon selig würden. Unfähige, unwissende Kirchenglieder haben dieses leicht und willig geglaubt; wenn man aber dieses geradehin für die wahre christliche Verehrung Gottes halten soll: so wird denen Christen die eigene Erkenntnis und Verehrung Gottes eben so wieder entzogen, und einer menschlichen Autorität einmal für allemal unterworfen, als es durch Rabbinen und Pharisäer geschehen ist; als es aber unter keinem heidnischen Staate in der ganzen Menschenwelt nicht angetroffen wird. Diese Tiranney der Bischöfe
unter dem Namen der allein wahren Kirche ist von allen verständigen Christen jederzeit eingesehen und verabscheuet worden; indem es eine vorsezliche Verleugnung der wahren Grundsäze der christlichen Verehrung des unendlichen Gottes einschliesset. Die unendliche moralische Herrlichkeit Gottes wird durch die wahre christliche Religion zu allernächst, vorzüglich, unmittelbar bejahet und behauptet. Ein solcher Sohn Got|f58|tes und Christus , der selbst es so oft sagt,
daß er Gott unter den Juden verklären, verherrlichen wolle und solle, wider die bisherige jüdische Mikrologie ist eben das unendliche moralische allgemeine Mittel zu dieser immer fortgehenden Erkentnis und bessern Verehrung Gottes. Aber die Bischöfe und Pfaffen haben die christliche Religion, deren Diener sie nur in Absicht der größern immer ungleichen Gesellschaft seyn sollen, um ihrer eignen Ehre und Vorzüge willen gerade in das Hindernis verwandelt: daß diese unendliche grosse Herrlichkeit Gottes ja nicht weiter von den Christen selbst erkant werden dürfe oder könne, als sie selbst es vorschreiben. Diese Uebertreibung der viel kleinern Absicht der gesellschaftlichen öffentlichen Religion, die sich stets auf die daseiende grosse und immer ungleiche Menge der Bürger beziehet, ist für alle billige und unparteiische Beobachter ganz ausgemacht; und kan nicht anders verhütet und gehörig eingeschränkt werden, als durch das wahre rechtmässige
Verhältnis der öffentlichen Religionsordnung; das keinesweges ein und eben dasselbe Maas der Privat-Religion für fähige und unfähige Christen mit sich bringen kan, ohne gar eine noch unerträglichere |f59| Tiranney von Christo und den Aposteln herzuleiten, als sie schon von den damaligen Pfaffen ausgeübet worden. Es muß also die gesellschaftliche Bestimmung der Religionsdiener, nicht auf aller Mitglieder gleiche blos leidentliche Theilnemung ausgedehnet werden; sondern die Talente und Fähigkeiten der privat Christen, oder der Christen, wenn sie ausser dieser gesellschaftlichen Theilnemung an der feierlichen oder gemeinschaftlichen Religionsbeschäftigung privatim Gott verehren, müssen alle ihre rechtmäßige, ihre selbst moralisch-nüzliche Tätigkeit und Wirksamkeit frey behalten; ohne doch durch diese immer ungleiche Privat-Religion das rechtmäßige bürgerliche Verhältnis der öffentlichen gemeinschaftlichen Religionsform jemalen vorsezlich zu stören, denn hier ist ein anderer Endzweck; eine gesellschaftliche Verbindung. Die Privat-Religion hat aber jedes Mitglied, um seines eigenen moralischen Besten willen, unaufhörlich in innerlicher Uebung, ohne andre Mitglieder, ohne Abtheilung der Handlungen und Geschäfte. Es mus immer bei dem grössern Theil der Religionsgesellschaft stehen, ob sie eine Veränderung der öffentlichen Religionsform für gut und nötig |f60| halten kan; sonst wird der Vertrag, den die Gesellschaft sowol mit den Religionsdienern als mit allen ihren Gliedern errichtet hat, täglich von einzelnen Personen zerrissen, und es wird also das Band der Gesellschaft, das eben wider tägliche Zerrüttung und Spaltung geknüpft worden war, immer aufgelöset. Das Gute oder Nötige behält immer seine ungleiche Relation in der Localität; daher sind die so verschiedenen christlichen Religionsparteien in den verschiedenen Staaten, Ländern und Zeiten, worin sich diese Menschen befanden, da sie zur christlichen Gesellschaft gebracht wurden, auf eine unwiderstehliche Weise entstanden. Die Ungleichheit der Menschen in ganz andern Umständen bringt eine Ungleichheit ihrer Gesellschaften, also auch der Religionsgesellschaft mit sich, wobei gleichwol das Prädikat, eine gute nötige Religionsordnung für eine große Menge wirklich statt findet. Diese von Gott selbst herrürende Ungleichheit haben die Päbste und Bischöfe durch ihre neue jüdische Theokratie und Hierarchie, so viel sie konnten, aufgehoben, und für alle Christen auch privatim, eine allereinzige blos äusserliche Religionsform eingefüret mit wissentlicher Unterdrü|f61|kung der freien geistlich eigenen Religion der einzelnen fähigern Menschen; daher sind auch die meisten Kirchenglieder in einem Zustande geblieben, der freilich von Verehrung Gottes immer weit entfernet ist.
11. Da sich aber alle diese verschiedenen christlichen Religionsparteien die wahre christliche Religion ausschliessender Weise durch besondere Lehrartikel beilegen, und sogar einander zur Ehre Gottes – verfluchen und verdammen, oder dafür öffentlich ansehen, daß sie an dem unendlichen Gott und seiner moralischen unermeslich herrlichen Gnade keinen Antheil haben könten: wo ist denn nun die wahre christliche Religion bei so vielerley Religionsformen?
Sie ist durchaus in den Gemütern aller wahren Christen unter allen Parteien. Blos die Vermischung der äusserlichen Religionsordnung, welche freilich in jeder Gesellschaft immer nur eine einzige ist, aber nur durch gesellschaftliche Verabredung, zu gesellschaftlicher Absicht und Verbindung aller dieser Mitglieder eine solche Ordnung |f62| worden ist, mit der innern stets relative wahren christlichen Religion, (welche den Stufen nach immer grössere oder kleinere, also nie eine allereinzige, sondern immer gleiche Fertigkeit und ohne äusserliche Einheit ist,) hat jenen falschen Eifer unter den Christen ausgebreitet und eben so lange unterhalten, als diese Vermischung dauert. Wenn auch der Vorsaz listiger Menschen, den schon die Apostel damalen neben sich fanden, dis politische gemischte Religionssystem erschaffen hat: so haben sie doch ihren Schülern eben diesen Geist des Hasses und Neides unter der Gestalt der wahren Religion mittheilen müssen, um durch einen grossen Haufen, der zu eignen Kentnissen nicht fähig oder geneigt ist, ihren politischen Zweck immer ganz leicht zu erreichen.
Christus hatte sich und das moralische Reich Gottes von allen Königen und Fürsten in äusserlich politischen Staaten, gar sehr unterschieden;
er machte es seinen Schülern zur Pflicht, alles selbst für sich zu prüfen, und
für falschen Propheten sich zu hüten, die immer die wahre Religion vorgeben und ihre eigene Prüfung ausschließen würden. Man würde sagen, hie ist Christus, da ist Christus. Eben
so liessen die Apo|f63|stel alle bürgerliche Obrigkeit, alle äusserliche Ordnung stehen, und drangen sich nirgend auf, um alle Menschen zu Einer und derselbigen christlichen Religion, noch dazu in äusserlicher Form und Vorschrift zu zwingen. Es ist also ganz ausgemacht, daß die Bischöfe nach und nach einen ganz andern neuen Endzweck sich vorgesezt, und durch Einwilligung des Staats, dessen Nuzen sie vorspiegelten, immer mehr erreicht haben: als der große moralische Zweck war, den Christus und die Apostel wirklich allein vor Augen hatten, da sie eine bessere, vollkommnere, eigene Privat-Verehrung Gottes lehreten, welche alle Menschen als Kinder Eines unendlichen Vaters ansiehet, und in der Lehre und Historie Christi den freien unendlichen Grund findet, daß alle Menschen, Juden und Heiden von ihnen dafür angesehen werden müssen, daß sie an der moralischen Gnade und Güte Gottes eben so Antheil haben können, als an den Wohlthaten in der physischen Welt, obgleich immer in eben so ungleichen Stufen und Verhältnissen; daß eben derselbe unendliche Geist Gottes in allen Menschen diesen moralischen guten Zustand, ebenfalls in ungleichem Maase befördern könne; daß |f64| der nun besser erkante Gott keine äusserliche Opfer oder einerley Ceremonien, Sprache und Vorstellung der Menschen, in seiner Verehrung fordere und erwarte; sondern die Menschen sich selbst ihm zu Ehren in grösserer Bedeutung ganz aufopfern, und
einander alle als Brüder ältere oder jüngere lieben können. Wenn man also irgend eine äusserliche Religionsform schon für die allein wahre christliche Religion selbst angiebt, die doch eines jeden Christen besondere Privatübung, und immer ungleiche Fertigkeit erst werden und seyn mus: so begehet man einen groben Irtum, der so gar dem Wesen und dem unendlichen Gegenstande dieser wahren Religion ganz entgegen ist. Die äusserliche Religionsordnung beziehet sich stets auf eine öffentliche versammlete Menge, die in einer einzelnen Zeit, und an Einem Orte, jetzt zusammen kommt, um gemeinschaftliche Handlungen mit einander vorzunemen, welche immerfort feierliche öffentliche Merkmale der allgemeinen christlichen Religion sind. Diese gemeinschaftliche Religionsform macht nun für die Christen selbst keinesweges schon ihre Privat-Religion aus; als welche sie selbst, zu aller Zeit, |f65| in allen ihrem bürgerlichen und Privat Verhalten, jeder in seinem schon daseienden Maase und Unterschied unaufhörlich allein ausüben, ohne daß Religionsdiener nun dazu gehörten, wie zu jenen öffentlichen Geschäften.
Diese eigene Religionsübung kann an ihrer Stelle kein Bischof oder Priester, oder Religionsbedienter vornemen. Denn er ist eben nur zu allen feierlichen und gemeinschaftlichen Religionsgeschäften bestalt, welche kein anderer Christ zu besorgen oder zu leisten hat, da er nicht zum Diener der öffentlichen Religionsordnung bestelt ist. Aber die Privat-Religion gehört durchaus allen Christen, und hat kein vorgeschriebenes Maas; der Christ, Lehrer und Zuhörer übt sie nach seinem eignen Gewissen. Wenn es nun also gleich gar vielerley christliche Religionsgesellschaften und also auch öffentliche Religionsformen gibt, wegen der immer grössern Ausbreitung dieser Religionslehren in so vielen Ländern, die nicht einem einzigen Oberherrn bürgerlich unterworfen sind, wie es schon ehedem Christen gab, die nicht unter das römische, griechische, teutsche Reich gehörten, also gar
Editorische Korrektur von: ar (digital)
nicht einerley Umstände zu Einrichtung einer öffentlichen |f66| christlichen Religionsgesellschaft vor sich fanden: so sind doch diese vielerley Religionsgesellschaften, dem wesentlichen Grunde und Inhalte nach, der dem Juden- und Heidentum sowol als der eigenen moralischen Zerrüttung entgegen stehet, nicht ganz andre oder unchristliche Religionsparteien, sondern alle mit einander bleiben christliche Religionsparteien, die Gott nach der Bibel erkennen und verehren. Es ist vielmehr eben dieselbe neue christliche Religion durch die Ausbreitung unter mehrere Völker und Staaten, die von einander schon verschieden waren, unumgänglich mit einer solchen Ungleichheit und Verschiedenheit der Modification in der Anwendung verbunden, als in der Ungleichheit der schon vorausliegenden menschlichen oder bürgerlichen Gesellschaften angetroffen wird. Die neuen öffentlichen Religionshandlungen sind den vorigen jüdischen und heidnischen Religionshandlungen immer geradehin entgegen gesezt bei allen Parteien. Ausser dieser öffentlichen politischen, oder historischen Wahrheit dieser nun eingefürten christlichen Religion, welche mit der Ungleichheit der jedesmaligen bürgerlichen Verfassung immer zusammen hängt, und daher eine unvermeidliche |f67| Verschiedenheit annimt: kan es nun zu gleicher Zeit, nach der eben so grossen Ungleichheit des moralischen Zustandes dieser bürgerlichen Christen, bei ihnen allen auch eine wahre christliche eigene Privatreligion geben, wenn sie selbst der neuen christlichen Erkentnis, die sie von Vater, Sohn und Geist Gottes sammlen, praktisch ergeben sind. Denn die christliche Religion bestehet für einen jeden Christen in einer solchen thätigen Verehrung Gottes, die seiner christlichen Erkentnis immer gleich ist. Diese Erkentnis aber hat kein Christ auf einmal und unveränderlich schon beisammen, sondern er kan und sol täglich darin wachsen. Dieses ungleiche Maas der eigenen christlichen Religion, kan gar nicht durch die öffentliche gemeinschaftliche Religion vorgeschrieben oder festgesezt werden; weil diese gemeinschaftliche sichtbare Religionsform immer einerley ist, um eben denselbigen localen Zweck, der blos an eine feierliche Zeit und Ordnung gebunden ist, durch die gleiche Verbindung aller dieser Christen, immer wieder zu erhalten. Wie nun die ganze Gesellschaft über die vorzügliche feststehende, öffentliche, äusserliche, sichtbare Religionsform sich wissentlich vereiniget hat, und kein einzelnes Mitglied darin etwas ohne |f68| die andern wieder ändern kan: so ist umgekehrt
Editorische Korrektur von: umgekehr (digital)
die Privat-Religion allen fähigern Christen stets frei; denn die öffentliche Religionsform betrift nur alle feierlichen oder gemeinschaftlichen Religionshandlungen, die zwischen den öffentlichen Religionsdienern und den übrigen Mitgliedern dieser Gesellschaft, einmal wie allemal bestimmt und festgesezt sind. Wenn nun diese Mitglieder ihre eigene Religions-Erkentnis und Uebung zu Hause, oder ausser der Versammlung hintansezten, und jene gemeinschaftliche Religionshandlung dafür ansähen, daß die höchste Stufe der christlichen Verehrung Gottes darin enthalten und von ihnen öffentlich schon geleistet seie: so wäre dieses
der alte jüdische Irtum; dem doch die neue bessere Erkentnis Gottes, die jeder Christ sich selbst schaffen mus, als der wahre Grund einer bessern Verehrung Gottes, entgegen stehet. Es ist also ausser Zweifel, daß alle festgesezte Lehrformen, oder Summen der christlichen öffentlichen Lehre, und der feierlichen Handlungen, wie sie einer ganzen Gesellschaft gehört, niemalen den Grund und Inhalt der christlichen Religion überhaupt ausschliessender Weise begreifen kann; es gäbe |f69| sonst keine christliche Verehrung Gottes ausser den Versammlungen in feierlicher Zeit, sondern daß es immer mehrere Lehrformen und Summen der öffentlichen Religion geben kan, welche alle das Prädikat, christlich, in der That, und mit Recht haben, und bei allen Theilnemern in noch so entlegenen Städten und Ländern, eine wahre christliche Religion, also auch christliche moralische Wolfart, in vielerley Stufen, mit sich bringen können. Die Ungleichheit der Menschen, welche schon vorausgehet und immer fortdauert, bringt eine Ungleichheit in der christlichen sowol öffentlichen als Privat-Religion bei den Menschen, mit sich. Da nun weder Christus noch ein Apostel ein allgemeines Maas der christlichen Religion für alle Christen festgesetzt und vorgeschrieben hat, theils weil sie nicht Monarchen über alle Menschen und bürgerliche Gesellschaften waren, theils weil dieses in sich selbst unmöglich ist, wenn die Verehrung Gottes eine moralische Natur behalten und der Theilung und Verschiedenheit der Menschen angemessen seyn soll: so kan es auch hinter
Editorische Korrektur von: hiuter (digital)
und nach den Aposteln keine solche allgemeine allereinzige Religionsform für alle Christen geben, welche alle |f70| andern christlichen Religionsformen nun für ganz falsche unwahre christliche Religionsformen erklärte. Unter allem Volk, wer recht thut, oder seiner Erkentnis
Editorische Korrektur von: Erentnis (digital)
von Gott ehrlich folget, ist Gott angenem:
muste auch Petrus endlich lernen und einsehen. Die immer grössere Vielheit und Ungleichheit der Menschen, die nun Christen werden, blos äusserliche oder auch innerliche, macht es unmöglich, daß sie über den Begriff und das Verhältnis Gottes, Christi , des Geistes Gottes etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
über allen wirklich neuen Inhalt des neuen Testamentes eine und dieselbe Summe von Vorstellungen und Urtheilen annemen und immer behalten solten. Zu irgend einer einzigen Stufe christlicher eigenen moralischen Besserung und Wohlfart, ist auch dergleichen völlige Einheit einer Religionsform gar nicht nötig; zu einer und derselben Stufe eigener christlicher Religion sind alle jene so ungleichen Menschen von dem unendlichen Gott nicht berufen oder verpflichtet. Die Bischöfe haben also sehr unrecht die wahre christliche Religion nur an ihre katholische Partei gebunden. Wenn der Zahl nach mehrere Christen eine einzige Religionsordnung bei sich einfürten, so war diese stets äusserliche
Editorische Korrektur von: änsserliche (digital)
Ein|f71|heit durch ihre Verabredung und Einwilligung, ganz recht, um ihrer gesellschaftlichen Verbindung willen, entstanden; und der Zweck hievon war eben diese äusserliche genauere Verbindung, die nun zum Unterschied von andern christlichen Familien auch immer äusserlich, zu äusserlichen Endzwecken
Editorische Korrektur von: Endzwe- ken (digital)
fortgesezt werden solte. Wenn nun auch die Lehrer oder Vorsteher dieser Gesellschaft gar behaupten, sie hätten ganz allein die wahre christliche Religion in ihrer Partey, und also auch ganz allein das Recht, eine ewige Seligkeit von Gott zu erwarten; alle andern Menschen aber, auch alle andern christlichen Familien oder Parteien, hätten keine wahre christliche Religion, keinen Anspruch an Gottes moralische Liebe und Gnade; so ist diese Behauptung weiter nichts als eine sehr rohe ganz unmoralische Anmasung, an welche verständige Menschen und Christen sich gar nicht kehren. Es ist dis ein so grober Irtum, eine so grobe Unwissenheit der allerersten christlichen Grundsäze, daß solcher Christen so unrichtige Meinung von der Verehrung des unendlichen Gottes gar keine moralische Empfehlung haben kan. Wenn sie aber gar andre Christen zu eben dieser Religionsform mit äus|f72|serlicher Gewalt zwingen wollen; weil es hiezu moralische Gründe für die andern Christen, als ihren eigennützigen Absichten hinderlich, gar nicht geben kan: so beweisen sie, daß sie selbst die wahre geistliche oder vollkommnere Verehrung Gottes, wissentlich verleugnen, und unterdrücken wollen.
12. Kan es also wahre christliche Religion oder habituelle reine Verehrung Gottes, den die Christen aus dem N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
sich anschreiben, bey einzelnen Christen geben, wenn diese gleich nicht eben dieselbe Lehrformen, in so und so bestimmten Artikeln haben, die bey einzelnen Religionsparteien unter den Christen eingefürt worden sind, zu ihrer gesellschaftlichen Verbindung? Kan es also unter den so verschiedenen Parteien, die durch öffentliche Lehrformeln sich bedächtig bürgerlich unterscheiden, wahre christliche Religion, und also christliche moralische Wohlfart geben, wenn gleich jene äusserliche verschiedene Religionsform ferner die Christen äusserlich in besondere Gesellschaften theilet?
|f73| Hieran werden wol verständige, unparteiische wahre Christen nicht zweifeln, wenn gleich die grosse katholische Kirche es durchaus nicht eingestund, sondern allen so genannten Ketzern, oder nicht in ihre gesellschaftliche Verbindung gehörigen Christen, die wahre christliche Religion und christliche Wohlfart abzusprechen,
sogar zum Kirchengesez gemacht hat. Dieses bischöfliche, päbstliche Gesez ist der Grund einer neuen kirchlichen Monarchie und Tiranney; es ist der allgemeine Gift, wovon die wahre christliche Religion, die in allen Christen so frey ist, als die gesellschaftliche Ordnung mit Recht vorgeschrieben wird, nach und nach fast ganz ausgestorben ist. Es ist gleichwol die neue eigene gewisse Erkentnis, daß Gott aller Menschen gnädiger und heiliger, unendlicher Gott ist, und nur auf Thun und Lassen der Menschen siehet, so weit sie das Gute erkennen, der neue Grund einer solchen vollkommnen Verehrung Gottes. Dis ist die wirkliche wahre Offenbarung der Herrlichkeit Gottes, der moralischen Gnade und Liebe Gottes, worin das christlich erkannte allgemeine Reich Gottes bestehet. Alle Heiden können ohne jüdisches geschriebenes Gesez, dessen |f74| Modifikation diese Allgemeinheit aufhub, durch
das Gesez, das Gott ebenfals gleichsam selbst in ihre Herzen schreibt, wie ehedem in Moses Tafeln, das Gute erkennen, und ihn zu ehren, in der und jener Stufe zu leisten sich bestreben. Die ganze christliche Religion beruhet wirklich auf dieser nun erkannten und wider das Judentum geretteten Wahrheiten der moralischen Würde Gottes. Der Sohn Gottes selbst hat diese grössere Erkentnis angefangen, oder
das jüdische kleinere Gesez erfüllet, die der Inhalt der Verehrung Gottes völliger, grösser, gelehret, als der Buchstabe Mosis enthielt; und nun wird auch
der falsche Begriff der Juden von einem Sohn Gottes moralisch aufgehoben. Nun finden die Menschen auch
eine andere vollkommnere Beschneidung; eine
Verehrung Gottes im Geist und Wahrheit; wozu weder Jerusalem, noch der
Tempel in Samaria, weder Priester noch Leviten, keine
Opfer und äusserliche Reinigung weiter gehören. Diese eigene moralische Religion ist ganz frey, entstehet durch stete
Anwendung des ganzen Gemüts und aller Seelenkräfte des Menschen; und diese eigene Uebung und Fertigkeit bekomt keine abermalige|f75|Vorschrift von Bischöfen oder Kirchendienern, wird auch von ihnen nicht statt andrer Menschen geleistet; ist daher immer und stets ungleich; kan gar nicht, ohne Irtum, in einem einzigen Maase angesezt oder vorgeschrieben werden. Weil aber der äusserliche erste Unterricht von der christlichen Religion, zunächst historisch ist, und auf die äusserliche gesellschaftliche Religion gehet, wozu die öffentlichen Religionsdiener in Absicht der mit dem Unterricht verbundenen feierlichen Handlungen bestellt sind: so gibt es eine Lehrart oder Lehrsumme zur Vereinigung der Mitglieder der einzelnen Christen oder Glieder. Die nächste Absicht dieser Gleichförmigkeit, ist nicht, die innere eigene praktische Religion in eine und dieselbe Einheit zu fassen: sondern ist allemal, diese Gesellschaft durch neue Mitglieder zu vermehren, und die kirchliche oder bürgerliche Fortdauer ihres gesellschaftlichen Verhältnisses, gegen andre Mitglieder kentlich an den Tag zu legen. Dis ist ganz gewis die erste und nächste Absicht aller der Handlungen, wozu Religionsdiener bestellt und angenommen worden. Sie sollen den öffentlichen Lehrunterricht zur Vereinigung aller Mitglieder besorgen, wie sie die |f76| feierlichen Handlungen in dieser Religionsgesellschaft einmal wie allemal verrichten soll. Diese Beschäftigung ist ihnen durch eine Vorschrift oder Kirchenordnung aufgetragen. Diese Vorschrift hat zum Zweck, eben diese Religionsgesellschaft als solche kentlich, sichtbar fortzusezen; deren Mitglieder durch einerley öffentliche Religionsordnung sich gegen einander ferner als Mitglieder öffentlich zu erkennen geben. Wenn nun aber neben und mit dieser öffentlichen Religionsordnung, (die sehr gleichförmig ist, um eben denselben öffentlichen äusserlichen Endzweck immer gewis und kentlich zu erreichen,) in diesen Mitgliedern auch noch eigene innere Bewegung ihres Verstandes, Urteils und ihrer Neigung gegen Gott und Christum
Editorische Korrektur von: Christnm (digital)
, und Geist Gottes, entstehen: so gehören diese innern Bewegungen nicht zu der öffentlichen gemeinschaftlichen Religion; sie haben auch keine Einförmigkeit oder ein vorgeschriebenes Maas, wie es für eine Menge und Vielheit eins gibt; sondern sind und bleiben ganz frey, immer ungleich nach der Ungleichheit und Unabhängigkeit der eignen Seelenkräfte der Christen; sie befördern aber in allen Christen eine neue moralische Fertigkeit, Gott |f77| immer mehr thätig zu verehren. Blos in dieser eigenen Privat-Religion entstehet und bestehet die moralische Wolfart der einzelnen Christen, die freilich auch die öffentliche Wolfart der ganzen Religionsgesellschaft ihres Theils gern befördern, wenigstens niemalen vorsezlich hindern; weil ihre eigene moralische Wolfart durch die gemeinschaftliche öffentliche Religionsordnung, welche die Lehrer mit den übrigen Mitgliedern einmal wie allemal äusserlich verbindet, gar nicht gestöret wird. Wenn also dieser ganz ausgemachte Unterschied, das sehr verschiedne Verhältnis und der sehr ungleiche Endzweck der gemeinschaftlichen Religionsübung, (die blos in gleicher Fortsezung der feierlichen Theilnemung an der Religionsgesellschaft bestehet, und an einzeln Zeiten und vorübergehenden Versammlungen gebunden ist,) wirklich eingesehen und vor Augen behalten wird: so kan die bisherige Vermischung der freien Privat-Religion, welche immerfort eine Ungleichheit der eignen Erkenntnis und ihrer Anwendung zu innerer moralischen Veränderung voraussezt und erfodert, wol nicht ferner also Statt finden: daß die öffentlichen christlichen Religionsgesellschaf|f78|ten diese Verschiedenheit ihrer öffentlichen Lehrartikel und der gesellschaftlichen Religionsformen, (die allemal nur auf die äusserliche Fortsezung der angefangenen Religionsgesellschaft gehet) ferner dafür ansehen, daß die praktische christliche Religion mit allen ihren moralischen neuen Folgen, allen andern Gesellschaften darum fele, dieweil sie nicht eben dieselben Lehrformeln und eben dieselbe äusserliche Ordnung und Form der feierlichen feststehenden Merkmale einer Religionsgesellschaft angenommen haben. Denn die eigene praktische Religion der einzelnen Christen kann durchaus nicht einerley Maas und Summe haben, weil die christliche Privat Verehrung Gottes eine moralische Fertigkeit aller Christen ist, die an keine Zeit, an keinen Ort, an keine locale Ordnung anderer Mitchristen gebunden seyn kann. Der einzelne Christ kann seine innere Verehrung Gottes, den er christlich immer mehr zu erkennen sucht, zu seiner eigenen moralischen Wohlfart, im ganzen völligen Gebrauch aller seiner Seelenkräfte ausüben; sein eigen Gewissen, seine eigene Erfarung regirt diese Privat-Religion, ohne auf den Sontag und Festtag, oder auf eine grosse und kleine |f79| Versammlung mehrerer Mitglieder der öffentlichen Religionsgesellschaft zu warten; wie er selbst und sonst niemand für ihn, weder Prediger noch Gesellschafter, unaufhörlich Gott anbetet, lobet und preiset, Gott täglich in allen Umständen frey und unabhängig vertrauet, und hiezu an keine öffentliche Vorschrift, oder an keine Formel eines Hymnus oder Gebetes schon gebunden ist; als welche durchaus allemal sich auf eine Versammlung vieler Christen beziehet, deren Vielheit durch diese Ordnung, auf etliche Zeit an einem und demselben Versammlungsorte, zu einer Gleichförmigkeit ihres gemeinschaftlichen Betens, Singens, Zuhörens, oder ihrer Theilnemung an einer Taufhandlung, am Abendmal etc. vereiniget seyn muste, wenn nicht ein jeder etwas anders singen, beten, kurz etwas nur wider diese Feierlichkeit vornemen, und also alle einander stören solten. Es ist und bleibt ein grober Irtum, wenn man die Absicht und die äusserlichen Folgen einer Religionsordnung so verkennet oder übertreibet, daß die moralischen christlichen Fertigkeiten an irgend eine solche äusserliche Religionsform ein für allemal von Gott durch die neuen Grundsäze der christlichen Religion |f80| gebunden seien. Es ist eine fast wissentliche Verunehrung und Verleugnung des unendlichen herrlichen und moralisch wirkenden Gottes. Protestanten können am wenigsten eine solche sichtbare Pfafferey stehen lassen, die gerade durch
eine Nachahmung der ehemaligen politischen römischen Regierung über den großen Staat, entstanden ist.
Es verhält sich eben so mit der andern, oder anders ausgedrückten Frage. Es mögen noch so viel einzelne Parteien sich in die neu entstehende christliche Religion theilen durch eine Ungleichheit der Lehrartikel von Vater, Sohn, heiligen Geist; von Christo , von Taufe, Abendmal etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
so haben sie doch alle mehr oder weniger Antheil an der christlichen Religion, wie sie der jüdischen und heidnischen entgegen stehet.
Wenn Paulus sich über jene Spaltung zu Corinth so deutlich heraus läßt, da einige als
Anhänger des Petrus , des Apollos etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
sich vorzüglich geltend machen wolten, daß er keinesweges diese Ungleichheit selbst für moralisch unrecht erkläret, sondern als unvermeidlichen Erfolg durch die ungleichen Religionslehrer ansiehet, es geradehin als absurd ansiehet, |f81| daß eine Partey um ihres Lehrers willen, der nicht zugleich an mehrern Orten, Lehrer seyn kann, sich für viel bessere Christen halten will, als andre Christen nun wären: so hat gleichwol die bischöfliche Auslegung dieses so klare Urteil Pauli völlig umgekehrt erklärt, als solle es gar keine Ungleichheit der neuen Religionsgesellschaften neben einander geben. Ist etwa Christus , die christliche Religion und neue Verehrung Gottes, durch den Petrus , Apollos, Paulus in grössere und kleinere Theile abgesondert und nur zum Schaden der andern unrecht getheilet worden? Alle christliche Lehrer sind
Arbeiter an demselben neuen Anbau, den Gott angefangen hat, und aller moralische gute Erfolg entstehet weder durch den Petrus noch durch den Apollos, sondern durch den ungehinderten Einflus Gottes, den die Christen nun alle besser erkennen, und nach ihrer Erkentnis verehren. Es ist und bleibt von nun an eben derselbe Grund,
Christus , als Eckstein einer moralisch freien Religion, deren Absicht stets auf die Theilnemer selbst gehet, ohne eine Unterwerfung aller Christen an Petrum oder Paulum . Diese neuen Lehrsäze von Einheit und Allgemeinheit Got|f82|tes widerstehen eben der Uebertreibung aller äusserlichen Religionsform, die zeither bey Juden und Heiden nur zu politischen Absichten bestimmt war, ohne in den Menschen eigene freie moralische Bewegungen im Verhältnis auf die moralische Würde Gottes anzurichten. Wenn nun aber die Partey des Petrus , oder irgend eine christliche Religionsgesellschaft ihre Lehrartikel, die zur äusserlichen Unterscheidung von andern christlichen Gesellschaften nach den Umständen festgesezt worden, dafür ansiehet, daß alle andere christliche Parteien nun gar keine wahren Christen seyn, und Gott gar nicht christlich verehren könnten, dieweil sie nicht eben diese Lehrartikel hätten, ob sie gleich wirklich lauter christliche Lehrartikel haben: so ist ja dieses ein gerader Widerspruch gegen die neue vollkomnere Lehre, von moralischer Verehrung des moralisch erkannten Gottes.
Geist und Wahrheit, oder eine vollkommnere Stufe der eigenen Verehrung Gottes, hat Christus so gelehret, daß sie für alle Menschen gehören könne; er hat keine Lehrartikel aufgesezt, weil er noch keine öffentliche große Gesellschaft gestiftet hat, für welche ganz allein bestimmte Lehrartikel gemacht werden, |f83| um sie als eine solche Gesellschaft neben andern fortzusezen. Wenn Christen also diese Vermischung der gesellschaftlichen und der ganz einzelnen Privat-Religion, und diese Uebertreibung der gesellschaftlichen öffentlichen Religionsordnung, fortsezen: so entfernen sie sich in der That von der wahren, ächten, christlichen Verehrung Gottes, und fallen wieder in das Judentum zurück. Ist aber auch unter den Christen von einer gewissen Zeit an eine Nationalreligion da; so ist sie doch nur eine äusserliche politische Ordnung, welche keinesweges sich für die allereinzige wahre christliche Verehrung Gottes ansehen kann, ohne eine ganz grobe Tiranney über die Christen für das Mittel anzunehmen, wodurch die gröste christliche Verehrung Gottes, ohne moralische Theilnemung der Christen, geleistet würde. Dis ist doch Atheismus.
13. Hienach gibt es also auch eine wahre Verehrung Gottes, ausser der Bibel, oder eine so genannte natürliche Religion; wenn sie gleich nicht die historisch neuen Vorstellungen von Gott begreift, welche die Christen zu ihrer christlichen Verehrung Gottes aus dem |f84|N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
oder aus der ganzen Bibel sammlen. Welches sind denn nun die vorzüglichen Grundartikel der christlichen Verehrung Gottes, da es auch noch andre Stufen der Verehrung Gottes gibt, denen das Beiwort christlich nicht zukomt?
Freilich gibt es auch bei vielen Menschen eine natürliche Religion, in welche auch ehedem verständigere Menschen sich getheilt haben, neben der politischen Volksreligion. Sie kan und muß auch eine wahre Verehrung Gottes seyn, nach der Erkentnis, die sich Menschen vom höchsten Wesen sammlen konnten. Da aber die christliche Religion Lehrsäze begreift, welche aus der Bibel gesammlet worden sind, in welcher auch allgemeine moralische Begriffe vorkommen, und also nicht allein dem öffentlichen Juden- und Heidentum, sondern auch der eigenen moralischen Verderbnis sinnlicher Menschen noch mehr entgegen stehen, als mancher bisherige Inbegriff der natürlichen Religion, und das Judentum immer mehr unter andern Völkern sehr verdorben worden war: so ist die christliche Religion ihrem ausdrücklichen neuen oder grössern|f85|Inhalte nach, von aller sowol jüdischen als blos natürlichen Religion ganz gewis immer unterschieden; man mag die christliche Religion in einer Sammlung öffentlicher Lehrartikel, oder bey einzelnen Privat-Christen damit vergleichen. Wenn man also nach den vorzüglichen Grundartikeln der christlichen Religion fragt, so verstehet man es entweder von dem öffentlichen Lehrbegriff besonderer christlichen Parteien; oder von der praktischen Privat-Religion geübter Christen. In der ersten Bedeutung gibt es mehr besondre Grundartikel der öffentlichen verschiedenen Religionsform, weil es mehr christliche Gesellschaften gibt, die im Gebrauche der Bibel einander nicht schon unterworfen seyn konten. Diese öffentlichen Lehrartikel, es mögen mehr oder weniger gezält werden, machen allemal den Grund und Boden einer jeden christlichen Gesellschaft, als Gesellschaft aus; ob sie aber alle gleich gut zum Wesen der christlichen Religion bey allen Christen aller Zeiten gehören, kan von keiner solchen Gesellschaft so entschieden werden, daß alle Christen aller andern Zeiten immer eben diese Artikel annemen müsten, oder das Wesen der christlichen Religion nicht gekannt hätten. |f86| Denn alle Erkentnis aller Menschen, also auch der Christen, ist successiv, und hat nie eine unveränderliche Ausdenung oder Vollkommenheit. So waren gleich im Anfange dieser neuen Gesellschaft zwo große Parteien, die gar sehr von einander in den Grundartikeln abgingen, wodurch sie schon als neue Parteien entstanden waren; nemlich 1) Christen aus den Juden; 2) Christen aus den so genannten Heiden; beide Parteien waren Anfänger einer neuen Religionsgesellschaft, die von den besondern Grundsäzen, wornach sie einen Christus oder Messias beschrieben, Christianer, oder Anhänger des Christus hiessen. Juden-Christen, behielten Gesez Mosis , Beschneidung, Sabbat etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
mit in ihren Grundartikeln; namen auch keine Schriften oder Lehrsäze Pauli an, keine Geschichte der Apostel, worin Paulus so viel ausgerichtet hat; kein Evangelium auch keinen Brief Johannis, und hofften auf ein bald entstehendes sichtbares Königreich in Palästina, das Christus nun wider die Heiden aufrichten würde, worin sie an allen sinnlichen Freuden tausend Jahre lang einen Ueberflus haben würden. Nie war diese Partey mit den andern Christen in der äusserlichen Religions|f87|form vereiniget, und so sehr schlecht auch die moralische Erkentnis und Uebung dieser Juden-Christen war, hat doch Paulus ihnen diesen geringen Stand völlig frey gelassen, und sich nicht zum Oberhaupt oder Censor über sie gemacht; weil jede öffentliche Gesellschaft ihre eigene gesellschaftliche Einrichtung frey hat, wenn auch andre Zeitgenossen Mängel darin finden, und lieber eine neue Gesellschaft für ihres Gleichen errichten. Eben so wenig machten die Christen aus den Heiden eine Gesamtgesellschaft aus unter einem einzigen Oberhaupte; und bis in den ersten Theil des 4ten Jahrhunderts waren alle Bischöfe oder Oberhäupter über mehrere kleine christliche Gesellschaften der verschiedenen Städte von einander ganz unabhängig; wenn gleich der eine grössere Theil schon es auf eine Gesamtkirche oder Verbindung aller Christen angefangen hatten, die sich durch den Namen die katholische oder grössere Kirche ganz eigenmächtig aufwarf, um alle kleinere Gesellschaften mit sich zu vereinigen. Diese nun neue politische Einrichtung eines christlichen Nebenstaats, neben dem ältern bürgerlichen Staat hat es geradehin und allein mit einer äusserlichen Religionsordnung zu thun, |f88| und gehet blos auf die Vergrösserung und gewissere Fortsezung dieser Partey, wider alle andern christlichen Religionsfamilien, hängt also auch durchaus mit dem großen Staate so oder so weit zusammen. Alle Verordnung der
Concilien, oder mehrerer Bischöfe betreffen die äussere Religionsordnung, die Vorrechte der Clerisey, die Vorschrift über die kentlichen Merkmale, wodurch Christen ferner in der katholischen Kirche bleiben, oder diese äusserlichen Rechte verlieren. Wenn also auch die Bischöfe nun immer mehr Lehrartikel bestimmen, in einer rechtmäßigen Kirchen- oder Religionssprache über den Sohn Gottes, Geist Gottes, über 2 Naturen Christi etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
so gehören diese bischöflichen Lehrartikel doch nicht zu dem Wesen der christlichen Verehrung Gottes überhaupt, welche alle Christen immer nach ihrer eigenen Erkentnis ausüben müssen, neben aller öffentlichen oder gemeinschaftlichen Teilnemung an den feierlichen localen Zusammenkünften vieler beisammen lebenden Christen; sondern alle diese Kirchenartikel machen den besondern localen Grund einer einzeln ausdrücklich vereinigten Religionsgesellschaft aus, deren Mitglieder nicht zu andern christlichen Religions|f89|gesellschaften gehören können, wenn sie ihre hiesigen äusserlichen einmaligen Rechte behalten wollen; denn Christen sind und bleiben zugleich locale Bürger,
Professionisten etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
Da nun fast alle christliche Religionsparteien diesen Fehler begingen, daß sie ausser den öffentlichen localen Rechten ihrer Religionsverwandten, auch so gar die größte und einzig gewisse moralische oder innere Wohlfart der Menschen an ihre öffentlichen Lehrartikel, und an ihre öffentliche Religionsform banden, da doch die innere moralische christliche Seligkeit auf dem eigenen moralischen Verhalten der so verschiedenen Christen ganz allein beruhet, oder eine stete Folge der praktischen, habituellen, eigenen Verehrung Gottes ist für alle Menschen nach dem Maas ihrer Erkentnis: so ist der wahre Grund dieses gemeinschaftlichen Fehlers leicht zu entdeken; nemlich die neue besondre Absicht aller Obern in den besondern Religionsparteien, ihr eigen Ansehen zur steten Beherrschung aller Christen, auch aller Obrigkeiten, desto gewisser zu erweitern, wenn alle Christen ihre moralische jezige und ewige Wohlfart nur von diesen kirchlichen Artikeln, und von der Gemeinschaft |f90| mit solchen Kirchen, abhängen liessen. Da der wirkliche Gebrauch der Bibel (die lange Zeit nur in den Händen der Clerisey war) noch nicht für alle Christen statt fand, und der große Haufe, wenn es auch Uebersezung gab, nicht lesen konte, auch überhaupt die öffentlichen Religionshandlungen ganz allein der Clerisey gehörten, den Clericis aber von den Bischöfen eben alle Lehrartikel zunächst vorgeschrieben wurden: so ist in jenen Zeiten es sehr begreiflich, daß die meisten so genannten Christen ohne alle eigene Erkentnis die Rechtmäßigkeit und ausschliessende Wahrheit ihrer bisherigen öffentlichen Religionsform ganz leicht und fest geglaubet, also alle andere Christen ja alle Menschen, die nicht mit ihm in kirchlicher Brüderschaft stunden, für geradehin von Gott verdamte gottlose Leute gehalten, sie also ernstlich gehasset, verfolget, und hiemit die ganz falsche Gewalt ihrer Clerisey so anerkant haben, daß sie an eigene, besondre, innere Verehrung Gottes weiter gar nicht gedacht haben. Es ist gleichwohl ganz ausgemacht wahr, daß die öffentliche Religionsordnung die daseienden moralischen ungleichen Fähigkeiten der Christen nicht aufheben und unter|f91|drücken sol; und daß die öffentlichen Religionsdiener durchaus nicht diejenige christliche Verehrung Gottes durch ihre gewönlichen Amtsverrichtungen schon leisten und bewerkstelligen können, welche von allen einzelnen Christen selbst innerlich, unaufhörlich nach ihrem ganzen Vermögen, geleistet werden kann und sol. Daher sind auch wahre Christen, die ihrem Gewissen täglich geradehin zur Verehrung Gottes folgten, von diesen Bischöfen als gottlose Kezer eben so verfolget worden, als die moralisch rohen zornigen Juden den Christum und seine Schüler verfolget haben. Bei aller Verehrung also der kirchlichen Lehrartikel, ist die wahre christliche Religion in den einzelnen Christen, wie sie ihre eigene christliche Verehrung Gottes ausmachen sollte, immer mehr verdunkelt, und durch die feierliche äusserliche Religionsform meist aufgehoben worden. Hier war die natürliche Religion, was die Moralität betrift, besser und würdiger, als eine solche Kirchenreligion, unter den politischen neuen Oberherren, und doch hatten viele Privat-Christen ihre eigentümliche christliche Religion, die nicht die natürliche heissen kann; denn sie sammleten sie aus der Bibel.
|f92| 14. Die protestantischen Lehrer rechnen ja aber eben diese Bischöflichen Lehrartikel von Dreieinigkeit, von 2 Naturen Christi und
Editorische Korrektur von: uud (digital)
ihrer Vereinigung etc. mit zu den allgemeinen Grundartikeln der allein wahren christlichen Religion; und
beweisen alle diese Kirchenlehren mit gar häufigen Stellen der Bibel; da doch die römischkatholischen Gelerten selbst behaupteten die Bibel sey ohne Tradition unvollständig; wozu sie eben diese Artikel anfüreten, daß sie in der Bibel feleten, oder nur mangelhaft und unvollständig darin gefunden würden; die katholische große Kirche bauet eben auf diese katholische Artikel die Nothwendigkeit eines Oberhauptes aller Christen, das über alle so verschiedenen Erklärungen der Bibel immer den richterlichen Ausspruch thun, und also die Einheit der christlichen Lehre und Einheit der Religion, (oder den Stillstand eigener Erkentnis) erhalten muß, durch die entschiedene Verdammung aller andern Menschen, die nicht zu dieser Einen Religionsform gehören. Es kann also die natürliche Reli|f93|gion auch jezt einer so unrichtigen Kirchenreligion vorgezogen werden.
Dieser Vortrag ist nun historisch richtig; es ist leider die bisherige Geschichte der öffentlichen Religionsordnung, wodurch eben die katholische Kirche die wahre unendliche christliche Religions-Erkentnis und ihre vielfältige Anwendung, also ihren gewissen innern Unterschied von aller blos natürlichen oder unchristlichen Religion sehr unrecht in ein feststehendes Formular, in eine gesellschaftliche Einheit, in eine Observanz, in eine Unterwerfung an die kirchlichen Obern, oder an die Clerisey, nach und nach verwandelt, und in eine feierliche, gemeinschaftliche blos äusserliche Gewohnheit und Ordnung der Gesellschaft verkehret hat, wobei für die Christen keine innere eigene freie Verehrung Gottes weder natürliche noch eigene christliche, übrig bleiben solte. Hiedurch sind auch die Regenten so gar der Kirche, oder der Clerisey eben so unterworfen worden, wie alle gemeinen Christen; und so ist jene freie Erkentnis, die eigene Beurtheilung alles dessen, was mit der geoffenbarten Herrlichkeit Gottes bei jedem ein|f94|zelnen Christen einstimmig ist, [(]welches die Ehre und den Vorzug der christlichen Religion und ihren Unterschied von aller menschlichen äusserlichen Ordnung ausmachte,) geradehin aufgehoben worden. Aus der neuen Wohlthat für alle Menschen, daß sie alle Gott immer mehr selbst erkennen und zu eigener moralischen Wohlfart ganz frei, im Gebrauche ihrer ganzen Seelenkraft, anwenden können, haben die Bischöfe ein neues unerträgliches Joch gemacht, welches viel drückender ist, als je die jüdische Religion war, wie schon
Augustinus zu seiner Zeit ehrlich sagte und doch selbst zu noch mehr Unterdrückung half. Gleichwol ist die neue Grundlage der christlichen Verehrung Gottes, eben diese, daß
der alte Geist der Furcht und Knechtschaft, der Gott nicht kannte, ausgetrieben ist; daß Christen keiner menschlichen Sazung jemalen selbst, ihrem neuen Bewußtseyn nach, unterworfen seyn können, wenn man sie auch mit noch so viel Vorschriften äusserlicher Handlungen oder Ordnungen einschränkt: behalten sie doch innerlich alle Freiheit, eine bessere Erkentnis Gottes für sich selbst vorzuziehen, um die wahre, bessere Verehrung Gottes gewis|f95|senhaft zu behalten. Gott ist es selbst, der die innerliche Wohlfart der einzelnen Christen für jeden Christen, immer mehr täglich schaft und befördert, durch seinen alles wirkenden Geist, den kein Concilium, keine kirchliche Vorschrift, auch keine Spötterey und kein böses Exempel falscher Christen, unwirksam machen kann. Wenn nun die Bischöfe diese innere freie Wohlfart der Christen an ihre Lehrformeln binden wollen: so weiß jeder verständige Christ für sich, daß sie dieses gar nicht im Stande sind; weil die eigenen Vorstellungen der Christen, und ihr freier Zugang zu dem ihnen immer mehr bekanten Gott, weder Pabst noch Concilium, weder Engel noch Teufel, auch keine blos natürliche Religion, geradehin aufhalten, hemmen oder unterbrechen kann. Es ist also sichtbar
Editorische Korrektur von: sichtdar (digital)
, daß die Bischöfe mit ihren Lehrartikeln nicht auf diese innere freie Religion zu derselben leichtern Beförderung, gesehen haben; sondern daß sie blos die äussere Unterwerfung ihrer kirchlichen Unterthanen, und die feste Verbindung eines großen Kirchenstaats zur Absicht gehabt haben; und das war doch weder Christi noch seiner treuen Schüler Absicht. Nur ganz unwissende Menschen, oder ein|f96|verstandene Theilnemer an dieser politischen Beherrschung der Menschen konnten es gelten lassen, daß Gott und Christus
durch einen so gar zweideutigen Pabst, als durch einen Vicarium, oder durch ein Concilium die ewige Seligkeit der Menschen austheilen oder absagen lasse. Eine leichtbegreifliche Convenienz hat viel Regenten ehedem oder auch noch jezt hie und da dazu gebracht, den großen Beistand der einmal so mächtigen Kirche zu politischen Absichten zu nuzen. Die ganze nach und nach erwachsene Kirchentheologie, wohin alle jene spizigen Lehrmethoden gehören, war das Eigentum der Clerisey, und hatte blos diese monarchische Kirchenregierung zum täglichen nächsten Endzweck; die ganze öffentliche Religionsform wurde durch diese Theologie immerfort bestimt; und der erste nächste gewisseste Erfolg war, daß die Mitglieder oder Unterthanen der Kirche nun alle die öffentlichen Rechte genossen und behielten, welche die Regenten an diese Religionsform bürgerlich gebunden hatten. Wer davon öffentlich oder deutlich abwich, verlor diese Rechte, wurde ausgestoßen, und fiel in die Strafen, die auf so genante Kezerey gesezt waren. Aber durch alle diese äus|f97|serlichen Veränderungen wurde der innere Zustand des Christen, sein eigenes habituelles Verhältnis gegen Gott, nicht im allergeringsten verändert. Es sind ganz thörichte Anmassungen, wenn Bischöfe von ihrem kirchlichen
Anathema nun sogar die ewige Unseligkeit dieser ausgestossenen Christen als eine Folge abhängen lassen wollten. Man mus es so gar eine grobe atheistische Vermessenheit nennen, und eine ausgemachte Beleidigung aller Moralität, daß die Kirche gar alle Christen mit bürgerlicher Gewalt verfolget hat, welche nicht die von Zeit zu Zeit eingefürte Kirchensprache über die öffentlichen Lehrartikel, auch dafür ansehen, daß ihre eigene rechte Verehrung Gottes in der buchstäblichen Bejahung schon enthalten seie; und es wusten, daß ihr eigener immer wachsender Glaube an Vater, Sohn und heiligen Geist zu ihrer moralischen Wohlfart durchaus daneben noch nötig seie, daß jene Lehrformeln nur einen Erfolg ausser ihnen in der äusserlichen Gesellschaft hervorbringen können; daher lehrten die Protestanten so eifrig,
allein durch den eigenen Glauben hat der Mensch seine christliche Seligkeit. Es ist also gewis, daß die Bischöfe nur auf die Ein|f98|heit einer gesellschaftlichen Religionsform gesehen haben, zu welcher Religionsform eben die glänzenden Stufen der Clerisey und die Nothwendigkeit eines so zahlreichen kirchlichen Hofstaats immerfort gegründet waren. Blos in einer solchen monarchischen Kirche ist ein allgemeines Oberhaupt, ein Richter über alle christliche Vorstellungen und Urtheile, und ein (sehr übel erdichteter) Statthalter Christi nötig; damit alle Christen einmal wie allemal Unterthanen dieser Religionsherrschaft bleiben, und so viel an weltlichen Gold und Silber bezalen, als die große Pracht der Kirche immer nötig
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hat. In den Gemütern aber der Christen ist entweder moralische Unwissenheit und ruhige Finsternis noch vielmehr da, als unter Juden und Heiden; oder wirkliche geheime Misbilligung dieser atheistischen Tiranney, und eine stille ganz andere eigene Verehrung Gottes; wie es so gar an vielen Christen nicht gefelet hat, die ihre ganz andre gewissenhafte Erkentnis auch öffentlich an den Tag gelegt, und gern mit Verlust ihrer Güter, sogar mit großer Quaal und Marter, endlich auch mit ihrem Tode bestätiget haben.
Es ist jezt die Rede nicht davon, ob diese
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Christen |f99| wirklich hiezu verbunden gewesen sind; genug so gottlos handelte die sogenannte Kirche, wenn Landesherrn den Pfaffen nachgaben. Die schmalkaldischen Artikel haben diesen Unterschied der freien eigenen christlichen Religion,
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die blos auf der Bibel beruhet, wenn auch der Inhalt noch so ungleich gesamlet wird, von der äusserlichen Religionsform, worin es nach menschlichen Rechten einen Pabst und Bischöfe und Lehrformen geben möchte, so deutlich an den Tag gelegt,
und die Entberlichkeit eines Concilium, in Absicht der lutherischen Religionsform so gut dargethan, als je etwa hundert Jahre vorher
Gerson in der Schrift de auferibilitate papae
, es schon mit Bewilligung des französischen Staats, gethan hatte. Nimmermehr wird jene alte kirchliche Finsternis und falsche Macht wieder zu der alten Grösse kommen, und doch wird die wahre rechte Verehrung Gottes unter den Christen immer mehr wachsen; wenn sie gleich von vielen für Thorheit und Schwärmerey gehalten wird.
Was aber diese Aufgabe betrift, von Zulänglichkeit oder Unvollkommenheit der Bibel, zu
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|f100| den Grundartikeln der christlichen Religion; so beruhet die ehedem so große Streitigkeit zwischen Protestanten und Papisten eben auf dieser Zweideutigkeit des Namens, Grundartikel der christlichen Religion.
Die papistischen Gelerten rechneten auch jene apocryphischen Bücher im A. T.
Abkürzungsauflösung von "A. T.": Alten Testament
mit zu canonischen Büchern; und dis thaten sie nach ihrem besondern Kirchenrecht; da aber Protestanten durchaus nicht ein solches Ansehen der römischen Kirche ferner zugaben, sondern sich selbst zu einer besondern Religionspartey machten, wozu sie ebenfalls alles Recht hatten, nach der Bibel: so felen hier manche Lehrartikel noch, welche in der römischen Kirche wirklich da sind;
wie im Colloquio zu Regensburg die papistischen Theologen es als einen Glaubensartikel ansezten, das Hündlein (Tobiae) wedelte mit dem Schwanze. Wenn nun die Rede war, von articulis fidei (catholicae, latinae) de trinitate, persona et duabis naturis Christi ; welche die römischen Gelehrten dafür ansehen, daß sie
nur ex traditione oder per auctoritatem ecclesiae ihre Gewisheit und Daseyn hätten, in der Bibel aber nicht enthalten wären; (gleichwol aber allen Christen zur |f101| Seligkeit, und zur christlichen, besten Verehrung Gottes einmal für allemal nötig wären:) so hätten die Protestanten diese lezte, in ( ) eingeschlossene Behauptung, geradehin leugnen sollen. Denn diese Artikel in jener Reduplication sind nicht allgemeine Artikel der christlichen Gottesverehrung; sondern sind besondere Lehrartikel der so genanten katholischen oder gar nur lateinischen Kirche, welche eben zur Unterscheidung dieser Kirche von allen daseienden andern christlichen Parteien, durch katholische Bischöfe erst nach und nach festgesezt worden sind; nicht aber zur Seligkeit aller Christen von Christo oder den Aposteln festgesezt worden sind. Die katholischen Christen finden kein Hindernis an ihrer christlichen Seligkeit, durch diese Lehrformeln; aber andre Christen finden keinen Grund, diese katholischen bischöflichen Lehrartikel, in diesen Formeln und Worten, zu ihrer Seligkeit zu rechnen; da sie nur zur Theilnemung an der katholischen Gesellschaft gehören, in welche jene andre Christen mit einzutreten keine Ursache finden, die mit ihrer christlichen Seligkeit zusammen hinge. Die Bibel behält also ihre Zulänglichkeit zur eignen Selig|f102|keit aller gewissenhaften Christen; wenn die Christen gleich sehr ungleiche, verschiedene Summen der öffentlichen und Privatreligion aus der Bibel sammlen. Denn die Ueberzeugung der Christen von der moralischen Güte und Liebe Gottes, wonach er selbst in ihnen alle moralische Wohlfart befördern will, gibt ihnen den steten Grund ihrer innern fortgehenden Wohlfart; ihre moralische Sprache darüber ist ihnen ganz frey, so lange sie nicht mit andern sich äusserlich vereinigen. Diese unaufhörliche Wirkung Gottes hängt aber nicht an einer und derselben Summe oder Reihe von Gedanken und Lehrsäzen, wodurch sich ja die Christen immer von einander als verschiedene Menschen unumgänglich unterscheiden müssen. Vater, Sohn und Geist Gottes werden also von den ungleichen Christen wirklich auf christliche Art verehret, und diese neue Gesinnung bringt die Christen zu immer mehr moralischer eigener Wohlfart und Seligkeit. Alle christliche neue Erkenntnis also vom Vater, Sohn und Geist, ist an sich wirklich in und aus der Bibel möglich, und für den Glauben und die eigene innere Religion der Christen hinlänglich; aber in der Beschreibung und Erzälung |f103| dieser christlichen Vorstellung können die Christen nicht übereinkommen, weil sie von einander immer innerlich und äusserlich schon verschieden sind. Wenn aber solche Beschreibungen festgesezt werden für eine Menge von Christen, so geschiehet diese Bestimmung allemal zum äusserlichen Beweise einer daseienden Vereinigung dieser Gesellschaft, in Absicht der Theilnemung an einer gemeinschaftlichen öffentlichen Religionsübung. Diese oder jene Bestimmung aber zum gemeinschaftlichen öffentlichen Zweck verändert nichts in der christlichen Gesinnung, worin der einzelne Christ seine Seligkeit von Vater, Sohn und Geist immer privatim in einer verschiedenen Stufe, ohne alle andere Privat Christen, sich aneignet. Diese Privat-Religion wird durch alle gemeinschaftliche oder gesellschaftliche nicht verändert; wie jeder Privat-habitus bleibt, bey aller Gesellschaft. Eben in dieser freien Privatübung bestehet der wesentliche Charakter der christlichen Privat-Religion, welche durchaus nicht an irgend eine einzige äusserliche gleichförmige Ordnung gebunden werden kann; indem alle äusserliche Ordnung nur einen äusserlichen immerfort gleichen Erfolg haben kann; |f104| die individuelle Ungleichheit aber bleibt durchaus an
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der christlichen Privat-Verehrung Gottes, daß diese Christen in ihrer Privat-Religion wirklich immer Christen sind und bleiben, und keine Naturalisten werden können, verstehet sich offenbar ganz von selbst. Sie lassen sich hier Fanatiker, wie dort von den Pfaffen Häretiker nennen. Die Bischöfe haben freilich diesen innern steten Unterschied der wahren christlichen Verehrung Gottes in den einzelnen Menschen durchaus unterdrückt, weil sie sonst hätten gestehen müssen, daß auch Arianer,
Photinianer, und alle so genannten Ketzer in der That eine Stufe der christlichen Verehrung Gottes, also auch eine Stufe wahrer christlicher Seligkeit haben könnten; und da wäre die angebliche Einheit, Unveränderlichkeit, Infallibilität der katholischen Kirche sogleich in den Augen aller nachdenkenden Christen weggefallen, und man hätte diese äusserliche Kirchen-Regierung,
Kirchen-Polizey, ganz gewis nur als eine menschliche Ordnung erkannt, an welche Gott freilich seine beste Verehrung und die christliche
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eigene Wohlfart, in Absicht aller Christen keinesweges selbst gebunden hatte. So rechtmäßig |f105| es also ist, daß jede grössere christliche Religionsgesellschaft, zur kentlichen Unterscheidung ihrer einstimmigen Glieder, eine öffentliche Lehrformel durch die Religionslehrer zur öffentlichen gemeinschaftlichen Unterweisung festsezt und beibehält: so falsch ist es doch, wenn irgend eine christliche Religionspartey die innere tausendfach verschiedene christliche Privat-Religion in eben dieses blos äusserliche Maas einfassen wil; und es ist gar empörend, wenn sie behauptet, die ganze moralische Wohlfart und Seligkeit aller Menschen, habe Gott selbst an eine einzige jüngere Lehrformel eben so gebunden, wie die öffentlichen Rechte in der bürgerlichen Gesellschaft an diese gesellschaftliche Religionsform durch die Obrigkeit so oder so gebunden worden. Man müste alle christliche Begriffe von Gott geradehin leugnen oder heimlich verspotten, welche Begriffe doch durchaus nun von allen Christen aus der Bibel nach eigenem Gewissen gesammlet werden, was die Gewisheit ihrer eigenen Ueberzeugung und Wohlfart betrift: wenn man bejahet, Gott, den sonst die Juden für ihren Gott hielten, (weil alle Heiden unter Engeln stunden, nach den jüngern Grundsäzen der |f106| politischen Rabbinen) seie nun der Christen Gott exclusive worden, und zwar nur der großen katholischen Partey. Es ist der erste Grundsaz der christlichen Gottesverehrung, Gott ist und bleibt aller Menschen Gott und Vater in einem und demselben allerhöchsten unendlichen Verhältnis. Nun wird ferner eben so der jüdische falsche Begriff von einem politischen Könige Messias, der auch nur der Juden Wohlthäter seie, weggeworfen, und ein unendlicher, ganz besonderer Sohn Gottes, als moralischer Oberherr aller Menschen, auch wider die Juden, bejahet, dessen Erlösung ebenfals allen Menschen in moralischer Ordnung zu gut komme, nach der Einsicht fähigerer Christen; wenn auch manche Beschreibung sich auf den
Teufel, als bisherigen Herrn der heidnischen Welt Κοσμοκρατωρ, oder sonst auf kleinere jüdische Begriffe beziehen. Eben so wird der Geist Gottes in Absicht moralischer Wirkung von den Christen ganz anders praktisch erkannt. Hier mus nun der besondere eigene Glaube der einzelnen Christen durchaus nach ihren Gewissen Statt finden; denn durch die menschliche Lehrform wird nur die äusserliche Theilnemung |f107| an der öffentlichen Religionsgesellschaft bewirket, die freilich einen feststehenden Sprachgebrauch zu den öffentlichen feierlichen Religionsmerkmalen mit sich bringt. Es können auch die so vielen Christen, wenn sie zu eigener Erkentnis und Verehrung Gottes noch nicht fähig sind, ihre Privatreligion nach eben diesen Lehrbeschreibungen ein für allemal annoch abmessen oder einrichten. Aber diese Wiederholung oder Nachahmung der öffentlichen Religionssprache, die nur zu allen gemeinschaftlichen feierlichen Religionshandlungen gehörete, ist nicht das einzige oder beste Maas für die besondere eigene Verehrung Gottes in Absicht aller Christen, die an Fähigkeiten andere übertreffen. Noch vielweniger aber hat Gott alle Menschen aller Zeiten zu einer und derselben christlichen öffentlichen Religionsform oder zum gleichen Gebrauch der Bibel verbinden wollen, welches ohnehin sogar unmöglich ist.
15. Was ist nun für ein Unterschied zwischen der eigenen christlichen und der so genannten natürlichen Religion? da es unter den Christen selbst nicht einerley öffentliche Re|f108|ligionsform gibt, und keine christliche Religionsform ohne moralisches besonderes eigenes Verhalten der Privat-Christen, eine ware würdige Verehrung oder Verherrlichung Gottes dadurch ausmacht, daß die Religionsbedienten festgesezte feierliche Cerimonien in Gesellschaft oder auch in Theilnemung der versammleten Christen, einmal wie allemal, ihrem Amte nach verrichten, oder in der öffentlichen gemeinschaftlichen Religionssprache reden?
Freilich ist ein wirklicher nicht blos historischer Unterschied da; sonst wären alle Christen zugleich Naturalisten, und diese könten sich ja nicht wider die Christen so bedächtig erklären wollen, um eben Naturalisten und keine Christen zu seyn. Es kan aber keine Partey wider die andere eine solche Entscheidung aufstellen, daß der Unterschied oder die Einheit wirklich so eingesehen würde, daß nun alle Naturalisten den Vorzug einer bestimten christlichen Religionsform anerkennten; oder alle Christen sich verbunden hielten, aus bisherigen Christen nun lieber Naturalisten in dem oder jenem |f109| Umfange zu werden, um ja eine grössere moralische Wohlfart, in einer vollkommneren Verehrung Gottes, sich zu schaffen; dieses ist wol an sich selbst klar. Es wird immer eine Ungleichheit der christlichen Religionsform geben, wenn auch alle Christen ihre christliche Verehrung Gottes durch ihr immer würdigeres moralisches Verhalten, in allem Thun und Lassen, an den Tag legten, oder neben der bürgerlichen öffentlichen Religionsordnung sich auch der Privat-Religion nach allem ihrem Vermögen selbst befleißigten.
Umgekehrt mus es eine öffentliche gemeinschaftliche Religionsform geben, so bald eine große Menge schon eine besondere Gesellschaft ausmacht, und daher eine gemeinschaftliche feierliche Uebereinstimmung in festgesezten Merkmalen verabredet oder bey sich einfüret. Durch welche Merkmale diese Menge ihre fortgehende Religionsgesellschaft immer wieder erkennet, und andre nicht zu ihr gehörige Zeitgenossen unterscheidet. Durch diese festen Merkmale einer daseienden Verbindung dieser immer verschiedenen Menge zu einer gemeinschaftlichen feierlichen Beschäftigung, wird zunächst nur die jedesmalige Versamlung äusserlich, kentlich regirt oder einge|f110|schränkt, in Absicht der Art und des Maßes der Theilnemung an der eingefürten öffentlichen gemeinschaftlichen Religionsform; wobey die Theilnemer nach ihrer innerlichen Thätigkeit und moralischen Beschäftigung immer unkentlich oder ungewis bleiben; wenn sie auch alle sichtbaren Handlungen in der öffentlichen Form, wirklich mit machen. Denn es ist und bleibt unbekant, wie viel ihr eigen Gemüt und inneres Bewußtseyn
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an diesen äusserlichen Merkmalen Theil nimmt. Es kan bloße Gewohnheit, oder eine besondere Absicht seyn,
Editorische Korrektur von: seyn. (digital)
wenn jemand alle solche feierliche Versamlung in äusserlicher Sitsamkeit, oder gar merklicher Andacht, fleißig besucht, und sich auszeichnet, blos um sich zu empfelen, und seine häuslichen Vortheile dadurch leichter zu vergrössern. Es können also auch Naturalisten, in blos politischen periodischen Absichten, sich als Theilnemer an
Editorische Korrektur von: au (digital)
der öffentlichen christlichen Religionsform darstellen, und sind doch selbst weit genug entfernt von der christlichen Privat-Religion; zufrieden mit einer sogenannten natürlichen Religion. Den innern Zustand des Naturalisten kennen freilich die
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Christen eben so wenig, als wenig er die eigentlichen |f111| christlichen Uebungen und Erfarungen kennt, die er wol gar für fanatische Verirrungen und für seinen Nachtheil ansiehet, und desto mehr sich selbst von der christlichen innern Religion abwenden zu müssen urtheilet. Dieses ist Historie der Christen und Naturalisten; es gab immer beide Classen unter den Menschen, wenn sie auch nicht immer durch diese Namen unterschieden wurden. In so fern aber die öffentliche Religionsform ganz gewis ein rechtmäßiges Band der bürgerlichen Gesellschaft ist; müsten sowol Christen ihre eigene ganze oder beste Verehrung Gottes nicht blos in die Theilnemung an der öffentlichen Religionsform sezen; als auch Naturalisten ihre eigene Privat-Religion, die sie die natürliche nennen, nicht der gesellschaftlichen öffentlichen Religionsform ausdrücklich entgegen stellen, und das bürgerliche gesellschaftliche Verhältnis aufheben, da ihre eigene besondere Verehrung Gottes ihnen durch die öffentliche Religionsform eben so wenig genommen wird, als wenig die felende christliche Privat-Religion durch die öffentliche Religionsordnung allen Mitgliedern derselben gleich gut eingehaucht wird. Wenn uns nun die Historie leh|f112|ret, daß leider beides von Zeit zu Zeit geschiehet: so müssen wir auch aus der Historie lernen, was dieses beyderseits unrichtige Verhalten für Folgen in der großen bürgerlichen Gesellschaft gehabt habe. So nachtheilig es für die moralische Welt ist, wenn die öffentliche Religionsform über ihren bürgerlichen gesellschaftlichen Zweck hinausgehet, und gar die innere moralische Wohlfart aller Zeitgenossen schon ausmachen will, welche Pfafferey freilich die guten Christen Jahrhunderte lang vor Augen sehen: so wenig hat doch wirklich die bürgerliche Gesellschaft Nuzen und sichern Vortheil davon, wenn die öffentliche Religionsordnung überhaupt verspottet und verächtlich gemacht wird. Jeder weise Regent hat daher dieses nicht gestattet; denn es gehört gar nicht zu der noch so vollkommnen eignen Privat-Verehrung der Gottheit, daß (gesezt auch einfältiger) unwissender Menschen gute Meinung und moralische Gesinnung aufgehoben oder verächtlich werde. Wenn jede öffentliche Religionsform eben darum eine gewisse feste Summe begreift, von Formeln und Handlungen, wodurch eine große ungleiche Menge der Mitglieder sich als eine zusammengehörige Gesellschaft immer wieder|f113|gegen einander zu erkennen gibt: so ist für alle moralische Stufen dieser Mitglieder vom Staate rechtmäßig und hinlänglich gesorgt, ohne daß eine einzige Stufe für alle Menschen eingefürt werden müsse, nach dem Gutdünken einiger Mitbürger, welche durchaus die natürliche Religion vorziehen wollen. Die ruhige Verbindung der ganzen immer ungleichen Gesellschaft läßt dennoch so thätigen Mitgliedern den Privat-Gebrauch aller ihrer Seelenkraft zur besondern Verehrung Gottes, wenn sie gleich aus Liebe zu ihren Mitbürgern auch die öffentliche Religionsordnung wehrtschäzen, und die unfähigeren Christen können ihre ganze Andacht aufbieten, da sie doch allen andern Nebenmenschen nicht ins Herz sehen können, und ihre eigene Andacht dadurch nicht gestört wird, daß manche nicht so oft in die Kirche oder zum Abendmal kommen, als sie es so gern thun. Ueber die besondere Privat-Religion gibt es sonst nirgend eine
Inquisition als noch in manchen Ländern, die der päbstlichen Kirchenzucht mehr Platz lassen. Daß hiemit Gott recht vorzüglich verehret werde, wenn Menschen zu einer äusserlichen Einheit, in Religionsmerkmalen gar mit Gewalt gezwungen werden:
haben schon alle |f114| verständige Heiden ehrlich geleugnet, und ernstlich gemisbilliget, selbst ein Julian . Christus aber hat am allerwenigsten eine solche Religions-Curie oder Inquisitions-Kammer gestiftet. Es komt alles auf weise Regenten an, das Verhältnis der daseienden öffentlichen Religionsform so zu beschüzen: daß gleichwol die besondere Privat-Religion aller fähigen Zeitgenossen nicht zu ihrem moralischen Nachtheil, geschwächt wird; daß aber auch die innere Ruhe und Zufriedenheit der so vielen andern Menschen, die viel mehr zu ihrer Verehrung Gottes rechnen, nicht für geringer angesehen wird als das Recht jener fähigern Zeitgenossen.
16. Es gibt also zunächst diesen Unterschied, zwischen der christlichen und natürlichen Religion, daß jene überal unter christlichen Nationen schon die öffentliche ist, als das öffentliche Band der christlichen großen Gesellschaften; die natürliche Religion ist aber ohne eine gemeinschaftliche öffentliche Form und gesellschaftliche besondere Verfassung; die freilich allemal eine besondere, verschiedene große Gesellschaft voraussezt, wenn ein |f115| öffentliches kentliches Band, durch eine fest immer kentliche Religionsform da seyn soll. In einer so genannten natürlichen Religion gibts aber keinen historischen Anfang, auf den sich neue besondre Symbola und Cerimonien, oder feierliche Merkmale beziehen könten. Man könte also wol den Unterschied der christlichen und natürlichen Religionsform noch genauer bestimmen; sonst könte ja die natürliche Privat-Religion wirklich neben der christlichen öffentlichen Religionsform zugleich bestehen?
Ich habe es schon gesagt, daß dieses ganz gewis gar oft als Historie, Statt gefunden haben mag, und wol häufig noch jetzt so ist; da ja viele Christen ihre Lehrsäze so wenig selbst bejahen und hochschäzen, als die Naturalisten es thun. Es kan jemand ein äusserlicher Christ seyn, und Theil nemen an allen Merkmalen, woran die christliche äusserliche Gesellschaft sich immer kent, und einander äusserliche Rechte gesellschaftlich gewäret; er ist aber hiemit noch nicht innerlich oder |f116| mit Einstimmung seines eigenen Verstandes und Willens in innerer Uebung einer christlichen Verehrung Gottes beschäftiget. Diese eigene innere freie Verehrung Gottes war der neue Grund und Inhalt dieser christlichen neuen Religion, der einen neuen Begriff, neuen historischen Sachinhalt aufstellete, welcher neue Sachinhalt sich weder im Judentum noch Heidentum bisher befand. Dieser neue Sachinhalt verringerte theils den vorigen Inhalt der jüdischen Religion, theils bestimmte er den Vorzug dieser neuen viel gemeinern oder über die jüdische Nation hinausgehenden Religion, durch Erweiterung des Begrifs einer periodischen besondern moralischen Offenbarung oder Belehrung Gottes, welche die Juden nur ihrer Nation beigebracht hatten; die aber nun als fortgehend vorausgesezt wird, zur fortgehenden freien Erkentnis und Verehrung Gottes, statt der Einschränkung, so nach Mosis Geseze bisher durch Priester und Leviten statt fand. Die christliche Religion, oder Verehrung Gottes, wie sie von Christen fortgesezt wird, sezt also stets diese vorige jüdische Religion als die unvollkomnere voraus, und entstehet wirklich durch neue grös|f117|sere Begriffe von Gott, und durch ihre freie innere Anwendung. Die Juden sagen, Gott hat sich unsern Vätern und Vorfahren so geoffenbaret, daß wir eben hiemit eine bessere Verehrung Gottes leisten, wenn wir Mosis Geseze immer beobachten; als wenn andre Völker, (ohne unsre Schriften,) Gott mit andern Gebräuchen, in Wiederholung einer ganz andern Historie ihrer Vorfaren, oder in Betrachtung des Reichs der Natur, in eigener innerer Bewegung ihres Gemüts, zu verehren meinen. Die Christen sagen, die jüdische Religion ist noch nicht die allerbeste Verehrung Gottes, der ja aller Menschen Gott so gut ist, als ihr ihn zum Gott einer Nation durch eine besondere Nationalsprache machen wolt. Er hat sich auch nicht blos unter euren Vorfaren, sondern in den Herzen und Gemütern aller Menschen geoffenbaret, aber nicht auf einerley Weise, in einer unveränderlichen Stufe;
so wenig er alle Menschen in einerley oder gar unveränderlichen Zustand und Verhältnis ihres Menschenlebens gesezt hat, welches schon die physische Beschaffenheit und stete Veränderlichkeit des Erdbodens unmöglich macht,
auf dem Menschen sich nach Gottes Ordnung und Wil|f118|len, immer mehr ausbreiten sollen, ohne allein in Palästina wahre und glückliche Menschen zu seyn. Wenn nun gleich die immer verschiednen Menschen so vielerley Nationen ausmachen, und diese von Gott sehr ungleiche Vorstellungen haben: so ist es doch nicht wahr, was ihr zeither so eigenliebig denket, daß andere Völker unter dem Gebiet mancher Engel und böser Geister stünden; und von Gott ganz und gar abgerissen und entfernet wären. Eure eigenen alten Bücher enthalten so gar den Samen und Stoff zur offenbaren Bestätigung unserer neuen bessern Verehrung Gottes, wenn es anders euch um diese immer bessere Verehrung Gottes zu thun ist. Ihr hoffet auf eine neue Periode, auf einen Messias, aus diesen und jenen Stellen eurer alten Bücher. Sehr gut; vergesset nur nicht, daß Gott aller Menschen Gott gleich gut in einerley moralischen Verhältnis ist; berechnet nicht eure bürgerliche Wohlfahrt nach Träumen müssiger eigennüziger Rabbinen, die jene alte Historie misbrauchen. Wo solte ein Grund herkommen, daß Juden die Oberherrn und Beherrscher aller Völker würden, darunter wol manche besser als ihr Juden bisher, sind. Eure frommen wei|f119|sen alten Lehrer waren nicht so kindisch; ihr müßt einen grössern erhabnern Sinn jener Stellen von moralischer Wohlfart der Menschen, zu einer moralischen Ehre und Herrlichkeit Gottes, verstehen lernen! Warum denkt ihr einen so fabelhaften Messias?
Aus der Unterwerfung an Römer und an andre heidnische Oberherrn, die so gut Menschen sind, als ihr, wird euch ein Sohn Gottes gewis nicht erlösen; der kan ja über die Menschen keine andern Grundsäze haben, als
sein Vater, den ihr den Hochgelobten immer nent; aber auch in Absicht aller Menschen, so verschieden sie von Juden sind, mus er der Hochgelobte eben so gut heissen, als in Rücksicht auf eure Nation. Diese Ausbreitung der Erkentnis der Ehre und Herrlichkeit Gottes ist schon in euren alten Schriften, aber freilich noch nicht so helle und deutlich versprochen, versichert, enthalten, als ihr nun durch die neuere Geschichte eurer Zeit es immer mehr einsehen könt. Wie viel
gelerte Juden haben nicht schon zeither aus griechischen, wie ihr sagt, heidnischen Schriftstellern, ganz gern ihre moralische Erkentnis erweitert?
Wenn ihr auch gar sagt, die Heiden haben es aber aus unsern |f120| Büchern ehedem entwendet: so sehet ihr doch, daß Gott die moralische Erkentnis nicht euch zum Eigentum machen wil. Leset die Klagen und Bestrafungen in euren alten Büchern, über die blos äusserlichen Religionsgeschäfte; es ist ja klar, daß es noch eine bessere Verehrung Gottes gibt für alle einzelne Menschen, als ihr blos durch Priester und Leviten einmal wie allemal besorgen lasset. Da ihr nun so gerne in patriotischen Stolze glaubt, daß Gott euch durch Abraham ,Mosen und Propheten ehedem belehret habe: warum wollt ihr es uns wehren, daß wir glauben, eben derselbe Gott habe diesen Jesus zum rechten Christus und allgemeinen moralischen Herrn unter uns aufgestellet,
der keinesweges ein König und Monarch der Juden auf Erden seyn solte; darum ist er von den Todten auferweckt und gen Himmel erhoben worden,
wo der Sohn Gottes ja ohnehin schon immer gewesen ist, in dem unendlichen Schooße des Vaters. Ihr müßt also einen viel höhern Begriff vom Sohne Gottes annemen; wonach er auch über alle Engel und Geister erhaben ist; und wir können so kein Gebiet der Engel über die Heiden ferner glauben; es kan kein
Reich der |f121| Finsternis
Editorische Korrektur von: Fnsternis (digital)
oder des Teufels ferner so geben, als eure Rabbinen, spät genug es erdacht haben, um euch desto mehr von allen andern Völkern abzusondern und unter ihrer schlechten
Religionsbotmäßigkeit zu erhalten. Es gibt auch andre Sünden, als wider Mosis Gesez; wider
ein ungeschriebenes, in dem Gewissen der Menschen bekantes Gesez; dieses hat Gott durch seinen Sohn weit über jene kleine Gesezgebung Mosis erheben lassen, aber durch eben den Christus ist uns auch die neue Erkenntnis der Gnade und Vollkommenheit Gottes so geoffenbaret worden, daß wir keine so geringen
Opfer mehr nötig haben, als ihr bisher bestellen lasset. An diesem Christus haben wir Opfer,
Hohenpriester in dem allerhöchsten Verstande; ohne diese Mikrologie zu behalten, die bisher unter Menschen mit diesen Namen ausgedrückt worden. So kennen wir auch
eine ganz andre Beschneidung, wozu wir eure Religionsdiener nicht weiter brauchen; Gott reiniget selbst unsre Herzen durch unsern eignen Glauben, worin wir immer mehr wachsen und zunemen, also auch ganz andre Früchte dieser neuen Einsicht zur rechten Ehre Gottes bringen. Ihr habt auch jene alte |f122| Macht und bürgerliche Gewalt nicht mehr, daß ihr die jüdische Religion uns aufzwingen köntet; einer daseienden bessern Erkentnis aber müssen wir, eben zur Ehre Gottes, folgen. So entstehen also unsere christlichen Gesellschaften, worin eure Beschneidung und
Osterlam, eure Sabbate gewis nicht fortgesezt werden können, weil euer alter historischer Zusammenhang nur eine jüdische partikuläre Religion mit sich bringt, die wir durchaus nicht für die bessere Verehrung Gottes halten können etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
Ich habe hiemit nur zeigen wollen, daß die christliche neue Religion vom Anfange an die historische jüdische Religion voraussezt, und in einem steten Verhältnis der Ausbesserung oder Berichtigung dagegen stehet; also nicht in der gemeinen Bedeutung die natürliche Religion heissen kann, welche die Naturalisten jezt vorziehen wollen. Jene ersten Lehrer der neuen bessern Religion brauchen also in ihren neuen Urkunden, (auf denen ihre neue freie sehr ungleiche Religionsform beruhet, weil nicht alle diese Schriften auf einmal da, und nicht schon in aller Lehrer Händen waren) allerley damalige griechische Schriften, die schon mehreren Juden gemein waren, zu einer |f123| noch bessern Belehrung eben dieser Juden. Sie erweitern also den Grundsaz von Offenbarung Gottes an einzelne Menschen, der vorher meist auf Prophezeiung äusserlicher bürgerlicher Begebenheiten unter Juden und benachbarten Völkern ging; daß er nun auf moralische Belehrung jeziger Zeitgenossen gehet, und sie verweisen ihre Schüler auf diese nun bekanten Wirkungen des Geistes Gottes in ihnen selbst.
Der Geist Gottes wird zeugen, wie es Luther übersezt; oder
euch immer mehr lehren, unterweisen, versicherte Christus selbst. Diesen Grundsaz einer erweiterten Offenbarung und Wirkung Gottes, leugnen aber alle Naturalisten, und denken nicht einmal daran,
daß die natürlichen Seelenkräfte der Menschen schon von vorneher, oder von ihrer localen Anwendung eine so ungleiche Stimmung haben: daß durchaus ihr eigen Nachdenken über das Verhältnis Gottes einen ungleichen Gang behalten mus; wie die Entschliessung zu dem und jenen Grad ihrer äusserlichen Beschäftigung, zu der oder jener Profession, Unternemung und Lebensart, ganz ausgemacht immer ungleich ist und bleibt; wenn sie gleich eine und dieselbe Natur|f124|als Menschen hatten. Und dis wirklich zum grössern Besten andrer Menschen neben und nach ihnen, wie zu ihrer eigenen grössern Zufriedenheit. Nie werden also Naturalisten den Begriff von Gottes Verhältnis und Wirkung auf die Seelenkräfte mancher Menschen, ganz und gar abschaffen oder aufheben, ausrotten können; am wenigsten aber die wirkliche moralische Historie dieser ungleichen ersten Christen, zu einem bloßen Naturalismus machen können. Es bleibt allen andern Zeitgenossen frey über jene moralische Geschichte der Christen ganz anders, eben zur Ehre Gottes, zu denken; wie es ihnen auch ferner frey und unbenommen bleibt, eben jezt in sich selbst Gottes moralische Einwirkung ernstlich zu erwarten und zu finden. Mögen Naturalisten immer dieses eine fanatische Verirrung nennen; mögen sogar spotten über diese guten Menschen, die Gott so ernstlich verehren, und sich gern spotten lassen! Genug, immer gab es auch diese besondere Classe Menschen, und sie kann nie unter den Menschen felen.
Im N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
wird sie wirklich als eine fortgehende moralische Familie, von den andern Menschen unterschieden, die im|f125|mer Κοσμος heissen, weil diese vornemlich sich nur mit der sinnlichen, sichtbaren Welt beschäftigen; der Geist Gottes wirket nicht in diesen Menschen, oder die übrige Menschenwelt hat diesen Geist Gottes noch nicht, durch welche Gott manche Menschen nun belehret von ihrem grössern moralischen Vortheil. Dieses ist damalige und jezige Historie; die Naturalisten können diese Historie durch alle ihre ganz andere moralische Historie nicht umwerfen. Auf diesem Grundsaze von steten Wirkungen des Geistes Gottes in manchen Menschen, beruhet die neue christliche Religion. Diesen Geist Gottes hatten die Apostel und damaligen Lehrer der neuen, ganz gewis viel bessern, würdigern, eigenen, freien Verehrung Gottes; sie ist also ihrer Natur nach immer in dem Gebrauche der Seelenkräfte der Christen, wie je die Naturalisten ihre Seelenkräfte gebrauchen; und wenn sie in den Christen felet, so haben die Christen nun blos eine äusserliche neue Religionsform, wodurch sie unter einander zu einer neuen Religionsgesellschaft verbunden sind. In dieser Ungleichheit der Theilnemung an dieser Wirkung des Geistes Gottes, oder in der Ungleich|f126|heit der Beschreibung und der Anwendung dieses neuen Grundsazes, ist alle jene Verschiedenheit der alten und neuen christlichen Religionsparteien ferner gegründet, und es bleibet doch bey dieser Ungleichheit, bey allen Parteien eine wirkliche christliche Verehrung Gottes, welche einen besondern Charakter hievon behält, den die jüdische und alle heidnische und natürliche Religionsform niemalen hat, und nicht haben kann. Die Juden gehen durchaus nicht über die äusserliche Historie ihrer Vorfaren oder Nachkommen hinaus; sie erwarteten vielmehr eine noch herrlichere politische Wiederholung; daher kann die jüdische und christliche Religionsform durchaus nicht vereiniget werden; die Juden warten auf Revolution und sinnliche Freuden. Wenn aus Juden Christen wurden, so verliessen sie den vorigen jüdischen Grundsaz, daß die jüdische väterliche Religion überhaupt die beste und Gott anständigste sey; sie namen den neuen Grundsaz an, von nicht blos ehemaliger historischer, sondern fortgehender moralischen Offenbarung und Belehrung Gottes durch seinen Geist. Die neuen Christen behielten und behalten alle diesen Grundsaz, wenn sie gleich weder einer|f127|ley oder gleichviel neue christliche Urkunden hatten, noch auch in der Auslegung und Anwendung derselben übereinkamen. Eben jener neue Grundsaz brachte diese fortgehende Verschiedenheit der immer mehreren Parteien mit sich; weil der Umfang des vorausgehenden Grundsazes (fortgehende von Menschen nicht eingeschränkte Belehrung Gottes durch seinen Geist in manchen Menschen) ganz frey und unabhängig von den christlichen Lehrern und Zuhörern angewendet werden konte. Man konte nun allen mündlichen und geschriebenen Unterricht der Apostel und ihrer Schüler eben so wohl ganz buchstäblich in sein Gemüt aufnemen, welches meist der Fall war, worinn unfähigere Lehrer, Schüler und Theilnemer sich befanden; als man die unmittelbare Einkleidung und damalige locale, modificirte Beschreibung von der eigenen jezigen Erkentnis der Sachen und Wahrheiten, in allem Ernst, in würdiger Verehrung Gottes, unterscheiden konte. Beide behielten den neuen Grundsaz, Gott belehret uns in moralischer Absicht durch seinen Geist besser als wir von den Rabbinen, oder durch uns selbst im Gebrauche jüdischer Grundsäze belehret wurden; |f128| dieser bessern Erkentnis müssen wir folgen. Diese neue eigene Uebung brachte unfelbar eine neue fortgehende moralische ganz gewisse Erfarung. Wenn auch die grössere Kirche nach und nach den heiligen Geist nur ihren Bischöfen, und den von diesen geweiheten Religionsdienern beilegte, und allen so genannten Kezern den heiligen Geist gar absprach,
woher eben ehedem viele so gar die von Kezern ertheilte Taufe nicht für gültig hielten: so behielten doch alle verständige Christen es ganz frey, diese Wirkung des uneingeschränkten Geistes Gottes für allgemein, also auch ihnen nicht entstehend, anzusehen; und so erweiterte sich die gleich große eigene Ueberzeugung von der Wahrheit aller besondern Stufen und Classen der christlichen Religion in allen immer neuen Parteien, gleichsam von selbst, wirklich in aller Unschuld und Ehrlichkeit, wenn auch listige Absicht und politischer Vorsaz nicht dazu gekommen wäre, die freilich schon im ersten Anfange nicht felete und in der Menschenwelt nie felen wird. Wenn nun auch Naturalisten auf ihrer ganz andern Meinung bleiben, (welches ihnen gewis frey stehet, und andern Christen wenigstens an ihrer eigenen christlichen |f129| Verehrung Gottes gar nicht hinderlich ist,)
und sagen, daß dieses nur ein orientalischer Sprachgebrauch sei, oder ein Ueberbleibsel aus der Kindheit der moralischen Welt; es sei nicht wirklich in den Christen ein besonderer neuer Grund, oder eine Wirkung Gottes da: so gestehen sie ja hiemit den ganz gewissen Unterschied einer solchen Religion, die auf dem Grundsaze beruhet, (es gibt eine fortgehende Wirkung Gottes zur grössern moralischen Wohlfart der Menschen); oder den Unterschied dieser christlichen Religion, von derjenigen Religion, die man die natürliche nent. Nicht einmal den christlichen Sprachgebrauch behält der Naturalist, weil er alle jene christlichen Begriffe nicht annimt, welche so vielerley christliche Parteien durch verschiedene öffentliche Religionsformen und besondern biblischen Sprachgebrauch theilen. Er ziehet daher eine natürliche Religion vor, als wenn die christliche Religion auf einem Grundsaze beruhete, der wider die allgemeine Natur der Menschen ansties, dieweil sie Gott als den Oberherrn der so genannten Natur in ein grösseres fortwärendes Verhältnis gegen einige Menschen sezte, als diese Naturalisten selbst beja|f130|hen. Dis ist doch eine stete
petitio principii, welche verständige Christen nicht für einen besondern Grund, der ihre eigene moralische Ordnung schon völlig widerlege, ansehen können. Die
moralische Welt ist ganz gewis nicht weniger in sehr ungleiche Climata, oder unabänderliche Einflüsse schon getheilt, als die Lage der Erdkugel, durch welche die Arten der physischen Produkte immerfort verschieden sind. Es konnte also an Naturalisten so wenig felen, als an einer ihnen immer entgegen stehenden Partey; und
da der Ertrag der moralischen Welt eben so unendlich ungleich seyn kann, ohne Schaden der einzelnen Subjekte, wie wir es in der körperlichen Welt, bey aller immer großen Unwissenheit einsehen: so kann kein Grund angegeben werden, warum es nicht eben so wol unter den Menschen ernstliche Liebhaber einer fortgehenden moralischen Wirkung Gottes ferner geben möge, die ihre Verehrung Gottes und die Erfarung ihrer grössern moralischen Wohlfart immer weiter selbst darauf bauen: als es Naturalisten immer gibt und geben wird, welche den Grundsaz von Gottes moralischer steten Wirkung im Menschen zur besondern Regierung ihrer Seelenkräfte, für sich nie bejahen. |f131| Eigensinn, Anmassung, Stolz, Ueberhebung mus es durchaus heissen, wenn der eine Theil von diesen 2 Parteien den andern neben sich nicht dulten, und menschlicher Rechte und Pflichterweisungen nicht wehrt oder fähig halten wil. Es ist ausgemacht unwahr, daß die Ehre und Grösse Gottes durch die Einheit eines Grundsazes unter den Menschen viel mehr befördert werde, zum Besten der so ungleichen Menschen, als durch Ungleichheit, die wir dafür erkennen, ohne ihre Folgen zu wissen. Es ist unerträglich, wann das
Proselytenmachen und Annötigen zu einer einzigen Religionsform, als eine große Wohlthat für die moralisch von einander unabhängigen Menschen, und als die allerhöchste, reinste Stufe der Verehrung Gottes, anempfolen werden sol: mögen Christen oder Naturalisten diesem Irtum anhängen.
17. Aber solte es denn in der That nicht besser, nüzlicher für die Menschen seyn, wenn der Unterschied der öffentlichen Religionsformen aufgehoben würde, und alle Menschen entweder eine christliche ganz gleiche oder eine |f132| natürliche Religion zur gemeinschaftlichen Verbindung annämen?
Das würde eigentlich heissen, ob nicht manche Köpfe und Liebhaber der eignen Verdienste auf diesen Vorschlag wol kommen möchten, oder schon lange gekommen sind? Ob nicht manche Menschen sich es herausnemen, sich an die Stelle Gottes zu sezen, und sich zuzutrauen, daß sie das moralisch Gute und Bessere in Absicht der unzäligen immer ungleichen Menschen, aus ihrem einzelnen Kopfe ganz richtig zu übersezen, und nun ein neues Grundgesez für die ganze moralische Menschenwelt abzufassen, gar wohl im Stande seien? Dergleichen ganz und gar eigenliebige und eigensinnige Projektmacher hat es in der Menschenwelt immer gegeben, von denen endlich die Päbste und
die sogenannte einzige wahre Kirche es schon gelernt haben, die freie immer ungleiche christliche Religion eben so zur allereinzigen Religion für alle Menschen ein für allemal in eine unveränderliche Form zu fassen, und für alle Menschen ein viel grösseres Glück und Wohlergehen in diesem Leben, ja gar eine ewige Seligkeit hiemit zu assecu|f133|riren; wobey auch die so genannte Kirche, oder Clerisey, gewis an allem menschlichen bürgerlichen Guten, an Ehre, Macht und Reichtum viel weniger einen Mangel gehabt hat, als an moralischen gemeinnüzigen Vorzügen, worin Heiden und Muhamedaner diese christlichen Gestalten häufig zum wahren Besten anderer Menschen, und zur Rettung der Moralität, und Ehre Gottes, sehr übertroffen haben. Je mehr die ehrliche Geschichte dieser Päbste und Bischöfe ins wahre Licht gestellet wird, desto weniger finden unsre Zeitgenossen eine Ursache zu wünschen, daß sie doch in jenen Jahrhunderten möchten gelebt haben. Wenn nun hingegen sehr viel Naturalisten eben diesen alten ganz falschen Grundsaz, von gröster steter Einheit der moralischen Menschenwelt aufstellen, und durch eine natürliche Religion alle übrigen historischen Religionsformen ganz abschaffen wollen: so treten sie ja völlig an die Stelle jener Päbste, welche die stete unabhängige Freiheit der moralisch eigenen Privat-Religion durchaus aufgehoben haben. Sie wiederholen also eine blos politische Aufgabe, in Absicht der Einheit aller öffentlichen Religionsform für alle Menschen.
Es ist |f134| aber eine unendliche Aufgabe, worin das gröste Wohlergehen aller so verschiednen Menschen, bürgerlich und moralisch bestehe, das nun an die bisherige Stelle des gegenwärtigen Wohlergehens mit vorzüglichem Rechte gesezt werden sol? Bescheidene Menschen solten nicht so übereilt um sich greifen und über das gröste Wohl der ganzen Menschenwelt absprechen, darin sie kaum einem kleinen sehr eingeschränkten Ameishaufen selbst ausmachen. Nach der christlichen Hauptlehre
sollen alle Menschen Gott lieben von ganzen Herzen, nach allen ihren Kräften, deren Ungleichheit immer fortdauern mus; und nun soll jeder seinen Nächsten in allen Fällen lieben, als sich selbst, wo die locale Ungleichheit ebenfals immer da ist, und nicht aufgehoben werden kann. Diese praktische Religion kann nun immer da seyn, bey noch so groser Verschiedenheit der Kräfte des Verstandes; und wenn diese praktische Religion sich unter den Christen (die Wirkungen Gottes annehmen glauben und gelten lassen,) immer mehr ausbreitet, so ungleich auch ihre Theorien und Lehrformen sind: so ist die Wohlfart der Nebenmenschen so gewis schon berechnet, daß eine allgemeine|f135|öffentliche Religionsform weiter gar kein Projekt werden kann. Die bürgerlichen Namen, römischkatholisch, lutherisch, reformirt, Jude,
Mennonit etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
beziehen sich auf die politische Ungleichheit der öffentlichen Gesellschaften; wenn diese eine bürgerliche gute Verbindung haben, so können sie jedem Staate ganz gleichgültig seyn, und der Privat-Religion, die noch weniger ein einziges Maas haben kann, ist die öffentliche Religionsordnung nie hinderlich. Zu welchem großen Endzweck solten nun alle öffentlichen Religionsparteien in den einzigen Naturalismus übergehen? Sollen die Staaten mehr Macht und Sicherheit wider innerliche Unruhen dadurch erhalten? das werden weise Regenten schwerlich bejahen, da sie auch den Naturalisten nicht ins Herz sehen können. Sollen die bisherigen Zeitgenossen bürgerlich glücklicher werden? Man müste sie also schon als sehr unzufrieden voraussezen oder machen; und wer kann alle Privat-Wünsche befriedigen, wenn die Menschen nicht eine unsichtbare Regierung höher sezen über alle ihre Veränderung? Sol mehr Moralität gewis alsdenn wirksam werden? Es bleibt aber eben die bisherige innere und äussere Ungleich|f136|heit der Menschen, wie sie seit Jahrtausenden gewesen ist.
Aber es ist wohl wahr; wenn der bisherige öffentliche kirchliche Lehrstand unter den Christen mehr um einer bequemen oder geehrten Lebensart willen ergriffen wird, als um die Zuhörer in eigner freier Privat-Religion ernstlich zu befördern, an welcher ohnehin so viel Prediger viel weniger selbst Theil nemen, als an ihrem Stande und Rechten in der Gesellschaft, und wenn Naturalisten immer mehr aufmerksam sind auf diese Mängel des Lehrstandes, als daß sie die vielen thätigen, wenn auch einfältigen Christen in Rechnung sezen, wenn die Rede ist von dem wirklichen bisherigen Nuzen der christlichen Religion für den Staat: so werden beide Parteien einander ferner zu verkleinern und verächtlich zu machen fortfaren, und die grössere Ehre Gottes dort, und den grössern Nuzen der Zeitgenossen hier, so aufstellen, daß in der That das gemeinschaftliche Wohl des Staats, worin Christen und Naturalisten frey und ungehindert leben, durch solchen eigenliebigen Wortstreit sichtbar zerrüttet wird. Dieser Zerrüttung aber abzuhelfen, |f137| ist weder die Abschaffung aller christlichen Religion, noch die gewaltthätige Unterdrückung des Naturalismus, ein würdiges und sicheres Mittel. Wie Naturalismus durch eine christliche Religionsform anderer Zeitgenossen gar keine solche Gewalt leidet, die sein eigen Gewissen für ihn selbst unthätig mache; Naturalisten also, ihres eigenen moralischen Vortheils wegen, gar nicht auf die Abschaffung der öffentlichen christlichen Religionsform antragen können, ohne sehr stolze Verachtung der viel grössern Gesellschaften: so haben auch christliche Lehrer es nicht zur vorzüglichen Pflicht, die öffentliche Religionsform, deren bestalte Diener sie sind, so falsch zu empfelen, daß Haß und Verachtung derjenigen Zeitgenossen, die Naturalisten sind oder heissen, zum ersten und gewissesten Merkmal eines wahren Christen angenommen würde. Die innere eigene Religion ist gar keiner menschlichen Lehrform, sondern Gotte und dem Gewissen allein unterworfen. Hier haben alle christlichen Parteien einerley Feler wider einander begangen, und sogar ihren Vorzug in der Verehrung Gottes darein gesezt, daß sie einander geradehin alle wahre Verehrung Gottes abgespro|f138|chen haben, weil sie nicht eben denselben Begriff mit den christlichen Lehrartikeln verbunden haben; welches doch so gar unmöglich ist, da es bey den Christen keine Knechtschaft und Unterwerfung des Gewissens an das Gewissen anderer Christen geben kann.
18. Aber warum haben denn die Christen so vielerley, so verschiedne Lehrbücher, Katechismen, Glaubens- oder Lehrbekenntnisse, symbolische Bücher, Gesangbücher etc[.]
Abkürzungsauflösung von "etc": et cetera
? Diese so verschiednen Bücher, die oft auch gar wider einander gerichtet sind, können doch nicht zur Erleichterung und Beförderung der praktischen Religionsübung dienen, welche doch ganz allein die beste und wahre Verehrung Gottes für alle Menschen ausmacht?
Man könnte eben so fragen, warum gibt es so verschiedne, so ungleiche bürgerliche Regierungsformen, Statuten, Stadt- und Landrechte, die oft einander entgegen sind? Bey allen diesen ungleichen politischen Verfassungen gibt es überall gute glückliche Bürger und Unterthanen; indem |f139| die besondere einzele Wohlfart gerade in der Beobachtung der daseienden wirklichen, jezigen bürgerlichen Verfassung bestehet. Wie an dieser Verschiedenheit nicht die Bosheit, der wilde Vorsaz, der bloße Eigensinn, Schuld ist, sondern eine nicht aufzuhebende Ungleichheit solcher Umstände, die ausser dem Willen der Einwoner der und jener Gegenden da war, und nicht weggeschaft werden konnte: so ist es auch mit der Ungleichheit der äusserlichen christlichen Religionsformen beschaffen. Die Menschen waren schon verschieden nach innern und äussern Umständen, da sie die christliche Religion zur neuen, öffentlichen, gemeinschaftlichen Verbindung annamen, und die vorige jüdische oder heidnische oder papistische, bischöfliche verliessen. Eben so waren die Lehrer verschieden, welche den christlichen Unterricht zum ersten ausbreiteten. Es wurde also immer der Inhalt der öffentlichen Religionsform ungleich angenommen; und so blieben mehrerley öffentliche Religionsformen neben einander stehen, so bald es mehrere christliche Gesellschaften neben einander gab, die einander auch hierin durchaus nicht unterworfen seyn konten, wie sie in der öffentlichen politischen Regierungsform |f140| einander nicht unterworfen waren. Um ihre gleichen Rechte ferner gewis zu genießen und zu behaupten, machte jede Partey ihre besondere Lehrbücher, wodurch die eine Gesellschaft als solche von den andern immer unterschieden blieb. Wenn Christen in einem Staate öffentlich Schutz geniessen wolten, musten sie den Inhalt ihrer Religionssäze der Obrigkeit vorlegen, und dabey nun zu beharren versprechen; denn die
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Obrigkeit hielt sich nun an diese Bekentnisse, und die neuen Religionsverwandten musten sich solche Schranken gefallen lassen als die Ruhe und Wohlfart des Staats, der die neuen Schutzverwandten, unter dieser Bedingung aufnam, es jedesmal mit sich brachte; daher selbst unter christlichen Kaisern, Königen und Regenten die Duldung mehrerer christlicher Parteien keinesweges von gleichem Umfange war. Es haben also alle diese Bekentnisschriften zunächst eine bürgerliche äusserliche Absicht, damit der Staat darin gewis ist, daß dieses auch gute, ruhige, nüzliche Bürger sind und bleiben wollen; und zugleich gehen alle solche Lehrbekentnisse auf das eigene Gewissen, auf das daseiende Maas der Erkentnis der Mitglieder einer Partey, in Absicht |f141| der gemeinschaftlichen Verehrung Gottes in ihren Versamlungen. Diese christliche Religion läßt übrigens die bürgerlichen Geseze und Verordnungen des Staats stehen. Daher stehen auch alle diese neuen Familien die der Staat beschüzt, immer unter der Oberaufsicht des Staats, daß sie ihre Lehrformeln nicht heimlich verändern, und die erlangten Rechte zum Nachtheil anderer Nebenparteien, und zur Zerrüttung des Staats, nicht überschreiten dürfen. Es war also auch diesen Parteien das Proselyten werben ohne Vorwissen des Staats, verboten. Es ist und bleibt dieses alles eigentlich eine politische Aufgabe, oder ein bürgerlicher Gegenstand, wenn christliche Familien so gros wurden, daß sie der vorigen ältern Religionsform merklichen Abbruch hiemit thaten; daher die ältere katholische Partey jederzeit solche neue Religionsfamilien durchaus unterdrückt, und ihre Lehrformeln als kezerische niemalen erlaubet hat. Es waren ganz besondere äusserliche Umstände, die im 16ten Jahrhundert es mit sich brachten, daß beide protestantische Parteien wider die bisherige päbstliche Religionsform, sich eine besondere eigene Religionsform wälen konten.
Die Augspurgische Confession heißt auch an|f142|fänglich eine Apologie und Schuzschrift wider die vielen Lästerungen, als ob die Lutheraner gar von der christlichen Religion und aller bürgerlichen Ordnung abgefallen wären. Die Protestanten sezen, nach ihrer Ueberzeugung, zum Grunde, daß bey ihnen eine bessere christliche Verehrung Gottes, und der ächte Inhalt der christlichen Lehre seie; welches freilich die härtern Papisten durchaus nicht zugeben wolten. Die nächste Absicht solcher Bekentnisse ist also wirklich immer in Verhältnis auf andre daseiende christliche Parteien noch jezt zu beschreiben. Protestanten wolten nicht mehr den bisherigen Lehrbegriff der römischen Kirche, als die beste Lehrform behalten; Lutheraner wolten auch von der
zürchischen Partei sich unterscheiden, die im teutschen Reiche noch nicht gedultet wurde. Der neue protestantische Lehrbegriff ist bestimt diese neue Partey als solche fortzusezen, wider die spätern Kirchensazungen der Päbste und Bischöfe; alle Lehrer sind also daran gewiesen was ihr öffentliches Amt betrift, und alle andern Mitglieder haben sich daran gebunden in allen feierlichen Versammlungen und gemeinschaftlichen Religionshandlungen; damit |f143| die Gesellschaft einander als gleich gute Mitglieder immer erkennen kann. Allein nun ist und bleibt die freie ungleiche Privat-Religion eines jeden einzelnen Christen in jeder Gesellschaft, immerfort in der besondern Stufe, worin ein Christ neben den andern Christen wirklich selbst stehet; und eben dieselben Wirkungen des unendlichen uneingeschränkten Gottes befördern die besondere moralische Wohlfart in allen Christen, welche der eigenen innern Religion ergeben sind; ohne daß der Unterschied, der die grossen Gesellschaften der Christen bürgerlich, äusserlich so wol abtheilet, als ihre Mitglieder ebenfals äusserlich vereiniget, dieser eigenen innern Religionsübung irgend einen moralischen Nachtheil bringe; wie hingegen die äusserliche Vereinigung vieler Christen in einer gemeinschaftlichen Religionsform gar keinen innerlichen Nuzen für sich selbst schaft, wenn diese Christen ohne alle innere Religionsübung solche feierliche, gesellschaftliche Handlungen eben so blos äusserlich verrichten, als sie in der öffentlichen Form enthalten sind. Hier haben freilich die kirchlichen Obern fast aller Parteien einerley Feler begangen, wie schon berürt worden, daß sie die innern guten |f144| Folgen
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, welche eines und desselben Gottes unsichtbare Wirkungen einschlossen, welche also stets moralischer Natur, und nie gesellschaftlicher oder bürgerlicher Art sind, eben an ihre öffentliche Religionsform gebunden haben; da doch die christliche Theilnemung an den moralischen Wohlthaten Gottes, die sie Christo und dem Geiste Gottes danken, durchaus nicht von menschlichen, bürgerlichen Gesellschaften weiter eingeschränkt werden können. Wenn diese praktische Religion unter den Christen aller Parteien immer die Hauptsache wäre und sich immer mehr in allen Gegenden ausbreitete: so würden die Naturalisten ihre meisten Einwürfe verlieren, und blos jene Wirkung Gottes bezweifeln; das stünde ihnen freilich ganz frey; aber die gewissen grossen Folgen der christlichen innern Religion blieben in den Christen, ohne bei Naturalisten vorzüglich gefunden zu werden.
19. Warum wird es aber den Christen selbst so schwer gemacht, über ihre Religion frei zu denken und zu urtheilen, daß daher eben die Naturalisten über Religionszwang klagen kön|f145|nen, daß man von lauter Heuchlern redet, die ihre eigene Erkentnis nicht öffentlich lehren wolten, oder dürften; woher eben für die ganze christliche Religion der Vorwurf von
Priester- und Pfaffenbetrug – schon so lange Zeit und so bitter gemacht wird?
Es ist wahr, daß in manchen Ländern oder so genannten Kirchenordnungen selbst der Protestanten, von Zeit zu Zeit zu hart und streng über die symbolischen Bücher, und eine schon eingefürte Lehrordnung gehalten worden ist; theils schon gegen das Ende des 16ten Jahrhunderts
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,
bis nachher der öffentliche Religionsfriede auch auf die Reformirten im teutschen Reiche erstrekt worden; theils auch aus Herrschsucht und Stolz mancher Theologen, die sich wirklich zu Gebietern über den Verstand anderer Gelerten und Ungelerten aufwarfen,
daher schon Spener über solchen Misbrauch der symbolischen Bücher ernstlich geklagt hat. An sich selbst aber behalten alle denkende Christen den freien Gebrauch ihres Gewissens zu ihrer eigenen Privatreligion, wenn sie auch die öffentliche Lehrformen und Religionsordnungen nicht |f146| nach ihren besondern Einsichten ändern können, (die ja auch nicht blos um der verständigern Glieder willen da sind;) sondern die gesellschaftliche Absicht und eine kirchliche Polizey gern gelten lassen, in allem, was zur feierlichen, gemeinschaftlichen Theilnemung an Gesängen, Gebeten, Predigten, Formularen zur Taufe, Abendmal gehöret. Die eigene Privatreligion aber behält alle Mittel frey, zur immer grössern eignen Kentnis und Anwendung zur gewissen und grössern christlichen Wohlfart des Menschen; und
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weil jene öffentliche Religionsform nur auf einige Zeiten, und auf Zusammenkünfte vieler Christen sich beziehet, kan kein verständiger Christ sagen, diese gleichförmige Theilnemung in der Versamlung
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in der und der Zeit, hindere ihn gar an seiner innern Privatreligion. Es gibt daher häufig unruhige Köpfe, eingebildete Alleswisser, und selbstsüchtige Leute, welche so leicht über die gemeinschaftliche Religionsform, als über eine unleidliche Knechtschaft immer Klagen erheben. Alle öffentliche Einrichtung beziehet sich auf eine große sehr ungleiche Menge; und kein guter Bürger übereilt sich mit Tadel solcher öffentlichen |f147| Einrichtungen, die ihm selbst nichts schaden, und vielen andern sehr nüzlich sind, ja wol so lieb sind, daß sie durchaus nichts geändert wissen wollen. Hierauf beziehen sich alle öffentlichen Kirchenordnungen, und sezen es voraus, daß verständige Christen,
die sich selbst berichten können, wie Luther redet, um so vieler andern willen sich auch nachgebend fügen, wenn es gleich für sie selbst einer Anordnung nicht
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bedurft hätte. Es sol Anstand und Würde zumal für den großen Haufen unterhalten werden; hiezu gehört eine gleiche Ordnung, der sich alle, ohne Ausname, um eben ihrer Verbindung sich bewußt und öffentlich, merklich geständig zu seyn, unterwerfen. Die Vornemen und noch so verständigen Glieder sollen eben durch ihre Gleichförmigkeit diese willige Subordination befördern; weil der grössere Haufe einen sinlichen gleichen Eindruck zum ersten erwartet, bis sich nach und nach eigne Fähigkeit und Uebung reget.
Diese weise Einrichtung, worin durchaus auch manche Kirchenpolizey befindlich war, haben selbst Prediger entweder nicht gekant, oder als ihrer Be|f148|quemlichkeit und ihrem Ansehen dienlich, selbst unrichtich angewendet; haben der öffentlichen Religionsform, die meist durch sie allein ausgerichtet wird, einen zu großen Einflus beigelegt auf die Seligkeit ihrer Zuhörer; als wenn die christliche Seligkeit statt finden könne, ohne eigene stets fortgehende innere Uebung der Zuhörer; haben daher einerley Glauben und Beifal der Zuhörer gefordert, ohne in ihnen eigene immer freie Erkentnis zu befördern. Durch diese Gewohnheit und Anhänglichkeit an die äusserliche Kirchenordnung wird aber eben jener Religionshaß und falsche Eifer erzeuget und fortgesezt, wider alle Christen, die daneben sich einer eigenen fortgehenden Erkentnis befleißigen; und ihre eigene innere Verehrung Gottes in Absicht ihrer selbst, höher achten als die feststehende äusserliche Religionsordnung, wodurch nur eine gesellschaftliche Verbindung fortgesezt wird. Da aber alle öffentliche Religions- oder Kirchenordnung menschlich ist und bleibet, und nur zur äusserlichen guten Ordnung, in großen Versammlungen gehöret, die immer aus sehr ungleichen Mitgliedern bestehen, welche eben jezt ihre Vereinigung und Verbindung an den|f149|Tag legen sollen, wozu durchaus äusserliche feste gleiche kentliche Merkmale gehören: so müsten Prediger diesen großen steten Unterschied der äusserlichen und innerlichen christlichen Religionsübung, immer mehr erklären, wenn die rechte würdigste Verehrung Gottes den Christen wirklich mehr bekant werden soll. Es ist ganz unmöglich, daß alle Christen des ganzen Erdbodens eine allereinzige öffentliche Gesellschaft ausmachen, und einerley Lehrform und Religionsform haben und behalten solten; es ist auch nicht nötig zu der moralisch eigenen Wohlfart aller Christen, denn die Verehrung des unendlichen Gottes kann nur durch das eigne Gewissen eingeschränkt werden. Es war also Parteygeist, und nicht die wahre beste Verehrung Gottes, wenn eine Partey ihre Einrichtung und Ordnung der gesellschaftlichen Religionsübung, ihre Lehrform und Lehrart, allen andern Christen als unentberlich zur christlichen Seligkeit aufdringen wollte; denn Gott ist es selbst der uns selig macht durch Christum ; gewis nicht durch unsre Formeln darüber; sondern in moralischer eigener Uebung. Alle Lehrformeln, wenn sie auch einen Unterschied der christlichen Gesellschaft mit sich |f150| brachten und fortsezten, waren hiemit nicht von dem neuen allgemeinen Grunde der christlichen Verehrung Gottes abgewichen, der wahrhaftig aller christlichen eigenen innern Religion gemein bleibet; wie ja sogar alle christlichen Parteien wirklich auch die Bibel oder das apostolische Symbolum zum gemeinschaftlichen Lehrgrunde und Lehrbegriff immer behalten. Es war aber ein ganz falscher Grundsaz, daß alle Christen zu der christlichen sowol öffentlichen als eigenen besondern wahren Verehrung Gottes einerleyäusserliche
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schriftliche Formeln, Gesänge, Cerimonien haben und behalten müsten. Daher entstehet alle fernere unchristliche Begegnung gegen einander. Die christliche Verehrung Gottes ist so unendlich in Stufen und im Inhalte, als die Gegenstände es alle sind, welche das Nachdenken der so verschiedenen Christen immer mehr entwikeln kann. In allen christlichen Gesellschaften aber wird zum Anfange und zur Fortdauer der Gesellschaft eine gemeinschaftliche Religionssprache öffentlich eingefüret und festgesezt; weil in keiner localen Gesellschaft alle andern auch localen Gesellschaften begriffen und eingeschlossen werden können. Es ist ganz |f151| gewis, daß in jeder christlichen Religionsgesellschaft eine christliche Verehrung Gottes da seyn kann; es ist eben so gewis, daß Christen eine eigene innere Verehrung Gottes daneben sich schaffen können und müssen,
wenn sie ihre moralische Wohlfart nicht als eine physische Folge ihrer gesellschaftlichen Religionsform ansehen sollen; welches eine grobe äusserliche Beherrschung der Christen mit sich brächte. Es ist aber freilich sehr bald eine solche Beherrschung aller Christen von den vielerley Urhebern christlicher Religionsparteien beabsichtiget worden; sie haben daher einen solchen physischen Erfolg ihrer eingefürten Cerimonien, ja gar ihrer Formeln von christlichen Worten, immer mehr bejahet und aufgestellet; und nun konten sie durch immer neue Erfindung ihrer Partey einen Vorzug geben wollen, da doch aller Vorzug der Christen als Christen allein in moralischen Fertigkeiten bestehen solte, wodurch sie die grössere Verehrung Gottes leisteten. Freilich trat nun christliche Superstition von Zeit zu Zeit an die Stelle der jüdischen und heidnischen; wir wollen es entschuldigen mit den Stufen der moralischen christlichen Kindheit. Es mus aber der wahre Charakter der christlichen |f152| Verehrung Gottes ernstlichst behauptet werden, wonach der mögliche gewissenhafte Gebrauch des eigenen Verstandes aller fähigen Christen, zur freien Betrachtung und Anwendung aller christlichen Begriffe und Gegenstände, ihre Privat-Religion ausmacht. Wenn daher Prediger geradehin die Anwendung der Vernunft schelten und verwerfen, und einerley Glauben fordern für das was sie öffentlich, gut oder schlecht, vortragen: so vergessen sie
Pauli Vorschrift, der eine treue Lehrgeschicklichkeit zur eignen freien Ueberzeugung der Zuhörer von Lehrern fordert; διδακτικος soll der Lehrer seyn.
Die Christen würden zu todten Maschinen gemacht, wenn die öffentliche Religionsform, die nur zur gesellschaftlichen Ordnung gehört, in so viel tausend Zuhörern einen und eben denselben Erfolg ihrer Seligkeit hätte, durch Anwendung des Gedächtnisses, ohne eigenes individuelles Nachdenken. Die Zuhörer würden also sich als todte Materialien von den Lehrer verarbeiten lassen; und diese knechtische Unterwerfung hatten freilich Pfaffen und Mönche ehedem wissentlich zur rechten christlichen Verehrung Gottes eingefüret; die Zuhörer wurden wirklich |f153|als Christen das Eigentum der Kirche; sie durften nicht selbst christlich nachdenken. Gleichwol müssen umgekehrt die Zuhörer nur durch den öffentlichen Unterricht dazu angeleitet werden, sich mit freien Gebrauche ihres Gewissens ein moralisches Eigentum zu schaffen und zu erwerben, das zu ihrer besondern christlichen immer bessern Verehrung Gottes bestünde. Die öffentliche Religionsform aber kann nie das Eigentum eines Privat-Christen werden, sie gehört der ganzen Gesellschaft und nur diese kann Aenderungen darin machen; daher müssen auch privati sich nicht anmaßen sie zu verändern; oder sie geben schon geheime Absichten zu erkennen, denen dieses
jus publicum sacrorum communium noch im Wege stehet.
Der Vorwurf von Heuchlern wird gar unrecht hieher gebracht. Er würde alle eigene Unterwerfung an jede öffentliche gesellschaftliche Ordnung aufheben. Lehrer in den öffentlichen gesellschaftlichen Versammlungen sind nicht bestellet ihre Privat-Einsichten aufzustellen; um sich gar wider die Grundsäze ihrer Gesellschaft zu erklären, |f154| und einen neuen Inhalt zu empfelen, der sogar den historischen localen Charakter der christlichen Religion auslöschen müste. Eine große Gesellschaft gab den Auftrag, Diener ihrer öffentlichen Religionsordnung zu seyn. Diese gesellschaftliche Religionsordnung ist über den angesezten Prediger, was seine öffentliche Amtsfürung betrift. Er hat hier keine Freiheit, wenn die Gesellschaft sie nicht bewilligt. Die Gesellschaft ist Herr über ihre Verbindung, die gar nicht philosophisch, sondern ganz bürgerlich ist, und bürgerlichen Vertrag zum Grunde hat. Die Besoldung ist und bleibt eine bürgerliche Prämie für den Lehrer in der Religionsgesellschaft; sie wird nur ertheilt, so lange der Religionslehrer den Vertrag hält. Unsichtbare Eigenschaften, Einstimmung des eignen Gewissens bey dem Lehrer, konte die Gesellschaft nie in Rechnung nemen. Wenn er also seinem Gewissen folgen, und so gar den Grundsäzen dieser Gesellschaft entgegen handeln wil, als Lehrer: so kündigt er selbst den bisherigen Vertrag auf; ob er als Naturalist ein moralisch würdiger Mensch sei, gehet diese öffentliche Gesellschaft gar nichts an; sie beruhet hier auf äus|f155|serlichen feststehenden Merkmalen, die eben wider dergleichen Eingriffe und Verwechselung des Verhältnisses, das im Vertrage bestimt war,
sanciret sind.
20. Ist denn aber diese immer gleiche öffentliche, gesellschaftliche Religionsordnung allen einzelnen Mitgliedern gleich gut, einmal wie allemal, notwendig zu ihrer eigenen Privat-Religion?
Diese Frage gehört für die Privat-Christen selbst und kann nicht durch andre so entschieden werden, daß jeder Christ nun selbst in Absicht seiner eben so entscheiden und sich einem fremden Ausspruche unterwerfen müste. Es war ein politischer Misbrauch der Clerisey, daß sie diese Frage bejahete, wenn auch die öffentliche Religionsform noch so eigennüzig für sie selbst eingerichtet war. Hiemit hat sich die Clerisey eigenmächtig aus dem ganzen bürgerlichen, gesellschaftlichen Verhältnis herausgehoben, und ihren Stand als allein oder doch vorzüglich göttlich ansehen lassen, der doch ohne bürgerliche Gesellschaft, zu welcher |f156| er selbst in wahrer Abhängigkeit immer gehöret, gar nicht da wäre. Hiemit hat sie auch die Geschäfte oder Dienste, welche nur durch die Clerisey allein verrichtet werden nach dem Auftrage der Gesellschaft, ungebürlich an sich gerissen, und sie viel zu wichtig und gros gemacht. Diese alten Irtümer oder Künste müssen ernstlich entblößet werden. Jeder Stand der Menschen, die Christen sind, worin einer den andern nach Gottes so kentlicher Ordnung, bürgerlich, häuslich, moralisch nüzlich ist, mus eben so göttlich heissen, als der Stand der so genannten Clerisey oder Geistlichkeit, oder Kirchendiener. Jeder Diener der öffentlichen Religionsverfassung kann die Wichtigkeit seines Berufes ihm selbst immer sehr ernstlich vorhalten, um sich immer mehr zu großer Treue zu ermanen; aber andern Menschen muß er nicht blos seinen heiligen Stand an sich schon als götlich vorhalten; sondern wissen, daß er selbst seinen Stand ehren, oder bei andern geringschäzig machen kann. Aber es war auch ungerecht, daß selbst unter Protestanten manche Dissidenten die ganze öffentliche Religionsordnung hasseten, und öffentlich verächtlich machten, als wären alle Kirchendiener blos |f157| eigennüzige Pfaffen; daß sie
auf das Kanzelholz schmäleten,
Beichtstul und Höllenpful zusammenreimeten,
ein armes Wortspiel mit Bibel, Bubel, Babel aufbrachten etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
Es ist doch ganz unrecht, über die und jene Mängel, die in allen menschlichen Einrichtungen schon sind oder sichtbar werden, wild und zornig zu spotten; es ist wider die Pflichten der Gesellschaft, in welcher man doch auch viel Gutes genießet, das sonst nicht so gewis da wäre. Gute Menschen tragen gern einander, ohne sich selbst zu erheben; jeder behält demnach sein inneres Bewußtsein und sein eigen Gewissen frey. Der große Unterschied der Zeit, worin Christen sich in eine öffentliche Religionsform vereinigten, brachte allemal auch einen Unterschied des Inhalts der Religionsform, und selbst auch der Privat-Religionsübung mit sich; und dieses damalige Maas war wirklich das Maas das in jene Zeit und für damalige Christen gehörte, es mochte mancher Privat-Christ auch zu viel von der öffentlichen Religionsform erwartet haben; besser wuste er es nicht. Wer aber selbst eine eigne
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Erkentnis hatte, der behielt sie, und vermehrte sie für sich zu seinem moralischen Vortheil, mochte |f158| die öffentliche Religionsform noch so schlecht für ihn heissen. Als äusserliches Mitglied dieser äussern Gesellschaft blieb er doch im Besiz seiner Einsichten, hielt aber nicht für nötig seine Privat-Uebung öffentlich aufzustellen, und gar bürgerliche Zerrüttung damit zu veranlassen. Das moralische Leben, die neue Wohlfart der Christen ist verborgen mit Christo in dem unendlichen Gott; wenn Christus in dem Christen lebet, (und das ist ganz frey,) so ist dis für andre Menschen eine unsichtbare Geschichte, und ist blos individueller innerer Zustand dieses Christen; wie jeder häusliche Vortheil des fleißigen geschiktern Bürgers sein wahres geheimes Eigentum bleibt. Häufig aber haben die Bischöfe dieses verborgene, freie innere Leben der Christen, das in dem unendlichen Gott verborgen ist, durchaus abschaffen und durch die öffentliche Religionsform ganz hindern wollen; weil alle diese verständigern, moralischen, glückseligen Christen, den falschen übertriebnen Werth der bischöflichen Religionsordnung zu gut kennten, als daß sie ihn für sich selbst, und für ihre ganze Privat-Religion geradehin hätten gelten lassen; daher sind alle jene greulichen tirannischen Auftritte |f159| entstanden, welche diese christliche (bischöfliche) Religion
geradehin stinkend gemacht haben, für alle gute würdige Menschen. Da aber unter Protestanten es keine gewaltthätige Erhebung der öffentlichen Religionsform über die eigene Privatreligion verständiger Christen gibt: so haben diese auch gar keine Ursache, sich über die gesellschaftliche Religionsordnung, wenn sie auch Mängel darin finden, zu beklagen; indem ihre freie Privat-Verehrung Gottes, ihr ganzes inneres Leben durch gar nichts äusserliches gehindert werden kann. Es mus demnach eine öffentliche christliche Religionsform geben, selbst um der grossen Gesellschaft willen; noch ehe die Rede ist von moralischer Privat-Religion, die hinter dem öffentlichen Unterrichte entstehet. Wenn aber declarirte Naturalisten sich wider alle christliche Religion geradehin aufstellen: so ist gewis, daß sie diese innere Religion der wahren freien Christen gar nicht kennen; und daß sie also nicht als gute Mitbürger sich betragen, wenn sie die öffentliche Religionsform irgend einer Gesellschaft verspotten, und ihre eigene moralische oder unmoralische Privatübung zur Vorschrift für alle Menschen |f160| erheben wollen. Hier müssen Obrigkeiten die öffentliche Religionsform aller Parteien, die in ihrem Staate schon da sind, wider solche Beschimpfungen sicher stellen. Es ist gar nicht die Rede von Wahrheit, von Aufklärung und Privat-Erkentnis, deren Untersuchung allen fähigen Menschen heilige Pflicht ist und bleibet zur wahren Verehrung Gottes, nach ihrem eignen Gewissen. Es ist blos
die Rede von gesellschaftlichen Rechten und Verträgen; wohin alle Gedanken oder Grillen von Naturstande, von Menschenrechten, von kosmopolitischen Anstalten gar nicht gehören. Die öffentliche Religionsordnung beziehet sich, wie schon gesagt worden, zunächst auf eine Gleichförmigkeit in der gemeinschaftlichen Theilnemung an feierlichen äusserlichen Handlungen, die Merkmale der Religionsordnung ausmachen, worin sich jezt alle Mitglieder kentlich vereinigen. Hiebei bleibt aber der ganze besondere Unterschied aller Mitglieder, wonach ihr innerer moralischer Zustand ungleich ist. Die periodische oder an Zeit und Ort gebundene Gleichförmigkeit in diesen feierlichen Merkmalen einer ein für allemal bestimten Gesellschaft vereiniget|f161|eine Menge und Vielheit der Mitglieder für diese Zeit und zu diesen öffentlichen Handlungen in gemeinschaftlicher bürgerlicher Absicht; denn die Christen bleiben Bürger. Aber sie bleiben innerlich sehr verschiedne Christen, und haben nicht einerley Maas ihrer Privat-Religion, oder der Erkentnis. Protestanten lehren nicht, daß die ganze christliche eigene Wohlfart darin bestehe, daß Christen in einer großen Anzal eine äusserliche Ordnung ihrer öffentlichen Religionsbeschäftigung, allesamt so oder so oft beobachten. Pfaffen und Mönche haben ehedem diesen groben Irtum zu befördern gesucht; daher entstund eine äusserliche Tiranney und Herrschaft der Clerisey, die ehemals nur aus Religionsdienern bestund, welche aber nun Gebieter wurden, wonach die eigene Seligkeit der Christen gar nicht statt finden solte, wenn die Christen sich nicht durch diese Kirchendiener gar beherrschen liessen.
Luther hat im 2ten Theil der schmalkaldischen Artikel dieses schändliche Pabsttum sehr gut aufgedekt. Die Protestanten haben keinen Pabst über ihren eigenen Glauben. Dis war List, Unwissenheit und Aberglauben, der freilich alle unfähigen Chri|f162|sten bezwingen konte; wir wissen aber, daß eine freie unsichtbare Kraft Gottes, die wir selbst erfaren, uns selig macht durchChristum , es mag diese Bestimmung durch Christum, so oder so verstanden werden. Diese eigene Erfarung kann durch die öffentliche Religionsform befördert, aber nie ganz gehindert werden, bey verständigen Christen. Man hat aber leider jezt Christen, die von dieser Erfarung so wenig wissen, als Naturalisten. Selbst Lehrer hatten häufig nur den Schein einer christlichen Gottseligkeit; es hies Fanaticismus, was sonst
Geist und Kraft hies. Wie konte nun die öffentliche todte Religionsform den wahren Christen ferner lieb seyn? wie konte sie Naturalisten moralisch empfolen werden? Der protestantische Staat hat indes seine Clerisey einer solchen Vorschriftund
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Ordnung unterworfen, als jede Religionsgesellschaft selbst eingefürt hat; in dieser äusserlichen Religionsordnung sol jede Gesellschaft frey sich fortsezen. Denn die eigene innere christliche Verehrung Gottes wird durch alle äusserliche Ordnung in öffentlichen feierlichen Zusammenkünften gar nicht gehindert, was verständige Christen betrift. Für den großen Hau|f163|fen aber mus es eine solche Ordnung geben, die er immer wieder dafür erkennen kann, daß es seine bisherige Religionsordnung ist, woran seine Rechte in der Gesellschaft ganz kentlich hängen.
21. Was heißt denn bey den Christen Seligkeit durchChristum ? Christus hat ihnen die Seligkeit erworben; zur Seligkeit ist notwendig –? Da die Bischöfe diesen Weg der Seligkeit allein zu lehren hatten:
so scheint es ja freilich, daß kein Christ selig werden könne, ohne durch die Lehrer und Bediente der öffentlichen Religion; und daß notwendig alle andre Menschen, die nicht Christen heissen, aller Seligkeit entberen! Das wäre doch aber eben keine sonderlich würdige Folge einer Offenbarung Gottes, wenn die Christen diesen groben Irtum angenommen hätten!
Es ist freilich auf diese Frage ehedem zu wenig gesehen, und noch weniger immer gut und richtig geantwortet worden;
wenn gleich dieser |f164| Ausdruck σωτηρια, Seligkeit oder selig werden, gar oft im teutschen N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
vorkommt, wie das hebräische Wort ebenfalls gar oft gefunden wird, ohne eine bestimte Erklärung der Sache. Menschen werden errettet, oder in einen Zustand des Heils, Wohlseins wieder versezt, den sie verloren hatten: bezog sich zunächst auf allerley äusserliche Gefar oder Unglük oder Elend, worin sie sich befunden hatten.
Dein Glaube hat dir geholfen, oder hat dich wieder gerettet aus deiner Krankheit, hat in griechischen eben dis Wort, das sonst Seligkeit übersezt wird.
Er wird sein Volk selig machen von ihren Sünden, verstunden viele Juden, er wird die Juden erlösen von der bisherigen Herrschaft der Heiden, in welcher sie sich
zur Strafe der Sünden ihrer Väter und ihrer eigenen bisher befunden. Dis war überhaupt die falsche Hofnung der Juden, die von dem Messias die Erlösung von der fremden Oberherrschaft erwarteten. Die neue Lehre Christi und der Apostel widersprach dieser leiblichen politischen Seligkeit und Wohlfart, die Gott freilich schon an eine allgemeine Ordnung bey allen Menschen gebunden hatte, ohne eine gleich große Stufe des menschlichen Wohlseyns für die |f165| Menschen festzusezen. In der ganzen Menschenwelt gab es eine hinlängliche äusserliche oder leibliche Wohlfart für die Menschen, wenn sie die Mittel dazu anwendeten; es war also eine sehr unwürdige Denkungsart der Juden, wenn sie gar allein die höchste Stufe eines fröhlichen Lebens im Genusse aller sinnlichen Begierden, ohne alle Arbeit, oder eine solche Erlösung von ihrem Messias erwarteten. Nun sahen die Juden alle andre Menschen (die äusserlich glücklich genug lebten, ohne Juden zu seyn,) oder alle so genannten Heiden dafür an, daß sie unter besonderer Herrschaft des Teufels und böser Geister stünden, wie die Juden allein das Volk Gottes wären.
Es wird also in vielen Stellen des N. T. von nun an die Seligkeit oder Erlösung der Heiden bejahet, weil Christus dazu gekommen wäre, als der rechte Sohn Gottes, das bisher durch den Teufel gleichsam verengerte Reich Gottes wieder ganz herzustellen, und alle Menschen zu gleichen Theilnemern an diesem moralischen Reiche Gottes zu machen, wenn sie nun durch neue Erkentnis allesamt Gottes Kinder werden wolten. Es ist eben nicht schwer, die damalige Relation solcher Stellen auf jenes jüdi|f166|sche alte Vorurtheil einzusehen; nun konnte ganz recht behauptet werden,
Gott, der nun würdiger erkannt wird, will also, daß allen Menschen (moralisch) geholfen werde; (daß sie selig werden, σωδηναι im Griechischen,) und also daß sie immer mehr selbst zur Erkentnis der Wahrheit kommen. Nun wissen es die Schüler der Apostel,
daß Christus dem, der bisher des Todes Gewalt hatte, nach bisheriger schlechter Erkentnis, dem Teufel, alle Macht genommen; oder
daß er die bisherigen Werke und Geschäfte des Teufels zerstöret, kurz, alle Menschen aus dem unglückseligen Zustande erlöset habe, den die Juden sonst die Macht des Teufels über die heidnische Menschenwelt zu nennen pflegten; und nun können also und müssen die Christen jenes jüdische Vorurtheil wider die Heiden faren lassen, und sie als eben so gute Kinder Gottes ansehen, wenn sie Gott nach dieser Lehre Christi verehren. Es gibt auch deutlichere Stellen;
Christus hat uns erlöset von aller vorigen Ungerechtigkeit,
oder von allem vorigen eitlen Wandel,
von der unwürdigen Herrschaft der sinnlichen Begierden;
er ist gestorben um unsrer Sünden willen; oder wenn
Christus sagt: |f167| mein Blut wird vergossen zur Vergebung der Sünden proprie oder logice verstanden. Alle solche klaren Redensarten beschreiben Christum als den Urheber einer moralischen Wohlfart und Seligkeit in Absicht anderer Menschen, welche jene jüdischen Vorstellungen vom Reiche des Teufels unter den Heiden, nicht schon gehabt hatten. Daß nun die Christen nach und nach entweder alle diese Beschreibungen buchstäblich verstanden und immer zusammengesezt haben; oder aber das Algemeine darin, die Belehrung von der bisher unbekannten moralischen Güte und Gnade Gottes gegen Menschen, die ihren moralischen schlechten Zustand gern mit dem freien Genusse einer moralischen Ordnung, zur wahren Verehrung Gottes, vertauschen wolten: ändert nichts in dem Hauptbegriffe Seligkeit, oder seligen moralischen bessern Zustande der Christen, den sie durchChristum ganz gewis überkommen können,
wenn sie die Gnade und Wahrheit Gottes immer mehr erkennen und sich zueignen. Es stehet allen Forschern des N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
frey, daß sie eine Auswahl solcher Redensarten vornemen, wenn sie einsehen, daß
jene jüdische Meinung von den unreinen oder verwor|f168|fenen Heiden keinen gültigen Grund hatten, sondern vornemlich aus einigen Stellen der griechischen Uebersezung der LXX hergeleitet worden sind, der man unrichtig eine götliche Eingebung beigelegt hat.
Es haben daher freilich die meisten Kirchenväter eine solche locale Theorie beibehalten, Christus habe die Menschen aus der physischen Gewalt des Teufels erlöset. Es sezen aber auch manche dazu, durch bessere Belehrung von dem Ungrunde der jüdischen Meinungen. Dis ungegründete Ansehen der LXX galt freilich noch lange unter den christlichen Lehrern;
die ältere lateinische Uebersezung aus ihr hat eben diesen Zusammenhang aller jüdischen Gedanken lange fortgepflanzt unter den lateinischen Christen; und nach der lateinischen Lehrart hat sich auch der gemeinste teutsche Unterricht sehr gleichförmig gerichtet; aber alle fähigern Christen konten ihre Privat-Erkentnis zu eignem grössern Nutzen selbst samlen, aus jenen Stellen des N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
, wo die Hauptsache, das Algemeine angegeben wird, ohne jene jüdische Farbe. Allen andern Christen aber stehet auch frey, alle solche Stellen ferner zusammen zu sezen, und sich die Erlösung Christi und |f169| die Erwerbung ihrer Seligkeit ganz buchstäblich damit zu beschreiben. Ein großer Feler der ältern Lehrer war es, wenn man es nicht durch die rohen unfähigen Zuhörer entschuldigen mus: daß sie immerfort mehr jene jüdische Farbe behalten, und das Algemeine dadurch wieder verdunkelt haben.
So hies es überhaupt: Christus ist für die Sünden gestorben, vor der Taufe; bey Kindern für die Erbsünde, bey Erwachsenen für alle vorigen Sünden; wer aber nach der Taufe Sünde thut, muß durch die Kirche nun selig werden, und ihre Anstalten und Vorschriften anwenden.
Die Seligkeit selbst wurde gar erst nach dem Tode der Christen angesezt, und doch musten die meisten eine unbekante Zeit
im Fegefeuer erst sich reinigen lassen von den Sünden, die sie im Leben nicht genug gebüsset hatten. Nun sezte die Kirche
das Meßopfer
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ein für die Sünden der Lebendigen und Toden, und lies viele Messen für die Seelen im Fegefeuer Jahr aus Jahr ein halten. Hier hat die christliche eigene freie Verehrung Gottes gar eine schlechte unwürdige Gestalt bekommen; daß es fast in gar keinem Sinne mehr wahr ist, Christus selbst sei und bleibe in freier moralischer |f170| Bedeutung, unser σωτηρ, Herr und Heiland, einmal wie allemal; nemlich in moralischer Ordnung, in unserm jetzigen täglichen Bewußtseyn, in unserm Glauben, oder in eigener Ueberzeugung und Zuversicht, die auf der neuen Erkentnis immer mehr beruhet.
In der orientalischen und lateinischen Kirche stund die Seligkeit der Christen allein bey der Clerisey, und in der Gemeinschaft mit der katholischen Kirche. Die Protestanten haben viele von diesen jüngern ganz und gar unapostolischen Lehrsäzen aufgehoben; aber demohnerachtet noch zu viel Einheit oder Gleichheit des öffentlichen oder in Worten gefaßten Glaubensbekentnisses beibehalten, woran die Seligkeit der Christen hängen solle. Sie haben noch immer alle Redensarten aller Bücher des N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
zusammengesezt,
wenn gleich schon Flacius sein Corpus doctrinae N. T. 1) aus den Evangelien; 2) aus den Briefen gesamlet hat, und die Bücher des N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
sehr ungleich sind. Es komt doch immer auf die eigene Erkentnis der Christen an, wie sie die moralischen Wohlthaten, die sie nicht einem falschen jüdischen Messias, sondern dem moralischen Christus danken, sich jezt gedenken, und wie sie |f171| es sich beschreiben, daß sie durch Christum sich selig finden; keinesweges aber komt es darauf an, daß jede dortigen Redensarten buchstäblich alle zusammen getragen, und grössere, würdigere Vorstellungen dadurch auf immer bey uns, in ganz andrer Zeit, gehindert werden. Es ist einerley Wohlthat und Seligkeit. Ob Christen
proprie oder improprie, logice, einen Saz sich zu ihrem jezigen wahren Nuzen vorstellen: ändert nichts in dem wohlthätigen und verdienstlichen VerhältnisChristi ; also auch nichts in der Seligkeit der Christen. Wenn gleich selbst manche Lehrer dieses nicht einsehen: müsten sie doch nicht so päbstisch handeln, und einander die unsichtbare christliche Wohlfart absprechen, um buchstäblicher todter Zeilen willen. So wol die Theilnemung hieran, als der Umfang selbst ist und bleibt ausser allem menschlichen Gebiete und Befelen. Wie nicht alle Menschen eine und dieselbe Stufe menschlicher, bürgerlicher, häuslicher, physischer Wohlfart haben können: eben so ungleich und veränderlich sind die Stufen des Bewußtseyn einer christlichen innern Wohlfart; wenigstens hat weder Christus noch ein Apostel es gefordert, daß alle Christen ein gleiches |f172| Maas der Erkentnis und der Anwendung der Erlösung und Seligkeit haben müsten. Ueber alle andern Menschen, die das Glück noch nicht haben, christliche Belehrung von der Verehrung Gottes zu bekommen, dürfen und wollen geübte Christen ohnehin gar nicht urtheilen; oder sie vergessen es,
wes Geistes Kinder sie seyn sollen.
22. Es gibt aber doch so vielerley christliche Begriffe und so mancherley ernstliche Vorstellungen, nach den besondern Parteien, eben über die so genannte Erlösung,
über eine Satisfaction, über Zurechnung der Gerechtigkeit oder der ganzen moralischen Vollkommenheit Christi , als Gott und als Mensch, die
allein durch den Glauben dem Christen zu Theil wird; über die Kraft des Blutes Christi,
daß auch ein Tröpflein kleine die ganze Welt kann reine, ja gar aus Teufels Rachen frey los und ledig machen etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
: daß hiemit die Christen selbst eben immer von einander getrennt und uneinig bleiben; wenn sie gleich alle bey solchem Widerspruch sich auf Beweise der Bibel berufen. |f173| Gleichwol ist im ganzen N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
niemals eine solche genaue Bestimmung anzutreffen, welche die andern Vorstellungen ausschlöße.
Aus allen solchen Ungleichheiten entdeckt sich zwar eine wirkliche bisherige Geschichte der Christen, die in der besondern Bestimmung des Sinnes dieser neuen Säze und Redensarten von einander abgehen; und wie konte es an einer Geschichte der so großen neuen Religionsfamilien felen? Aber dieses ist nur ein Beweis, daß die Christen von einander unabhängig, und in der eigenen Uebung und Gebrauche ihres eigenen Urtheils immer sehr ungleich waren; und eine solche Verschiedenheit macht eben die wirkliche Ausbreitung, den Wachstum, die steten Folgen der neuen Grundsäze aus; ohne einigen Widerspruch gegen das Wesen der neuen Religion selbst. Alle christliche Familien und Parteien behalten den neuen Grundsaz der christlichen Religion, Gott hat durch die lebendige Erkentnis eines solchen Christus oder Sohn Gottes unter den Christen eine grössere und gemeinnüzigere Offenbarung und Belehrung angefangen, von|f174|einer moralischen Religion, deren Umfang mit der reinen uneingeschränkten Erkentnis aller noch so ungleichen Christen gleich fortgehet, und also an sich selbst, durch keine äusserliche locale Gesezgebung, oder bürgerliche Verfassung verengert, festgesezt, und ein für allemal unveränderlich bestimmt werden kann. Denn alle äusserliche Vorschrift kann nur das äusserliche Verhältnis derjenigen Menschen angehen, die äusserlich der Zeit und dem Orte nach, jedesmal zusammen gehören; und hiemit schon von andern immer verschieden sind. Ihre innere Ungleichheit und Verschiedenheit bleibet das, was sie ist; daher haben auch die Apostel kein feststehendes Maas aufgestellet, wonach die so ungleiche Kraft des Verstandes, des Gedächtnisses, der Imaginationetc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
in allen Christen eine allereinzige Stufe haben solte. Wie in mehrern Schriften der Apostel, und selbst in Christi Reden, vielerley Anspielungen auf den Inhalt des alten Testaments vorkommen, und manche Allegorien angefangen worden sind, welche die damaligen Zeitgenossen gleichsam anleiten, wie sie ihre eigenen Vorstellungen für sich selbst, ohne durch das A. T.
Abkürzungsauflösung von "A. T.": Alte Testament
gehindert zu werden, frey vorne|f175|men und ausbreiten können, indem die eigene Uebung des Nachdenkens und Urtheiles, zu dem Wesen der christlichen eigenen Religion gehört, in steter Beziehung auf die geringere jüdische Religion: so ist der freie eigene Gebrauch des Nachdenkens über den Inhalt und Umfang der christlichen Verehrung Gottes, eine ausgemachte Pflicht für alle fähigern Christen, die sie sich selbst durchaus schuldig sind, und woran sie durch gar keine äusserliche Lehrform gehindert werden können. Die Ungleichheit der öffentlichen Lehrformen ist ebenfals durchaus unvermeidlich, wegen äusserlicher localer Ungleichheit der Menschen, die nun in verschiednen Umständen, welche Zeit und
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Ort immer mit sich bringen, sich in eine christliche Religionsgesellschaft vereinigen, und eine gemeinschaftliche Lehrform unter sich äusserlich einfüren. Gesezt auch, daß alle ersten Lehrer dieser neuen Gesellschaft blos ihrem christlichen Gewissen folgten, und gar nicht auf eine unedlere Nebenabsicht mit sehen: so sammleten sie doch nur eine solche Erklärung der neuen christlichen Säze und Redensarten aus einigen Büchern des N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
, als ihnen die nächste war. Ihre Schüler stimmeten nun ein in solche |f176| Beschreibungen, und nun wurde diese Lehrform das gemeinschaftliche Band, das diese christliche Religionsfamilie äusserlich zusammenhielte, oder in ihren feierlichen Zusammenkünften durch eben diese bestimmten Merkmale einander als Mitglieder Einer Gesellschaft immer zu erkennen gab. Nun gehen mehrere Lehrer entweder für sich selbst oder als Missionarien ihrer sehr verschiedenen Brüderschaften immer weiter in Städte und Länder des Orients und Occidents, und legen christliche Colonien an: es werden also immer mehr christliche Lehrformen in immer neuen christlichen Colonien aufgebracht, welche alle ganz gewis den Grund einer christlichen Verehrung Gottes enthalten, auch ganz gewis allesamt grössere oder kleinere Zweige der christlichen Religion heissen müssen, und unter ihre Familien oder Colonien neue christliche Begriffe und Theorien immer mehr ausbreiten. Wenn nun gleich ehedem die katholische Partei alle andern Colonien, die nicht zu ihrer äusserlichen Lehrform gehörten, für Unchristen oder Kezer ansahe, und die wahre christliche Religion, also auch die Seligkeit der Christen (was man auch unter Seligkeit jezt verstehen wolte,) |f177| nur an ihre katholische Lehrform (ohne allen Grund) anhinge: so müssen doch alle verständigen unparteiischen Christen urtheilen, daß diese Anmasung der katholischen Partei gar keinen christlichen Grund habe. Nun verhält sich die Sache eben so in unserer Zeit. Im 16ten Jahrhundert entstehen neue christliche Parteien, welche alle von der alten päbstlichen Partei oder lateinischen Religionsform abtreten; Protestanten, die endlich öffentliche Religionsrechte im teutschen Reiche bekommen;
Anabaptisten, die nachher als Mennoniten hie und da öffentliche Gesellschaften ausmachen;
Anhänger der schwenkfeldischen Schriften; viele Socinianer, unter sich selbst nicht einig, so wenig es die Gelerten in der römischen und protestantischen Kirche je waren, in Absicht gelerter Fragen, die zur algemeinen christlichen Religion nie gehören können, weil sie aus gelerten Uebungen entstehen.
In England und Holland entstehen noch einzelne christliche Familien etc. Alle diese Parteien haben eine besondere öffentliche Lehrform, wodurch sie sich von einander äusserlich, oder in der Einrichtung ihrer sichtbaren öffentlichen Religionsform, immer unterscheiden, je nachdem |f178| Verträge oder politische Umstände eine verschiedene äusserliche Lage mit sich bringen. Es sind aber und bleiben alles Zweige der äusserlichen oder sichtbaren christlichen Religionsform, wie sich diese neue Religionsform immer von aller jüdischen und heidnischen Religionsform unterscheidet. Wenn nun
gleich vom Anfange dieser neuen Trennung her, sowol die römischen Päbste die Protestanten für Kezer und Unchristen bei ihren alten Anhängern sogleich erklärt haben; als auch selbst protestantische Gelerte diese päbstliche Tiranney im Kleinen nachgeamet, und selbst
Luther den Zwingli einen Heiden gescholten, auch
die nachherigen lutherischen Theologen den Calvin ,Beza erschrecklich verkezert,
auch die Socinianer geradehin für Unchristen angesehen haben,
wie die ältern Reformirten die jüngern Arminianer verdammten: so ist doch und bleibt wahr, daß die Ungleichheit der öffentlichen Lehrformen gar nicht das Wesen der christlichen Verehrung Gottes aufheben kann, nach der gewissenhaften Einsicht fähiger praktischer Christen. Es werden freilich auch die entgegenstehenden Urtheile nicht aufhören; aber so bald in öffentlicher Gesellschaft Nachtheil dadurch entstehen |f179| kann: gibt der Staat den nötigen Maasstab wider unnüzen Eifer; und beide Theile behalten ihre Meinung für sich.
Was insbesondere den einzelnen Inhalt dieser Frage betrift, so gehört es zur Freyheit des Gewissens aller derer Christen, welche die Erlösung Christi jezt aus ihrem eigenen Gesichtspunkte ansehen, und eine Satisfaktion Christi für ihre Sünden in ihrem Bewußtseyn, und eine
Zurechnung der Gerechtigkeit Christi für ihre täglichen Mängel, von ganzem Herzen billigen und glauben, und in diesem alleinigen Glauben, auf ein unendliches Verdienst Christi, ihre eigene innere Ruhe, und eine immer weniger ängstliche Zuversicht zu dem heiligen gerechten Gott, festhalten. Kein guter billiger Mensch kann sie auch darum verspotten, wenn sie dem Blute Christi eine alles vermögende Kraft in Absicht auf sie selbst, zu ihrer moralischen Ruhe, zuschreiben. Sie haben doch eben so viel freies Recht zu der Anwendung der Beschreibungen im N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
auf sich selbst, zu ihrer eigenen Erbauung, als je die Socinianer und Naturalisten haben mögen, dieses ganz anders zu |f180| beurtheilen. Es ist und bleibt also gewaltthätig, wenn Socinianer die ihnen geläufigen Begriffe, worin ihrem Gewissen ein völliges Genüge geschiehet, nun allen andern Christen aufdringen wollen, die ihre gewissenhafte Ruhe ebenfals bei ihrer moralischen Zuversicht schon haben und genießen, in ganz andern Begriffen, die sie ohne einigen Einwurf oder Zweifel zu haben, bisher angenommen und ganz gewis durch ihre Erfarung bewäret gefunden haben. Ist es denn so schwer den ehrlichen Grund dieser Ungleichheit auf beiden Seiten, als eine verschiedne Historie beider Christen oder beider Parteien da stehen zu lassen, wo er sich ein für allemal findet? Ist es möglich, daß Christen ferner einander vorsagen, du raubst Christo alle seine Ehre, wenn du nicht eben so von
Editorische Korrektur von: vou (digital)
Christo und seiner Satisfaktion für dich privatim denkest, als ich für mich es denke? Kann dieses wahre christliche Verehrung des unendlichen Gottes heißen, wenn Menschen einander
Editorische Korrektur von: einauder (digital)
gebieten, was sie für eine einzele Lehrform in ihrem Gemüt vorziehen sollen, da alle Lehrform nur zunächst äusserlichen Erfolg haben kann, an sichselbst aber dem so verschiednen Gewissen durchaus |f181| wieder privatim unterworfen bleibt, nach der höchsten Regel,
ich mus Gotte mehr in meinem Gewissen und eigener Ueberzeugung gehorchen, der mir in der Bibel dieses sagt, als andern Menschen. Die Ungleichheit der Menschen, in Absicht der innern Fähigkeiten, war doch nicht aus Bosheit und eigenem Vorsaz der Menschen entstanden; weil sie gerade nur solche Vorstellungen und Urtheile über christliche Gegenstände annemen und behalten können, als ihre Fähigkeiten und ihre Anwendung es zulassen. Wenn wir nun die psychologische Unmöglichkeit einsehen, daß so verschiedne Menschen innerlich einerley Bewegung und Maas des Verstands anwenden, sobald sie in ihrer Lage, als Individua selbst christliche eigene Vorstellungen samlen; und wenn eigene Erkentnis, eigener Glaube oder
moralische Gewisheit, durchaus für jeden Christen zur wahren christlichen Verehrung Gottes gehöret; wenn diese endlich durchaus nicht einerley
Editorische Korrektur von: einer ley (digital)
Grad und Maas weder haben noch immerfort behalten kann, um eine moralische Fertigkeit zu seyn: warum hören denn Christen nicht auf, die innere beste christliche Verehrung Gottes, wozu eine Ungleichheit durchaus gehöret, so sehr zu ver|f182|kennen und so übel zu behandeln, daß sie die ganz andre Absicht aller öffentlichen localen Lehrformen, gar aus dem Gesicht verlieren, und eine einzige Lehrform gar zu dem Wesen der wahren christlichen Verehrung Gottes bei allen Christen so ganz ungerecht, ganz unchristlich fordern? Alle Protestanten lehrten eine Kraft Gottes, der ein unendlicher Gott ist, die sich auf die Gemüter der Menschen, der Christen durch die göttlichen Wahrheiten erstrecke, gewis nach seinem Wohlgefallen, nach seinem Vorsaz; wenn ist diese moralische Hand Gottes kürzer oder gar uns unterworfen worden? Wie können die einzelnen christlichen Lehrformen in den Christen diese heilsame Gnade und
freie unendliche Kraft Gottes durch einige todte Worte hindern?
So bald wir die Historie der öffentlichen Lehrformen aus den ältern Zeiten zu Hülfe nemen: fällt uns ihre stete Abwechselung und Succession in die Augen; und es gab doch christliche Verehrung Gottes, es gab ein unendliches Reich Gottes in den Menschen. Lange Zeit hatten viele Christen gar schlechte Begriffe, von dem Verhältnis der Er|f183|lösung Christi . Viele zogen jene Ausdrücke,
Lösegeld,
erkaufenetc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
gar dahin,
es habe Christus dem Teufel sich als ein Aequivalent für das Recht gegeben, das er bisher an den Menschen durch die Sünde gehabt hat. Ich brauche die Abwechselungen der Vorstellung in christlichen Lehrsäzen hier gar nicht zusammen zu zälen;
in unserer Zeit hat die Historie der christlichen Lehrform ein grösseres Licht hinlänglich ausgebreitet. Genug, wir wissen historisch, die folgende Erkentnis trat immer an die Stelle der vorigen, so bald diese als schlecht und ungegründet eingesehen wurde. Dis traf alle Artikel, bei allen verständigen Christen; der große Haufe hatte gar keine eigene Erkentnis; sehr wenig historische Ideen behielt er einmal wie allemal, und lies Gott durch die Clerisey bedienen. Hiezu haben freilich die Bischöfe und die Religionsdiener gern geholfen; denn sie lebten herrlich in aller menschlichen Glückseligkeit, und gebrauchten die Religion der immer unwissenden Christen zu einem Mittel ihres menschlichen Wohllebens; dis ist nun so historisch gewis, daß
selbst edle würdige Männer in der römischkatholischen Kirche diesen Misbrauch der öffentlichen Reli|f184|gion eingestehen. Da im 16ten Jahrhunderte es mehr denkende ernstliche Christen gab, so wurde die bisher still liegende Kirchenlehre aufs neue untersucht; und nun war es unvermeidlich, die Protestanten schnitten alle kirchlichen Satisfaktionen ab, und lehrten eine allereinzige Satisfaktion, die Christus ein für allemal geschafft hat; und allein der Glaube, oder die Ueberzeugung hievon, die innere neue Uebung, macht alle Christen der Folgen selbst theilhaftig. Wir änderten eben so den Begriff Iustificatio, kurz, die Protestanten haben keinen Grundsaz von Infallibilität und Unveränderlichkeit einer einmaligen Theorie, oder öffentliche Lehrform, an welche die Seligkeit aller Christen von Gott gebunden worden sei, sondern geben ihrer Lehrform nur ein bürgerliches menschliches Ansehen, daß es von keinem einzelnen Mitgliede öffentlich angegriffen, oder verächtlich gemacht werden kann, unter der erborgten Maske von Menschenrecht und Freiheit im Stande der Natur. Weder die christliche Verehrung Gottes, noch irgend eine Summe von natürlicher Religion kann einen wahren moralischen Vorzug darin finden, daß die vorige vorüberge|f185|hende Geschichte anderer Menschen blos wiederholet und einmal eben so viel wie allemal in einem christlichen oder natürlichen Lehrbegriff enthalten ist. Diese Einheit gehört allemal für eine äusserliche Gesellschaft, um äusserlicher Folgen willen. Durch die gesellschaftliche Einheit wird der innere unumschränkte moralische Raum, worin sich der Privatverstand beweget, nicht beenget. Es mus oder kann ein jeder fähiger Mensch ausser der gesellschaftlichen Religionsform auch noch die eigene freie Bewegung seines Gemüts auf die moralischen Objecte unabhängig von andern Menschen anwenden.
Kein Befel, keine Vorschrift kann diese innere eigene Kraft fähiger Menschen von innen aufheben oder einschränken, daß sie nun eine allereinzige Summe so wol als Richtung ausmachen müste. Nun mögen noch so vielerley neue Säze und Redensarten im N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
vorkommen,
von Christo und seiner Versönung, daß er ein Opfer, ein Hoherpriester ist für die Sünden der Menschen: so werden doch keine physischen Veränderungen hiemit beschrieben: es ist weder physische Wirkung, noch physischer Erfolg da; es gehört alles in das Reich der Moral, und |f186| beziehet sich auf Menschen, welche entweder die alten Vorstellungen, die sie schon hatten, nun wiederholen; oder aber bessere Begriffe an die alten Redensarten aus eigener moralischer Uebung, anhängen. Diese eigenen moralischen Betrachtungen fähigerer Menschen, haben keine allereinzige Bestimmung schon über sich, die sie um irgend einer Auktorität willen ihrer eigenen Erkentnis vorziehen müsten. Wenn sie aber in einer Gesellschaft durch eine öffentliche Lehrform einmal wie allemal aufgestellet werden, so beziehet sich diese neue menschliche Verordnung nur auf die Einschränkung der verschiedenen Vorstellungen in Absicht der feierlichen Mittheilung an andre; daß sie nicht eine tägliche Zerrüttung veranlassen sollen, durch ihre immer abwechselnde öffentliche Mittheilung an andre Mitglieder: weil schon öffentliche Lehrer bestellet sind, um die gemeinschaftliche Religionsform, welche das öffentliche locale Band dieser Christen ist, zur Erhaltung dieser Gesellschaft fortzusezen. Die innere eigene christliche Religion wird nicht für alle Christen durch eine öffentliche Religionsform schon bestimmt; ihr ganzer moralischer Unterschied, der |f187| immer gros ist, bleibt; sie werden nie vereiniget oder eingeschränkt. Daher wird im N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
niemalen eine allereinzige Bestimmung des Sinnes dieser Redensarten festgesezt, wenn gleich hiemit eine neue Sprache für die christliche Religion entstehet; die, wie alle Sprachen zur gesellschaftlichen Verbindung gehört. Da aber die Mitglieder einer christlichen neuen Gesellschaft schon einige moralische eigene Uebung mitbringen: so bleibet die Verschiedenheit der christlichen Privat-Religion, bei aller äusserlichen Vereinigung zu einer neuen äusserlichen Gesellschaft; weil fähigere Christen schon mehr moralische Vorstellungen haben und samlen, die alle unter der neuen Sprache von ihnen mit begriffen oder verstanden werden können; wenn gleich viele andre unfähigere Christen nur eine einzige Vorstellung ein für allemal kennen. Es ist, wie schon mehrmalen angemerkt worden, kein Protokoll, kein Register der allein rechtmäßigen vollkommensten Vorstellung im N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
gegeben worden; die damaligen Begriffe bei Juden- und Heidenchristen sind nicht fernerhin die unveränderlichen allerbesten Begriffe, die nun von allen Christen blos wiederholet werden solten; in|f188|dem alle Christen, wenn sie selbst denken, von allen Christen immer wieder unterschieden sind, wie gar keine Fertigkeit in mehrern Subjekten eben dieselbe Fertigkeit ist und bleibet. Die christliche eigene Verehrung Gottes mus immer der eigenen Erkentnis gleich seyn, und die eigene Erkentnis der immer verschiednen Christen kann innerlich durchaus nicht eben dieselbe seyn; sie ist und wird grösser oder kleiner nach der innern und grössern Fähigkeit der Christen; und es bleibt dennoch wahrhaftig in allen solchen praktischen Christen die rechte geistliche Verehrung Gottes; wenn sie gleich nicht eine unendliche ist, sondern immer nur eine sehr eingeschränkte, wie der Mensch es selbst ist. Alle bisherigen Lehrformen also, welche bei allen christlichen Gesellschaften zu ihrer äusserlichen Verbindung eingefüret sind, entfernen sich nicht schon von dem neuen Grunde und Wesen der christlichen Privat-Religion; die öffentliche Gleichförmigkeit oder Gemeinschaft eines Lehrbegrifs verbindet nur eine jede solche locale Gesellschaft in Absicht der feierlichen gemeinschaftlichen Merkmale dieser fortdauernden Verbindung mit einander. Diese Unterscheidung von an|f189|dern christlichen Religionsparteien sagt nun nicht, daß andre Christen durchaus gar keine wahre christliche Verehrung Gottes hätten; denn dis sagten nur Päbste und Pfaffen. Es darf auch kein Haß oder Verachtung anderer Parteien zu einem Vorzug einer Partei gerechnet, und gleichsam zur besondern Verehrung Gottes angenommen werden, es würde vielmehr eine große Unvollkommenheit solcher kindischen Christen an den Tag legen. Niemand kann sich herausnemen, seine Einrichtung und Wahl des besondern Lebens als das algemeine Model aufzustellen, wonach alle andre Zeitgenossen sich richten müßten, um eben so ruhig und glücklich zu werden; denn dis lezte wäre eine ausgemachte klare Thorheit; Es sollen nicht alle Menschen auf eben der Stelle eines andern Individui stehen wollen, weil es unmöglich ist. Jeder wälet sich daher eine Stufe bürgerlicher Wohlfart, und behält sie, die für ihn möglich ist. Wo komt nun diese rohe Anmaßung unter den Christen her, daß eine besondere Lehrform, die nicht ohne Localität und gegenwärtige Einschränkung seyn kann, das allgemeine Maas für alle Christen in allen andern Umständen, (denen sie ohne |f190| Wahl und Vorsaz unterworfen sind und bleiben,) ein für allemal werden sol? Es kann keiner den andern in seine eigene Lage und daher abhängende Uebung übersezen oder erheben. Wir freuen uns, wenn wir arme dürftige Nebenmenschen gleichwol in ihrer Lage zufrieden und vergnügt sehen.
Es sind wenigstens thörichte unglückliche Grundsäze, wenn eine äusserliche Gleichheit aller Zeitgenossen eingefürt werden wil, wodurch alle immer fortgehenden Stufen wieder aufgehoben würden, zu denen die gesellschaftliche Verbindung alle kultivirten Völker erhoben hat. Wie können nun gar Christen es zu ihrer eigenen rechten Religion rechnen, daß andre Christen ja keine eigene so oder so weit verschiedne Privat-Religion haben, als jene zu beschreiben gewont sind. Wie kann die größte Verehrung Gottes in dieser Unterdrückung der moralischen freien Natur der Menschen bestehen? Warum sol die alte jüdische oder eben anfangende Sprache der Christen, nicht mit der fernern Erkentnis sich erweitern? Der Verstand der fähigern Menschen bleibet eine freie Kraft, die ihre Natur nicht verliert, wenn sie christliche Objekte zu betrachten und genem zu halten sich entschliessen. Alle Verbind|f191|lichkeit zur Schonung und Ertragung der moralischen Schwachen und Kranken, aller Wachstum vom Kleinen ins Große würde ja gleich wegfallen, wenn eine allereinzige Vorschrift nun die Seelenkraft aller Menschen, die Christen werden, nach Einem Maas physisch einrichten könte! Blos ganz andre Absichten können hiedurch gesucht werden;
grössere Ehre Gottes, gewissere moralische Wohlfart der Menschen darf man nicht mehr vorwenden. Und wie hat eigentlich der öffentliche Lehrer von seiner Gesellschaft den Beruf bekommen können, (anstatt seine Zuhörer nach ihrer gemeinschaftlichen Lehrform, wodurch sie eine Gesellschaft sind und bleiben, zu eigener innerer Verehrung Gottes immer mehr anzuleiten,) über andre Menschen, Christen oder Unchristen, unaufhörliche Endurtheile vorzusagen? Wie kann dieses Erkentnis und Verehrung des unendlichen Gottes befördern? Der eigene Verstand, das eigene Gewissen der Zuhörer sol durch den öffentlichen Lehrer nicht knechtisch gefüret und gleichsam gefangen gehalten werden; sie würden ja sonst alle dem Lehrer nun unterworfen, und hörten auf ihren eigenen Verstand für sich zu gebrauchen, und |f192| bekämen keine eigene innere Religion. Diese Uebung ist aber nicht nur ihnen selbst unentberlich, zu einer wahren Beruhigung
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bey so vielen Zufällen ihres Privatlebens; sondern kann auch nicht fehlen, ohne die gewisseste Sicherheit und größte Veredlung der Nebenmenschen gar sehr zu verringern; wenn sie gleich einen Catechismus behalten. Denn die bürgerlichen Gesetze sind nicht im Stande, in den häuslichen Zusammenhang und das Privatleben, in die inneren Bewegungen und anfangenden Absichten der Menschen einzudringen; die äusserliche Religionsordnung, die
nur historisch gelernt wird, und nur zu feierlichen Handlungen gehört, kann dies eben so wenig; blos die eigene gewissenhafte Religionsübung gibt dem Menschen eine richtige Richtung, wenn er die wahre Verehrung Gottes kennt, die kein öffentlicher Religionsdiener für ihn vollziehen kann. Dieser neue christliche Sinn, diese eigene innigste Verehrung Gottes, kann in den Privatchristen aller besondern Parteyen, bey noch so ungleichen Lehrformen da seyn; und diese Allgemeinheit ist und bleibt der wesentliche Character dieser bessern Religion. Die Christen bekennen und glauben, daß der Geist |f193| Gottes
die ganze Christenheit auf Erden, in allen so verschiedenen Zungen und Sprachen, also auch in allen verschiedenen Vorstellungen, die sie als ungleiche Christen haben mögen, hält in einem Sinn gar eben; durch jenen Mißbrauch der gesellschaftlichen lokalen Lehrformen aber leugnen sie diese Allgemeinheit der eignen moralischen recht christlichen Religion.
23. Es mag freilich die Bestimmung der öffentlichen Religionsdiener noch manche Berichtigung und genauere Anweisung bedürfen. Sie sollen iener immer ungleichen Versammlung durch ihren Vortrag von christlichen Grundwahrheiten moralisch nüzlich seyn, und die Privatreligion zu Hause, im übrigen Leben bey allen befördern; gewis nach den ungleichen Umständen und Fähigkeiten der immer ungleichen Zuhörer. Ob dis dadurch geschiehet, daß sie von Dreieinigkeit, von Gottheit Christi , von Versöhnung der Menschen, von alleinseligmachendem Wort Gottes – einmal wie allemal, wider alle andere Christen und Menschen so gar leicht abspre|f194|chen: ist doch eine wichtige Frage, deren Beantwortung den übrigen Zeitgenossen nicht ganz genommen werden kann, welche so gern den Wachsthum der innersten rechten Verehrung Gottes durch die vernünftigen Menschen, eben zum grossen Segen der Menschen befördert sähen! Wenn es aber nun den verständigen Christen freystehet, privatim über den Sinn und die Anwendung der christlichen Redensarten und Begriffe nachzudenken, die freylich sehr verschieden, nicht in einerley Abmessung, selbst im N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
vorkommen: so müssen ja die so genannten Naturalisten es noch vielmehr frey behalten. Ich halte es für billig, zuzugeben: daß für viele Leser des N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
eine Vorstellung von Satisfaction in der oder jenen
Editorische Korrektur von: jeuen (digital)
Stelle wirklich einen Grund gehabt habe, auch noch habe; daher ich es eben für kein Verdienst um unsre Zeitgenossen halte, wenn man sie darüber verspottet. Aber ich finde doch noch nicht, selbst im N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
daß alle Menschen eine Satisfaction für ihre Sünden erst voraussetzen müssen, um in der täglichen Verehrung Gottes als Christen, |f195| durch ihr Thun und Lassen, desto weiter zu kommen. Für die Juden war dieser Begriff nöthig, Christus ist für die Sünden der ganzen heidnischen Welt, auch für die Sünden der Juden, als ein rechtes moralisches Opfer, gestorben; dies ist ein neues Urtheil; er ist nun die beste, größte Versöhnung der Menschen, die sonst Gottes Zorn und Strafe fürchten mußten, in eigner Unruhe, oder nach jüdischen Urtheilen. Die Heiden, die nun aufhören zu sündigen, müssen daher als Mitbrüder, als Kinder des Einen gemeinschaftlichen Vaters behandelt, nicht mehr gehasset werden – – wenn aber ich die Gnade und Liebe Gottes kenne, ohne vorher je diese Vorurtheile wider die Heiden, oder von Nothwendigkeit der äusserlichen Opfer gehabt zu haben: so ist es mir ja nicht nöthig, diesen relativen Begriff aufzunemen; und wenn manche Christen dennoch mich davon überzeugen wollen, ich könne sonst
Gott nicht von ganzem Herzen und allen Kräften lieben, wenn ich nicht von ihnen
die jüdische Redensart, vom Zorn und Eifer Gottes, zu meiner Er|f196|kenntniß zusezen und anknüpfen würde: so nöthigen sie mich, daß ich ihren ganzen Begrif so entwickele, daß die blos menschliche locale Lage, worin er entstund, eben keinen Vorzug behalten wird vor der Verehrung Gottes, die ich wirklich habe und behalte, ohne eine Satisfaction.
Und ich würde mit Ihnen mich darüber in keinen Streit einlassen, da Sie von den unbilligen Spöttereien, wodurch keine eigene Erkenntniß sondern geheimer Haß und Erbitterung befördert wird, so weit entfernt sind. Es muß freilich den so verschiedenen Christen freystehen, sich eine Auslegung ihres N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
zu wehlen, welche ihren Fähigkeiten gleich ist; also auch eine praktische Anwendung des angenommenen Sinnes vorzuziehen, die nun ihre eigene Fertigkeit ausmacht. Wenn man fragt, gehört eine Satisfaction zum Wesen der christlichen Religion? so kann man nicht geradehin für alle Christen so entscheiden, daß sie alle diese Entscheidung nun annehmen müssen, oder sonst selbst es ganz gewiß inne würden, daß sie alle christliche Verehrung Gottes gar verlohren hät|f197|ten. Die Protestanten haben die einzige Genugthuung Christi , und zwar nicht blos für die Erbsünde, wider die alte lateinische Lehrform, bejahet und nun alle Satisfactionen aufgehoben, welche sonst als ein Theil der (römischen, kirchlichen, sacramentlichen) Busse allen Kirchgliedern schwer oder leicht aufgelegt wurden. Daher wird auch diese Wohlthat Christi, seine Genugthuung, in den protestantischen öffentlichen Lehrformen noch fortgesetzt; sie ist ein Grundsatz wider die päbstliche und pfaffische Tiranney; und eine stete Unterscheidung unserer Kirche von der socinianischen Geselschaft. Aber die Privatchristen behalten es frey, das Algemeine, wozu der Tod und diese Historie Christi als ein Mittel gehörte, selbst zu erkennen.
Sehr gelehrte Väter, Scholastiker, bis auf den Calixtus , haben es bejahet, Gott könnte das menschliche Geschlecht, auch auf andere Weise, zu immer grösserer moralischer Uebung und Fertigkeit bringen, ohne diese Historie Christi. Es gibt auch lange
die Behauptung, daß das Blut Christi nur als causa moralis anzusehen sey, und nicht physice wirke. Schon vor mehr als hundert Jahren hat Richard Baxter , ein unbeschol|f198|tener scharfsinniger Theologus in England, in dem Buch Methodus theologiae
, den gemeinen Begrif von Satisfaction, der für die geringen Fähigkeiten der meisten Christen so erbaulich und fruchtbar ist, in Absicht der verständigern und fähigern Christen, als ganz ohne einen Grund und unmöglich beurtheilet; ohne dem Wesen der christlichen Religion hiemit irgend einigen Schaden zu thun. Denn alle successiven, localen modificativen christlichen Vorstellungen entfernen sich zwar, mehr oder weniger, von den vorigen oder andern Vorstellungen anderer Christen, aber sie entfernen sich hiemit nur von dem Zufälligen, nicht von dem Wesen der christlichen Religion. Umgekehrt hat
der grosse PhilosophWolf , in den marburgischen Nebenstunden eine völlige Demonstration der Satisfaction schriftlich aufgesezt, ohne
Baxters Methodus Theologiae
zu kennen oder zu widerlegen. Weder ehedem noch jetzt, war und ist dieser Begrif bey allen Christen schon eben so da, und er kann nicht allgemein werden für alle Christen, weil sie nie in Einer Lage ihrer Uebung sind. Er gehört also freilich nicht zum Wesen der christlichen Vereh|f199|rung Gottes bey allen so unendlich verschiedenen Christen, indem die christliche Religion selbst nicht eine solche Einheit und Unveränderlichkeit zuläßt, eben um eine christliche Verehrung Gottes zu seyn. Immer vermischt man die einzelne Wirklichkeit der christlichen Religion in subjectis, wozu allemal eine andre Zeit und Localität gehört, mit der allgemeinen Quelle, woraus diese abgeleitete jedesmal wirkliche Religion ihr einzelnes Daseyn immer noch bekommt, die den unzälichen Individuis frey stehet, wenn sie entweder selbst ihre christliche Religion sammlen nach eigner Fähigkeit oder von andern Christen, die sie über sich setzen, eine Form sich geben lassen. Nun mögen die Christen aus dem N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
so oder so viel zur wahren christlichen Religions-Erkenntniß rechnen: so haben sie doch immer alle eine christliche Religions-Summe, die immer von Juden- und Heidenthum durch viel mehr Moralität verschieden ist. Diese Verschiedenheit ist aber so groß, als die Ungleichheit der Fähigkeiten und der Uebung ist, welche diese Menschen schon mit bringen, da sie zu einer christlichen Religionspartey treten, oder in derselben nun selbst untersuchen und denken; |f200| daß sie entweder ganz allein die gesellschaftliche Lehrform annehmen und immer behalten, weil sie keine eigene Fähigkeiten anwenden; oder noch neben der gemeinschaftlichen Religionsform ihre eigenen Vorstellungen für sich, zur Privatreligion zusammen setzen. Im leztern Falle finden wir gewiß eine noch bessere würdigere Verehrung Gottes, die das Wesen der christlichen Religion
für alle fähigern Menschen, oder für πνευματικους ausmacht; der erste Fall aber behält eine Gleichförmigkeit in den äusserlichen Merkmalen einer Gesellschaft, ohne täglichen moralischen Wachstum dieser gemeinen Christen. Das N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neue Testament
lehret auch selbst, daß das Maaß des Glaubens oder der neuen Erkenntniß und Verehrung Gottes, durchaus nicht gleich seyn könne, welches eine allgemeine ganz ausgemachte Erfahrung ist, bey aller Vielheit der Subjecte aller Arten. Es ist mehr oder weniger moralische Vollkommenheit in den Individuis. Blos die neue Kunst oder der Vorsatz der Menschen kann den natürlichen Unterschied äusserlich aufheben, der sonst in der Ungleichheit der Zeit und des Orts natürlicher Weise immer da ist. Der Unterricht nun, den die |f201| Aufsätze von der Lehre Christi und der Apostel, in diesen neuen Schrifften der Christen, oder im N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
geben, ist wirklich nach der der damaligen Menschen sehr weißlich abgefasset, ohne daß einerley moralischer Raum für die neuen Vorstellungen der Christen schon abgesteckt wäre. Ihre moralische neue Bewegung ist ganz frey, was ihre Privaterkenntniß betrifft; sie können ihre Erkenntniß täglich vermehren und verbessern. So bald aber mehrere Christen in eine Gesellschaft zusammen treten, setzen sie ein Drittes fest, worin sie immer öffentlich, kenntlich, äusserlich übereinkommen wollen, um diese gesellschafftliche Verbindung zu behalten, wodurch alle Mitglieder einander immer wieder kenntlich sind. Sie behalten aber ihre Privatfähigkeiten und ihren Privatgebrauch, oder die besondere natürliche Summe ihrer Seelenkräfte ganz frey, wenn sie nicht in den feyerlichen Versammlungen sich befinden, wodurch sie entweder nur ihre öffentliche Religionsverbindung fortsetzen, oder auch ihre innere Empfindung damit selbst verbinden. Der Unterscheid dieser vielerley Religionsgesellschafften der Christen, ist also immerfort ohne ihren Vorsatz ausser ihnen |f202| selbst da; ist so unmoralisch, als der physische Unterschied der körperlichen Grösse. Eine
Discantstimme, in Gebeten und Gesängen, ist so wenig unchristlich oder christlich, als eine Alt- Tenor oder Baßstimme; alle aber vereinigen sich, um des Wohlstandes willen, in einer Melodie der gemeinschaftlichen Gesänge; die Melodie gehört nicht zur Religion sondern zur Gesellschafft. Wie kam es nun, daß christliche Gesellschafften ihre besondere, nie allgemein nothwendige Lehrform, allen andern christlichen Parteyen unter der Maske einer nothwendigen Einheit aller Begriffe und Urtheile über christliche Lehrsätze, aufdringen wolten? Es ist ja ein grober Irrthum, daß die Verehrung Gottes ein allereinziges Maas bey allen Christen und Menschen haben könnte oder müßte! Diesen Irrthum begehen Socinianer und Naturalisten jezt nicht weniger, als ehemalige catholische Bischöffe und eigennützige Pfaffen. Die unendliche moralische Herrlichkeit Gottes kann in keinem stets particulären Entwurfe so beschrieben werden, daß nun alle andere Menschen gar nichts von Gott erkennten, und ihn gar nicht moralisch verehrten: wenn sie nicht eben dieselben Begriffe |f203| ganz genau immer wiederholeten. Es thun also Socinianer und Naturalisten eben so unrecht, wenn sie ihre besondere ihnen gehörige Theorie dafür ansehen, daß alle Menschen sie von ihnen annemen müssen; als jene Christen unrecht thun, welche eine bestimte Satisfaction, die sie nach ihrem Gewissen behalten, allen andern Menschen unter göttlicher Auctorität anempfelen, und ihnen sonst gar ewige Verdammniß ankündigen. Verständige, moralische, geübte Menschen solten die
Unendlichkeit der moralischen Welt, und die Ungleichheit der Colonisten, die sich darin frei anbauen und immer eben demselben Gott angehören, besser kennen: als daß sie ihre individuelle Ordnung gar zur höchsten Stufe der wahren Religion für alle andre Menschen erheben wolten.
24. Es wird also die Lehre der grossen Kirche von einer so bestimten Dreieinigkeit ebenfals nur zum gesellschaftlichen Lehrbegrif mancher Christen gehören, nicht aber zum Grunde aller moralischen Wohlfart und Theilnemung an Gott in Absicht aller Menschen von Gott verordnet heissen?
|f204| Es ist wol kaum ein Zweifel daran, daß ein Begriff von Dreieinigkeit nur zu christlichen Verehrung Gottes gehört, wie sie dem Juden- und Heidentum entgegen stehet. Sie ist ein unwidersprechlicher Charackter der christlichen neuen Religion; die 3 Hauptbegriffe, Vater, Sohn und Geist, (die im N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
noch keine einzige oder ausschliessende Bestimmung bey sich haben,) gehören zum Inhalte und Grunde einer ieden christlichen Religionsgesellschafft; die Christen können die jüdische Religion nicht behalten, denn sie haben neue Begriffe von Gott, ihrer innern Würde und Grösse wegen, vorgezogen, die sie nun nie wieder mit den kleinern, geringern jüdischen Begriffen von Jehovah, vom Messias, und Geist Gottes, vertauschen können. Verständige Christen sezen aber noch mehr Vorstellungen hierüber zusammen, die sie sonst kennen. Diese ungleiche Uebung des Verstandes und der Cultur unterscheidet nun die Christen selbst von einander; indem sie hiedurch neue Gesellschafften werden; alle aber sind und bleiben Christen. Der äusserliche Unterschied, worin sie sich schon als Menschen und Bürger befinden, macht nun auch einen äusserlichen Unterschied |f205| der Christen, die immer Menschen bleiben, und ihr locales Verhältniß nicht wegschaffen können. Noch so viele besondere Modificationen der Vorstellungen über Vater, Sohn und Geist Gottes, schaffen kein Gegentheil des Christentums, sondern eine grössere Ausbreitung der christlichen Gesellschafft; es bleibt aber eben derselbe neue Grund und erste Inhalt einer neuen Religion durch den Glauben an Vater, Sohn und Geist Gottes. Diese mehreren verschiedenen christlichen Geselschafften bleiben nun entweder neben einander, ohne eine Verbindung zu einer einigen grössern Gesellschafft; oder ihre Obern vereinigen sich unter einander, woraus die katholische Partey worden ist; und diese füret eine gemeinschaftliche, gesellschafftliche, gleichförmige Sprache ein für alle ihre Kirchendiener, durch grosse Zusammenkünffte mehrerer Bischöfe, die
seit dem nicänischen ersten Concilio, oder christlichen Landtage, die Homousie des Sohnes Gottes, als eine katholische Bestimmung, eingefürt haben, um alle Arianer und andere christliche Geselschafften auf immer von sich zu unterscheiden. Es wurde niemand zu irgend einer Stelle als Religionsdiener zugelassen, als wer das nicänische|f206|Symbolum beiahete; und ein jedes gemeines Mitglied dieser katholischen Geselschafft lies sich mit keinem Kirchendiener anderer christlichen Parteien in eine Theilung ein, an andern Lehr- und Kirchenformen. Es ist aber eine unverzeihliche Anmassung der katholischen Clerisey, wenn sie die moralischen stets freien unsichtbaren Folgen aller christlichen Religionsübungen bey allen einzelnen Christen, an eben diese katholische neue einseitige Kirchensprache gebunden hat; daß kein Christ nun zu seiner moralischen eignen Wohlfart an Vater, Sohn und Geist Gottes wirklich, moralisch, glauben könne, als wenn er sich in dieser katholischen Partey äusserlich befände, und von Dreieinigkeit katholisch reden lerne. Diese Anmassung ist ganz und gar unchristlich, und eine politische Wiederholung des niedrigen Judentums; keinesweges aber der Charakter der besten christlichen Verehrung Gottes. Alle Geselschafften haben das Recht, einzelne Mitglieder auszuschliessen; aber diese verlieren dadurch nur jene vorigen geselschaftlichen Rechte. Wenn also die katholischen Bischöfe ein Anathema aussprachen: so war dieses eine Entsezung von den kirchlichen und bürger|f207|lichen Rechten. Es war aber gewaltsame ganz unchristliche Tiranney, wenn sie nun gar behaupteten, hiemit seie den abgesonderten und ausgestossenen Christen auch aller Antheil an moralischer Wohlfart, und aller eigene innere Zutrit zu Gott, aller Glaube an Gott und Christum gradehin genommen, und er der eigenen Verdamnis nun von Gott selbst unterworfen worden. Die Fortsezung oder Entziehung der geselschaftlichen Rechte stund bey den Obern der Geselschafft; aber über die moralische Welt, über die moralische innere Uebung der Christen, also auch über die ewige Seligkeit, hatte weder ein Bischof noch viel Bischöfe irgend eine Gewalt, ausser in der Meinung ganz unwissender Menschen. Es ist und bleibt also eine Pfaffenerfindung, welche der christlichen bessern moralischen Religion ganz gerade widerspricht: daß man nun
diesen falschen Lehrsaz einfürte, kein Mensch kann selig werden, ohne durch die katholische Kirche. Hiemit hat die bischöfliche Politik die Macht der Kirche auch über alle christliche Regenten und Obrigkeiten erhoben; der gemeine Pöbel lies sich gleich zur Rebellion bringen, wenn die |f208| Obrigkeit den Päbsten und Bischöfen nicht Gehorsam leistete. Gleichwol behielten alle Kezer, und alle mit dem Anathema belegten Menschen, ihr ganzes Bewustseyn von ihrer herzlichen Verehrung Gottes, nach allen ihren Begriffen, von Vater, Sohn und Geiste Gottes. Die kirchliche Lehre also und kirchliche Sprache, von 3 gleich wesentlichen Personen in einem Wesen, gehört nur zu der besondern öffentlichen Geselschafft.
Ich wil, doch sehen, sagte Luther , wer mich zwingen wil, homousios zu sagen; und
Calvin und mehr würdige Gelerte bedauerten es ganz laut, daß man die Worte drey Personen so gebieterisch eingefüret habe. Niemand kann über das Gewissen andrer Menschen, worin sie nur sich selbst mit Gott beschäfftigen, herrschen; Es müssen also zwar auch die katholischen Christen ihrer Erkenntnis folgen, wenn sie selbst dafür halten, daß es zu ihrer Seligkeit gehöre, die Dreieinigkeit in jener Kirchensprache auch für sich selbst also zu beschreiben; aber es kann niemand es allen Christen oder gar allen Menschen auf dem Erdboden zum Gesez machen, daß sie eben so ihre Verehrung Gottes durch eine einzige Vorstellung vom Vater, |f209| Sohn und Geist, bestimmen müsten, oder sonst gar nicht moralische Wohlfart und Seligkeit haben könten. Wenn auch manche Christen dieses glauben, so ist ihr Glaube eben ihre Anmassung oder Unwissenheit.
25. Ich frage aber wieder: Worin bestehet nun das Wesen der christlichen Religion, die da ist und da bleibet, wenn ein Christ auch nicht zur katholischen Religionspartey gehörete?
Hierüber können nur verständigere Christen mitsprechen, die es wissen, daß sie so viel Christen, von so ungleichen Fähigkeiten, nicht dahin bringen können, daß sie eben diese Einsicht annämen, und die Ungleichheit der öffentlichen Religionsformen nicht ferner so beurtheileten: daß nur eine einzige solche Religionsform die wahre seligmachende Religion enthielte. Es ist dis eben so viel als wenn der Einwoner der Schweiz, oder in Teutschland, oder in Grönland, in Ost- oder Westindien sagte: es gibt nur Eine Narung und Erhaltung der Gesundheit für alle Menschen. Eben jener alte Feler, den die Bischöfe und Pfaffen so politisch genäret |f210| haben, (als gäbe es nur eine allereinzige Summe, eine allereinzige Lehrform, welche ausschliessender Weise, durch die Kraft der geweiheten Clerisey, die Mitglieder selig mache,) hat sich bisher unter Protestanten noch hie und da erhalten;
extra ecclesiam lutheranam non dari salutem, war noch vor 50–60 Jahren eine öffentliche Disputation; und in den meisten polemischen Schriften herrschet diese absprechende Decision über Grundirtümer; so wenig sie bei den Gegenparteien irgend einen Erfolg und Eingang hat. So lange man Seligkeit nicht richtiger erklärt, daß dazu allemal noch ein Religionsdiener und die öffentliche Religionsordnung in ihren Formalien durchaus nötig ist, wenn ein Christ selig leben und sterben sol: wird ein seltsamer patriotischer Eifer um
Editorische Korrektur von: nm (digital)
die grössere Ehre Gottes in allen Parteien sich erhalten, und den Vorzug der Seligkeit behaupten.
Da aber die christliche Wohlfart und Seligkeit nicht erst mit dem Tode anfängt, wie die Juden ein Paradies, einen SchoosAbrahams erst dahin sezen; sondern in den Folgen christlicher eigener Gesinnung und Fertigkeiten bestehet, wodurch ein jeder Christ die wahre rechte Verehrung Got|f211|tes innerlich, unaufhörlich, unsichtbar leistet; und diese Gesinnung in allen wahren Christen selbst, wenn sie auch nicht mehr mit andern reden könnten, immer mehr da seyn mus: so mus auch das Wesen der christlichen geistlichen Religion in diese eigene Anwendung der wachsenden Erkentnis gesezt werden, welche ein Christ aus der Lehre Christi und der Apostel in dem oder jenem Maase sammlet. In allen christlichen Religionsparteien aber bleibet diese eigene geistliche Religion ebenfals möglich; denn sie hängt mit der Wirkung des Geistes Gottes zusammen, die durch alle gesellschaftliche Einrichtung und äusserliche Verfassung nicht gehindert werden kann. Also müsten alle wahre Christen, besonders alle Lehrer der christlichen Verehrung Gottes, nicht ferner die gesellschaftliche verschiedne Lehrform, wodurch die Christen über Vater, Sohn und Geist Gottes sich in locale Gesellschaften theilen, dafür ansehen, daß nur in einer einzigen Lehrform der christliche rechte Glaube an Vater, Sohn und Geist Gottes, also enthalten und eingeschlossen wäre: daß der Geist Gottes sonst in allen andern christlichen Lehrformen nicht wirksam seyn könne, zu der neuen fortgehenden Erleuchtung, Besserung, |f212| und christliche Unterweisung der Theilnemer an einer solchen verschiedenen Lehrform. Denn eben diese eigene moralische freie Uebung und
Fertigkeit, welche Buße und Glauben im N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
heist, und in steter eigener Anwendung der moralischen Erkentnis in jedem einzelnen Menschen bestehet, welche Christus , Paulus , Johannes damalen auszubreiten anfingen: felete bis dahin in der jüdischen und heidnischen Religion. Sie felete ganz und gar oder wurde doch nur von einigen wenigen Zeitgenossen in der Stille gekannt. Die politische Verehrung Gottes wurde nur durch bestellete öffentliche Diener, an gewissen Tagen in gewissen feststehenden äusserlichen Cerimonien, also nur politisch, äusserlich verrichtet oder bezeichnet; diese Cerimonien beförderten vielmehr den Hang zu sinnlichen Begierden unter den Juden und Heiden, als daß eine moralische Gesinnung allen Theilnemern an dieser öffentlichen Religionsordnung zur eignen Pflicht gemacht worden wäre. Nun wird aber das algemeine moralische Reich Gottes durch die neuen Begriffe aufgestellet; für die Juden, mit steter Anwendung und besserer Erklärung ihrer Nationalbücher; für die Nichtjuden mit vor|f213|züglicher Empfelung des moralischen Verhältnisses Gottes, dessen Reich der sichtbaren Natur die Menschen zeither häufig so unwürdig gebrauchten, daß sie ihre moralischen Anlagen zu innerer Verehrung des unsichtbaren Gottes, in vielen Lastern und gar in Zerrüttungen des Körpers ganz vernachläßigten, und dadurch sich selbst und ihre Nebenmenschen ganz unvernünftig herabwürdigten, und also immer mehr Uebel und Elend, wider die kentlichen Absichten Gottes, einander zubereiteten. Nun war es die erste Predigt oder Lehre: jeder Mensch mus die moralische Würde Gottes selbst lebendig zu erkennen anfangen, und dadurch seine bisherige Gesinnung und Neigung immermehr zu verbessern sich bestreben. Jeder mus selbst davon gewis und überzeugt werden, daß es für ihn auch eine moralische, nicht sinnliche, thierische Wohlfart und Seligkeit gibt, die ihm grösser und würdiger wird, als der bisherige sinnliche thierische Gebrauch seines Körpers. Dis wird ihn nun zu einer rechten innern Verehrung Gottes bringen, in einer neuen immer vollkomnern Anwendung aller Kräfte seines Gemüts und Leibes etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
Kurz, die ganze Lehre Christi und der |f214| Apostel gehet dahin, ein jeder mus sich selbst auf Erkentnis Gottes,Christi , des Geistes Gottes, und ihre immer bessere Anwendung legen; für ihn, an seiner Stelle, daß er nun unthätig würde,
kann kein Priester das leisten, was jeder schon zur Pflicht hat, in Absicht seines eigenen Verhältnisses gegen Gott; wie niemand für ihn essen, trinken, schlafen, gesund seyn kann. Man kann also mit Recht sagen, Christus ist der Urheber der eigenen freien Privat-Religion aller Christen; er lehrete eben die Unentberlichkeit der eigenen innern Verehrung Gottes für alle dazu fähige Menschen, da die bessern Begriffe von Gottes moralischem Verhältnis, das nicht blos auf Juden ging, gerade zum neuen Grunde gehörten, weswegen eine solche Privatreligion so gern vorgezogen wurde. Die mächtigen
Vorurteile der Juden, daß andre Völker vor Gott unrein hiessen, wurden nun immer mehr umgeworfen, je mehr die eigene moralische genaue Beurtheilung in den Zeitgenossen zunam. Man erkante die innere Wahrheit dieser obliegenden eigenen Verehrung Gottes, wovon in der That keine Dispensation gedacht und zugegeben werden konte, nach dem eigenen in|f215|nern Bewußtseyn des Menschen. Kein Tempeldienst enthielt oder leistete dieses, was der Mensch Gotte schuldig zu seyn, so gern erkente, und so ernstlich einwilligte. Für bisherige Juden muste jezt noch viele Verknüpfung mit dem und jenem Inhalte ihrer ältern Bücher statt finden, bis sie selbst diese moralischen Wahrheiten in eigner Erkentnis fasseten; ihr Gedächtnis und ihre Einbildungskraft war mit alten Bildern schon angefüllet oder gefärbet. Daher ist auch die erste neue Sprache der Christen noch halbjüdisch; aber die alten Ausdrücke und Redensarten bekommen nun, wenn der Christ sie auch behält, einen immer größern Inhalt. Es war auch nicht unglaublich, daß schon damalen, neben der öffentlichen alten Religionsform, jener Dichter oder Prophet ebenfals schon diese eigene moralische Erkentnis gehabt, und dunkel zu verstehen gegeben habe. Die Beweisart war also auch damalen mehr historisch, und local; da und da ist schon lange durch eben den Geist Gottes diese moralische bessere Erkentnis bejahet, oder davon geweissaget worden. Es stehet auch jezt allen Christen frey, diese alte Beweisart für sich ferner gelten zu lassen, wenn ih|f216|re Verehrung Gottes dadurch gewisser oder ihnen fruchtbarer wird. Eben so gehet es mit den
Christen älterer Zeit, so lange sie noch äusserliche Begebenheiten und Veränderungen erwarteten, die zu einem sichtbaren Reiche Christi gehören sollten. Sie sezten eine Historie Christi so zusammen, daß fernere große Historien ausser ihnen erwartet werden konten; allein diese damaligen Mängel in der christlichen Erkentnis müssen nicht fortgetragen werden, als seien es wesentliche Theile der neuen bessern Verehrung Gottes, in Ansehung aller Christen, die sich in ganz andern innern und äussern Umständen immer mehr befinden, als die damaligen ersten Schüler dieser moralischen Religion. Hier ist alles Befelen, alles einseitige Entscheiden über das Wesentliche der christlichen Religion, ganz umsonst; verständige Christen wenden ihre eigene Erkentnis an, was ihren besondern Gebrauch des N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
betrift. Ob dieses zur damaligen Modification nur gehöre, oder in eben der buchstäblichen Abfassung immer zum Wesen der christlichen Verehrung Gottes gehöre kann niemand entscheiden, was alle fähige Christen betrift; weil die Art der Vorstellung, wel|f217|che unter den Juden statt fand, nicht zur wirklichen steten Vollkommenheit der Vorstellung als ein wesentlicher Theil gehört, sondern in der damaligen Fähigkeit der ersten Theilnemer an einer neuen Religion ihren nächsten und vorübergehenden Grund hat. Es ist also diese neue moralische Uebung und Historie dieser gewesenen Juden, nicht zugleich geradehin dieselbe feste Vorschrift und das Maas für alle nachherigen Forscher und Liebhaber der christlichen Religion, die sie in ganz andern Umständen samlen und anwenden; wie alle Privatgeschichte eines jeden Menschen nie schon eine Vorschrift für alle andern Menschen ist oder seyn kann, ausser für noch unfähigere, die also unter ihm stehen. Die Succession der menschlichen Kentnisse und Beurtheilungen über alle ehemalige Kentnisse hat einen unveränderlichen Grund ausser denen Menschen, die vorher vor unserer Zeit eine christliche Religion sich gesamlet hatten. Die Kraft, welche hier angewendet werden kann, hat, wie die ganze moralische Welt, einen von aussen unbestimlichen Umfang, so wol als Kraft, als auch was die Anwendung betrift. Es ist also die Beurtheilung, ob |f218| diese und jene Vorstellung einiger, auch vieler vorigen Christen stets eben so zu dem Wesen aller christlichen Religion, (der öffentlichen und besondern) gehöre, stets frey für die einzelnen fähigern Forscher dieser Aufgabe. Wenn die wesentlich moralischen Wirkungen und praktischen Erfolge da sind in einem Menschen, welche zu der neuen christlichen Religion immerfort einmal wie allemal gehören: so ist auch die neue moralische Kraft da, welche eine christliche Religion als eine bessere Fertigkeit (Gott immer mehr selbst zu erkennen und zu ehren,) hervorbrachte. Ist also die eigene ernstliche Bemühung da, welche damalen bey Juden und Heiden
das eigene jezige moralische μετανοειν, πιστευειν, oder immerwärende Besserung der Gesinnung und der Neigung, (durch die Verknüpfung der Vorstellungen von Gott, von Christo , vom Geist Gottes) und also ein edles tugendhaftes Verhalten hervorbrachte, was dem Juden und Heiden vorher felete: so ist das Wesen der christlichen praktischen Religion noch jezt da, wie sie den bessern moralischen Zustand aller
Selbstchristen mit sich bringt und befördert. Es wird aber durch alle jene Bestimmung der Bischöfe, wie man über |f219| Dreyeinigkeit bey ihnen, in dieser Gesellschaft reden soll, diesem Wesen der praktischen christlichen freien Religion gar nichts zugesezt, wie das so schlechte Verhalten der katholischen Partey gegen alle andern Parteien, für jeden verständigen Zuschauer, hinlänglich beweiset; also gehören alle nachherigen successiven Lehrbestimmungen der so genannten Kirche, nicht einmal wie allemal zum Wesen der christlichen praktischen eignen Religion aller wahren Christen; sondern zu der Unterscheidung der mehrern kirchlichen Gesellschaften, in dem daseienden bürgerlichen Staate. Es ist aber nun auch eben so gewis, daß diese kirchlichen Lehrsäze, da sie einen andern blos äusserlichen Erfolg haben, dem Wesen der christlichen Privat-Religion gar nichts schaden können, bey allen verständigen fähigern Christen, die das Allgemeine der christlichen Verehrung Gottes, das allein praktisch angewendet wird, selbst nun unterscheiden von dem historischen Einzelnen und Besondern, welches blos zu localen besondern kirchlichen Gesellschaften gehört; wenn auch viel Bischöfe, Lehrer und Christen diese Unterscheidung nicht gelten lassen, sondern immer be|f220|haupten, ihre kirchlichen Bestimmungen, der Dreieinigkeit etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
gehörten einmal wie allemal zum Wesen der wahren christlichen Religion, die einen jeden Christen der christlichen Wohlfart und Seligkeit theilhaftig macht; und es fände also keine christliche Seligkeit statt, ohne eben dieselbe Lehrbestimmung, die doch allezeit nur zur Verbindung der äusserlichen Gesellschaft gehört.
26. Aber die katholischen Lehrer und alle Protestanten haben doch eben diese Lehrbestimmungen von Dreieinigkeit etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
in der Bibel gefunden, und daraus hergeleitet; warum stimmen nun nicht alle Christen darin überein, da sie doch alle die Bibel annemen?
Erstlich ist es nicht geradehin wahr, daß die katholischen Lehrer ihre bestimte Lehre von Dreieinigkeit aus der Bibel hergeleitet hätten. Die ganze spätere Kirche hat diese Bestimmung aus Tradition und aus dem Ansehen der Kirche bewiesen; das ist, sie hat die Auslegung der Bibel durch ihre einseitige locale
Editorische Korrektur von: loeale (digital)
Tradition und durch das Ansehen der Kirche also bestimt, daß in diesen |f221| und jenen Stellen ihre Lehre von Dreieinigkeit etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
wirklich enthalten seie. Man wuste wohl, daß alle diese Stellen von andern Christen, Arianern,
Photinianernetc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
ganz anders erklärt wurden, daß nun die katholische Lehre von Dreieinigkeit keinesweges darin gefunden wurde; daher muste die Tradition und Auctorität der heil.
Abkürzungsauflösung von "heil.": heiligen
Kirche den Beweis schaffen, der in der Bibel gar nicht da ist, sondern durch die ungleichen Leser immer ungleich gefunden wird. Zum andern haben freilich die Protestanten vom 16ten Jahrhunderte her, sich nun auf die Bibel berufen,
da Katholicken die Unzulänglichkeit der Bibel zum Beweise aller christlichen Lehrartikel, ganz öffentlich behaupten, und die Instanz so gar von der Dreieinigkeitslehre hernemen. Nun legten sich die protestantischen Lehrer darauf, diese katholische kirchliche Lehre von Dreieinigkeit in so und so vielen Stellen des A.
Abkürzungsauflösung von "A.": Alten
und N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
als göttlich entschiedene Lehre, ohne Beistand der Tradition anzuweisen. Aber, wenn man auch die Uneinigkeit und Verschiedenheit selbst der protestantischen Ausleger nicht besonders anrechnet, wo es so gar
Caluinum iudaizantem gibt: so kann doch keinesweges diese kirch|f222|liche Lehre von Dreieinigkeit durch wirkliche Beweisstellen als damaliger ausgemachter Begriff, so dargethan werden, daß nun alle Christen dieses eingeständen, welche solche Stellen in der Bibel nun lesen. Man mus also geradehin leugnen, daß die kirchliche katholische später bestimte Lehre von Dreieinigkeit, zum algemeinen Grunde und Inhalte der christlichen Religion wirklich gehöre,
wie schon vorhin (Frage 14 ) eben dieses da gewesen. Die Grundbegriffe, Vater, Sohn und Geist, gehören zur algemeinen christlichen neuen Religion durchaus, unumgänglich; denn sie stehen dem Juden- und Heidentum immer gleich gut entgegen. Aber eine besondere neue nachherige Bestimmung über einen einzigen
modum cogitandi und loquendi gehört allezeit nur zur besondern äusserlichen Religionsgesellschaft, und hat zunächst eine jezige Auctorität der Bischöfe und Vorsteher der Parteien zum Grunde; der auch seine gesellschaftliche Rechtmäsigkeit hat und behält; und so gar bey vielen Lehrern und Christen in einen biblischen Grund wieder aufgelöset werden kann; aber dis geschiehet durch ihre eigene besondere Erkentnis, wodurch also |f232[!]| die fernere eigene ganz andere Erkentnis aller andern Christen nicht umgeworfen werden kann. Eben daher ist vom Anfange der christlichen neuen Religion eine stete Theilung der christlichen Parteien immer da gewesen; und sie hatten doch alle diese neue christliche Religion, oder die Verehrung des Vaters, Sohnes und heil.
Abkürzungsauflösung von "heil.": heiligen
Geistes, im Unterschied der alten jüdischen und heidnischen Religion unter sich fortgesezt. Wenn nun Lehrer der Einen Partey dieses unumgänglichen Unterscheides wegen oder dieser steten localen Verschiedenheit wegen, die andern Parteien verfluchten und für gottlose gottlose
Editorische Korrektur von: got- lose (digital)
Unchristen erklärten: so ist dis doch kein Beweis der vorzüglichen Wahrheit und Unentberlichkeit ihrer besondern Lehre von Dreieinigkeit, zu jener ersten algemeinen Absicht und neuen Wirkung der christlichen Religion. Mετανοειν, πιστευειν, Fleis in aller christlichen gemein nützigen Tugend zur Ehre Gottes, und durch den heil.
Abkürzungsauflösung von "heil.": heiligen
Geist, solte in allen Christen nach der Lehre Christi und der Apostel immer mehr statt finden. Es war keine Bejahung annoch davon einer Homousie dreier Personen in der Gottheit; welche Bestimmung noch dazu im 4ten Jahrhundert nur |f224|
unitatem specificam anzeigte, wie Johannes ,Petrus ,Paulus , Einenaturam humanam einer speciei haben; wofür die spätern Lehrer unitatem numericam gesezt haben. Diese successiven Vorstellungen können durchaus nicht algemeine, unveränderliche für alle Christen werden; so wenig alle Christen in einerley Zeit und Raum da sind. Eben so musten auch Arianer, Photinianer diese gleichgute praktische Religion allen Catholicis zugestehen, weil sie auch nicht an den heftigern Widerspruch gegen Homousie gebunden seyn konte. Denn gute fromme Katholiken konten die Unendlichkeit und Unbegreifligkeit des Wesens Gottes bei der Homousie ganz unbesorgt annemen, und recht glückliche praktische Christen seyn. Aber wo wäre bey dieser gegenseitigen Billigkeit der neue Stand der Clerisey und Bischöfe so wichtig und ansenlich, und gar der Richterstul der Seligkeit und Verdammung der edlern Menschen geworden! Es ist also Sektengeist, der einige stets unbestimmliche, nach der Bibel freie und immer neue christliche Begriffe, ein für allemal bestimmen wolte. Die Kirche wolte nun durch politischen Beistand über alle Christen, und |f225| Menschen herrschen, und ihre bürgerlichen Beyträge und Schenkungen allein genießen, die sie sonst mit den andern Parteien hätten theilen müssen, wenn der Regent mehrere christliche Parteien in einer und derselben Stadt neben einander hätte stehen und sich frey ausbreiten lassen. Nun sagten katholische Bischöfe, wir haben für die Seelen der Unterthanen zu sorgen; (so nicht geradehin wahr ist;) die würden alle ewig verdammt, wenn sie arianischen Gift einsaugten; oder vom Vater, Sohn und H.
Abkürzungsauflösung von "H.": Heiligen
Geist, nicht eine und dieselbe Sprache redeten, die wir einfüren; der Kaiser mus also unsre Lehre von Dreieinigkeit durch Geseze und Landesverweisung, ein für allemal beschüzen, wenn er ein christlicher Kaiser und ein Vormund der wahren Kirche seyn will. Von nun an gehört also die katholische Lehre von Dreieinigkeit zur Landes- Staats- oder Hofreligion, und es wird also wirklich blos eine politische Aufgabe entscheiden, ob es zum grössern Wohlseyn des Staats gehört, daß alle Unterthanen zu einer allereinzigen öffentlichen Religionsform angehalten werden? Diese politische Entscheidung kann aber der freien Privatreligion, die |f226| im Gewissen des Christen ihren Grund hat, nichts geben und nemen.
27. Wie wird es aber nun mit der Gottheit und den beiden Naturen Christi gehen, wenn die kirchliche Lehre von Dreieinigkeit nicht zur praktischen Religion aller Christen in allen Zeiten einmal für allemal gehöret?
Diese Lehre bleibt eben so dem besondern Gewissen aller Christen ganz frey; sie wird nie von allen Christen ein für allemal für unwahr und ungegründet erkant, also auch nicht aufgehoben werden, als ein ausgemachtes Hindernis der praktischen christlichen Religion. Wie könte dis ein Hindernis für diese ruhigen Christen werden? welche ja den Siz dieser Lehre in der Bibel immer finden und behalten! Wenn gleich die kirchlichen Lehrsäze von der Person Christi , wie sie ehedem von den katholischen Bischöfen wider den
Apollinarismus,
Nestorianismus,
Eutychianismus,
Monotheletismus in öffentlicher Kirchensprache beschrieben und bestimt wor|f227|den ist, was ihre damaligen kirchlichen Unterthanen betrift, nicht in eben jener Relation immer fort dauert. Es bleiben nicht eben dieselben Menschen und Zeiten, also kann diese kirchliche Relation auch nicht blos aus der alten Zeit fortdauern; wie gar keine menschliche Erkentnis unveränderlich ist. Diese ältere historische Relation war ohnehin stets schon darin ungewis, daß gerade eine Vorstellung des Apollinaris ,Nestorius ,Eutyches , durch diese Gegensäze widerlegt wurde, und doch es ungewis war, daß diese christlichen Lehrer in der That eben diese Vorstellungen gehabt hätten, die man ihnen beilegte. Selbst der Begrif, Gott (Christus ist Gott,) war im Orient ein Verhältnis gegen alle andre Dinge die unter Gott als unter ihrem Herrn stehen; im Occident aber bezeichnete der Name Gott nicht dis Verhältnis, sondern die Substanz Gottes selbst, und schlos dieses Verhältnis erst ein. Wenn nun die lateinischen Christen den Sohn Gottes sich vorstelleten und beschrieben,
so verstunden sie in eben der Substanz Gottes ein 2tes Subjekt: consubstantiuus secunda in deo persona, sagte schon Tertullianus .
Die im |f228| Orient aber sagten, Gott hat dieses Subjekt zum Sohn d. i.
Abkürzungsauflösung von "d. i.": das ist
zum Mitregenten über alles gemacht; und dis verstunden manche wieder nur logice, es ist ein solcher Sohn Gottes nun bekant worden als Oberherr über alle Geister und Engel, deren bisheriges Gebiet über die Erde er nun aufhebt durch eine bessere Erkentnis von Gott, und durch Aufhebung der Abgötterey;
andre aber sezten das Entstehen und Daseyn dieses vorher unbekanten Sohnes Gottes gerade vor die Erschaffung aller Dinge, wie sie sich nemlich die Schöpfung in der Zeit vorstelleten und ließen alle Geschöpfe durch diesen Erstgebornen Gottes zum viel geringern endlichen Daseyn bringen. Ob nun in den und jenen Stellen der griechischen Uebersezung des A. T.
Abkürzungsauflösung von "A. T.": Alten Testaments
und in manchen Stellen des N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
wo der Sohn Gottes durch manche Zusäze beschrieben wird, durchaus nur die eine Vorstellung gebilliget worden sei: konte nicht durch diese Stellen selbst einmal für allemal entschieden werden; es wurden ohnehin manche Schriften des N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
nicht von allen Lehrern und Christen zugleich angenommen. Folglich muste die allgemein gültige oder in Einer Gesellschaft |f229| angenommene gleichförmige Vorstellung durch die besondere Einwilligung und Verordnung dieser Gesellschaft nun erst festgesezt und entschieden werden; damit nicht zugleich eine andre Erklärung des Namens Sohn Gottes die Gesellschaft täglich zerrütten möchte. Es wurde aber durch eine grössere Beschreibung diesem Subjekt selbst nichts von nun an zugesezt, und durch eine kleinere ihm nichts genommen. Dem unbekanten, und von den verschiednen Meinungen unabhängigen Subjekt widerfärt durch diese verschiednen Beschreibungen gar nichts; aber es entstehet nun eine Geschichte der Christen, welche sich über die Beschreibung des Sohnes Gottes so theilen, daß sie mehrere Gesellschaften ausmachen, weil sie eine verschiedne Religionssprache unter sich einfüren konte; denn sie standen nicht unter einem und demselben Oberherrn; oder die Obrigkeit wolte auch nichts wider Eine Partey entscheiden, um politischer Ursachen willen,
wie der Kaiser Aurelianus im J.
Abkürzungsauflösung von "J.": Jahr
275 der italischen oder römischen Loge den Vorzug gab, daß nun in Antiochien kein Bischof einer andern Loge weiter seyn solte. Es gehet wirklich dem Sohne Gottes nichts ab, |f230| wenn die Christen über ihn verschiedne Meinungen haben; wie ja Gotte selbst, der eher und weiter bekant war, als ein besonderer Sohn Gottes, dadurch nichts zu oder abgehet, daß Menschen nicht wissen und beschreiben können, was er unendlicher Weise und unermeßlich ist. Aber die Oberhäupter der verschiednen Religionsgesellschaften ergreifen diese Verschiedenheit der Beschreibung von dem Sohne Gottes, um ihre blos politischen Absichten zum Vorzug ihres Standes, und zur Beherrschung der Christen unvermerkt und gewis zu erreichen, wenn die Christen indes auf einander ernstlich aufmerksam wurden, und die Eine gesellschaftliche Sprache von dem Sohne Gottes für die einzig wahre Beschreibung der rechten Ehre desselben, also ihre Religionspartey für die einzig wahre christliche Kirche hielten, und wider andre Christen, als Feinde und Lästerer des Sohnes Gottes einen öffentlichen Haß einfürten, und gar einander deswegen um Leib und Leben brachten. Dieser ganz grobe Misbrauch der Clerisey, wonach sie Sprachgebrauch und Redensarten, die stets successiv sind und mit der Erkentnis zugleich fortgehen, also für eine Gesell|f231|schaft in einer Zeit und Ort gehören, und nur einen äusserlichen Zweck haben können, zum Wesen der christlichen Religion, wie sie allen noch so verschieden redenden Christen immer gehört, überhaupt gerechnet hat: ist wol sichtbar genug; er kann auch nicht weiter fortgesezt werden, indem alle verständige Christen es wohl wissen, daß
diese ganze Religion, also auch die Kentnis eines Sohnes Gottes, um ihres moralischen Besten willen da ist, und die Christen nicht da sind, um blos eine kirchliche Regierung über sich und gar über ihr Gewissen, gleichsam zur Ehre Gottes und des Sohnes Gottes zu begünstigen; da in Worten und Redensarten nur eine Verbindung der Menschen zu einer Gesellschaft zu Stande gebracht wird; ohne daß dieses zugleich die beste Stufe der christlichen thätigen Religion werde; zu der dennoch nicht alle Christen gleich gut von Gott selbst verbunden heissen könnten.
Mit der ganzen kirchlichen Lehre von zwoen NaturenChristi , und wie ihre Vereinigung und Wirkung zur Erlösung der Menschen beschrieben werden sol: verhält es sich eben so. Dis sind keine Zusäze zu der christlichen praktischen|f232|Religion, oder zu der freien Verehrung Gottes, wie sie aus den neuen Schriften der Christen, in eigenem Gebrauche des Gewissens, immer mehr, täglich besser, statt finden kann; wozu ja die Kirche hinter der Zeit Christi , und der Apostel, kein Recht hätte: sondern es ist die gelerte Uebung der katholischen Candidaten, welche hiedurch sich von den so genanten Kezern unterscheiden solten. Wenn gleichwol die Kirche nach und nach aus diesen successiven gelerten Uebungen gar algemeine Glaubensartikel für alle Christen gemacht hat: so hatte sie eben so wenig einen moralischen Grund dazu,
als wenn sie ein Fegfeuer nach dem Tode, Anrufung vieler kirchlichen Heiligen und Märtyrer, ein Meßopfer für Lebendige und Todte, Ablaßzettel zur Erlösung aus dem Fegefeuer, die Mönchsgelübde, Infallibilität und Almacht der Kirche etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
zu Glaubensartikeln erhoben hat. Wenn die Protestanten gleichwol eben diese Lehrartikel von den 2 Naturen Christi und ihrer ganz bestimmten Vereinigung wirklich beybehalten, bey der Reformation, da sie doch jene andern bischöflichen oder päbstlichen Kirchenartikel ganz und gar verworfen haben: so ist es eben so be|f233|greiflich, als es sich gar wohl erklären läßt,
warum in Sachsen damalen die äusserliche Reformation nur in einem kleinern Umfange statt gefunden hat, als in der vom teutschen Reiche ganz unabhängigen Schweiz. Beide protestantische Parteien musten sich sehr vorsichtig hüten, daß
die alten kaiserlichen Strafgeseze, die wider die Kezer reden, nicht sogleich wider sie zu Hülfe gerufen werden konten. Diese Lehrsäze der katholischen Kirche von Christo waren aber auch der praktischen Religion
Editorische Korrektur von: Religon (digital)
keinesweges so hinderlich, als jene spätern päbstlichen Artikel; sie behielten vielmehr eine sehr leichte moralische Anwendung. Je mehr man alles geistlich Gute von Christo nun ganz frey erwartete, und es sich durch die und jene Theorie erklärte, oder in stiller Andacht täglich nüzte: desto mehr fielen alle Mitverdienste der Heiligen und der Mönche weg, ohne die ein Christ im Pabsttum sonst nicht selig werden konte. Die Protestanten änderten also hier noch nichts in der alten lateinischen Kirchenlehre von der Person und den Naturen Christi: aber sie haben auch hiedurch diesem Kirchenartikel ein göttlich Ansehen nicht geben können, wenn er es nicht schon von den Aposteln selbst |f234| hatte. Ob nun die Apostel eben dieses gelert haben, gehört immer noch für das freie Gewissen der fähigern Christen, die nun es bejahen, oder verneinen; ohne die WohlthatenChristi an sich selbst zu verändern; diese sind und bleiben unsichtbare Gegenstände der christlichen Erbauung, und können nie wegfallen; indem die neue Religion eben in diesen unsichtbaren moralischen Wolthaten und ihrem fortgehenden Nuzen bestehet.
28. Also wären ja wol alle dogmata der spätern Kirche, oder der Bischöfe, nicht eigentliche algemeine Religions- oder Glaubenslehren für alle Christen, und noch weniger für alle Menschen, ohne deren tägliche gleichförmige Bejahung und buchstäbliche Wiederholung man gar keine moralische Wohlfart und Seligkeit, keinen Antheil an Gott haben und geniessen könte?
Freilich nicht; dogmata fidei hat man sehr übel geradehin Glaubensartikel vertauscht. Der Glaube der einzelnen Christen, das ist ihre |f235| eigne christliche Religion ist frey aus den Lehren Christi und eigenem Nachdenken hergeleitet; hat keine dogmata weder von Rabbinen noch von Bischöfen zu seinen innern Bestandtheilen von Zeit zu Zeit anzunemen. Alle sogenannte dogmata sind erst von Bischöfen auf ihren kirchlichen Landtägen zusammengesezt worden, zunächst wider sogenannte Kezer, und also für die Candidaten ihrer Clerisey, nicht aber als neue Zusäze zu der christlichen Religion. Es werden neue Bedingungen der Gesellschaft, aber nicht der Seligkeit der Christen, die ein für allemal ihrem Gewissen folgen müssen und auf vielerley Fragen, die sich nur auf die Gesellschaft beziehen, privatim zu antworten keine Ursache haben. Es ist ein gar kentlicher Feler, oder vielmehr eine bedächtige Politik der Bischöfe, daß sie eben diese ihre eigenen Schöpfungen für wesentliche Theile der christlichen Religion überhaupt haben ansehen lassen, die freilich
nun gar Geheimnisse heissen, weil kein Mensch den Inhalt dieser kirchlichen Lehrsäze verstehen könte, und nur die Geistlichen diese geistlichen oder geheimen Sachen verstünden; also auch allen andern Christen zu ge|f236|horsamer Aufname zu überliefern hätten; wenn sie gleich selbst, wie aus ihrem Leben zu sehen, alle diese Dinge nicht für wahr und so gar ein moralisch Leben nicht für nötig hielten. Hundert und tausend Legenden von Heiligen, von Mirakeln, von Erscheinungen erzälten sie eben so, blos für andre einfältige Christen, damit sie immer weniger zu freier eigener Erkentnis und moralischer Beurtheilung gelangen könten. Durch alle jene dogmata wurden immer mehr Supplemente zur Historie Christi , und also gar zur christlichen Religion erschaffen, woran doch kein Apostel je gedacht hatte; Christum nur nach dem Fleische, oder nach einer Historie, welche sinnliche Empfindungen angehet, kennen, war nur für die einfältigen, unfähigern Menschen; den Fähigern blieb es frey, über alles Sinnliche sich zu erheben, und lauter moralische Wohlthaten Christi zu behalten. Aber die Kirche hat die eignen jezigen Gedanken der Christen ganz und gar ausgeschlossen, und so konte die Kirche immer neue Lehrartikel erschaffen, wie sie neue sinnliche
Festtäge für die Christen ankündigte; die doch weder Christus noch die Apostel eingefürt hatten. Durch die Fest|f237|tage
unterstüzte man die neuen Lehren; die Christen lernten sie nun um des historischen Christus willen hochschäzen, und sezten ihre ganze Religion in die fleißige Feier solcher Festtage, wovon sie immer mehr Historien und Fabeln hörten und ganz leicht glaubten; worüber die eigene Verehrung Gottes ganz verdunkelt wurde, die sonst sehr bald diese falsche und blos politische Religion richtig beurtheilt haben würde. Desto eifriger hielten nun Pfaffen und Mönche über dieser Kirchenreligion, wovon sie selbst immer mehr Nuzen hatten, da sie indes den äusserlichen Kirchenchristen ganz sicher, ganz schändlich und unchristlich eine ewige Seligkeit versprachen, wenn sie nur alles das glaubten, was die Kirche glaubte. Denn die Kirche konte allein selig machen,
wenn sie wolte. Je unwissendere Menschen also, desto bessere Glaubige;
durch so viel paternoster, aue Maria, Weihwasser, Meßhören, Almosen, Anruffen der Heiligen – endlich lezte Oelung und Bestellung der Seelmessen, mußte man gewis selig werden; und desto gewisser mußten alle andere Christen, zumal Kezer, ewig verdammt werden, weil es die Kirche täglich ganz ernstlich versicherte. Was ich |f238| hier sage, ist von allen wahren verständigen Christen in allen Jahrhunderten eingesehen worden; wenn gleich die tirannischen Pfaffen und Mönche diese wahre christliche freie Religion immer mehr zu unterdrücken suchten. Finden aber noch jezt Christen ihre Erbauung bey solchen späten Kirchenlehren: so behalten sie alles; aber es sind nicht allgemeine Glaubensartikel; und diese Christen gaben ihnen eine solche practische Bestimmung, die jene Bischöfe und Pfaffen nie kanten oder schäzten.
29. Bey jenen Mirakeln und Legenden – muß man doch daran denken,
daß ja selbst noch iezt Protestanten einen Beweis der Wahrheit der christlichen Religion von Mirakeln und Weissagungen etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
entlenen; warum sol nun dieser Beweis nicht ferner zum Vortheil der alten katholischen Kirche taugen, da sie alle ihre dogmata durch unaufhörliche miracula bestätiget hat?
Was das lezte betrift,
so sind die miracula der nächsten Jahrhunderte gar zu ungewis und |f239| zweideutig; ja häufig als listige Betrügereien bekant worden, die Protestanten haben also hier den Untersaz geradehin geleugnet, daß wirklich hier solche miracula geschehen seien; sie haben aber freilich den Obersaz noch stehen lassen; miracula dienen zum Beweise der Wahrheit der christlichen Religion, weil es eine sehr alte Meinung ist und die so genannten Wunder, die im neuen Testamente in einigen Büchern gemeldet werden, damalen Beweise der Wahrheit und Göttlichkeit dieser neuen Religion gewesen wären.
Es ist aber allerdings kein Theil der christlichen Religion oder algemeinen Glaubenslehre, daß alle Christen über diese Zeichen und Wunder im N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testament
durchaus einerley denken müsten, und sonst keine wahre christliche Religion haben würden, wenn sie diese Erzälungen ganz liegen liessen, da sie ihnen so dunkel sind. So gar ist es noch ungewis, ob diese Erzelung, selbst ihrer Abfassung nach, sich wirklich eben so oder zu eben der Absicht, auf diejenigen Christen beziehen, welche nachher diese Evangelia lasen und beurtheilten; wie sie sich freilich zunächst ehedem auf solche
Juden beziehen, die durchaus immer Zeichen und Wunder sehen |f240| und hören wolten, ehe sie selbst glaubten; und dieses Glauben war,
wie Bengel selbst gestund, noch lange nicht unser christlicher Glaube. Wahr ist es doch, daß Christus selbst jenen Menschen den Vorzug gibt,
die nicht sehen (also auch nicht hören, was andre gesehen haben) und doch selbst gläuben. Wenn auch,
wie zu Ende des Evangelii Johannis stehet, diese Zeichen damalen erzälet wurden, damit diese nächsten Leser und Zuhörer nur glauben möchten, Jesus sey der Christ und
daß sie durch diesen ihren Glauben (ohne jüdische Irrtümer, immer mehr sich glücklich finden,) und das Leben haben möchten, in seinem Namen oder durch diesen ganz andern Christus , wobey ihr moralisches Wachstum eingeschlossen wird: so ist doch dieses nicht für alle nachherige Christen eben so anzuwenden, wenn diese nachherigen Menschen sich nicht schon in jener kleinen Denkungsart befinden, welche durchaus ferner von Zeichen und Wundern zuerst hören wolten.
Ganz recht sagten auch die zu Samaria, Joh. 4. wir glauben nun nicht um deiner Rede willen, von dem Wunder, daß Jesus deine bisherige Hurerey wisse: sondern wir |f241|haben selbst gesehen, und erkantetc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
oder wir sind durch unser Nachdenken überzeugt; sie hatten aber keine Zeichen und Wunder Jesu hier zu sehen bekommen. Es beruhet also die ganze Aufgabe von Wundern, auf der Voraussezung: daß diese Erzehlungen eben so gradehin für alle Christen als Christen, bestimt gewesen seien, als die Lehren Christi und seiner Apostel? So leicht man nun eben diese Frage gemeiniglich bejahet, nach der ältern kirchlichen Lehrart (die blos auf dem kirchlichen Rechte des so genanten Canon beruhet) so wenig ist sie doch hiemit bewiesen für die Christen, die gar nicht in der Denkungsart stehen, als eben diese Juden, sondern leider nun erst eine jüdische sehr unmoralische Denkungsart, zu ihrem moralischen Schaden, auf sich übertragen, durch diesen Misbrauch jener Bücher. Die gemeine Denkungsart der Juden ist und war eine sinnliche kindische Nachlässigkeit, wonach sie auf Zeichen und Wunder in der sinnlichen körperlichen Welt warteten, und es voraus sagten, daß Gott um ihrentwillen, so oft sie es erwarten wollen, erst dergleichen Zeichen und Wunder geschehen lassen müsse; sonst hät|f242|ten sie gleichsam ein altes Vorrecht, ihren Verstand, ihr Nachdenken noch immer nicht selbst anzuwenden, und über neue Stufen der Erkentniß, selbst frey und ernstlich moralisch zu urtheilen. Wenn nun gleich in diesen Erzälungen mehrere solche Dinge vorkommen, die nach dem kleinen oder moralisch ungültigen jüdischen Sprachgebrauche damals Zeichen und Wunder heissen könnten: so ist doch diese dort gewälte Einkleidung oder Erzälung eben nur um solcher Juden willen da, die iezt noch christliche Juden sind; keinesweges aber kann diese jüdische Denkungsart eine algemeine Schuldigkeit oder ein unleugbarer Vorzug aller Christen werden.
Freilich hat die Kirche auch das so genante donum Miraculorum gar als fortdauernd angesehen; aber diese Gewohnheit der Kirche beweiset eben so wenig, als jene Gewohnheit der Juden. Es ist immer petitio principii, daß damalen miracula einen wahren Begriff eingeschlossen hätten den die Christen von den Juden annemen müsten, weil hier von Zeichen und Wundern etwas erzälet wird. Wie kann jüdische Denkungsart nun eine christliche worden seyn? Allein ich dächte, daß ein noch|f243|viel wichtigerer Grund da wäre für alle die Christen, welche diese Wunder nicht dafür ansehen, daß sie die anderweitige edlere Wahrheit der christlichen Religion vorzüglich beweisen könnten. Diese christliche Religion oder die Verbindung neuer Begriffe von der Herrlichkeit Gottes, von deren Wahrheit wir uns überzeugen (ohne Wunder) war ja damalen noch nicht da. In der Lebenszeit Christi war der heil.
Abkürzungsauflösung von "heil.": heilige
Geist die moralische volkommene Erkenntnis Christi den Christen noch nicht bekant, sondern wurde erst hinter dem Tode Christi immer mehr und mehr ausser Palästina ausgebreitet, daß Jesus der Christ seie: war der einzige Satz, der für die Juden aus diesen erzälten Wundern sich zunächst ergeben solte; dies hies aber noch immer einen Christum nach dem Fleische, oder in sinnlichen jüdischen Charakter als Urheber eines äusserlichen neuen Reichs zum politischen Flor der Juden kennen und ansehen. Sehr viele glaubten also, Jesus ist der Christus; aber sie behielten zugleich den jüdischen ganz falschen Begriff von der kleinen ganz falschen Bestimmung des Messias, wider die Heiden, zum Beweise aber der geistlichen volkommenen Religion, welcher Umfang der Er|f244|kenntniß und Erfarung gar nicht für die Anfänger gehöret hat: sind nicht nur gar keine Zeichen und Wunder jemalen geschehen; sondern es konten auch keine statt finden; weil die Erwartung solcher Wunder oder sinlichen Begebenheiten, eben der alte Geist und Fehler des gemeinsten Judentums war; der gewis nicht fortgesezt wurde durch diese reine christliche
ἀληθείαν, durch πνευμα,
oder durch die eigene starke Speise der freien volkomnen Christen; diese Wunder gehören also durchaus für die moralischen Kinder, für die Unmündigen, die den
Christus nur nach dem Fleische, oder in sinnlicher Erwartung noch sehr unvolkommen, und noch sehr unrichtig kennen, und also freilich tägliche Veränderung in der äusserlichen Welt (ihrer alten Gedanken wegen, also zur Fortsetzung ihrer moralischen Kindheit,) erwarten.
Wunder und Zeichen fordern nur die Juden, sagt Paulus ganz recht und er tadelt es hiemit. Man kann wol noch dazu sezen,
weil die Juden die Körperwelt unter dem Mond dem Gebiet der guten und bösen Engel unterworfen hatten und also bey diesen Vorurtheilen
eine weise unverbesserliche Ordnung in|f245|dem einzigen Reiche der Natur gar nicht vor Augen hatten, indem
böse Geister in der Luft herrschten, also auch in die Menschen durch die Luft eingehen, und sie beherrschen, oder besizen könnten: so mußte auch durch eine andre übernatürliche Kraft, durch Wunder, solchen Geistern damalen Widerstand geschehen. Jene Vorurtheile lagen äusserlich schon voraus; diese Erzählungen beziehen sich ganz allein darauf. Waren jene Voraussezungen nicht von Störung der Natur durch böse Geister etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
so war kein Gegenmittel nötig. Kurz diese ganze Einkleidung ist um jener Zeitgenossen willen da, welche vom Messias eben so Wunder und Zeichen erwarteten, wie Moses und andere Propheten gethan hätten und der Erfolg, wenn diese Juden nun glaubten, Jesus – – sei der Christ, oder Messias, war gewis noch nicht eine Vorstellung eines moralischen Verhältnisses dieses Messias in Absicht des Antheils aller Menschen, an einem und demselben Gott, der gleich gut aller Menschen gnädiger Vater seie. Denn diese Begriffe sind erst nach und nach viel später, durch fortgehende Belehrung des Geistes Gottes in den Aposteln, entstanden, und |f246| sehr bedächtig mitgetheilet worden; und zwar gerade ohne allen Einfluß jener Zeichen und Wunder, davon in allen Briefen der Apostel gar nichts wieder vorkommt.
Der ganze Beweis aus so genannten Weissagungen in den Schriften des A. T.
Abkürzungsauflösung von "A. T.": Alten Testaments
ist eben so blos relativ; beziehet sich zunächst auf Juden, die aus ihren Propheten schon einen jüdischen Messias, für sich, nicht für alle Menschen, erwarteten. Die moralische Allgemeinheit des Messias, ist selbst noch nicht in diesen Propheten kenntlich genug bestimt, wenn auch manche Stellen ihrer Reden von Juden auf einen Messias gedeutet wurden; Es war noch ein Geheimnis, noch unbekant, öffentlich noch nicht gelehret worden; es ist nun erst unter Christen eine neue grössere Erkenntniß entstanden. Die Algemeinheit der moralischen Wohlthaten des Messias, ist ein ganz neuer Begriff, ist der Grund des neuen Bundes zur Widerlegung des jüdischen Particularismus; es ist eine neue Belehrung, eine neue Stufe der Erkenntniß, welche dem Geiste Gottes iezt von Christo und von den Aposteln ganz eigentlich |f247| beigelegt wird, damit jüdische Mikrologie nicht zum Nachtheil einer bessern Gottesverehrung noch immer fortdauern könne. Wenn also Stellen aus dem alten Testament im neuen angefürt werden: ist es eben um dieser Juden willen; damit sie einen grössern Verstand an die alte kleinere Auslegung nun anknüpfen lernten. Es können Christen dies eben so machen; aber die Lehre Christi und der Apostel ist ihnen viel näher. Es stehet also den Christen frey; aber es ist keine algemeine Regel für alle Christen: die christliche Religion aus Mirakeln und Weissagungen sich zu beweisen. Die christliche Verehrung Gottes kann auch ohne jene Ideen statt finden.
30[.] Warum nennen aber die Christen diese bessere Erkentnis eine neue Offenbarung oder Belehrung Gottes? Es konnte ja eine Folge des natürlichen Menschenverstandes seyn, der freilich über die jüdischen periodischen Meinungen und Hypotheses sich in einzelnen Menschen nach und nach erheben, und neue Urtheile ergreifen und die jüdische Vorurtheile auslassen konnte?
|f248| Wo solten aber die ersten Christen einen Grund gefunden und ihn also vorgezogen haben, diese alte jüdische Sprache, die von Offenbarung, Belehrung Gottes schon lange wusten, gar nicht zu brauchen, da sie doch mit Juden reden und sie in moralischer Erkenntniß weiter bringen wolten? Sie musten ja wol dieselbe Sprache behalten, um neue grössere Vorstellungen nun dadurch auszubreiten, welche sie selbst angenommen und vorgezogen hatten. In der moralischen Sprache der Juden waren schon die Worte und Zeichen, das Reich Gottes wird bald kommen, durch den Messias;
der und jener Prophet redet davon, er war getrieben durch den Geist Gottes;
nun trifft es ein, es wird erfüllet, was da geschrieben stehet;
uns hat es Gott näher offenbaret durch eben diesen Geist, der in den Propheten dort etwas dunkel, und von weiten davon ehedem schon geredet hat! etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
dies war also ein sehr gutes Mittel zum Endzweck; es war die beste Lehrmethode. Es kann aber auch gar wohl wahr seyn, daß Apostel und Schüler Christi in allem eigenen Bewußtseyn von sich es sagten, der Geist Gottes hat dieses mir geoffenbaret, wie dort in jenen |f249| Propheten schon etwas davon vorkomt. Daß also nicht blos die jüdische Sprache iezt bedächtig fortgesezt worden, sondern daß die Christen aus eigner Historie und Erfarung recht ernstlich und eifrig also reden. Die bessere oder grössere Erkenntniß hatte der Christ, es seie kein sinlich äusserlich Reich Gottes in Palästina zu erwarten; Gott könne keinen so unwürdigen Messias, nach jüdischen Begriffen, bestellen; alle Menschen gehörten schon einem Gotte an, der nicht ihren politischen Untergang, sondern ihrer aller moralische Wohlfart durch den Messias nach unbegreiflicher Weisheit und Gnade, besorgen und wider jüdische Irrtümer bekant machen wolle, wozu das Nationalgesez Mosis , der Hohepriester, der locale Tempel etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
gar nicht nöthig seyen; es gebe
eine geistliche viel vollkomnere Beschneidung, eine algemeine volkommene Aussönung der Menschen mit Gott, in der Erkentnis der Liebe Gottes, aus der Historie und Lehre Christi , durch bessere Erkenntnis der Menschen von der moralischen Würde Gottes; daß sie nun selbst Gerechtigkeit und Heiligkeit immer mehr liebeten und leisteten – – Wie solte man diese neue bessere |f250| Religionslehre damalen diesen Juden anders anempfehlen, als durch eine einzige Offenbarung und Belehrung eben des Gottes, der ehedem unter den Juden durch die Propheten, die sein Geist antrieb, schon manches geredet oder geleret hätte? Und was ist denn die Folge des natürlichen Nachdenkens in einigen solchen fähigen oder geübten Menschen, um ja alle Ordnung und Wirkung, die von Gott selbst unbekanter Weise herkäme, hier auszuschliessen? Haben die Naturalisten wirklich ein ausgemachtes Vorrecht vor jenen guten Christen und Aposteln, dieweil sie iezt ganz anders hievon reden, daß blos die Folgen des ganz natürlichen Nachdenkens sie, ohne Gott, ohne Geist Gottes, oder ohne Einfluß des würdigern Begrifs von Gott, über jene Rabbinen und Juden von selbst erhoben haben? Es liegt doch wol alles an der Sache; die christliche Religion ist eine höhere Stuffe, lehrt einen algemeinen Messias und Geist Gottes zum moralischen Besten aller Menschen, sie mögen der Nation nach Juden oder Heiden seyn. Die schlechten jüdischen Begriffe musten doch weggeschafft werden; und diese neue Begebenheit ist da, ist wirklich worden, durch |f251| einen moralischen Messias. Ob diese Erhebung und Veredelung alter jüdischer Redensarten nun in der gemeinen christlichen Sprache beschrieben wird, eine neue Stufe der ehmaligen Offenbarung und Wirkung Gottes hat iezt angefangen; oder ob Naturalisten sagen, es gab gar keine Offenbarung und Belehrung Gottes ausser der Succession der Uebung des Menschenverstandes über moralische Dinge; das macht doch wol keine solche Veränderung, daß die Naturalisten durch ihre Sprache eine viel bessere Religion schon ausübten, als die Christen, die eine christliche Sprache daneben behalten. Ein für allemal ist das ganze menschliche Geschlecht im gleich guten Besiz, von dem unsichtbaren, allerhöchsten Wesen und von seinem wirksamen steten Verhältnis mit einerley Rechte unter zweierley Meinung zu wälen; eine nimt eine stete Wirkung und Regierung Gottes an, freilich durch so genante Natur, aber ohne Gott selbst daran zu binden; sie sezt vielmehr voraus, Gott könne auch neben und über die Natur mancher Menschen zuweilen wirken, auf eine uns nicht bekante Weise; die andre läßt blos natürliche Wirkungen auf einander folgen, und leugnet al|f252|les Uebernatürliche, wodurch etwa Menschen neue Vortheile zu ihrer physischen oder moralischen Volkommenheit entstehen können. Ist es wohl möglich, daß eine Partey den Sieg erwarten oder sich schaffen wil über die andre? So lange die Menschenwelt uns bekannt ist, erfolgte dies nicht; wird es wol von nun an erfolgen? Was ist denn die Natur aller uns so oder so weit, oder gar unbekanten Dinge ohne die unendliche allerhöchste Natur, die über alle von uns genente Natur ist? Oder ist diese etwa gar nicht einmal über die Natur der Menschen? Es wird also immer eben auf die Natur und Uebung einiger Menschen ankommen, daß sie gerne an die höchste Natur denken, und ihre neue seltenere Wirkung für wahr halten; wie es hingegen in der Natur und Uebung anderer Menschen seinen Grund hat, daß sie eine solche Relation des höchsten Wesens zu einigen Menschen nicht voraussezen. Ich dächte, wir fänden diese doppelte Gesinnung oder Neigung der Menschen so gar gewis und historisch wirklich: daß wir es für ganz unnütz hielten, darüber ferner zu streiten, damit nur der Eine Theil allein recht habe. Es ist und bleibt Geschichte der Natur|f253|der so ungleichen Menschen, daß die Menschen sich hierüber recht bedächtig, ernstlich, gewissenhaft theilen. Aus der Natur der Menschen kann man nicht eine und dieselbe Anwendung ihrer innern Kraft, und einerley Bewustseyn der innern Veränderungen, noch weniger einerley moralische Sprache herleiten; da die Natur der Dinge, oder der Grund ihrer innern Bewegung von kleinern zum grössern, uns ganz gewis iezt noch eben so unbekannt ist und bleibt, als ehedem. Das Unsichtbare gehet noch immer vor und neben allen Sichtbaren her; das Denken und Urtheilen über dieses innere Unsichtbare, mus daher immer unter den Menschen eben so ungleich und verschieden seyn, als die Stimmung der Menschen durch verschiedene Talente und Vorzüge sich an den Tag legt, ohne daß diese Stimmung eine algemeine Beschaffenheit aller Menschen werden kann. Oder wäre es schon Beschimpfung, daß Menschen sich über die Natur der sinnlichen Dinge gern erheben? Durch den Ausdruck übernatürliche Offenbarung beiahen also die Christen etwas, das die Naturalisten
nicht bejahen. Ist diese Verschiedenheit beider Classen etwas an sich Ungereimtes bey den Naturalisten? Mus es nun auch |f254| bey dem Christen ungereimt seyn? wo käme denn dieses Muß her? anziehende und abstossende Kraft mus doch wol in der moralischen Welt eben so immer zugleich da seyn, als in der physischen körperlichen Welt; beiderley Kraft gehört auch in die Natur der Menschen in Ansehung dieser Aufgabe.
31. Hiemit wird sich aber der Fanatismus oder Enthusiasmus unter den Menschen ferner ausbreiten, der immer so viel Böses befördert hat, als man dem Naturalismus nicht Schuld geben kann!
Es kann gleichwohl kein billiger bedächtiger Beobachter der Menschengeschichte so geradehin absprechen, der so genante Fanatismus (welcher Name einen sehr ungleichen Zustand begreift) habe lauter Böses für die Menschen mit sich gebracht. Man hat vielmehr immer zu allen grossen schweren, standhaft ausgefürten Unternemungen einen besondern nicht gewönlichen Einflus und Beistand der Gottheit, als ungezweifelt angenommen.
ἐπιπνοηνadspirationem dei nente man schon lange vor der Zeit der Christen; |f255| und
Stoiker erinnerten ihre Schüler an den Geist Gottes, der in ihnen wonen und wirken wolle: an
die geheimen Grundsätze der Magisten will ich nicht erinnern, die historisch hergehören. Genug, es ist historisch wahr, daß oft ein besonderes Bewustseyn oder Vertrauen mancher Menschen, das eine grössere unsichtbare mitwirkende Kraft zum Grunde sezte, sehr viel grosse neue Vortheile zum Besten anderer Menschen zu wege gebracht hat; Es ist also nicht wahr, daß aller sogenante Fanaticismus, der ohnehin, wie gesagt, einen sehr ungleichen Zustand begreift, wenn man gleich einerley Wort gebraucht, lauter oder mehr böse Folgen für die Menschen immer gehabt habe und haben werde, als sich Vortheile und gute Folgen eben daher berechnen lassen. Man muß die Lage und Verknüpfung der Menschen und die Folgen ihres Thuns und Lassens sich in einem gar zu kleinen Umfange und eigenliebig vorstellen, wenn man so leicht über das Gute und Böse unter den Menschen überhaupt absprechen wil. Es gibt immer Misbrauch so gar des ganz ausgemachten Guten. Wenn also listige boshafte Menschen die grossen Ideen von Gottes Wirkung zu ihren |f256| bösen Absichten gemisbraucht haben: so ist es deswegen doch nicht wahr, daß alle Aufmerksamkeit und Zuversicht auf besondere Wirkungen Gottes, allemal ein schädlicher Fanaticismus, und für uns und für alle Menschen geradehin eine sehr nachtheilige Gesinnung seie, die einmal einen wirklichen Grund hätte, sehr gute Folgen zu erschaffen; und daß man also vielmehr sich von dieser Hypothese ganz entfernen, und den Naturalismus als eine reichere und sichere Quelle von lauter guten Folgen in der Menschenwelt, vorziehen müsse. Wie so gar ungleich ist doch selbst dieser Naturalismus, indem ja Natur einzeler Menschen ebenfals nicht einerley Umfang oder Anlage begreift! Wie wenig ausgemacht wahr ist es, daß jeder Naturalist einen jeden so genanten fanatischen Christen, in Absicht des moralischen eigenen Zustandes, und des schuldlosen Betragens gegen andre Menschen, ganz gewis immer sehr weit übertreffe! Wo solte also der Grund hergenommen werden, zu der gleichsam pflichtmäsigen Bemühung, alle so genante fanatische Gesinnung überal auszurotten, also auch alle christliche und biblische Sprache, welche einen nähern Zusam|f257|menhang mit Gott anzeigt, geradehin abzuschaffen? Es ist doch wahr,
in Gott leben, weben und sind wir; wie soll lauter Böses daher entstehen? Aller Misbrauch ist und war doch immer nur zufällig; nicht immer hat ihn böse Meinung oder Gesinnung erzeuget; er würde, wenn diese Menschen auch ausser Europa, ausser der christlichen Religionsgesellschaft lebten und gelebt hätten, dennoch statt gefunden haben. Böse, verdorbene Menschen würden also überal sich als Böse gezeigt haben, wenn sie auch keine Gestalt von Fanaticismus, keine Behauptung oder Meinung von übernatürlicher Offenbarung dazu hätten misbrauchen können. Allen andern Menschen aber muß doch auch diese ihre moralische Uebung, Erfarung, Fertigkeit, als ihr innerer Zustand frey bleiben, da sie doch wirklich nicht immer mit einem Nachtheil, oder Misbrauch verbunden ist, den ein Naturalist durchaus hier übereilt voraussezt. Es ist und bleibt, auch in der moralischen Welt Tag und Nacht, Wärme und Kälte, gleich notwendig, wenn es an manchen Arten moralischer Producte, die auch nicht gleich sind, wenn wir auch ihren Nutzen nicht |f258| einsehen, als doch hier der Fall nicht ist, nicht ganz felen sol; Und wie kann doch ein Naturalist sich anmassen, mehr Freiheit hier zu brauchen, als er dem Anhänger an eine übernatürliche Offenbarung erlauben wil? hat er Gründe, die ihn hindern, sie in Absicht seiner für wahr oder auch für ungleich zu halten: so sind es ja doch nur Gründe für ihn, die auf gar keine Art eben so allen andern Menschen zu kommen können, eben wegen des vorausliegenden Unterschieds.
So sagt einer erst neuerlich: Gott würde durch eine übernatürliche Belerung den natürlichen Gang einzler Menschen stören und es würde mit sich bringen daß Gott durch die schöpferische Einrichtung nicht alle seine Werke habe erreichen können; ja es würde durch eine Offenbarung in Ansehung der schon daseienden Verkettung der Ideen des Menschen so etwas geschehen, als wenn man einen Haufen Sand in eine Uhr schütten wolte etc
Abkürzungsauflösung von "etc": et cetera
. Nun so mag dieser Naturalist also diese Gedanken für so wichtig halten, daß er keine übernatürliche Offenbarung selbst annimt; aber muß denn nun auch ein jeder Christ um seines eigenen Besten willen, ein solcher Naturalist werden? Wenn der natür|f259|liche Gang mancher Menschen diesen Begriff von Uebernatürlichen und Unsichtbaren schon mit sich bringt, wie es historisch wahr ist: wie kann durch die Bejahung einer übernatürlichen Belerung eben dieser natürliche Gang dieser Menschen gestöret heissen? In der Natur mancher Menschen liegt also dieser Begrif. Wie folgt aber eine Unzulänglichkeit der weisen Schöpfung, wenn neben der physischen natürlichen Bewegung, auch eine nicht physische moralische in manchen Menschen mit wirket? Es ist ja doch gar schlecht geurtheilet,
wenn der Naturalist die unendliche Weisheit Gottes dahin ziehen wil, daß ausser der physischen Ordnung aller Dinge, die doch von Gott immer abhängt, Gott gar keine Wirkung weiter übrig haben könne; als wenn die Natur aller Dinge dem Naturalisten so bekannt wäre, daß er nun wüßte, es seie gar keine weitere Wirkung Gottes übrig; und als wenn Gott nicht selbst unendlich mehr seie und wirke, als was Menschen in der und der guten oder schlechten moralischen Uebung von Gott bejahen mögen! so leicht ist die Unendlichkeit Gottes abgeschaft, durch das Wort natürlich; und es ist doch selbst die so genante Natur, körperliche und |f260| geistliche für uns immer unendlich! Mit unendlicher Weisheit hat Gott die Geseze aller Dinge ein für allemal verordnet! Und – – – daher folgt, er hat daneben eine Wirkung auf manchen Menschen übernatürlich, wie einige Menschen reden, auch noch anwenden können? Aber es konte ja in dieser unendlichen Weisheit für einige Menschen eben bestimt seyn, daß sie an eine übernatürliche Weisheit Gottes denken, neben der so genanten Natur; wie sie auch an das Unsichtbare und Unkörperliche denken, das immer eher ist, als das Sichtbare und Körperliche. Warum sol Offenbarung Gottes zugleich einen Streit mit der Weisheit und Güte Gottes mit sich bringen? Andere Menschen finden viel mehr Weisheit und Güte Gottes darin und sind zu bescheiden, als daß sie dem höchsten Wesen aus ihren Kopfe hierbey anweisen, oder auch gar alle andre Menschen Vorschriften machen wollen was sie von dem Unsichtbaren denken sollen. So lange die Folgen der beiaheten Offenbarung nur in den bejahenden Menschen selbst einfallen, und ihre moralische Besserung mit sich bringen: kann kein anderer Mensch über ungerechte Beeinträchtigung klagen; wenn |f261| aber jemand aus Offenbarung äusserliche Zerrüttungen der bürgerlichen Gesellschaft vornemen wil, so wird der Beweis bald da seyn, durch den hinlänglichen Widerstand der Gesellschaft, daß Gott dieses nicht haben wolte. Aber wo sol der Widerstand herkommen, der die Christen am fernern Glauben einer Offenbarung Gottes hindern solte? durch den Namen, Dumkopf, Fantast, läßt sich kein vernünftiger Mensch dazu bringen, sich alles eigene Urtheil zu untersagen.
32. Aber es ist doch unter den Christen durch ihre Offenbarung, die Schwärmerey von Geistern, Erscheinungen, unsichtbaren Wirkungen und täglichen Wundern zu allernächst befördert worden? Dies kann doch keine Folge von einer wahren Belehrung Gottes seyn, also ist bey den Christen keine göttliche Offenbarung, wenn sie gleich dergleichen bejahen. Die Historie lehret es ganz unwidersprechlich, daß es bey keinem Staat so viel anhaltenden und immer wachsenden Aberglauben gegeben hat, als bey den Christen.
|f262| Und hieraus sol also diese Historie eingesehen werden, daß die ersten Urheber dieser Bejahung, es habe eine neue Offenbarung Gottes ihnen bessere Erkentnis geschaft, und sie also von Juden und Heiden getrent, sich selbst geirret, oder daß sie es bedächtig vorgegeben haben, um sich desto mehr Anhänger zu schaffen! Ich dächte doch nicht daß jener Schlus und gar eine wirkliche Historie, aus solchen Gedanken, notwendig entstehen müssen; vielmehr dieses, daß nachher manche, daß viele Christen den wahren moralischen Inhalt der neuen Belerung, die bey einigen Menschen durch Offenbarung entstanden hies, vernachlässiget, und gar bedächtig gemisbraucht haben.
Wir wissen aber ohnehin, daß die guten Früchte einer neuen Belerung – kein physischer unausbleiblicher Erfolg heissen können, sondern eine moralische Natur behalten; oder, daß es nun auf die Menschen ankömt, ob sie diese neue Belerung (die so oder so von Gott kam, nach der Ueberzeugung einiger Menschen) moralisch gut für sich anwenden, oder mit Beibehaltung ihrer sinlichen Begierden gar zum Mittel verkehren, andere Menschen zu hintergehen. Hienächst kann man |f263| ja nicht sagen, daß diese neue Belerung unter allen Christen ohne einen verhältnismässigen guten Erfolg geblieben seie; daß aber alle Christen nun eben so lauter guten Gebrauch von einer neuen Belehrung machen solten, kann ja niemand zu einem unausbleiblichen Merkmal der Wirklichkeit dieser Belerung Gottes so machen, daß alsdenn es keine solche Belerung einiger Christen gegeben habe, wenn diese Belerung nicht lauter vortrefliche Folgen bey allen Christen immer hervorbrachte. Oder sind Vorschriften und Geseze darum so gleich nicht gute Vorschriften, weil sie nicht durchgängig von allen Mitgliedern zu ihrem Nutzen beobachtet werden? Wenn wir also die Ursachen des felenden grössern Erfolges, immer bey den ungleichen Menschen selbst finden können, warum sol es nun gar ein Beweis werden, daß in der That dies neue Mittel als neu, oder als von Gott iezt veranstaltet gar nicht in dem Bewustseyn der Menschen gegeben habe: dieweil sehr viele Christen es gar nicht oder nicht gut und zu grossen Folgen genüzt haben? Da es nun doch gewis ist, daß viele Menschen diesen Begriff einer göttlichen Offenbarung sehr gut an|f264|gewendet haben zur Hintansezung des Juden- und Heidentums auch zum eigenen grossen moralischen Wohlstand, so ist also mehr moralisch Gutes damit befördert worden, in allen Jahrhunderten bis hieher, als ohne diesen Begriff sonst statt gefunden hätte. Da wir es so gar zur Pflicht haben, ehmalige Feler und Misbräuche, welche durch unwürdige Lehrer und falsche Christen eingefüret worden sind, sorgfältig aufzusuchen, und diese Offenbarung Gottes gar nicht von uns so gebraucht werden soll, daß wir in einer steten blinden Abhängigkeit von den vorigen sogenanten Christen und ihren guten und schlechten Lehrern stehen bleiben: so hört aller jener Aberglaube bey uns ganz gewis auf, wenn wir diese Offenbarung für uns richtig anwenden werden; und die aus einem Misbrauch entstandenen Folgen eines grossen Aberglaubens fallen geradehin weg; können wenigstens von billigen Gegnern nicht für iezt uns vorgehalten werden. Uebrigens wird ja keine bestimte einzelne Art und Weise dieser Offenbarung, allen Christen zu glauben aufgelegt; denn sie ist und bleibt unbekant. Genug, die Christen liessen den Ursprung der neuen Religion |f265| mit einer Wirkung Gottes zusammen hängen; ob nun dieses blos ihr Aberglaube war, oder ob sie selbst einen Grund hatten, eine solche Wirkung Gottes in ihm als nur daseiend zu glauben: ist die Aufgabe, die kein Theil wider den andern schon entscheiden kann.
Es ist aber auch noch weiter wahr, daß nicht alles als schändlicher Aberglaube anzusehen ist, was so leicht iezt von vielen Naturalisten dafür angerechnet wird. Es war freilich unrecht, daß man ehedem den Christen, welche nicht zur Clerisey gehörten, allen eigenen freien Gebrauch dieser Bücher, der neben dem öffentlichen Kirchengebrauch noch statt finden konte, durchaus verboten und verwehret hat; denn es ist die erste Forderung der neuen Belerung, daß die Menschen ja mit eigener Aufmerksamkeit über die ihnen gehörige Stufe der Religion nun nachdenken und urtheilen sollen. Nicht alle Christen solten ein und dasselbe Maas ihrer Erkentnis und der Uebung dessen, was sie erkanten, ein für allemal als die einzige Religion, behalten. Folglich war es auch keine Vorschrift dieser neuen Belehrung, daß alle |f266| Christen aus allen Büchern der Bibel oder des N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
einerley Summe zu ihrer gegenwärtigen Erkentnis samlen solten;
das Alte ist vergangen, es ist alles neu worden, (oder das Alte sol als unnötig immer mehr erkant werden, und neue iezige Erkentnis sol an die Stelle des Alten kommen) war gleichsam die Hauptsumme der neuen Belehrung; weil die moralische Volkommenheit und Herrlichkeit Gottes nur in einem unbegränzten Raume gleichsam erblikt wurde; da jedem Christen das Maas seines Glaubens oder seiner Religion für ihn selbst, ganz frey blieb; und es war und blieb doch ein christlicher Glaube, in eigner neuen Fertigkeit aller Christen.
Wie es Eine Taufe war, sie mochte im Jordan, oder in einem Teiche, oder in einem Brunnen irgend eines Landes ertheilet werden; es blieb ein und derselbe Grund der neuen Religion, zu der man durch die Taufe als ein nun kentliches Mitglied neben andren aufgenommen wurde. Daß aber nun Lehrer alle Schriften der Bibel, und allen Inhalt aller Kapitel, und alle Anzeigen damaliger Vorstellung und Urtheile, nach und nach ebenfals mit zu dieser neuen unveränderlichen Belehrung für|f267|alle Christen gerechnet haben: ist ein gar sichtbarer Feler oder Irrtum voriger Zeit; oder ist doch eigenes Urtheil mancher Christen, die sich dabey moralisch wohl befinden; wenn auch andere Christen anders urtheilen, und ebenfals keinen moralischen Schaden davon haben. Wenn man auch eine gesellschaftliche Uebereinstimmung der Kirchendiener im öffentlichen Gebrauche der Bibel als ein rechtmäsiges Mittel ansehen konte, eine solche Gesellschaft vor täglicher Zerrüttung durch immer neue Anfänge zu behüten: so hätte man dies doch nicht mit zum steten unveränderlichen Endzweck der Offenbarung rechnen sollen, was durchaus nur ieziger besonderer äusserlicher Endzweck der Kirchenlehrer und der Vorsteher einer schon grossen christlichen Religionsgesellschaft heisen konte. Blos durch diese Mischung aller Bücher und alles ihres so gar sehr ungleichen Inhalts in eine unveränderliche Summe, hat man so gar jüdischen alten Aberglauben, der darin gemeldet wird, auch den Christen als geoffenbarte Wahrheiten mitgetheilt, und hiedurch freilich die immer volkommenere geistliche Religion, die in gegenwärtigen eigenen Thun und Lassen, also in eig|f268|ner immer grössern Erkentnis und Ausübung bestehet, in eine ängstliche Widerholung und Mischung aller Zeilen der Bibel verwandelt. Nun stunden alle Christen immer fort in einem Kreise stille, aus dem sie nie heraus gehen durften, um nicht Kezer und also ewig verdamt zu werden. Aber alle diese Einwürfe und Vorwürfe, welche selbst von manchen Protestanten schon wider die falsche Kirche gebraucht worden sind, treffen die an sich selbst behauptete neue Offenbarung, neue moralische Haushaltung Gottes, unter den bisherigen Juden und Heiden, ganz und gar nicht. Wir würden diese neue Belehrung Gottes, oder bessere Begriffe von moralischer Verehrung Gottes, haben und behalten, wenn wir auch nicht so viel Bücher des A.
Abkürzungsauflösung von "A.": Alten
und N. T.
Abkürzungsauflösung von "N. T.": Neuen Testaments
in Händen hätten, wenn wir auch viele Erzehlungen von so genanten Wundern gar nicht wüsten. Alle Christen werden immer mehr selbst davon gewis, daß sie von Gott durch unaufhörliche Mittel beleret werden; sie haben selbst höhere Begriffe von Sünde und aller moralischen Unordnung, aber auch nun von der unendlichen moralischen Gnade und Liebe Gottes. Diese neue Einsicht der Christen, diese eigene |f269| Betrachtung über die moralische Güte Gottes, neben der bekannten sichtbaren Schöpfung, gehöret zu der so genanten neuern viel herrlichern Offenbarung Gottes; auf diese eigene practische Uebung und Erfarung der Christen kommt die Hauptsache an, wenn sie eine neue Offenbarung Gottes in jener Zeit immer noch bejahen. Auf die geschriebenen Bücher, auf ihre Vielheit oder Abkürzung, auf eine Samlung von jüdischen alten und spätern Ideen, als Samlung, oder in damaliger Verkündung komt nur wenig an; denn dies wird nicht unsre eigene Religion; und ist wenigstens den Lesern frei gelassen.
Geist und Leben, Geist und Wahrheit, Volkommenheit, Geist und Kraft zum göttlichen Leben und Wandel ist die Hauptsache in der neuen Religion; und die läßt sich ohne eigene Versuche und Erfarung solcher Wirkungen Gottes, gar nicht erkennen; läßt sich aber auch, wenn es einmal eigene Fertigkeit und Erfarung ist, durch allerley Einwürfe oder Spott und lustige Wendungen eines Naturalisten, aus dem Christen nicht so gleich wieder entfernen. Dieser Charakter enthält den kentlichen Unterscheid von Naturalismus; der |f270| siehet jenes alles für fanatische Verirrung an; aber hiemit wird die Erfarung der Christen nicht zum Undinge oder Fanaticismus gemacht.
33. Zugegeben, was diese eigene Erfarung und Gewisheit mancher Christen betrift, eben so bleibt einer bey seiner Erfarung, der ein Gespenst gesehn oder gehört hat; daraus entstehet doch eben gar kein Beweis für einen andern.
So heißt es, Gott ist dem Abraham , dem Moses – – erschienen; ein Engel ist erschienen; hiemit bekömt ein anderer keinen Grund ebenfals zu glauben, was ein anderer also beschreibt, wie er es erfaren haben wil etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
Ganz gewis; aber ist das Nichtglauben anderer nun auch eine Widerlegung für den, der da glaubt oder überzeugt ist, daß er Gottes Wirkung erfärt? hat deswegen Abraham , Paulus – keine neue grössere Erkentniß bekommen, weil andre diese Beschreibung gar nicht gelten liessen oder verspotteten? Man darf es keinem Naturalisten übel nehmen, daß er dergleichen Beschreibung nicht |f271| so leicht oder gern gelten läßt, als manche andre Menschen; es sollen auch solche Beschreibungen nicht in wörtlicher Abfassung eigentlich eine besondre Kraft beweisen in Absicht aller andern Menschen. Es ist vielmehr eine alte ungegründete Forderung der Pfaffen und Mönche, daß nun alle Menschen die Offenbarung Gottes nebst der ehemaligen auch wol schlechten Beschreibung derselben so gleich auch immer gelten lassen, und Kirchenchristen werden müssen, wo sie nicht ewig verdamt heissen wollen. Ich behaupte hier nur umgekehrt eben so viel: es ist gar kein Grund da, daß alle Christen nun um ihres grössern Wohlergehens willen, Naturalisten werden sollen; wenn gleich Naturalisten immerfort solche Gründe nicht finden oder gelten lassen, welche bey den Christen noch immer zu ihrer Gewisheit einer göttlichen Belehrung gelten. Die neue Offenbarung fand vornehmlich Statt, zu einer bessern volkommenern Erkentnis moralischer Wahrheiten, als bis dahin unter Juden und Heiden schon da war; zumal zur Widerlegung der falschen Begriffe von einem Messias und zur freien Uebung in der eigenen ernstlichen Verehrung Gottes. Diese neue Gesellschaft hat also keinen An|f272|theil mehr an der alten kleineren jüdischen Religion, an ihren Opfern – sie kent eine geistliche oder volkommenere Religion. Es wurden hier viel jüdische Redensarten behalten; aber in neuer Bedeutung; ob gleich viele Leser das alte hielten, um der alten Redensarten willen. Die Menschen sind ja ungleich. Von der ersten Pflanzung der neuen Religion unter den eigentlichen Heiden als Heiden, im Unterschied von Juden, wissen wir zu wenig, als daß wir die Lehrmethode näher kennen und betrachten könten; selbst die Schuzschriften oder Apologien, die wider die gröbsten heidnischen Lehrmeinungen vornemlich sich herauslassen, kann man hier nicht brauchen.
Indes bejahen doch so gar mehrere christliche Schriftsteller, daß Philosophen, Dichter, Historiker – eben dieselben moralischen Begriffe und Wahrheiten schon so oder so weit gekant hätten, wenn gleich der gemeine Haufe nicht davon belehret worden, daß es einen
λογοςἐνσπαρτοςdurch die Vernunft, die in einigen Menschen so weit reichen könte, immer gebe;
nemo sineChristo nascitur, sagte so gar Hieronymus. Es ist uns aber kein aneinander hängender Vor|f273|trag übrig, wie er zur Einladung der Heiden zur christlichen practischen Religion eingerichtet gewesen, wenn auch von der gesellschaftlichen Religionsordnung etwas gesagt wird. Es war aber doch die besondere Einwirkung Gottes auf die Gemütskräfte der Menschen,
eine Theurgia, vielen platonischen Schülern gar geläufig,
wie die Stoiker davon reden, daß Gott in manchen Menschen wone. Genug aber; ich lasse es den Naturalisten gern frey, daß sie durch die und jene Begriffe oder Lehrsäze mancher Theologen immer mehr Anstos gefunden haben, als Reitzung, sich zu einer christlichen Erfarung und Uebung (die von der blos gesellschaftlichen Religionsform gar sehr unterschieden ist;) auf einige Zeit zu entschliessen. Ich behaupte nur, daß wir Christen eben so viel Recht und Freiheit haben müssen, alle bisher bekanten Gründe für den Naturalismus ebenfals noch immer für ganz unwirksam auf uns anzusehen. Kein verständiger geübter Christ kann dahin gebracht werden, den Tausch mit dem Naturalisten für seinen ausgemachten moralischen Gewinn schon anzusehen; er verliert vielmehr das Bewustseyn, das ihn so gewis beruhiget, eben durch diesen Widerstand beruhiget.
|f274| 34. Aber wie kann denn ein verständiger Christ die gewöhnliche öffentliche Religionsordnung selbst genem halten oder mit halten? Was für unschickliche Gesänge, Gebete, Vorträge, und was für seltsame Cerimonien muß er sich gefallen lassen? Viel besser thät er ja, wenn er sich hievon geradehin losmachte, und als ein freier Naturalist sich von so schlechten Mitchristen als die meisten sind, nun absonderte?
Sollen denn alle verständige Christen den Unterschied vergessen, der äusserliche und innerliche Christen so weit von einander theilet? Ein Christ, der verständig heißt, findet bey dem Naturalismus nichts, das ihm fehle, so lange er ein Christ ist; und bey den schlechten Christen findet er immer mehr Ursache, ferner der wahre Christ zu bleiben, und vielleicht andern moralisch nützlich zu werden, die erst leichtsinniger Weise sich noch mehr verderben lassen. Solten denn wol so viel äusserliche Christen, worunter auch wirklich innerliche wahre Christen sind, gerade um jener Mängel willen, sich gar der Religionsgesellschaft ent|f275|ziehen? Niemand kann um so vieler bösen verdorbenen Menschen willen, die ganze Gesellschafft seiner Stadt, oder seines Orts, meiden, oder sich davon trennen. Sehr viele Pflichten würden alsdenn gar nicht geleistet werden, wenn jeder seine gröste Bequemlichkeit und ganze Behaglichkeit nur in Rechnung brächte.
Wenn nun viele unfähigere Menschen bisher an den Kirchengesängen und gemeinsten Cärimonien nicht nur keinen Anstos finden, sondern umgekehrt an- und umgestossen würden, wenn verständige Christen so gleich öffentliche Veränderungen eigenmächtig anfingen oder beförderten, ehe diese vielen Menschen zu einer auch nur kleinen eigenen Erkenntnis gebracht werden, so veranlassete man ja wol gar wilde Schlägereien und öftere Tumulte in solchen Gemeinen, und zerrüttete nach und nach die ganze bürgerliche gemeinschaftliche Verbindung, ohne bey andern mehr Gutes wirklich zu machen. Und gesezt dis wäre wirklich eine wohlfeil und leicht bewerkstelligte moralische Aufklärung des gemeinen Haufens; wäre man auch sicher, von den viel grössern guten Früchten solcher blos äusserlichen Veränderung? Denn äusserliche müssen |f276| sie doch nur heissen. Wir wollen aber verständige Christen daneben ferner annemen; die manches Lied nicht mitsingen; es stehet ihnen frey; manche Gebetsformel selbst ganz übersehen; gelegentlich aber darüber ganz sanft und vorsichtig sprechen so wol mit den Predigern, als mit andern in der Gemeine. Hiemit ist noch gar nichts geschehen, das vorgegriffen heissen könne worüber eben immer die erste Misbilligung entstehet; der eine ehrliche Mann spricht mit einem andern und dritten; der gemeinnützige Prediger stimt sich auch herab, und erwartet gleichsam von der Gesinnung der Zuhörer die Erlaubnis. Nach und nach läßt er manche Lieder liegen; vertauscht oder verknüpft manche Zeilen in Gebetsformeln mit gemeinnüzlichern. – Auf gar viele Art und Weise werden also diese verständigen Christen den andern noch immer nüzlich; sie hindern auch die leichtsinnige, gewis unmoralische Einbildung vieler übereilten Zeitgenossen, die sich über alles wegsezen, und wenigstens gern Naturalisten heisen wolten, weil sie einige Spöttereien aufgefangen haben. Im Ganzen mus der Prediger das Seine durch Aufmerksamkeit auf die Zeitumstände, rechtschaffen thun; die Zuhörer |f276[!]| selbst zum Mitdenken antreiben, nicht auf die Vernunft selbst schelten, wo er nur den Misbrauch oder gar den Mangel tadeln solte; nicht immer von Naturalisten und Kezern reden, weil es ganz zur Unzeit und von ganz unchristlichen Folgen ist; den wirklichen Unterschied der Stufen des eigenen Christentums, von aller Religion aller Menschen immer mehr anzeigen und darthun, bis aus Kindern moralische, erwachsene, immer bessere Christen werden. Eben so muß er alle unrechte Hochachtung der Bibel immer besser entblössen; denn
die Christen sind nicht um der Bibel willen da, allen ihren Inhalt nach der Reihe selbst eben so zu deuten und zu bejahen wie es jene Juden thaten, und Juden blieben; sondern die Bibel ist um der Christen willen da, daß sie immer bessere, glücklichere Kenner des ihnen zunächst nötigen Inhalts der Bibel ganz frey werden sollen mit Unterscheidung des ihnen unnüzlichen. Nun würde der Vorzug und das Lob des Naturalismus seine wahren Schranken behalten müssen, und die Naturalisten fänden nicht alle Tage an dem schlechten Amte des Predigers und an den Lastern der falschen Christen den alten |f278| Stoff, sich geltend zu machen; und gute thätige Christen nämen es überal mit dem Naturalisten auf, was den Beweiß betrifft, in gemeinnüziger, unverlezlicher Tugend. Wenn nun dennoch der Naturalist den freien Gebrauch der Bibel seinen Zeitgenossen entziehen und seinen eigenen Naturalismus dafür aufstellen wolte: so überträte er seine Pflicht als Nebenmensch und als geselliger Unterthan, der über die Einrichtung der öffentlichen Religion, was das feste Verhältniß gegen den ganzen Staat betrifft, öffentlich nichts zu verordnen hat.
Denn in der Gesellschaft schon leben, und doch auf den Stand der so genannten Natur sich berufen, welche Natur doch ebenfals nicht alles auf einmal oder in gleichen Maas aus allen Menschen gemacht hat: ist eben kein Grund, der ruhige Bürger aufmerksam und lüstern machen würde, einen ungewissen Stand der so ungleichen Natur, ihrer so festen gesellschaftlichen Lage aufs ungefäre vorzuziehen.
35. Es ist also doch der Naturalismus mancher Zeitgenossen selbst für die sonst schlechte öffentliche Religion der so schlechten Christen sehr nützlich worden?
|f279| Ganz gewis! aber wird er allen Staaten wirklich geradehin noch nüzlicher seyn, durch Aufhebung aller christlichen Religion, als wenn er neben der christlichen Religion in solchen Schranken gehalten wird, als weise Regenten das Verhältniß aller öffentlichen Religion selbst beurtheilen?
Alles, was wirklich nüzlich ist, ist es nur durch die Schranken und durch das gehörige Maas; also hat auch der Naturalismus, was seine äusserlichen Folgen betrift, äusserliche Schranken. Zu viel essen und trinken, zu viel Thätigkeit und Unthätigkeit, – kurz, zu viel ist allemal nicht mehr nützlich. Der Feler, den man der öffentlichen Religion wirklich vorhalten konte, war ebenfals das zu Viele, das nimium. Man hatte zu viel Göttliches, Unveränderliches, nach und nach in der öffentlichen Religionsordnung vorausgesezt; und es ist doch in allen menschlichen Einrichtungen das Göttliche nicht da, das ein für allemal volkommen und also unveränderlich ist. Viele Theologi hatten zu viel von der Bibel, so wol von Inspiration des Textes, als auch von ihrer gleichen Notwendigkeit zur moralischen Wohlfart, bejahet; zu viel von den Lehrsäzen, und |f280| Artikeln, die nach und nach ein Systema theologicum ausmachten, und das Systema war doch nicht mehr, als ein periodisches Lehrbuch für Candidaten einer gewissen Zeit, worauf immer wieder andre Bücher in immer andrer Zeit folgen konten. Zu viel hatte man der Theologie beigelegt, und die Theologie war doch kein Unterricht von Seligkeit aller Menschen; sonst konten alle Ungelerte nicht selig werden. Zu viel hatte sich die Polemik angemaßt, ohne weiter die Parteien zu besiegen, als durch hämische Folgerungen. Zu viel hatte man als ausgemachte Wahrheit in die Kirchenhistorie gerechnet, und vieles waren alte Meinungen und sehr ungewisse Tradition. – – Von der Kirche selbst hatte man zu viel Gutes geprisen, bis gar zur Entscheidung der Seligkeit etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
alles dieses, was freilich zu viel, und ohne gleich guten Grund war, haben so viel gelerte und ungelerte Naturalisten aufgedeckt. Aber sie thun auch selbst zu viel, wenn sie alle christliche Religion selbst in so vielen Stufen der einzelnen Fertigkeiten, für blossen Fanaticismus erklären; das können sie ja nicht wissen; solten also auch den Christen den Gebrauch ihres Verstandes und Her|f281|zens, in Anwendung der Bibel gegen das Unendliche höchste Wesen, ganz frey lassen; fromme, tugendhafte Christen nicht darum immer verspotten, weil sie dem höchsten Wesen mehr Wirkung beilegen, als Naturalisten. Denn dieses eigne Christentum beleidigt keinen Nebenmenschen, der Christ mag sich selbst damit beschäftigen, wie er will. Zu schlecht versahen allerdings viele Prediger ihr öffentliches Amt; es war und ist häufig blos ein guter Narungsstand, der vorher wenig Aufwand so gar in Moralität erforderte, und
Editorische Korrektur von: uud (digital)
nachher fast auf eine Handwerksordnung sich stüzte, und bloßen Gehorsam bey andern forderte. Da war es kein Wunder, daß man alle schlechten Pfaffen und Priester bey allen Nationen nach und nach herbey fürte, um die christlichen Priester eben so ganz verächtlich zu machen;
obgleich Protestanten gar keine Priester haben, als in der alten Sprache, die vor der Zeit der Protestanten diesen Namen mit einem Meßopfer eingefürt hatte. So unausbleiblich also der Naturalismus eben unter diesen Kirchenchristen war, da so wenig Kraft und Würde in der gemeinen christlichen Religion sich zeigte; so gewis ist nun auch der Naturalismus in zu vie|f282|les ganz unwürdiges Spotten geraten, ohne die alte Stelle moralischer Schranken, die nun mit der christlichen Sprache verlassen werden sollen, durch alles Lob der Vernunft bei den Unfähigen, die immer die größte Anzahl ausmachen, gewis zu ersezen.
Wenn die ganze natürliche Religion zunächst im Genusse alles sinnlichen Vergnügens, in Frölichkeit und Lustigkeit der Menschen bestehet: so kann es dem Naturalismus freilich nicht felen an sehr großem Beifall. Die christliche Religion hielte durch eigne Erkentnis der Würde Gottes die Sinnen und Begierden, die Gedanken und Absichten sogar stets unter der Beurtheilung und Prüfung, nach einer freien, also auch steigenden hohen Moral; die Beispiele des armen Jesus , der armen Apostel, waren sehr eindrüklich;
Augenlust, Fleischeslust, hoffärtiges Leben, auch
schandbare Worte und Narrentheidung, wurden in der neuen Moral als moralische Feler und wirkliche Sünden, die den Menschen entwürdigen, beschrieben, und von guten Christen immer mehr selbst ohne äussern Beifall, ja wider allen Reiz der bösen Beispiele aufrichtig vermieden.
Man samlete sich aus der Bibel jene alten Psalmen, |f283| als Beweise des Alters dieser innern eignen täglich heiligenden Religion; man vertauschte die Bilder, die Christum so fruchtbar beschreiben, Hirte, Lehrer, vollkommner Priester, Licht der Welt, Weinstock, Lamm Gottes, Opfer für die Sünden der Juden und Heiden etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
von Zeit zu Zeit frey und unabhängig miteinander, um die Einbildung und das Gedächtnis für rohen blos sinnlichen Reizungen und Bildern zu bewaren. Man dachte nach, wie man selbst konte, über so herrliche Reden und Lehren Christi und der Apostel. Wenn auch manche Christen von dem Blute Christi und seiner Kraft gern sinnlich dachten, daß sie sich selbst andächtig gerürt fanden: so war es doch gewis alles eine innere Religionsübung und Privat-Fertigkeit, die den Christen selbst täglich ruhig, und gegen andre Menschen sanft und nachgebend machte, allen andern Zeitgenossen aber keinen Schaden brachte. Diese christliche innere Religionsübung, diese moralische Praxis, ist gar nicht beim Naturalismus; ob nun die Menschen als Naturalisten sich noch glücklicher finden werden, ob sie unter ihrer lieben Obrigkeit ein ruhiges und stilles Leben noch mehr befördern werden, in al|f284|ler Gottseligkeit und Ehrbarkeit: sol erst die Zeit lehren. Die Christen waren aber vom Anfange an berufen in ihrem Glauben, oder in ihrer Religion,
2 Petri 1, 5
Editorische Korrektur von: 1-5 (digital)
folg.
Abkürzungsauflösung von "folg.": folgende
immerfort darzureichen, kentlich darzustellen, die Tugend, die Erkentnis, die Enthaltung, die Gedult, die Gottseligkeit, die brüderliche Liebe, die Liebe auch gegen Unchristen. – Diese neue Beschäftigung aller einzelnen Christen ist die rechte Erkentnis unsers HerrnJesu Christi etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
gar nicht jene Historien und
Erzälungen von Besessenen von Engeln, von alten todten Meinungen und Hofnungen der Juden. Ich brauche das übrige aus dieser gar ernstlichen Anzeige nicht abzuschreiben. Es enthält, wie alle Briefe der Apostel, wie alle Lehren Christi, den allergewissesten Charakter der ganz und gar praktischen, gemeinnüzigen moralischen Religion der Christen, wovon freilich die äusserliche Religionsordnung desto weiter entfernt ist, je mehr sie leider nur ein Geständnis ist, daß dieser neue Charakter bisher häufig selbst unter den jezigen Christen fele, da so gar viele Lehrer nur den Schein haben eines gottseligen Wesens, nur das Ihre suchen, nur den |f528[!]| äusserlichen Anstand einer ehrbaren Gesellschaft, eine oder 2 Stunden lang unterhalten; im eignen Gebrauche aller dieser innern Religion weit zurück sind, um nicht Lob und Beifall ihrer Zuhörer zu verlieren; wenn sie selbst eifrige thätige Christen würden. Es ist also gar kein Wunder, daß der Naturalismus diese äusserliche blos locale Convenienz, die eine patriotische Behaglichkeit und Zufriedenheit mit sich füret, und gar nicht das Gefolge großer Tugenden in den Gesellschaften der Christen vor Augen leget, so leicht gering schäzen, so ernstlich kritisiren und angreifen kann! Kirchliche Redensarten und hergebrachte Sprache gegen Untergebene oder unwissende Zuhörer sind an die Stelle jenes eigenen lebendigen Glaubens, jener praktischen Religion eingerückt, und dis heilige glänzende Gefolge praktischer gewisserer Tugenden felet, das den Naturalisten gewis anhalten würde, sich viel genauer nach dieser Kraft eines so heiligen Lebens zu erkundigen. Der ganze Eifer für reine Lehre von Dreieinigkeit, von der Person und den Naturen Christi etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
ist für den Naturalisten ohne alles Interesse, weil er keine moralische Früchte findet, sondern gesellschaftliche Eifer|f286|sucht. Er siehet gar keine täglichen Folgen von dieser reinen Lehre zum unfelbaren Segen der Menschen, die doch Gottes nähere Offenbarung besizen und kennen wollen. Die allermeisten Christen sind moralisch unrein in ihrem ganzen Thun und Lassen mehr als er sich selbst vorwirft. Viele Prediger findet er, ihre Kleidung zuweilen ausgenommen, in eben dem ganz gemeinen Zustande des menschlichen Lebens und Wandels, worin gar nichts vorzügliches ist, das ihn moralisch anziehen möge. Es ist also wol leicht zu sehen, daß jene wirkliche christliche eigene Religion, die in den Menschen so große Vorzüge und Fertigkeiten mit sich brachte, in der gemeinen Ordnung der öffentlichen Religion, gar nicht wirklich und merklich da ist. Der Naturalist kann also seine natürliche Religion, (worin keine alte Historie ist, über welcher die Menschen sich theilten,) gar leicht vorziehen: da so viel Lehrer und Zuhörer ihm in der moralischen Gesinnung und Fertigkeit nicht einmal ganz gewis, ganz ausgemacht gleich kommen. Wahr genug ist es also, daß der Naturalismus dazu hilft, den kleinen bisherigen Erfolg der gemeinen blos öffentlichen oder gesellschaftlichen |f287| christlichen Religion genauer zu würdigen; aber die wirkliche Privatreligion der guten Christen, welche jene Mängel nicht fortsezt, hat der Naturalist dadurch nicht besieget, wenn er sie nun eine fanatische Verirrung nennt. Ihre Hofnung mus er den wahren Christen doch eben sowol frey lassen: als er seine sich nicht durch sie nemen läßt; durch alles Spotten vermehrt er seinen moralischen Vorzug nicht und hebt den der wahren Christen nicht auf.
36. So wird es ferner auf den Staat ankommen, auf die öffentliche Religion so zu sehen, daß die so gute, so wirksame Privatreligion der Naturalisten eben so wenig durch die christliche Ordnung unterdrückt werde, als die öffentliche christliche Religion die Privatreligion der so ungleichen Christen nicht hindern oder bezwingen darf; indem beide immer dazu helfen können, daß die Diener der öffentlichen Religion weniger Mängel haben, und ihre wirklichen Mängel des sogenannten Amtes nicht gar in lauter |f288| Vorschriften Gottes, oder in Privilegien des heil.
Abkürzungsauflösung von "heil.": heiligen
Standes nach und nach verwandelt
Editorische Korrektur von: verwandelnk (digital)
?
Allerdings kann oder muß so gar der Staat hierauf sehen, wenn er den Misbrauch und Schaden abwenden will, den übereilte und selbstliebige Lehrer des Christenthums oder des Naturalismus, sonst wirklich den Unterthanen und endlich dem Staate selbst zuziehen können. Die ersten müssen es wissen, daß Gott weder durch Christum noch durch Apostel eine äusserliche Religionsordnung ein für allemal so angefangen habe, daß sie immerfort unveränderlich allen Christen blos vorzusagen und von den Christen blos anzunemen seie, und hiemit die beste Verehrung Gottes schon geleistet werde. Die Naturalisten müssen es beobachten, daß ihre Privatkentnis von der ihnen gehörigen Religion vom Staat eben so wenig erhoben werden könne, daß alle Unterthanen sich von ihnen diesen Naturalismus nun müsten einpredigen lassen, weil sie als Christen etwa nicht so glücklich leben und sterben könten als der Naturalist. Die Entscheidung, was dem ganzen Staat vortheilhaft seie, haben weder die Theo|f289|logen der Christen noch die Vertheidiger des Naturalismus sich besonders anzumassen. Haben sich ehedem Bischöfe und Theologen mit dieser Beurtheilung übereilt und anmassend abgegeben, so war es damalen Bedürfnis oder Zustand des schlecht regierten Staats. Wenn Naturalisten sich den Beruf jezt geben, moralische Projekte als ausgemachte Vortheile der ganzen Menschheit in die Höhe zu bringen: so wird doch der Staat die Lage der Unterthanen und überhaupt die Lage der Menschen viel sicherer schon wissen und in gute Rechnung bringen, als diese neuen gar zu eifrigen Theoristen. Und wenn sie auch so gar mehr Eingang und Beifall fänden,
als ihnen selbst Friedrich der Zweyte verstatten oder zugeben wollte; so würde doch der Einflus der unsichtbaren Welt, auf den die Christen so gewis rechnen, eben den moralischen Widerstand ernstlich aufbieten, der von je her da war; man mag ihn mit Tag oder Nacht vergleichen, mit Aufklärung oder Finsternis.
Selbst das so liebe Losungswort, Freiheit, bringt eine Gegenkraft mit sich; es gehört nur Zeit dazwischen, und die felet ja nie, sie läßt sich auch von Menschen nicht |f290| bezwingen. Da aber das eigene Christentum nicht in den Formeln bestehet, welche eine jede Religionsgesellschaft bürgerlich vereinigt, sondern in der heiligen Gesinnung, alle Tugenden sich immer mehr nach eignem Gewissen zur moralischen Verehrung Gottes zu schaffen: so dächte ich, daß alle guten Naturalisten, die ja auch die reine Tugend vornemlich zur Religion rechnen, mit dem Privat-Christentum um des gemeinen Bestens willen, gar keinen Streit haben könten. Und da dieses eigene Christentum von einem Naturalisten eine ihm noch nötige Belehrung eben so wenig zu erwarten hat, als ein besonderer Professionist von dem andern: so ist es eine unanständige Zudringlichkeit die gar nicht zu gesellschaftlichen wahren Pflichten gerechnet werden kann, wenn Naturalisten alle Christen unter der Gestalt grösserer moralischer Wohlfart, beunruhigen. Der Staat muß vielmehr den eben so guten Bürger, den treuen Christen wider solche tägliche Störung und Beunruhigung schützen, und den Naturalisten endlich in seine Schranken weisen, daß er die für sich ruhigen Christen nicht in dem so gewissen Eigentum und moralischen Haus|f291|recht, durch Spöttereien täglich beleidige. Die Wahl der Privatreligion, wie aller Privatbeschäftigungen, muß jedem in der Gesellschaft ganz frey und unbeeinträchtiget bleiben; hierin hatte ja selbst der Naturalismus seinen Grund. Wenn der Bäcker sein Privaturtheil, wonach er so gern und zufrieden, ein Bäcker ist, so übertreiben wolte, daß er den Mäurer, den Schneider etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
lächerlich machen, und dahin bringen wil, ihre bisherige lächerliche Beschäftigung zu verachten, und ebenfals Bäcker zu werden: so entstünde durch diese immer neueren Umtauschungen des einmaligen bürgerlichen Lebens, eine öffentliche Zerrüttung der bisher so glücklichen gemeinschaftlichen Verbindung der grossen bürgerlichen Gesellschaft. Die Ungleichheit der Privatreligion macht eben so verschiedene moralische Stände und Innungen schon aus; keiner muß alle andern unterdrücken. Sonst hätte ja die alte grosse Kirche völlig Recht, daß sie alle andere Religionsparteien durchaus unterdrückt, und sich zur Monarchie über alle Religionsclassen erhoben hat. Es muß also der Regent dahin sehen, daß
die vielen Romane von platonischen schönen Republiken, |f292| die im Monde sind, nicht die iezt schon blühenden bürgerlichen Verfassungen umwerfen, durch blosse Gemälde und Risse von noch grösserer bürgerlichen Glückseligkeit. Das heißt nun freilich nicht, daß
Inquisition und äusserliche Macht irgend eine einzige öffentliche Religionsform behaupten oder über alle andre erheben sol; aber es muß doch jeder Bürger für solchen Behandlungen sicher seyn, die ihn beinahe zum vogelfreyen Märtyrer seiner eigenen Religion machen, und ihm die Gedult und Ertragung solcher ungerechten Beunruhigungen auflegen, und ihn in Gefahr bringen über diese
Editorische Korrektur von: überdiese (digital)
Gesinnung noch mehr verspottet und verächtlich zu werden. Die moralische Welt hat eben so ungleichen Acker und Erdboden,
daß nicht alle Früchte gleich gut überal wachsen und fortkommen können, als unsre Erdkugel so verschieden ist; nicht lauter helle Vernunft ist das gleiche Antheil aller Menschen; es ist also ganz ungegründet wenn allen so ungleichen Menschen eine algemeine natürliche Religion angeboten werden wil. Dies wusten alle Staaten, die in der Menschenwelt eine historische sinnliche Religion für das Volk sancirt haben;
man schränkte daher so gar die Philosophie ein, |f293| die ja freilich ihre vielerley Lehrmeister nicht zugleich zur Volksregierung erheben konte, so gewis jede gute Regirung allen denkenden Menschen die Freiheit eigener Urtheile gewäret, ohne die Handlungen wider die Subordination frey zu lassen. Jezt aber erheben sich Privatschriftsteller wider die im Staat eingefürte Volksreligion, um sie durchaus abzuschaffen, und ihre geliebten Romane dafür einzufüren. Ungezämt werden eben die Lehrer der gemeinschaftlichen Religion beschimpft und verächtlich gemacht: unter denen sich doch so viel moralisch
würdige, edle Männer befinden, die nie eine Bittschrift erst nötig hatten, welche um Abolition ihrer anstössigen Auffürung nachsuchte. Und eben diese Lehrer hatten doch auf das Wort, auf die Auctorität des Staats bisher gerechnet, da sie sich dazu verstunden, in einen öffentlichen Stand zu treten, den der Name des Regenten autorisirte. Immer mochte man die Buben und Dumköpfe schildern und entlarven, in noch so viel Schriften; aber es muste nicht der ganze Stand aller Religionslehrer gleichsam ganz rechtmäsig, geradehin so beschrieben werden, daß er nur aus Dumköpfen und Schurken bestünde, wonach es ebenfals lau|f294|ter Dumköpfe heisen müssen, welche der christlichen Religion eine Realität beilegen, die doch gewis blos von ihrer täglichen Erfarung, und gar nicht von den so genannten Priestern oder Pfarrern abhängt. Ueberal stehet es frey, daß man in der Philosophie, Physik, Astronomie, Medicin sich die oder jene Hypothese oder Theorie selbst erwälet; nur die christliche Religion, die doch in allen noch so erhabenen Wissenschaften so grosse Männer in sich begreifft, sol als eine ausgemachte Pfafferey angesehen werden, dieweil einige Leute, aus eigner Schuld, sich auch von den bürgerlichen Folgen gerade durch die Regierung, durch die Geseze, ausgeschlossen fanden. Es ist doch aber sehr viel gefordert, daß der Staat um dieser vorsezlichen Dissidenten willen die bisherigen Grundsätze der Regierung, oder die politische Landesverfassung aufheben, und statt ihrer so bewärten Politik die gefärliche Probe einer ganz neuen Regierung auf gerade wohl machen sol! Gibt es wirklich geheime Verbindungen, eine mächtigere Hierarchie wieder einzufüren: so ist die protestantische Religionsordnung ein festerer Widerstand, als die Gewonheit über die ganze christliche Reli|f295|gion zu spotten. Es gab gar viel Christen, welche Gut und Blut wider jene Pfaffenreligion wagten; aber wir haben doch keine Pfaffenreligion, wenn wir unsre christliche eigene Religion behalten.
37. Ich dächte aber nicht, daß so grosse Neuerungen zu nächst zu befürchten wären; jene naturalistische Schriftsteller haben wol zunächst nicht diese Absichten die christliche Religion aufzuheben;
sie lassen sich für jeden Bogen bezalen; sie genießen bey ihres gleichen eine Genemhaltung solcher besondern Projecte, und die Hofnung eines noch grössern Einflusses und Sieges könnte man ihnen frey lassen; wenigstens solten Prediger es sich auch nicht zur Pflicht machen, vornemlich wider den Naturalismus zu eifern, und die so genannte reine Lehre nicht blos also geltend machen, daß sie selbst hiemit schon das grosse Verdienst eines öffentlichen christlichen Lehrers zu haben meinten. Es gehört mehr zu dieser Ehre als der Stand allein; wider diesen alten Stolz ist der Naturalismus vornemlich gerichtet.
|f296| Ich glaube es ganz zu verstehen, was dieses sagen sol; ich denke aber auch, daß ich in dieser Antwort auf die bisherigen Fragen ganz unparteiisch meine Meinung schon gesagt habe; ohne wider irgend einen rechtschaffenen Naturalisten, das alte Kirchenanathema, unnüzer Weise, in Andenken oder gar in Vorschlag zu bringen; noch auch den grossen Inhalt zu schmälern, der jezt, in unserer Zeit, zu jenen Formeln gehöret, ich als ein berufener Diener Christi etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
Die politischen Folgen des Naturalismus, wenn er geradehin die öffentliche christliche Religion und alle Lehrer derselben verspotten und umwerfen darf, gehen mich nichts an; der Staat allein hat sie, freilich sehr bedächtig, ohne einige volllautende Theilnehmung an der Frage, zu berechnen. Zunächst wäre aber wol doch dies zu erwarten, daß der ganze christliche Lehrstand wirklich eine solche viel würdigere Lage erhielt; die nicht so gleich blos von der Gottheit hergeleitet würde, sondern in dem kentlichen wichtigen Verhältnis eines solchen öffentlichen Lehrers, und in seinem untadelhaften Charakter ihren steten gewissen Grund hätte. Die Vorschriften dazu sind lange da; aber man hat schon lange |f297| vorausgesezt,
es gebe keinen Timotheus und Titus in unsern Zeiten; die musten damalen unsträflich seyn. Um es anders zu sagen, man hat wol zu wenig auf die kentliche Stufe des moralischen Charakters gesehen (oder sehen wollen, oder sehen können,) ob der Candidat selbst durch die ausgemachten Wahrheiten der christlichen Religion eine solche Gemütsfassung und neue Fertigkeit erlangt habe, als ja bey den Zuhörern immer die nächste Folge seines ganzen Unterrichts seyn sol? Hiemit sol nicht eine besondre Sprache, ein Formular gleichsam eingefüret werden, woran man nun den Candidaten als hinlänglich moralisch bewäret erkennen solle; welches eine Zeitlang ein Feler der freilich zweideutigen Schule war, die man
Pietisten nente, da nach und nach neue Redensarten vornemlich gäng und gäbe und gleichsam ein
Schibboleth wurden; sondern, ob der Candidat den grossen Umfang der eigenen moralischen Veränderung selbst, in Absicht der neuen Folgen kent, wozu sonst alle einzele Redensarten gebraucht werden, welche eben von den christlichen Parteien so ganz unrecht für die Sachen selbst schon angesehen worden sind. Wie es hier eine |f298| grosse Ausbreitung der historischen Kentnisse, von den verschiedenen Lehrbegriffen gibt, nebst den Gründen, die dazu gebraucht wurden, welches freilich viel mehr ist, als aus bloßen Büchern oder Heften auf immer eingeweihet wird: so ist diese Uebung in practischen gesunden Urtheil das einzige Gegenmittel wider die grosse Selbstgenügsamkeit und Nachlässigkeit, wider übereiltes Absprechen, wider stolze Anmassung, wider die falsche schleichende Politik, der künftigen Lehrer; in welchen Felern eben die Verachtung einer so unwirksamen Religion liegt, und die so grossen Mängel der so genanten Christen vornemlich ihren Grund noch immer haben und behalten. Die Lehrer sollen ja nicht von der christlichen Religion blos künstlich oder schön reden und ihren Inhalt einmal wie allemal erzälen, wenn es allen Christen geradehin oblieget,
nicht blos Hörer sondern Thäter des Worts oder der Lehre oder Religion zu seyn! Neben jener Gelersamkeit, die in richtiger historischer Kentnis vornemlich bestehet, die ihm selbst als Candidaten nötig ist, und gar nicht zur praktischen Religion gehört, daher eben nicht ein jeder praktischer Christ zugleich ein öffentlicher Lehrer |f299| seyn kann, muß er eine eigene jezige Erkentnis und Uebung dieser christlichen Verehrung Gottes in den Zuhörern befördern, die sich an die andre historische Kentnis, die vor der eigenen schon hergehet, um und um anschliesset. Historischen Glauben unterschieden die Protestanten schon lange von ihrem eigenen thätigen Glauben. Schon diese Lehrgeschiklichkeit sezt eine eigne practische Uebung voraus, und die eigene Anwendung der Wahrheiten muß er doch auch selbst aus seiner Erfarung als eine wirkliche freie Begebenheit kennen, wenn er sie andern leicht machen wil. Kurz, zu der wahren Würde eines Lehrers, der den Nutzen der christlichen Religion glüklich anempfelen wil, gehört freilich mehr als der so leichte Eifer wider Naturalisten, Socinianer, oder der Eifer für die buchstäbliche Kirchenlehre seiner Gesellschaft. Daran ist gar kein Zweifel. Indes kann es unter manchen Umständen doch nüzlich seyn, wenn eine bescheidne sanfte Vergleichung angestellet, und den Zuhörern es wirklich erleichtert wird, selbst darüber zu denken, daß es vielerley Christen gibt, daß man nicht durch Befelen ein innerlicher Christ wird; daß es auch keine Befele gibt, daß niemand selbst ein Na|f300|turalist seyn solle. Aber zuerst müßte der Lehrer selbst innerlich Christ seyn; sonst wird er schon mit der äusserlichen Religionsordnung in Absicht vieler Menschen unzufrieden seyn, und das ist nicht viel vom Naturalismus unterschieden. Wenn der Prediger glaubt, durch Worte und Redensarten der Bibel, durch die Lehrartikel würde man zum
Selbstchristen: so ist er selbst noch kein Christ, seinem innern Zustande nach, und wird jene falschen Urtheile ferner ausbreiten, als gäbe es eine unveränderliche Summe von Vorstellungen, worin die christliche Religion einmal wie allemal bestünde. Hiemit wird aber allemal nur eine Religionsgesellschaft äusserlich fortgesezt, und diese kann sich freilich dem moralischen Naturalismus nicht mit dem Erfolge vorziehen, daß nun diese äusserliche Religion für die allein gottgefällige oder seligmachende Verehrung Gottes, von Naturalisten angesehen werden könte. Da kann man freilich auf Abschaffung einer solchen Religion auftragen, weil es keine praktische Christen gibt, die den Unterschied ihrer innern Religion behielten.
38. Dieses ohngefähr wolte ich sagen, wenn viele Lehrer der Christen von ihrer allein se|f301|ligmachenden reinen Lehre und Religion einseitig und übereilt reden, und daher alle andern Lehrsäze sowol anderer christlichen Parteien, als der Unchristen, Juden und Naturalisten so beurtheilen, daß sie ihren Anhängern alle moralische wahre Uebung und eigene Besserung, alle eigene rechtmäßige Zufriedenheit, allen Antheil an Gott, der doch von niemand in Beschlag genommen werden kann, absprechen. Dis ist doch ein Misbrauch des eigenen Gewissens, andere gar zu beherrschen; die Clerisey hat ehedem mit Zuthun des Staats Symbole, Glaubensbekentnisse, symbolische Bücher, eingefürt; gewiß in großer rechtmäßiger Absicht; aber auch nach und nach über die Gebür erhoben; und Regenten haben häufig der Clerisey zu viel nachgegeben. Hiedurch ist Menschenhaß gleichsam unter den Christen geheiliget worden; und dis widerspricht doch allen gesunden Begriffen von den verschiednen Stufen der Gottesverehrung in der so großen Menschenwelt. Christen müssen sich als Christen moralisch zeigen, nicht blos durch |f302| politische Gerechtsame schüzen; hier waren sie nur Bürger.
Dis ist freilich eine ernstliche Rüge, eine sehr gegründete Klage, wider die Uebertreibung einer blos gesellschaftlichen, politischen Religionsordnung, sogar zur öffentlichen Verdammung aller andern Menschen; die doch, was ihr Verhältnis gegen Gott betrift, keinem Menschen unterworfen sind. Diese Anmaßung ist so gar wider den allerersten Inhalt der neuen bessern Religion, welche den wahren Begriff von der unendlichen Liebe und Gnade Gottes eben über jene jüdische Niedrigkeit alle Unjuden zu verdammen, so ganz deutlich erhebet, daß eben deswegen ein ganz neuer Grund geleget wird, durch den freien Begriff von einer geistlichen viel vollkommenern Religion, neben allen äusserlichen localen Feierlichkeiten; damit dieser so gemeine gleiche Antheil aller obgleich verschiednen Menschen an den unendlichen Gott nicht mehr an die so partikuläre Religion der Juden, und an ihre alten Begriffe oder Historien ihrer Nation gebunden werden möchte; sondern die freie Uebung des eignen |f303| Gewissens nun immer durch solche Kenner der neuen Religion befördert würde. Freilich war nun der Schuz der römischen Obrigkeit nötig, da die Vorsteher und Obern der Juden diese Einsicht und Uebung der Freiheit von dem Gesez Mosis durchaus nicht zugeben sondern bürgerlich hindern wolten, damit nicht die vielen Geldbeyträge oder Abgaben wozu Juden verbunden waren, und die bisherige Gewalt des
Synedriums endlich gar aufhören möchten. Aber es war doch keine Folge eines Befels, daß eine neue Religion in den Gemütern der Christen sich anfing; sondern die neue Erkentnis der Christen von einer innern viel vollkommnern Religion, darum sie nach und nach die alte geringere Religion verliessen, ging schon vorher, und machte die Rabbinen und Priester aufmerksam, und bewegte sie also zur bürgerlichen Verfolgung dieser Christen, die sie für Abtrünnige von ihrem Gesez ansahen; wenn sie gleich eine Offenbarung Gottes eben so zum Grunde legten, als die jüdische Religion that. Diese bürgerliche Bedrückung und Beeinträchtigung konten die Christen durch Anrufung der eigentlichen höchsten römischen Landesobrigkeit abzuwenden suchen; denn die |f304| römische Hoheit ging über die alte Nationalobrigkeit. Die Unterthanen konten also diesen Schuz suchen. Ein gleiches geschahe nachher in Absicht der heidnischen Religionsdiener, welche eben so wenig eine neue Religionsgesellschaft, die schon aus einzelnen Christen entstehen konte, neben sich ins Große aufkommen lassen wolten. Auch hier war alles politische Aufgabe; und selbst die Historie, welche bei den ersten Christen kaum einem kleinen Theile nach übrig ist, zeiget deutlich genug, daß die neue christliche Religionsgesellschaft schon weit mehr auf ihre äusserliche Vergrösserung gerichtet gewesen, als in stiller Anwendung moralischer Kentnisse vorzüglich bestanden habe.
Geheimnisse fingen auch unter den Christen an, die hauptsächliche Reizung und Empfelung für den Zutritt zur neuen Religion zu werden; statt der ganz freien innern Religion erwartete man geheime Vorzüge von den Obern; und diese erdichteten, was man hoffte. Seit der Mitte des 4ten Jahrhunderts
kam die große bischöfliche Gesellschaft blos historisch in die Höhe, die vornemlich wundervolle Historien Christi , der Maria , der Apostel, der Märtyrer und ihrer Reliquien und noch bevor|f305|stehender Dinge, nun zum Gegenstande der öffentlichen Religion machten, und durch gemeinschaftliche Beihülfe, die sie aus allen Provinzen zusammenzogen, ihre Verbindung und Verbrüderung mit allen Vorstehern der katholischen Religionsgesellschaft, täglich erweiterten und befestigten. Von da an wurde den gemeinen Christen immer beigebracht, daß nur allein in der Gemeinschaft mit dieser katholischen Kirche, oder Hauptloge,
die auch Mutter aller Christen hies, die moralische beste Religion, die rechte Verehrung Gottes, und die künftige unbestimmte Seligkeit statt fände. Die Symbole, als unveränderliche Formeln, gehören allemal zu einer besondern gesellschaftlichen Religion, nicht aber zur allgemeinen eigenen Religion aller Christen; sie haben alle eine Beziehung auf die Ausschliessung anderer Gesellschaften, und auf die stete vorzügliche Fortsezung der katholischen Kirche. Es gab immerfort verständige Zeitgenossen, die es einsahen, daß diese Formeln zunächst eine äusserliche Absicht hätten, nicht aber den Grund und Inhalt der moralischen vollkommenen Religion, ausschließungsweise, in sich fasseten. Dieser Grund und Inhalt war allen |f306| Christen ganz frey für ihr eigen Gewissen; es mochte in der öffentlichen Lehrformel immerfort die Einheit und Unveränderlichkeit herrschen. Diese andern Zeitgenossen fanden also keinen algemeinen Grund, der sie innerlich dazu verbunden hätte, jene als die Norm der einzig wahren Verehrung Gottes überhaupt anzunemen. Es gab also immer mehrere christliche Gesellschaften oder Familien, welche nicht zu der katholischen großen Kirche gehören wolten, wie immer mehr eine christliche Religion sich auch in entlegenen Ländern anfing, wo man von dieser katholischen Kirche nichts wuste, geschweige ihre Religionsform erst vergleichen konte. Da aber jede christliche Partei eben darum in einigen Lehrsäzen besonders immer vereinigt blieb, weil sie von andern Parteien schon nach Ort und Zeit abgesondert, entstanden war: so hatten alle besondern Religionsparteien ein locales christlich Glaubensbekentnis, wodurch sie immer gesellschaftlich, äusserlich vereinigt blieben; und so hatten auch alle einerley Zuversicht und Gewisheit, daß sie an der christlichen Religion wirklich den Antheil hätten, der ihnen zukäme. Denn die innere Religion konte nicht umschränkt oder umpfälet werden, so |f307| wenig als das Gemüth oder die Seelenkraft der Menschen. Und diese eigene Ueberzeugung oder freie Beurtheilung und Zuversicht macht immer die wirkliche gegenwärtige Verbindlichkeit aus, in dieser Gesellschaft bürgerlich ferner zu bleiben. Sie war bey allen fähigern Christen immerfort da, neben der öffentlichen oder gemeinschaftlichen Religion, die freilich eine feste Ordnung bekommen muste, (in uno tertio musten die vielen übereinkommen;) indem nicht ein jeder verständiger Christ sein eigenes besonderes Glaubensbekentnis zum öffentlichen erheben und aufstellen konte. Er wuste, daß jeder seines eigenen Glaubens leben, oder seinem Gewissen selbst, privatim folgen müsse, so bald er eine grössere Erkentnis, zu seinem grössern moralischen Nuzen vorfindet; dieser tägliche Zuwachs oder freie Umtrieb ist in der geschriebenen oder gedrukten Formel freilich nicht möglich; er entstehet aber in allen denkenden Christen, ohne einigen Nachtheil für die übrige Religionsordnung
, die ihr blos äusserliches Verhältnis immer behält. Ich wil mich hier nicht darein einlassen, ob ein solcher Christ auch verbunden ist, seine bessere Erkentnis andern|f308| Christen mitzutheilen? Es ist allemal gewis, daß dis nicht geradehin statt finden konte, wegen des
Unterschieds der Schwachen und Unfähigern andrer Christen. Daß aber so gar Christen und Lehrer den falschen Satz aufgestellet haben, es müsse die Privat-Erkentniß aller Christen durchaus, auch in Absicht ihrer selbst, durch die öffentliche Lehrformel einmal wie allemal eingeschränkt bleiben: ist, wie ich eben gezeigt habe, ganz unchristlich und wider die Natur der eignen subjektivischen christlichen Religion; die ja auch eine Privat-Fertigkeit der so verschiedenen, immer verschiedenen Christen seyn sol. Nun wurde aber durch solche äusserliche Ordnung sehr unrecht die freie moralische innere Religion ganz und gar aufgehoben, und alle Christen geriethen unter eine äusserliche Herrschaft und Botmäßigkeit der Lehrer, die doch gar nicht statt findet über allen innern Gebrauch des eigenen Denkens und Gewissens. Es ist wol historisch entschieden, daß alle Concilia zunächst die Clericos oder Kirchendiener verbunden haben, in Absicht der öffentlichen Religionsordnung, welche nun diese und jene Kirchensprache über die gesellschaftlichen Lehrartikel |f309| enthält; und freilich den Stand und das Amt der Kirchendiener über die Gebür erhoben hat: denn die Clerici allein hatten die öffentlichen Religionsgeschäfte; alle andern Christen durften nichts davon ausrichten; sie waren nicht heilig genug, Gott (in diesen Verrichtungen) zu verehren;
die sogenannten Geistlichen allein musten den Gottesdienst öffentlich verrichten. Aber auch hier blieben manche würdige Lehrer dem größern Berufe treu, eine innere freie Religion, annoch neben der äusserlichen, zu befördern bei allen, die dazu fähig waren; und noch mehr gab es wirklich verständigere Zeitgenossen, welche es immer wusten, daß diese äusserliche Ordnung keinen notwendigen ausschliessenden Zusammenhang habe, mit der eigenen besondern innern Verehrung Gottes; ob sie gleich zufällig, durch mystische oder algemeine Ideen ganz unschädlich, ja manchen Menschen so gar nüzlich werden kann; wie durch
allegorische, mystische Deutung, es
einen geistlichen Simson ,
geistlichen Ahasverus, geistliche Esther ,
Braut Christi etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
in der Vorstellung des jezigen Lesers geben konte; so wenig der Verfasser jener hebräischen Aufsäze, an eine |f310| geistliche Anwendung damalen gedacht hatte. In allen Jahrhunderten gab es diese bessere Einsichten, deren Liebhaber freilich Kezer hiessen, und, wenn man der Kirche glaubte, gerade darum gar nicht selig seyn und werden konten, weil sie mehr wusten und beurtheilten, als die gesellschafftliche Kirchensprache bisher in sich fassete oder genem hielte.
Alle symbolischen Bücher der Protestanten hatten vom Anfange her, eben diese äusserliche gesellschaftliche Relation, daß die öffentlichen Lehrer dieser neuen Parteien die freie innere Religion in ihrem Unterricht mehr befördern, und die vorige äusserliche historische Gewonheit nicht also fort sezen solten, daß die christliche Wohlfart ferner von Pabst und von der Kirche abhängig bliebe. Diese freie, unabhängige
Absonderung von der despotischen Kirche, die allen Gebrauch des eigenen Gewissens bey den Christen aufgehoben hatte, war die Hauptsache, in der Augspurgschen Confession, in ihrer Apologie, in den schmalkaldischen Artikeln, und den Catechismis,
die Luther ohnehin nur für Pfarrhern oder für die gar einfältigen Lehrer aufgesezt hat.
Selbst |f311| die formula concordiae hat eben diese äusserliche Absicht, eine Absonderung und Entfernung solcher Lehrsäze aus dem öffentlichen Vortrage zu Stande zu bringen, worüber die öffentliche Lehrer zeither einander nicht ohne tägliche Aergernisse und bürgerliche Zerrüttung, bestritten, weil manche gar den
Cryptocalvinismus, wie es damalen hies, in die lutherische Kirche einfüren wollten.
Man muß aber hier die politische Lage nicht vergessen, wornach besonders die schweizerischen Lehrsäze durchaus im teutschen Reiche nicht gedultet werden, und die lutherischen Stände den Religionsfrieden nicht verletzen solten, der allein auf die augspurgische Confession zur Noth noch gegründet hies.
Unsere Fürsten sagen daher selbst am Ende: es ist am Tage und öffentlich, daß wir mit allem Fleisse verhütet haben, damit je keine neue und gottlose Lehre sich in unsern Kirchen einflechte.
Oder wie es Melanchthon ausdrückt, daß nicht neue unchristliche Lehre bey uns angenommen würde.
Jesuiten suchten wenigstens alle abermalige oder fernere Freiheit, den Lutheranern, durch solche politische Schreckbilder, Abweichung von der Confession etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
zu nemen. Daß aber durch |f312| diese symbolische Bücher, welche blos öffentliche Prediger in ihrem Amte angingen, die ganze Gelersamkeit, Philosophie, Historie, Sprachkentnis, also auch alle Privat-Kentnis geradehin freigelassen werden: beweisen die vielen academischen Vorlesungen und Bücher, worin ganz ausgemacht viel mehr Gelersamkeit und freie Prüfung enthalten ist, als je in allen symbolischen Büchern für die gemeinen Pfarrherrn vorkommen konte. Es wurde auch niemand gezwungen, ein Lutheraner zu bleiben; so ganz frey war alle Privat-Religion, daß man sogar die bisherige gesellschaftliche verlassen konnte.
Eben so gewis ist es, daß die symbolischen Bücher nurauctoritatem externam, politicamwirklich haben, durch die Landesherrliche Obrigkeit. Es gibt Millionen Lutheraner, die von einer formula concordiae nie etwas gehört haben, wie sie ja auch in vielen lutherischen Ländern nicht angenommen worden. Es stehet also gewis uns frey, die
gar elende Beschaffenheit dieser schlecht compilirten Samlung, formula concordiae, so zu beurtheilen, als wir sie jezt finden, wie wir das|f313|ganze Vorhaben, (eine feststehende concordiam aller lutherischen Lehrer zu stiften), als ein Ueberbleibsel der päbstlichen Grundsäze, mit allem Recht ansehen, ohne unächte untreue Lutheraner hiedurch zu werden. Ich weis es, daß ehedem leider
lutherische Theologen diese symbolischen Bücher dazu gemisbraucht haben, eine Art von päbstlichen Inquisitionsgericht damit wider einander in Gang zu bringen; aber die Zeiten sind auch vorüber. Das alte Gebiet der Theologie, die falsche Mischung der so successiven Theologie, mit der innern christlichen freien Religion, ist nun aufgehoben. Es war periodische academische Theorie, die auf Infallibilität und Unveränderlichkeit keinen gerechten Anspruch machen konte. Die alleinseligmachende christliche Religion kann ihrer Wirkung nach in keine Formeln eingeschlossen werden,
weil niemand Gott ausschließen kann, wenn Menschen ihn suchen; er ist aber überal von allen Christen, von allen Menschen ganz gewis zu finden. Freilich solten Christen eine desto vollkommnere kentlichere Verehrung Gottes darlegen, da sie selbst sagen,
es seie ihnen mehr gegeben worden als andern; sie müssen aber ihren Vorzug nicht in |f314| die christlichen Redensarten und historischen Beschreibungen sezen, welche ehedem den katholischen Inhalt der öffentlichen Religion ausmachten; sondern darein, daß sie immer mehr innere Tugend und moralische Reinheit in ihrem Leben zeigen, als andre, die so viel Erkentnis nicht hatten. Was die mancherley Vorstellungen betrift, welche daher entstehen, ob die und jene Redensarten
buchstäblich und proprie, oder aber logice, improprie in Absicht der Sachen, verstanden werden sollen: so mus kein christlicher Lehrer ferner so entscheiden, daß er andre Christen nun verurtheilet, als Verächter der so klaren Bibel, und nun sie in böse Nachrede, ja gar in Haß und Verachtung bringe; da weder Christus noch die Apostel ein allereinziges Register gegeben haben, was zu dem allein erbaulichen Sinne gehöre; die Erbauung oder moralische Vollkommenheit der so verschiedenen Menschen, kann nicht ein einziges Maas für alle haben. In vielen Stellen ist es wol bedächtig unterlassen worden, eine einzige Summe der Vorstellung anzugeben; wie wir daher auch kein wörtlich Formular finden, das allen Christen gleich notwendig seie, um wahre Christen zu seyn. |f315| Ein jeder muß das Maaß zu erreichen suchen, das möglich ist; aber nicht alle können einerley Maas erreichen; und nie ist einer schon vollkommen fertig; alle aber sollen ihren Glauben, ihre Religion in immer grösserer Liebe gegen Gott und Menschen thätig beweisen; sonst heissen sie alle eine
klingende Schelle; wenn sie blos von Ehre Gottes oder Christi reden, und sogar die Unendlichkeit dieser Ehre nicht einsehen.
39. Könte es nun nicht gar wohl statt finden, daß die verständigern Christen die Mittelstraße suchten, zwischen der so häufig übertriebenen öffentlichen Religion, die doch mit der eigenen innern Religion nicht geradehin einerley ist; und zwischen den leichtsinnigen Spöttereien vieler Naturalisten, die freilich oft mehr über die sogenannten Priester herfallen, und über die zufälligen Mängel und Misbräuche der christlichen öffentlichen Religionsverfassung, als die innere Uebung guter Christen in der praktischen Religion angreifen; die sie entweder gar nicht kennen, oder sie wirklich gelten lassen müssen?
|f316| Ich denke, diese Frage ist ohne uns lange entschieden; weil sie das eigene freie Privat-Verhalten der Zeitgenossen betrift; soll aber auch die öffentliche und immer fortgesezte Aeusserung dieser Privat-Urtheile darunter begriffen seyn: so erstrekt sich unsere moralische Jurisdiktion ohnehin viel weniger darauf, als bisher so gar obrigkeitliche Verordnungen sich darauf, mit Wirksamkeit nicht eben erstrekt haben. Ich will gar nicht an die so mannichfaltigen Charaktere erinnern, wonach alle Individua schon gleichsam von vorne her, wenigstens ohne eigenen Vorsaz, so verschieden gestimmt sind und bleiben, daß alle Mühe anderer vergeblich ist, sie in Einer geraden Linie gleichsam alle zu bewegen. Wenn auch viele sich den Schein geben, daß sie entweder ernstliche Theilnemer an der öffentlichen Religion sind, oder daß sie zu den angesehenen Naturalisten gehören: so sind doch auch viele andre für sich mit Recht aufmerksam auf die Zeitumstände selbst, unter denen sie ihre eigenen Urtheile an andre mittheilen müssen; daß also eine neue Vorschrift, wozu diese Frage leiten möchte, immer ohne den dauerhaften Erfolg ist, den sich die Eine Partey wider die andre vor|f317|sezen mag. Es wird nie an eben der Uebertreibung, oder doch an der Betriebsamkeit felen, welche ein so genannter Parteygeist in allen Jahrhunderten zu Hülfe nam, um wenigstens einigermassen seinen besondern neuen Endzweck zu erreichen. Man erhebe den grössern und gewissern Nuzen, den die ganze Gesellschaft haben werde, wenn die Eine Partey grösser wird: so wird es an Widerlegung und Verunglimpfung, auch wol gar an Unruhen nicht felen. Es ist aber daneben noch eine dritte Partey übrig, die weder zu den Eiferern um die äusserliche feststehende Religion, noch zu den jezigen Naturalisten gehöret, und sehr gros ist, wenn sie gleich nicht öffentlich so bekannt werden wil, als jene Parteien, weil sie von beiden eben keinen Beifall zu erwarten nötig hat, äusserliche Absichten aber gar nicht in Rechnung nimmt. Die freien Liebhaber der eigenen ganz unabhängigen Verehrung Gottes, die in allen Jahrhunderten da waren, und besonders im Occident den Weg zur Abwendung des eisernen Jochs jener päbstlichen Kirchenreligion immer mehr offen erhalten, wo sie nicht gebauet haben! Sie haben sehr vielerley Schimpfnamen bekommen, um sie desto eher bey |f318| den gemeinen Kirchgliedern verächtlich und verhaßt zu machen; sie sind kentlich genug, wenn ich sie
Mystiker nenne, die nachher
Theosophen, und überhaupt wol noch jezt Fanatiker in Europa heissen. Ich sagte vorhin, jezige Naturalisten, weil alle diese Zeitgenossen damalen Naturalisten hiessen, oder Kezer, im Verhältnis auf die kirchliche Religion; dagegen sie von Gottes täglicher Wirkung und jezigen Eingebung so viel bejaheten, daß sie von den jüngern Naturalisten eben so sehr zu unterscheiden sind, als sie sich damalen von der einheimischen Kirchenreligion privatim abgesondert haben. Diese Partey hat noch dazu einen großen Theil der sonstigen Anhänger an der periodischen Kirchenreligion auf ihrer Seite, und ist, was den Naturalismus betrift, ganz unzugänglich; wie sie der öffentlichen Religion stets eine solche Privat-Erkentnis unterlegte, daß sie von der kalten äusserlichen Ordnung immer mehr Vortheil für ihre Theilnemer schaffen konte. So lächerlich und verächtlich diese sehr eifrigen stillen Christen bei ihren Gegenparteien waren: so ganz unwirksam war und ist noch diese Verachtung; weil die Liebhaber so genau auf ihre eigene ganz freie Uebung und tägliche |f319| Erfarung halten: daß ihnen aller Widerstand und Widerspruch lauter tägliche Bestätigung ihrer bessern Grundsäze gibt: daß diese lauter fromme arbeitsame Unterthanen sind, wenn sie auch viel mehr zu ihrer christlichen Religion rechnen, als die öffentliche Lehrform begreift: das weis ihre Obrigkeit.
König Friedrich lies auch dem Apitsch alle Privatreligion ungekränkt, so sehr sie von der gemeinen Kirchengewohnheit und von der Aufklärung, die andre liebten, abstand. Daß alle Unterthanen die ausgemachte Freiheit haben, ihre Privatreligion so oder so hoch nach der Bibel, oder im Gebrauch derselben zu stimmen, wie Naturalisten eben diese Freiheit haben, sehr wenig dazu zu rechnen, ist wohl ausser allen Zweifel. Gleichwol redet man so viel vom Besten der Menschheit, von algemeinen grössern Wohlergehen, das entstehen werde, wenn die christliche so wol öffentliche als Privatreligion erst ganz aufgehoben würde. Ist dies aber wol eine andre Sache, als wenn ehedem die Pfaffen sagten: das algemeine Beste, die Ehre Gottes erfordert die Ausrottung der Kezer?
Haben wirklich die Naturalisten den Auftrag, Repräsentanten der ganzen Menschheit zu seyn? |f320| Welchen Schaden haben doch andre Menschen davon, wenn es fernerhin mehr Parteien der Christen gibt, unter denen doch immer die fähigern Mitglieder ihre Privat-Erkentnis frey behalten? Moralischen Schaden und Nachtheil, denn davon ist die Rede, berechnet hier jeder Mensch selbst für sich; oder läßt sich von andern belehren, zu denen er ein freies Zutrauen hat; Naturalisten aber wollen geradehin das Monopolium der Religion oder Moral an sich bringen, welches alle Pfaffen ehedem auch trieben. Gerade der freie eigene Gebrauch des Verstandes und des moralischen Bewußtseyns that den Pfaffen immerfort Widerstand; warum sollen denn jezige Zeitgenossen schon im voraus den Naturalisten es nachsagen, es gebe gar keine geistlichen oder übernatürlichen Wirkungen Gottes – kurz, warum sollen Christen sich die besondere Sprache und Uebung der Naturalisten gefallen lassen, und ihre moralische Privatsprache aufheben? Damit sie nicht Dummköpfe, Fantasten, Schwärmer heissen? Aber können Christen, die ihre eigene Freiheit bisher hatten, und über Sinnen und Begierden siegten, wol durch ein Schimpfwort dahin gebracht werden, den ganzen Zusammenhang |f321| ihrer eignen moralischen Uebung zu verlassen? Wird man sogleich selbst, in eigenem Bewußtseyn aufgeklärt, wenn man nun von andern kein Dumkopf genent wird? Noch nie war es ein ehrlicher Grund seines eigenen Verhaltens, daß man sich blos nach andern Urtheilen richtete; noch nie war dis schon an sich ein Lob, wenn man blos vielen Vorgängern folgte;
sequi antecedentem gregem, ire non qua eundum est, sed qua itur, war schon ein alter Tadel. Von jenen Christen, die nur der Gewohnheit nach Christen sind, ist die Rede gar nicht; denn diese stehen den Naturalisten nicht im Wege. Es kann aber auch kein noch so
warmer Christ, oder Schwärmer, wie es nun heißt, es dahin bringen, daß es lauter würdige Christen gebe; und Naturalisten solten es sich also auch nicht vorsezen, daß sie über die freie moralische Welt durch ihre Theorie allein herrschen wolten. Sie haben und behalten ihren Erdstrich, ihr Land, das ihnen auch noch so eifrige Christen, noch so eigennüzige Pfaffen nicht nemen können; denn alles moralische Land ist und bleibt frey und unsichtbar, und ist der leiblichen Gewalt gar nicht unterworfen. Es können und sollen nicht alle Menschen |f322| Christen werden; viele kann man endlich bezwingen und zu Unterthanen eines christlichen Königs machen; aber das sind nun noch nicht moralische Christen. Es können aber auch eben so wenig alle Menschen gleiche Naturalisten werden, am wenigsten, wenn diese ferner so ungesittet über gute Menschen spotten.
Wenn hingegen christliche Lehrer immer nur von ewiger Seligkeit so reden, als seie es ein und derselbe Zustand für alle Menschen, die doch so unendlich verschiedene Menschen seyn müssen; wenn sie einen christlichen Dialekt,
daß Christus der Grund der Seligkeit ist, (welches für die Christen wahr und gewis ist, aber einen unendlichen Umfang hat;) zu einer algemeinen christlichen Sprache erheben, und alle andere Christen um ihren eignen Sprachgebrauch bringen wollen: so ist dis auch nur ihre Anmaßung, die nur so lange einen Grund zu haben scheint, als lange die christliche Belehrung die alte Mangelhaftigkeit behält. Wenn Naturalisten die einmal daseiende historische Religion der Christen gar ausrotten, und eine einzige natürliche dafür einfüren wollen: so vergessen sie die innere |f323| und äussere Ungleichheit eben der Menschen, von denen sie als Naturalisten sich doch jezt selbst unterscheiden. In der moralischen Welt hat die Zeit und der Raum, wie sie allen einzelnen Menschen zukommen, ohne von Menschen abzuhängen, durchaus eben soviel unwiderstehlichen unsichtbaren Einfluß als in der physischen Welt, mit welcher oder hinter welcher die so ungleiche Moralität der Menschen erst entstehet. Wer wil wol unter die
Feuerländer, Kamschadalen – – die niederländische oder florentinische Schule der Malerey, die Algebra, die neuere Astronomie etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
einfüren? Es möchte gleichwol ihnen sehr nüzlich heißen. Man müste also erst den äusserlichen Zustand in einem sehr gleichen Maße verändern, (und welche Menschenmacht kann dieses?) ehe jene Erhebung der beinahe ganz felenden innern Bewegung in Einem Maaße angefangen werden kann. Und können denn wirklich viele Menschen Astronomie, Mahlerkunst, Mechanik etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
zu ihren und anderer grössern Wohlseyn rechnen, und ihre bisherige Beschäftigung damit vertauschen? Naturalismus und Christentum, haben noch dazu so viele Stufen, deren jede zur moralischen Wohlfart des Inhabers hin|f324|reicht; wenigstens kann das Urtheil anderer darin nichts ändern, ohne Einwilligung des bisher zufriedenen Inhabers. Wenn man alle Menschen zu Christen, zu einerley Christen machen wil: ist es eine ausgemachte Anmaßung, die nur die besondern Absichten der Projektmacher befördern sol; denn zur einzeln moralischen Wohlfart der Menschen gehört durchaus ihre eigene Einwilligung; mit der Anmassung des Naturalismus hat es eben diese Bewandnis. Man redet von innerer moralischer Wohlfart aller Menschen; gerade wie ehedem der Pabst von der Seligkeit aller Christen. Die eigene freie Untersuchung der besondern Absichten des Naturalismus kann sehr vielen Menschen überflüßig heissen, so rechtmäßig oder notwendig sie wäre, wenn man nicht etwa in moralischer Entdeckung viel geschwinder fortgehen kann, als in Prüfungen neuer physischen Aufgaben; die doch auch nicht für jederman sind.
40. Ob viele oder mehrere Naturalisten eine besondere Absicht und dazu gleichsam eine geheime oder doch unbekannte Verbindung unter sich haben, weis ich wenigstens nicht; es |f325| ist aber historisch wahr genug, daß unter den Christen unaufhörliche neue geheime oder öffentliche Verbindungen statt gefunden haben, bis in diese unsere Zeit, die nicht zur eignen Religion gehören. Wenn gleich immer die edelsten gemeinnüzigsten Absichten, zumal die Verfassung des innern Zustands der andern Menschen vorgegeben wurden: so ist doch gar nicht unbekannt, daß die besondern Absichten, den äusserlichen Stand und Wohlstand der Mitglieder vorzüglich gut und sicher einzurichten, viel eher und gewisser erreicht worden sind. Man kann es also den Naturalisten nicht besonders übel nemen, daß sie manche christliche Masken abzureissen suchen, damit mehr eigne Freiheit und Thätigkeit übrig bleibe.
Es mag in Europa gar viel geheime Verbindungen geben, theils zur Erhaltung der sogenannten christlichen Religion, theils zur Ausbreitung des Naturalismus, die wol eben nicht zur Beförderung der freien moralischen Religion, also zur gewissern Veredlung der Menschen abzielen.
|f326| Das mag seyn oder nicht seyn; ich habe es mit der Unbilligkeit solcher Naturalisten zu thun, welche allen Christen es aufdringen, daß sie alle christliche Religion verwerfen sollen, so bald sie mehr in sich begreift, als die so genante natürliche Religion, die sie als gültigere Lehrer und Wolthäter aller Menschen empfelen. Dis ist eine eben so unbillige gewaltthätige Auffürung zur einseitigen Beherrschung der Menschen, als je eine Pfaffenreligion seyn mochte. Freilich haben viel christliche Lehrer unter dem Namen einer schriftlichen Offenbarung gar über allen natürlichen Verstand aller Menschen herrschen wollen, oder wirklich geraume Zeit geherrschet. Dieser Vorwurf aber, dächte ich, fände in unserer Zeit nicht sonderlich mehr statt, wie er niemalen unter den Protestanten unbeantwortet geblieben ist, wenn die eine Partey jene Stellen der Bibel, die den schon bisher verdorbenen oder verkehrten Verstand, also den Misbrauch des Verstandes angingen, auf allen Gebrauch des natürlichen Verstandes ziehen wolte; da es doch nicht wahr ist, daß alle Menschen von Natur in einerley gleich grosser moralischer Unordnung sich befinden, wie sie auch nicht einerley Anlagen und Talente von Na|f327|tur haben. Es muste aber auch solchen Christen frey bleiben, welche mit dem Worte Natur, Verstand, Vernunft, allemal schon einen ausgemachten Widerspruch gegen die Offenbarung, gegen die Bibel vorauszusezen pflegten. Wer kann die unzäligen Stufen des menschlichen Vermögens, also auch alle Fehler aller Christen, ganz und gar wegschaffen, und allen Menschen eine und dieselbe richtigere Bewegung ihrer Seelenkraft zur gemeinsten Ordnung machen?
Haben dort Schüler des Augustinus und Flacius ihres Theils sich zu viel herausgenommen, und selbst in dieser (gewis auch menschlichen, natürlichen) Vorstellung so gar ihren christlichen Vorzug gefunden: so ist es ihre moralische Geschichte, die in der moralischen Welt durchaus nicht ausbleiben konte. Diese Uebertreibung einer Gewonheit zu denken, konnten aber andre Zeitgenossen vermeiden, wie es auch immer geschehen ist; indes folgt nun nicht hieraus, daß geradehin lauter Naturalisten die glücklichere Anbauung der moralischen Welt zum ausgemachten Vorrecht bekommen haben müßten. Das System der Bibel, oder ihre Grundlage, betrift in der That eine unaufhörliche Wirkung Gottes un|f328|ter den Menschen, in und durch ihr Bewußtseyn; es gibt gar keine Natur ohne Gott, es gibt keine Wirkung dieser Gottheit, ohne in der so genanten Natur. Diese Wirkung Gottes in die sonst geringere Natur der Menschen nanten diese Menschen eine übernatürliche Wirkung; weil sie freilich Gott als das höchste Wesen über die Natur aller ihnen bekannten Dinge sezten, also auch über die Menschennatur. Manche Menschen haben ihre Natur in manchen Stufen immerfort selbst verdorben, so lange sie blos sinnlich lebten; über diese verdorbene Natur lehren die Christen eine Wirkung Gottes, der über die menschliche Natur eben so gewis erhaben blieb, als er über die ganze Natur aller von ihm abhangenden Dinge erhaben ist. Ob sich diese und jene Menschen darin geirret haben, daß sie nun hie und da eine Wirkung Gottes angenommen haben, die über die Natur gehet: ist und bleibt nun eine Aufgabe, welche von verschiedenen Theilen nur freilich sehr verschieden beantwortet wird. Aber diese noch so ungleiche Entscheidung macht nicht, daß jene Menschen geradehin unrecht und thörigt daran gehandelt hätten, wenn sie Gottes übernatürliche oder |f329| göttliche Wirkung zu ihrem moralischen Besten so gern geglaubt und angenommen haben. Es kann durchaus keine algemeine Entscheidung hierüber geben, ob dieses eine wahre oder nicht wahre Wirkung Gottes in diesen Menschen gewesen seie! Es hinge weder von den Theologen ab, diese Wirkung jezt gerade durchaus so und so zu bestimmen, und nun ihre Bestimmung, in die dortige Geschichte und Erfarung iener Christen zu verwandeln; noch auch hängt es von Naturalisten ab, durch ihr Leugnen und Bestreiten es zu schaffen, daß jene Menschen darin nicht gewis waren, daß sie übernatürliche Wirkung zu ihren innern bessern Charakter erfaren hätten. Warum soll man nicht es zu dem besondern Vorzuge und gleichsam moralischen Talent solcher Menschen rechnen? Man kann es doch eben so wenig erklären, daß jemand gleichsam ein geborner Mahler, Mathematiker, Mechaniker, Dichter etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
ist, und hiemit über die gemeinste Natur und Uebung so vieler anderer Menschen ganz gewis weit erhoben ist. Ich dächte, daß auch diese Anlage oder dieser Vorzug mancher Menschen in der moralischen Welt, desto eher einer Wirkung Gottes zugeschrieben werden konte, da |f330| seine so guten mächtigen Folgen wenigstens durch keine Naturkraft anderer Menschen bis hieher unterdrückt oder aufgehalten werden konten. Oder durften jene Menschen und mehrere jezt, nicht selbst eine moralische Sprache unter sich einfüren, die ihrer Vorstellung gemäs war, bis eine andre Classe Menschen diese Vorstellung und Sprache ihnen erlauben würde? Alle Protestanten lehrten geradehin göttliche Wirkungen zu einer christlichen Besserung der Menschen, die über ihre verdorbene Natur sich erhub; es ist auch gewis die Sprache der Bibel, und sie traf zu mit der gegenwärtigen eigenen Geschichte und Erfarung dieser Menschen, welche sich den Geist Gottes oder eine übernatürliche moralische Kraft, und nicht mehr ihre sinnlichen Begierden leiten liessen. Ist diese biblische Sprache nun eine kentliche moralische Unvollkommenheit gewesen, dieweil die Sache, wovon geredet wird, nicht nur allen Naturalisten unbekant, oder verächtlich ist, sondern auch den allermeisten sogenannten Christen leider ganz unbekannt bleibet? Ich weis es, daß man sagen kann, es seie eben die moralische Sprache von Gott noch kindisch und mangelhaft gewesen; es ist auch wahr, wenn |f331| auf so viele blos sinnliche bildliche Redensarten mancher alten Zeiten gesehen wird, die wir nun freilich mit bessern Vorstellungen und Beschreibungen vertauschen können. Aber ist und war auch die Sache selbst ein kindischer Irrtum, den Gott nicht mit in die moralische Welt eingerechnet hatte? hört sie nun gänzlich auf, etwas wirklich gewesen zu seyn, wenn es kindische und mangelhafte Beschreibung gewesen war? Ist es nun baarer dummer Fanaticismus der Christen, wenn sie Gottes Wirkung eben so gern zu ihrem innern Vortheil denken, als Wirkung, die sie natürlich nennen, wenn sie gleich auch diese natürliche Wirkung nicht erklären können? Sol Natur nun so gleich Gott aufheben? Dis ist die Hauptsache, worauf es ankommt selbst in der Verschiedenheit der Privatchristen und ihrer christlichen eigenen Religion, von den kleinern Grundsäzen des Naturalismus. Hier waren sehr oft so gar Lehrer und Mitglieder der öffentlichen christlichen Religion eben so wol Gegner dieser Privatreligion, wenn sie eine freie Uebung seyn solte, als es Naturalisten nun sind. Wenn die eingefürte öffentliche Religion in Bejahung älterer historischer Beschreibungen bestehet, wodurch |f332| eine christliche Religionspartey ihre Verbindung fortsezt: so ist dieses doch noch nicht die eigene Religion, die einem jeden Christen insbesondere ganz frey gehört, um die moralischen Folgen derselben immer mehr zu seinem innern Wohlseyn zu erfaren. Diese Privatreligion ist in allen christlichen Parteien möglich, wie bisher mehrmalen hier ist behauptet worden. Es ist ein sehr grober Irtum, daß die besondern Parteien der Christen diesen eigentlichen, wesentlichen, vornemsten Charakter der christlichen neuen Religion, den grossen Umfang der moralischen eignen Uebungen, so sehr gleichsam verkennet haben: daß sie die ganz unumgängliche äusserliche Ungleichheit des christlichen Lehrbegrifs gar für eine Abweichung von der wahren christlichen Religion ausgegeben, und einander um der verschiedenen Religionssprache willen so übel, so ganz unchristlich beurtheilt haben! Die Algemeinheit Gottes und seiner moralischen Wirkungen zur innern Volkommenheit der unzäligen Menschen, zur immer grössern moralischen Aenlichkeit mit Gott: ist der neue Grund der bessern Religion; hiezu ist der
Erstgeborne und Eingeborne Sohn Gottes, als ein neuer ganz un|f333|bestimmter Begriff aufgestellet in den neuen Schriften der Christen; nicht, daß die Christen nun über
seine Erzeugung aus dem Wesen, oder Hervorbringung durch den Willen des Vaters, vor allen Geschöpfen oder in noch kleinerer socinianischer Bedeutung, miteinander Jahrhunderte lang streiten und disputiren solten; indem dieser Sohn Gottes eben so unbegreiflich und unendlich ist, als sein Vater, es mögen katholische oder arianische, socinianische Beschreibungen gemacht werden; sondern, daß das jüdische System, von einem bisherigen Reiche des Teufels und böser Engel unter den Unjuden durch diesen neuen Begrif, mit allen jüdischen Meinungen von der äusserlichen Religion, wozu jüdische Ceremonien gehören, umgeworfen, und eine freie innere Religion, die zu dem unendlichen Reiche Gottes allein gehört, eingesehen und vorgezogen werden solte. Durch diesen neuen innern Glauben können alle Menschen, die sonst Juden waren, ohne jüdische Ceremonien, mit diesem unendlichen Sohn Gottes in einer freien Vereinigung stehen, und haben von ihm den unendlichen Geist Gottes zum fernern Lehrer; dis ist die Hauptsache, die nun erkannt werden sol. |f334| Wegen ihres äusserlichen Lebens aber befinden sie sich in einer localen äusserlichen Geselschaft, die sie entweder wälen, oder von der Geburt an darinn sich befinden; und alle äusserliche Geselschaft hat einen Schuz der Obrigkeit nötig, daher steht die Geselschaft verbunden, ohne sich erst so vielen Ceremonien zu unterwerfen. Dis ist die Toleranz im Staat gleich hinter dem Judentum. Ohne jenen eignen Glauben, ohne innere Religion bringt keine äusserliche Religionsgeselschaft moralischen Nuzen, und eben so kann eine noch so unvolkommene Religionsordnung an dieser innern geistlichen Religion nicht geradehin ändern. Selbst gesezt, man lebte unter einer so genannten Naturreligion im äusserlichen Zustand; man würde doch aus der Bibel, ja auch durch andere Christen oder aus eigener Erfarung diese grössere geistliche Religion finden und fortsezen können, weil man die geistlichen unendlichen Wohlthaten Gottes überal ferner eben so finden und geniessen würde, wie man Gott im Reich der Natur, das auch sehr ungleich vertheilt ist, überal mit Lob und Dank finden, und nicht blos in sinnlichen Empfindungen, wie viele andre |f335| Menschen
Editorische Korrektur von: schen (digital)
, dahin leben würde. Daß nun diese eigene freie Religionsübung und innere Gemüthsfassung der Christen, wodurch sie über Judentum und Heidentum sich erheben, gar fanatisch und
schwärmerisch heißt: war theils eine Politik der Pfaffen und Mönche, welche die äusserliche einförmige Religionsordnung zur Seligkeit gerechnet haben, damit niemand ohne ihre Beihülfe, allein, noch in diesen innern Glauben an Gott durch Christum , (in vielerlei Sinne,) selig zu sein und zu werden, wissen solle; theils war es ein
Feler mancher Protestanten, davon selbst Luther und Calvin nicht frei waren, die ihre neue locale Religionsordnung zu sehr erhuben, mit Vergessenheit der moralischen Stuffen und Classen, die, nach der neuen Erkenntnis der Christen, immer da sind, wenn sie auch das äussere, leibliche Wort der christlichen Lehre nicht gleichförmig haben, oder nicht in Einer allereinzigen Lehrform fassen. Dieser Begrif einer innern Wirkung Gottes, ausser, neben und über der Natur der Menschen, liegt nun immer zum Grunde der christlichen Religion von ihrem Anfange an; viele Christen haben nach und nach eine
sacramentliche Wirkung auf die Seele |f336| daneben gesezt; manche haben auch gar
Wirkungen in der körperlichen Welt von Reliquien, Bildern und geweiheten Sachen erwartet. So lange aber es den Christen selbst frei bleibet, (und als Menschen haben sie immer ungleiche Fähigkeiten und Gelegenheiten,) ihren eigenen Verstand und ihr eigen Urtheil in Absicht Gottes zu üben: würden auch diese zwei leztern Meinungen die höheren Stuffen der christlichen Religion bei andern Christen nicht aufheben, wie wir es in täglicher Erfarung gewis genug wissen. Sol aber nur dieses eine vernünftige Verehrung Gottes heissen, die in Wirkung der Natur des Menschen ganz allein bestehet, und alle Wirkung Gottes auf den Menschen ausschließet: so ist dieses doch ebenfals nur eine moralische Privatübung, wodurch niemand alle andre Menschen beherrschen und ihren auch häufigen Beifal geradehin einen Beweis der volkommensten Verehrung Gottes einseitig nennen kann. Wenn die Reihe, Verfolger zu werden, nicht nun an die Naturalisten kommt: so wird es immerfort Christen von sehr ungleichen Stufen und Classen geben, neben eben so verschiedenen Classen der Naturalisten; und wenn diese jenes al|f337|les für Aberglauben halten, so wird es doch eben, zum Glük der freien Menschenwelt, dahin nicht kommen, daß aller so genannte Aberglaube dieser einseitigen Behauptung ganz aufhöre. Die noch so grosse menschliche Erkenntnis behielt zeither doch ihre gar kentlichen Schranken und gewisse Perioden; es wird also auch diese moralische Stufe, welche Naturalismus heißt, weder der Zeit und Dauer nach, noch der Ausbreitung und Herrschaft nach, ohne eben diese Schranken sein, welche aus unsichtbarer Macht sich über alle Wünsche und Absichten der Menschen zu immer grössern Erfolgen, erstreken, an welche Folgen freilich die Menschen, Christen und Naturalisten nicht dachten.
41. Wir kommen also wol darin überein, daß die christliche sowol öffentliche als Privatreligion, nicht eine feststehende Summe von Erkentnissen, so wol intensiue als extensiue, vom Anfange an gehabt hat; daß sie auch nicht für alle Menschen von Gott bestimmt ist, als eine Bedingung zu irgend einer Stufe moralischer Wolfart; daß aber alle Menschen, die eine Kentnis von dieser christlichen Religion bekommen können, aber als Men|f338|schen verbunden sind, sie zu prüfen, weil sie durch Mängel oder Absichten der Lehrer sehr oft zur Ungebür verändert und verfälschet worden, wie die christlichen Parteien einander dis selbst vorwerfen; daß auch viele Christen, welche gegen andre Parteien wegen der Vorstellung und Beschreibung der Lehrartikel gar heftig eifern, gleichwol nur äußerliche geselschaftliche Christen sind, und in Tugenden und Pflichten, oder in eigner Anwendung ihrer Lehrartikel zur täglichen Verehrung Gottes, fast wissentlich, oder ohne Scham, sehr weit zurüke bleiben, ohnerachtet sie mehr Wirkung und Beistand Gottes behaupten zum ehemaligen und jezigen Entstehen der christlichen Religion, als die Naturalisten annemen. Nun sezen die Naturalisten ihre ganze Religion in eine ernstliche moralische Thätigkeit, in uneigennüziges Wohlthun oder doch Wolwollen gegen andre Menschen, ohne Unterschied einer geselschaftlichen oder bürgerlichen öffentlichen Religion. Ein Staat wäre also sehr glüklich, wenn er wirklich tugenhafte Mitbürger hat, sie mögen einander Juden, Christen, Lutheraner etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
|f339| oder Naturalisten nennen! Denn auch bei jenen Sektennamen der Christen, Catholiken, Reformirten, Lutheraner, Mennoniten, Socinianer, muß doch die Probe der rechten Kenntnis und Verehrung Gottes in der thätigen Liebe gegen andre zur Nachamung Gottes; und
in reiner Tugend gegen sich selbst bestehen?
Es ist allerdings zu hoffen, daß immer mehr eigenes Nachdenken und gewissenhafte Beurteilung dieser Hauptsache in aller Religion (um Gottes Willen moralisch gut handeln, und immer moralisch besser zu werden), die einzelnen Menschen viel mehr dahin bringen wird, die thätige reine Liebe Gottes und aller
Nebenmenschen, über die Gott einerlei Sonne scheinen läßt, immer mehr als das Wesen der würklichen würdigern Religion anzusehen; es mag nun der besondre äusserliche Unterscheidungsname christliche, natürliche, jüdische etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
heissen; und also auch vornemlich sich dieser eigenen reinsten Liebe Gottes und des Nächsten zu befleissigen, weil diese Nachamung Gottes der kentlichste Charakter eines Gottesverehrers ist.
Jesus hat selbst dieses als das vornem|f340|ste und gröste Gebot anempfolen, woran alles Gesez und alle Propheten bei den Juden gleichsam hängen. Es wird also wol bei den Christen eben so sein. Darin hängen Evangelien und
Editorische Korrektur von: nnd (digital)
Episteln mit ihrem ganzen Inhalt. Nun möchten die periodischen und localen übrigen Lehrartikel noch so viel Verschiedenheit der besondern Vorstellungen über den unendlichen Gott mit sich bringen: so kommen doch alle wirkliche ernstliche Gottesverehrer in diesem algemeinen Grundsaz schon überein,
daß niemand Gott zu erkennen, zu lieben mit Grunde vorgeben kann, der seinen Bruder und Nebenmenschen nicht um des gemeinschaftlichen Gottes willen, liebet. Niemand könte also ferner es der Bosheit und dem Vorsaze der Menschen zuschreiben, daß es so viele Ungleichheit und Verschiedenheit gibt in Absicht der Gedanken und Urtheile über so vielerlei andere Gegenstände, die nun neben jenem stets gemeinschaftlichen Grunde und Inhalt aller eignen Religion, von den immer, schon ungleichen Menschen, um ihrer selbst willen, oder um ihres besondern Gewissens willen, oder um unmoralischer Umstände willen, noch dazu angehängt und verknüpft werden. Jener allgemein eingewilligte|f341| Grund aller wahren Gottesverehrung, der allgemeine Charakter moralisch aufstrebender Menschen, blieb immer das moralische göttliche Band aller der Menschen, welche selbst wahre Gottesverehrer sind; hiedurch fänden sie sich alle immer so heilig vereiniget zur ganz ausgemachtesten Ehre des unendlichen Gottes: daß sie die übrige noch so große Verschiedenheit in den besondern Vorstellungen über historische und locale Aufgaben, einander ganz frei ließen; weil sie es alle immer bedächten, daß es gar nicht an diesen Menschen selbst, oder an ihrem bloßen Vorsatze liege, wenn sie von manchen Gegenständen, die nun durchaus eine äußere unumgängliche Unterscheidung der Menschen mit sich bringen, mehr oder weniger oder anders nach eigenem Gewissen, denken und urtheilen, als jeder andere ebenfalls nach eigenem Gewissen schon denkt. Alle diese nach Zeit und Ort, oder äußerlich verschieden entstehende Vorstellungen von Gott, haben einen historischen, localen, einzelnen Grund; diese Historie aber konte nicht zu gleicher Zeit in allen Ländern und Orten eben dieselbe Historie sein, da sie es nur in einem Lande war. So hoften ehedem viele Juden auf einen König Messias, der ihre Nation über alle andre |f342| erheben würde. Ein solcher König kam aber nicht; daher schon ehedem manche Rabbinen diesen Begrif und Artikel ausstreichen,
aus den Ikkanien, oder allgemeinen jüdischen Religionsartikeln der jüdischen Nation; er gehört nicht für alle Juden in allen Ländern; sondern nur für die
Einwoner von Palästina, die ihr Land für ein heilig Land ansahen, dem alle andre unterworfen werden müsten.
Viele fanatische Juden warteten dennoch, und rechneten die Zeit aus, da der Christus kommen, und den heidnischen Antichrist überwinden würde; sie waren daher von Zeit zu Zeit geneigt zur Rebellion wider die Römer; sie kanten also die bessere Verehrung Gottes, (die an kein Volk gebunden ist, weil Gott gleich gut aller Völker Gott ist,) gar nicht. Aber viele andre Leser des alten Testaments entdekten dieses moralische Reich Gottes, wozu alle Menschen, alle Völker gehörten; sie namen die neue Historie gern an, wodurch die alte Unwissenheit ausgebessert wurde, daß der Messias gekommen seie, aber in moralischer Lage;
daß sein Tod das größte Opfer für die Sünden aller Menschen seie, in jedem Sinne proprie oder improprie; daß also es nun gewis und entschieden ist,
daß die Gnade und Liebe Gottes sich auch|f343|auf die Heiden erstrecke ohne jüdischen Tempel und Hohenpriester dieser Nation. Der Tod, die Auferstehung und Himmelfahrt Christi bestätigten es,
daß er kein neues Reich in Palästina anfangen wolle;
daß eine Beschneidung – – nicht mehr nöthig seie, weil man nun eine ganz andre Beschneidung hatte kennen lernen. Durch diesen einzigen rechten Sohn Gottes, durch den Geist Gottes, war alle bisher den wankenden Engeln zugetheilte Macht und Gewalt, in der Einsicht dieser Liebhaber der moralischen Würde Gottes, ganz aufgehoben. Wie die vielerlei Bücher des neuen Testaments zusammen gebracht und als gleiche Urkunden der neuen christlichen öffentlichen Religion gebraucht wurden, welches abermal eine neue Historie der Christen ist: so entstehen mehr neue Artikel, die nun durch die Bischöffe der verschiedenen christlichen Parteien ihre verschiedene einzelne äußerliche Bestimmung erhielten, und also die Christen in mehr große Gesellschaften äußerlich abtheilten; aber dieses alles hob
den allerersten Artikel der wahren Gottesverehrung nicht auf, (Gott, Christum , Geist Gottes, in der oder jenen Vorstellung, über alles zu lieben, und den Nächsten als sich selbst;) wenn nicht die Bischöffe nun aus|f344|drücklich die eigene Gottesverehrung, (
von ganzem Herzen, aus allen Kräften der Seele,) und nun den Nächsten, (um Gottes willen, der auch sein Gott ist, als sich selbst;) ganz aufgehoben, den Christen das eigene Antheil darüber ganz entzogen, und gerade ihre jezigen Lehrartikel zu dem Wesen und Grunde aller wahren Gottesverehrungen, aus falscher kirchlicher Macht, erhaben hätten. Denn keine äußerliche Macht kan entscheiden, was zum Wesen der christlichen Religion für alle Menschen gehört, sie kan aber erzälen, was in ihrer Gesellschaft als dazu gehörig, angenommen worden ist.
So ist der pluralis im symbolo nicaenoπιστευομεν eine Erzählung der Bischöffe. Von nun an aber verurtheilen Christen alle andre Christen und alle Menschen, wenn sie nicht diese ihre einseitige Kirchensprache die blos historische Anzeige ist, zur einzigen wahren Religion, die doch im Thun, nicht in Sprache besteht, rechnen. Alle Streitigkeiten über die Person Christi , über das
Ausgehen des heiligen Geistes – werden nun so wichtig gemacht, daß aller Widerspruch, alle Abweichung von dieser localen Kirchensprache zugleich eine Aufhebung aller wahren Gottesverehrung ist; |f345| obgleich sogar alle christliche Parteien, die in der Kirchensprache von einander abgehen, diese allgemeine Vorschrift aller Gottesverehrung, liebe Gott von ganzem Herzen etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
wirklich behielten, und sich ganz recht der neuen Tirannei und Anmaßung der katholischen Partei widersezten. Von ganzem Herzen, von allen Kräften der Seele, Gott lieben, an seinen Sohn und den heiligen Geist glauben, und nun nach der Lehre des Sohnes Gottes, den Nächsten lieben als sich selbst: war die einzige wahre thätige Religion bei den Christen. Statt dieser eigenen thätigen Gottesverehrung, die alle Christen selbst behalten, um wahre innere Christen zu sein: entstehet die ganz falsche Religion; die nicht aus und mit Gewissen der einzelnen Christen frei geübet, thätigst geübet wird, sondern in einigen Redensarten ganz und gar von nun an bestehet, und
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blos den Befel, die Verordnung der Bischöffe zum Grunde hat. Alle Christen sollen nun ihre Gottesverehrung nach diesen Vorschriften der Kirche, in feststehenden Redensarten und Gedanken, ohne neue bessere Privaterkentnis, in eifriger Anhänglichkeit daran, und im täglichen Haß und Verfolgungen aller andern Menschen be|f346|stehen lassen, die nicht eben also von Gott Vater, vom Sohne, vom heiligen Geiste reden; und eben gar keine Religion hätten, weil sie nicht diese bischöfliche falsche Religion haben, und sie seien also auch von Gott ewig verdamt. Diesen Widerspruch, den die Kirche begieng, wider die allein wahre eigene Gottesverehrung, sahen viele Christen ein, und behielten die wahre innere Religion, unter der periodischen Kirchenreligion; als eine nicht von ihnen
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abhängende blos äußerliche Verfassung oder Polizei der Bischöffe, wodurch lauter äußerliche Folgen entstehen. So gehet es mit
den sogenanten Pelagianern, vorher mit den Griechen, mit den
Albigensern, Waldensern, Hussiten, Lutheranern, Reformirten. Wenn hier die Naturalisten laut reden, laut schreien, und sich einer so falschen Religion widersezen, die freilich keine Offenbarung Gottes, sondern die tirannische Gewalt der Kirche zum Grunde hatte: so wird sie auch der ware Christ nicht widerlegen! Selbst alle Protestanten müssen hier einerlei Klage füren, weil der Misbrauch des Namens, christliche wahre seligmachende Religion, über alle Maßen groß und schreiend ist. Wer will hier den Namen |f347| wahre christliche Religion zum Deckmantel brauchen lassen, wo gar keine wahre Gottesverehrung gemeint ist? Alle natürliche ehrliche Religion, worin noch kein Gebrauch der Bibel statt fand, ist hier viel würdigere Gottesverehrung, als diese bischöfliche kirchliche Carricatur. Aber die wahre christliche Religion, abgesehen von den Pfaffen und politischen Gestalten, ist nicht diese niedrige Carricatur; ist eine freie ganz unabhängige Anwendung der eignen Seelenkraft auf den unsichtbaren Oberherrn aller Menschen, in so fern Menschen mehr als Körper und sinliche Phänomene sind; und sich als Christen hinter der Bibel, mit freier Benuzung ihres Inhalts, einer eigenen jezigen Gottesverehrung selbst befleisigen, welche Verehrung Gott Vater, Sohn Gottes, und heiligen Geist begreift, ohne eine ausschließende Bestimmung dieser Begriffe; blos in einer Gesellschaft entstehet eine Bestimmung, wir reden aber nicht von einer Gesellschaft; sondern von wahrer Privatreligion in allen christlichen Gesellschaften. Hier kan kein Concilium, kein politischer Zusammenhang befelen;
der Christ darf Gott durch Christum selbst erkennen, als ganz
unterminirlich, ganz offen, und als unbe|f348|schränkten moralischen Vater der bedürftigen unerzogenen immer ungleichen Menschen. So frei hier die geübten Christen ihre eigene Vorstellungen hinter und neben jenen historischen localen Versuchen, selbst zusammen sezen, von Gott und seinem Verhältnis und täglich ihre Neigungen an Gott, ihre Zuversicht, ihren Dank dadurch bestimmen: so nachgebend sind sie als Brüder gegen einander, um durch ihr freies Gewissen aller andern auch freie Gewissen nicht zu beherrschen, welches ja keinesweges zur Ehre Gottes und Christi statt fände. Gern und gewis willigen sie aber ein in eine äußerliche Verbindung mit andern Christen, die ihnen bürgerlich schon die nächsten sind, um eine gemeinschaftliche öffentliche Religionsübung mit andern fortzusezen. Diese Geselschaft hatte aber auch schon ihre besondere Historie, die vor ihrer Religionsform vorausgehet,
in Sachsen, in der Schweiz etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
Nun ist es auch wahr, daß diese gesellschaftliche Religionsübung, wenn die innere Beschäftigung der Seelenkräfte nicht dabei ist, den Namen einer vorzüglichen oder besseren Gottesverehrung um besonderer Redensarten willen, die hier gebraucht werden, gar nicht verdienet; sie bestehet alsdenn |f349| nur in einer Gewohnheit oder Verabredung, wornach mehrere Miteinwoner sich zu einer festgesezten Zeit, an einem und demselben Orte versamlen, und alle bürgerliche sonstige Geschäfte unterlassen wollen, weil jezt eine gemeinschaftliche Theilnemung an solchen sinnlichen, kenntlichen Handlungen alle Anwesenden beschäftiget, dadurch sie allesamt die Fortsezung ihrer äußerlichen Religionsordnung einander zu erkennen geben, und sie öffenlich gerne halten. Allein, auch diese freilich geringere Gewonheit hat nicht nur den gewissen Erfolg einer nähern Verbindung mit einander, daher Naturalisten wenigstens keine bürgerliche Zerrüttung zum Zweck haben dürfen; sondern sie erleichtert auch immer einigen psychologischen und moralischen Nuzen, weil gute nüzliche Begriffe erweckt werden können; wenn auch die eigene innere Beschäftigung eine Zeitlang gleichsam ausartet, und viele solche Mitglieder sich einen falschen Maaßstab ihrer Gottesverehrung angenommen. Auch diese Mängel, so gewis sie von andern als Mängel eingesehen werden, können nicht ganz weggeschaft werden, weil die Menschen nicht einerlei moralisches Maas bekommen können; weil sie durchaus äußerlich und innerlich ungleich |f350| sind und bleiben sollen. Es giebt unzählige Falten und Beugungen der Seelenkräfte bei den einzelnen Menschen, worin sie sich sehr bald so gefallen, daß sie es gleichsam zu ihrem rechtmäsigen Stande rechnen, daß sie mehr darauf bestehen als andere; und es würde kaum ohne Herrschsucht und Ohrenbeichte, oder ohne einer Art moralischer Inquisition abgehen, wenn Prediger hier bei jedem Mitglied der Gemeine, außer dem allgemeinen Unterricht, wozu sie auch eigentlich nur bestimt werden, sich insbesondere einlassen, und gleichsam die Prüfung des Gewissens und Herzens aus eigner Macht vorschreiben wolten.
Sie müssen umgekehrt allen alles werden, um immer einigen zu moralischer Besserung zu helfen; sie können aber durchaus nicht fordern, daß alle Mitglieder ihrer Religionsgeselschaft einerlei Maas der Privaterkentnis, der Uebung und Anwendung erreichen und halten, oder sonst gar keine Christen sein solten. Es giebt auch geringere Privatchristen. Aus diesem immer ungerechten Vorhaben sind alle jene immer neuen Anstalten entstanden, wodurch man die innere Religion mehr befördern, und den meisten Mitgliedern einerlei kentlichen Charakter aufdrücken|f351| wolte. Dies war die Quelle von immer neuen Cerimonien, Legenden, Mirakeln, Bildern,
Brüderschaften, besondern größern Andachtsübungen etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
Durch alle diese Anstalten ist eine moralische Beherrschung, und ein Stillestand der freien Erkentnis vielmehr eingeführt worden, als daß die ächte freie Verehrung Gottes der Christen immer mehr bekant und erleichtert worden wäre. Gleichwol solte die Würde und Herrlichkeit Gottes vornemlich nur von den Christen immer mehr erkant und über alles geliebt werden! So wol Heuchelei als wilkürliche Lasterhaftigkeit ist hiedurch gar natürlich mehr ausgebreitet worden; anstatt, daß Christen es immer mehr lernen solten, was es heißt,
Gott, Christus , der Geist Gottes wonet moralisch in den Christen, nicht im Tempel zu Jerusalem, auch nicht
im todten alten Buchstaben, in Formeln; die allemal eine öffentliche Religion haben.
42. Nach dieser Erklärung müsten freilich die Christen selbst diese ihre gemeinschaftliche öffentliche Religionsübung gar nicht so hoch ansezen, daß dabei die innere und thätige Ausübung felen dürfte, ohne ernstliche Rüge ihrer Leh|f352|rer; noch weniger sich über ihre Ungleichheit und Verschiedenheit so sehr entzweien, oder sich (um Gotteswillen, um Gott besser zu verehren!) gar hassen und verfolgen. Sie hätten auch eben so wenig ein Recht, den Naturalismus durch ihre christliche Religionsordnung bedächtig und absichtlich zu unterdrücken, da sie die innere Gottesverehrung durch alle äußere Religionsform zunächst, zu einem allereinzigen Maas zu erheben, sich gar nicht vorsezen können, ohne ganz falsche Begriffe anzunemen, und selbst ihre Bibel ganz unrecht zu brauchen.
Alles zugestanden! es ist kein Zweifel hieran, bei allen verständigen Christen. Aber haben denn nun umgekehrt die Naturalisten ein Recht, alle christliche, so wol äußere Religionsordnung, als die freie innere besondere Verehrung Gottes, welche mehr Gegenstände aus der Bibel einschließet, durch ihren Naturalismus aufzuheben, als würde nun die gewissere und wirksamere Moralität vielmehr unter allen Menschen befördert werden, ohne Bibel, ohne historische Begriffe? Ich denke |f353| nicht; wenn sie nicht zugleich das Recht haben, daseiende geselschaftliche bürgerliche Verbindungen eigenmächtig aufzuheben. Sie können alle jene gar kentlichen
Betrügereien einer sogenanten Priester- und Pfaffenreligion rügen und ganz ernstlich verwerfen; alle verständigere Christen thun ein gleiches, ohne leeres Geräusche. Sie können diese und jene unedle Gewonheit vieler Namen-Christen und alle jene Lasterhaftigkeit tadeln und beurtheilen; dieses thun auch die treuen Lehrer der Christen; die treuen Lehrer, sage ich, andre thun es freilich nicht. Sie können die Unwissenheit und den Aberglauben des großen Haufens ferner dafür halten, wofür sie ihn erkennen; auch geübtere Christen urtheilen eben so, ob sie gleich alle Schonung und Nachsicht bedächtig anwenden, um nicht zu geschwind und anstößig zu handeln, und bürgerliche Unruhen zu erregen, unter moralischer Maske.
Unkraut und Waizen wächset mit einander. Da aber die historische Kentnis eher ist als die allgemeine, und nicht alle Menschen zur eigenen Anname des Algemeinen so leicht zu bringen sind: so behält die christliche Religion, eben in so fern sie viel historischen Inhalt |f354| hat, den leichtern Eingang bei der größern Menge, ohne die fähigern Menschen eben so daran zu binden. Die neue christliche Religion entstund durch eine neue Historie, die alle Christen von Juden und Heiden nun unterscheiden muste; so entstund die Reformation; durch neue Historie in Sachsen, in der Schweiz, in England, in Dänemark, Schweden. Ob nicht manche Naturalisten, Illuminaten eine neue Historie im Sinne haben: ist eine Aufgabe und Frage worden. Man mus es zugeben, daß ehedem viele Christen sogar einer fernern neuen Historie entgegen sahen, und ein bürgerliches glücklicheres Leben hoften, wozu freilich auch manche Fabeln und Erdichtungen geraume Zeit angewendet wurden. Dieser ganze sinliche Hang, der sehr lange geherrschet hat, ist von der wahren bessern Gottesverehrung gar weit entfernt; und diese dortige Religion jener Christen, (die in bürgerlicher Geselschaft nicht mehr zufrieden leben wolten,) ist nicht die christliche Religion, die wir Protestanten als die uns gehörige Religion selbst annemen und fortsezen. Es gab zu eben der Zeit auch geübtere und verständigere Christen, wie schon verständige Juden, die |f355|
σωμα und πνευμα, oder alte äußerliche Historie, und gegenwärtige innere moralische Historie in ihrer Religion unterschieden haben. Wir kennen jenen Feler, als moralischen Feler der großen Kirche, die durchaus nur alte feste Historie zum steten Grunde und Mittel aller christlichen Religion auswälte, um ja keine freie Erkentnis des Allgemeinen, gar keine innere moralische neue Historie der Christen aufkommen zu lassen. Wir kennen die ganz unverschämten Lügen und Legenden, welche, leider! so viel Jahrhunderte lang gar den alleinigen öffentlichen Inhalt der christlichen Religionslehre ausmachten; indem die Pfaffen sich die Beherrschung der Christen durchaus nicht entziehen lassen wolten. Aber bei dem allen können doch Naturalisten den Zeitgenossen das freie eigne Urtheil über das Verhältnis der Bibel nicht dadurch geradehin nemen wollen, daß blos eine sogenante Naturreligion empfolen, und alle bisherige eigene moralische Historie der Christen ganz aufgehoben, und für Fanaticismus erklärt würde. Warum soll in der moralischen Welt so gar weniger Freiheit und Unabhängigkeit übrig bleiben, als überall in der bürgerlichen Geselschaft |f356| zum Privatleben statt finden muß? Haben zuweilen die christlichen Lehrer ihres Theils diese Freiheit aufgehoben, und es den Christen blos buchstäblich vorgesagt, die Bibel seie durchaus eine solche Offenbarung Gottes, wie es diese Lehrer zu denken und zu lehren pflegten: so haben sie doch den eigenen freien Gebrauch des Gewissens nicht hindern können, wenn sie auch wolten. Warum aber wollen nun Naturalisten die Stufe ihrer Erkentnis und Einsicht allen Christen zur Regel machen, da dieses doch durchaus nicht möglich ist, wenn sie auch alle bisherige bürgerliche Verfassung, worin die Christen ganz zufrieden leben, ganz umwürfen, und
aus dem bürgerlichen Stande einen Stand der Natur schaffen wolten? Aller christlicher Unterricht ist noch nicht an und für sich selbst diejenige Stufe der Erkentnis, welche für jeden einzelnen fähigern Menschen möglich ist; denn der Lehrer konte nicht für alle so verschiedene Fähigkeiten der Christen schon das Maas festsezen; wenn er dies thun wolte, so war es sein Fehler, und nur ganz unfähige Christen konte er also einschränken. Und aller öffentliche Unterricht, worin eine daseiende Religionsgeselschaft fortgesezt |f357| wird, hat hiemit noch nicht ausschließender Weise ein göttliches Ansehen; dies mus erst im Gewissen der Christen von selbst dazu kommen. Nun ist aber die Uebung des Verstandes, also auch des Gewissens, immerfort sehr ungleich, ohne daß die Wahrheit und Göttlichkeit nur in der Einen Partei sich befinden müsse. Alle Christen müssen vornemlich von der moralischen Gegenwart und Wirkung Gottes durch Erkentnis ganz gewis sein; also müssen sie auch die innere Verehrung Gottes bei allen andern Menschen nicht an ihr besondres und lokales Lehrgebäude binden, obgleich die öffentliche Geselschaft eine einzige gemeinschaftliche öffentliche Religionsform haben mus, wenn sie als eine zusammengehörige Geselschaft sich fortsezen und von andern ferner unterscheiden will. Soll sich nun eine besondre öffentliche Religionsgeselschaft, als Naturalisten, von den Christen unterscheiden: so kan sie keine besondere Vorschrift über die beste innere Gottesverehrung zum Vorwande nemen; denn diese ist bei allen öffentlichen Religionsgeselschaften ohnehin ganz frei, und privatim ganz unabhängig. Die Naturalisten müssen also eine neue öffentliche Geselschaft als viel besser und dem|f358|Staate nüzlicher voraussezen; und dazu müssen sie, wie alle öffentliche Geselschaften, erst die Einwilligung des Staats haben. Sie können aber nun nicht einen Grund zu dieser öffentlichen Neurung und Forderung aus ihrer eigenen Privatreligion entlenen; denn diese haben sie schon ganz frei, sie mögen sich befinden in welcher bürgerlichen öffentlichen Geselschaft sie wollen. Und wenn es auch wirklich eine öffentliche Religionspartei der Naturalisten geben solte: so würde doch die innere Privatreligion aller fähigen Naturalisten abermals frei und unabhängig sein und bleiben. Der eigentliche wahre Grund also, warum Naturalisten alle christliche Religion, selbst den Namen davon, aufheben wollen, ist keinesweges eine größere sichere moralische Volkommenheit aller Menschen, die durch alle geselschaftliche Religionsordnung nicht geradehin erhalten werden kan; indem hiezu stets die eigene moralische Uebung der einzelnen Menschen gehört, die nie zu einerlei Moralität allesamt erhoben werden können. Was für einen andern Grund nun Naturalisten hiezu haben mögen, daß sie, eben sie, die Naturalisten, die öffentliche Religionsordnung aller christlichen Par|f359|teien, aufgehoben wünschen: dürfen die Zeitgenossen freilich selbst überdenken und beurtheilen, die bisher weder in Absicht des bürgerlichen geselschaftlichen Verhältnisses, noch der eignen freien moralischen Volkommenheit schon selbst unzufrieden zu sein, ernstlich geäußert haben; die vielmehr vornemlich daran denken, daß sie es keinesweges zur ersten Pflicht haben,
an moralischen kosmopolitischen Projekten Theil zu nemen; da sie ohnehin schon mehr täglich moralisch und bürgerlich für sich und andre zu thun vorfinden, als sie leisten und ausrichten können. Wenn die moralische Uebung und Bestrebung da ist, so ist die Gottesverehrung wirklich da; die Vorstellungen aber über ehemalige Historien können von gar verschiedenemverschiedenem
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Inhalte sein, ohne die Gottesverehrung jezt aufzuheben. Der Inhalt war und ist allemal außerhalb des Menschen, ist nicht in seiner eigenen Gewalt, kan aber allemal von Menschen moralisch gut zur Verehrung Gottes angewendet werden, wenn er gleich durchaus nicht einerlei sein kan für alle Menschen, wie sie nicht alle eine und dieselbe Narung und Ordnung ihres menschlichen Lebens haben und annemen können, und doch gesunde glückliche Menschen sind.
|f360| 43. Aber kan man wol den Naturalisten andere Absichten beimessen, als geradehin patriotische, gemeinnüzige? Die sogenante Kirche mus doch endlich unter dem wahren Begriffe gedacht werden, den uns die bald siebenzehn hundertjährige Historie immer mehr darleget. Es mag also ehedem göttliche Belehrungen eines Petri und Pauli gegeben haben, wider jüdische Vorurtheile, und heidnische moralische Kälte – so gehören sie doch gar nicht zu dem ganzen nachherigen Kirchenregiment, oder neuen
politischen Kirchenstaat, der noch immer einen kirchlichen Monarchen oder Papst einschließet, welcher sogar die kaiserlichen und königlichen, oder wahren landesherrlichen Rechte durchaus nicht gelten läßt, und die Namen, Christus , Petrus , Kirche immer in einem solchen Verhältnis fortsezet, das von göttlicher Belehrung durchaus nichts in sich fasset, wenn man nicht wissentlich politische Heuchler oder blos sogenante Kirchenchristen, das ist, gehorsame Unterthanen in einem Nebenstaate haben will. Moralische Veredelung sucht jene Kirche gar nicht.
|f361| Diese ganze glänzende Gestalt und prächtige Einrichtung der sogenanten Kirche, mit dem ganzen Jure Canonico, hat wenigstens kein protestantischer Lehrer als eine Folge göttlicher Offenbarung, oder als Pauli ,Petri ,Johannis ,Jacobi so gemeinnüzige Lehre angesehen,
wie sie auch ihr eigen Kirchenrecht nur als eine menschliche Ordnung gelten lassen.
Alle Protestanten haben aber schon lange den wahren Begrif Kirche, wozu freilich kein Pabst, keine solche gebieterische Clerisei, gehört, unterschieden;
wie immer fort alle verständigen Regenten und Zeitgenossen curiam und ecclesiam romanam unterschieden haben; folglich hätten wol Naturalisten hier eben kein besonderes Feld zu neuen Verdiensten erst zu entdecken; sie konten als ächte Christen eben dies thun. Die ganze äußerliche Religionsverfassung, in so fern sie zu einem jeden Staat gehört, beruhet schon auf neuen daseienden Verträgen der schon vorher bürgerlichen Geselschaft; und die Regenten in Europa lassen sich in Absicht eines Pabstes und der öffentlichen Religionsverfassung ganz recht blos durch politische Gründe und Umstände bestimmen, ohne bei den so verschiedenen Naturalisten, und |f362| bei den Obern der Religionsparteien, sich Rats zu erholen. Wenn auch alle Naturalisten in eigener moralischen Volkommenheit einander vielmehr gleich, und über alle wahren Christen, deren es doch viele geben kan, mehr erhaben wären, als sie doch keinesweges alle schon sind: so würden doch ihre noch so guten patriotischen Absichten noch immer nicht ein solcher Grund werden, daß ein Regent den Naturalismus in seinen bürgerlichen Staaten wirklich an die Stelle der öffentlichen christlichen Religion in der bisherigen bürgerlichen Geselschaft, zu erheben Ursache hätte. Es ist gar nicht widersprechend, daß Jesuiten und alle politische Religionsobern für sich selbst schon Naturalisten sind, und dennoch eine allereinzige öffentliche christliche Religion durchaus immer fortsezen und behaupten, weil sie nun zur gewissen Regierung viel besser angewendet werden kan, als wenn dies daseiende so alte und feste Gewebe des Staats und der Kirche mit allen sogenanten Ständen ganz aufgelöset, und eine moralische ganz neue Theorie, die bisher privatim frei war, in eine algemeine feststehende Religionsordnung verwandelt werden solte, wo eine ganz andre politische Regie|f363|rung erst erschaffen werden müste. Ob nicht ganze Geselschaften schon lange mit dieser neuen Regierung umgehen: ist eine Aufgabe, die nicht geradehin lächerlich ist. Diese ganze patriotische Absicht übrigens, welche man auf diese Art freilich nicht unwirksam aufstellen würde, ist, wie gesagt, von allen wahren Christen immerfort schon in die Augen genommen worden, eben wenn sie besondere Offenbarung Gottes als historisch wahr voraus sezten, und alle Menschensazungen, der Rabbinen oder der Bischöfe, dafür ansahen: daß sie mit der stets wirksamen, nie schon vollendeten Absicht des unendlichen Gottes, eben deswegen gar nicht zusammenhiengen, weil die Menschen ihrer eignen freien Privatreligion alsdenn wieder beraubet würden. Nie haben verständige Christen sich es beibringen lassen, daß kirchliche locale Verordnungen der Päbste und Bischöfe mit der christlichen praktischen Religion eben denselben göttlichen Ursprung, also auch eine algemeine Verbindlichkeit für sich hätten, aus einem ewigen Zusammenhange mit der moralischen Wohlfart des menschlichen Geschlechts; eben diese Wohlfart hat und behält unendliche Stufen, oder vielerlei Mittel auch ohne die christliche Religion. Viele Jahr|f364|hunderte lang können wir die Lügen und wissentlichen Unwahrheiten nachweisen, welche die sogenante Kirche zu Hülfe genommen hat, um ihren kirchlichen, häufig unchristlichen und blos menschlichen Verordnungen gleichwol eben das algemeine göttliche Ansehen zu geben, welches jene algemein wohlthätigen Lehren Christi und seiner Apostel ganz allein und vorzüglich noch immer haben, in und nach dem eigenen Gewissen der freien Christen. Jemehr also die wahre praktische Religion, die freie Verehrung Gottes nach den Grundsäzen des neuen bessern Bundes, sich ohne eiserne Form privatim ausbreitet:
desto gewisser mus jene falsche Kirchengewalt immer mehr einfallen; desto mehr giebt man ferner dem Kaiser was seine ist; weil das Reich Gottes,
das Reich Christi doch nicht von dieser Welt, oder politischer Natur ist. Da nun dieser große Erfolg ganz gewis in der wahren christlichen Religion immer da ist, so kan der Naturalismus, wenn ihm eben diese gute große Absicht beigelegt wird, wenigstens dieser wahren christlichen Religion nicht als ein nötiges wohlthätigeres Mittel entgegen gestellet werden. Es käme überhaupt noch auf eine genauere Unter|f365|suchung an, ob die Naturalisten sich nicht übereilt haben; da sie sich durch einen Namen von allen Christen, (die in gar vielen moralischen Stufen stehn,) durchaus unterscheiden wolten, den wirklich die Jesuiten gerade in den Streitigkeiten mit dem frommen
Michael Molinos , über die freie Seelenruhe der wahren Christen, bei noch so vielen unzähligen Cerimonien und kirchlichen Anstalten, zuerst aufgebracht haben, um ja unter Naturalisten das gewisse Gegentheil aller noch so ungleichen christlichen Religionen, auszudrücken, und also schon ein ausgemachtes Präjudiz zu dem gewissen Vortheil der Kirchenmonarchie auszubreiten. Es gehört also sehr viel Einsicht und Unparteilichkeit dazu, daß dieser Name, Naturalist, nicht schon eine gleichsam gerechte Abneigung, und zur Religion selbst gehörige Widrigkeit sogleich mit sich füren sol; und zur patriotischen gemeinnüzigen Gesinnung gehörte es doch wol, sich nicht selbst allen Eingang bei den Zeitgenossen zu erschweren. Es kan doch übrigens noch immer eine billige oder gerechte Forderung heißen, daß Naturalisten unter dem Namen, Christen, christliche Religion, nicht einerlei verächtlichen unwürdigen Gegenstand eigenmächtig begreifen, und überhaupt nicht an |f366| Veränderung der Namen und Worte schon ein ausgemachtes Verdienst hängen solten. Kein billiger verständiger Christ wird leugnen, daß es tugendhafte, große, gemeinnüzige Charaktere giebt, unter den sogenanten Naturalisten und unter allen Unchristen; warum wollen nun nicht Naturalisten nicht umgekehrt eben so patriotisch und billig in Absicht der Christen handeln, wenn diese gleich sich nicht durch den angeblichen Ehrennamen Naturalisten unterscheiden wollen, weil er durchaus den bisherigen Grund ihrer so bewärten Religion in ihnen selbst aufheben, und sie zu Lügnern und zu niedrigen Menschenknechten machen würde? Keinem Naturalisten hat ein wahrer Christ eine Vorsorge oder Vormundschaft für seinen besten moralischen Zustand aufgetragen; ein wahrer Christ kan gar nicht in diese Lage geraten, und die Geselschaft hat auch an Lehrern keinen Mangel; Naturalisten wil sie aber nicht zu Lehrern haben. Wenn nun gleichwol Naturalisten sich eine solche Vorsorge eigenmächtig auflegen: kan ihre Absicht wirklich nur diese sein, da sie es wissen, der Christ erwartet und verlangt diese Mitsorge gar nicht? Oder mus ich es für Verdienst um mich erkennen, wenn jemand sich auf meinem Wege, den ich ganz gewis |f367| und sicher gehe, mir entgegen stellet, und mir durchaus einen andern Weg anweisen wil? Noch dazu ist der wahre Christ zugleich schon ruhiger Bürger und rechtmäßiges Mitglied einer Geselschaft; er ist zufrieden und vergnügt in seinem bürgerlichen und christlichen Verhältnis; was für ein Recht haben also Naturalisten, diese zufriedenen Christen und schon verpflichteten Bürger unaufhörlich gleichsam vor ihren selbst erbaueten moralischen Richterstul zu fordern, sogar mit Spötterei zu fordern? Das Recht der Vernunft soll dies sein! Der Christ hat nicht nur als Bürger, sondern auch als Christ sein ihm zugehöriges moralisches Eigentum; heiße es durch Verträge, oder durch Geseze, oder durch eigene Erfarung. Kein Bürger darf den andern richten und verurtheilen, in Absicht seines bürgerlichen Lebens. Die Gesetze geben algemeinen Schuz wider einzelne Eingriffe und Anfälle. Die Anname und Uebung der christlichen Religion, in dem und jenem Umfange, ist das rechtmäßige moralische Eigentum des Christen, der in seiner bürgerlichen Verfassung auch eine öffentliche durch Geseze gesicherte Religionsübung, zum ausgemachten Rechte hat. So wenig es einem Juden, Muhamedaner, Brami|f368|nen etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
frei stehet, die geselschaftliche Religionsübung der Christen zu stören, durch Aeußerung und Darstellung seiner ganz andern Religionsübungen; indem der Staat diese verschiedenen Religionsparteien, durch abgetheilte Geseze wider einander beschüzt, um tägliche Unruhen abzuwenden, also jeder Religionspartei in Absicht öffentlicher Uebungen, ihre Schranken anweiset: eben so wenig solten Naturalisten sich so grobe tägliche Spöttereien über die christliche Religion erlaubt haben, und dies gar zu Meriten um die Menschheit rechnen, wenn sie Geselschaften zerrütten.
Weder ein Recht der Menschheit noch der Natur, konte diese Ungerechtigkeit, (denn Wohlthat war es nicht,) beschönigen; denn die christliche Religion entstund nicht im sogenanten Stande der Natur oder der Menschheit so wenig als alle Künste und Wissenschaften, Früchte des Standes der Natur waren. Und wir Christen haben doch wol nichts wider die Menschheit und wider unsre Natur begangen oder gesündiget, wenn wir jenen ersten kleinen Stand – der dem Menschen möglichen Veränderung so erweitert und erhöhet haben, daß wir immer mehr neue wirkliche moralische Fertigkeiten uns schaffen, und noch mehrern immer entgegen |f369| sehen konten! Diese einzige Lage der Menschheit und der menschlichen so weit cultivirten Natur, solten wir vertauschen mit einem Naturstande, den wir doch zu unserm großen Vorzuge zurück gelegt haben? Und wir solten hier glauben, daß alsdenn eine größere menschliche Glückseligkeit entstehen wird? Das könte immer in Absicht mancher oder vieler Zeitgenossen statt finden, welche mit der einzigen politischen Verfassung, bei der eine christliche öffentliche Religionsordnung zum Grunde liegt, unzufrieden sind, weil sie dadurch eingeschränkt werden. Warum soll aber umgekehrt die Unlust und Unzufriedenheit nun die christliche ganze Geselschaft treffen? Die gleichwol bürgerliche Verträge und den landesherrlichen Schuz bisher für sich hat, und gar nicht willens ist, ihre ausgemachten Rechte, was öffentliche Religionsverfassung in dem bürgerlichen Staate betrift, durch allerlei Privatgedanken und moralische Anstalten aufheben zu lassen? Jeder Zeitgenosse kan ja für sich selbst ein sogenanter Naturalist sein, wenn er mehr moralische Wohlfart sich hiermit zu schaffen meinet; aber ein ehrlicher Mann in jeder Geselschaft dringt seinen moralischen Vorzug seinen Nebenmenschen eben so |f370| wenig auf, oder sezt sich vor, sie stolzer Weise zu beherrschen; als wenig der stärkere Mann die Schwächern oder Kranken zu eben solchen Arbeiten und Geschäften auffordern darf, die ihm so leicht und gewönlich sind.
Darum leben wir eben in einer geselschaftlichen Verbindung, um nicht durch einzelne Menschen täglich überwältiget und beunruhiget zu werden.
44. Ich gebe es zu, daß manche naturalistische Schriftsteller hier eben nicht viel gerechten Ruhm erwarten konten, wenn sie so übereilt, so anhaltend über alle christliche Religion, über alle ihre öffentlichen Diener, über alle biblischen Redensarten, und über alle Cerimonien etc.
Abkürzungsauflösung von "etc.": et cetera
spotteten und lachten; dies konte keine Wohlthat für den Staat als Staat heißen, und mußte freilich manche ungesunde Früchte erzeugen. Aber, wenn diese unbillige Spötterei und Andringlichkeit bei Seite gesezt wird, so könten doch denkende Zeitgenossen auch über die öffentliche Religionsverfassung der Christen ihre Meinungen und Urtheile bekant machen, und wirklich eine |f371| gute Absicht haben, oder zur Aufklärung und Verbesserung ihrer Zeitgenossen eben dadurch beitragen, daß sie als Naturalisten sich neben solche Christen hinstelleten, welche eine moralische eigene Religion fast gar nicht kanten. Die öffentliche Religionsverfassung, war doch wol nicht blos politische Vorschrift, sie solte doch wenigstens unter den Christen die eigene praktische Religion nicht für unnötig und überflüßig erklären, welches höchstens im Pabsttum der Fall sein konte. Und da es immer mancherlei Mängel und Fehler selbst bei der öffentlichen Religionsverfassung geben konte, oder von Zeit zu Zeit wirklich gab: so war es ja nicht schon Beleidigung und Beeinträchtigung der Christen, wenn Naturalisten ihre anderweitigen Einsichten und Urtheile öffentlich daneben stelleten.
Diese bescheidene Beschreibung möchte wol nur für einige wenige naturalistische Schriftsteller gelten. Freilich gründen sich viele auf eine sogenante Aufklärung, die zumal allen Christen so unumgänglich nötig sein sol, wenn sie nicht Fanatiker|f372| oder Dumköpfe heißen wolten. Aber es war doch auch eine zu große Anmaßung, wenn diese neue Schule so wol das Recht als das Maas der Aufklärung sich ganz allein beilegte. Noch niemals ist eine gesittete Untersuchung über irgend eine Frage oder Aufgabe unter den Protestanten für überhaupt verboten oder religionswidrig erklärt worden; wenn auch manche einzelne Theologen über den wirklichen Gebrauch der Vernunft sogar in Absicht ihrer blos theologischen Behauptungen, nicht selten sehr einseitige Entscheidungen gegeben haben[.] Sobald ist
das fruchtbare lehrreiche Buch, das Martini in Helmstädt zu Anfange des vorigen Jahrhunderts unter dem Titel: Vernunftspiegel
, drucken lassen, fast ganz und gar vergessen worden! Wurde wirklich hie und da die sogenante Censur auch unter Protestanten zu weit erstrecket: so geschahe dieses doch immer nach den wirklichen alten Gesezen der Bücherpolizei, oder nach einer Observanz, die der Staat so lange stehen lies. Man kan freilich nicht sagen, daß der Geist der christlichen Religion diese Observanz aufgebracht oder beschüzt habe, weil sie ihm unentberlich seie; aber die öffentliche Religion kan |f373| auch nicht den Geist der christlichen Religion so zum Grunde haben, als die bürgerliche Verbindung und Wohlfart. Es ist übrigens ein noch gar schlechter Christ, der um des Namens Gottes und Christi willen sich nicht den Spott gefallen läßt, der sogleich vom Anfange dieser neuen Religion her noch mehr statt fand, als thätige Verfolgung durch Obrigkeiten. Aber desto sonderbarer ist auch die Anmaßung, daß ein jeder Christ aller der Aufklärung in Absicht der eigenen Religion, unterworfen oder ausgesezt sein müsse, welche irgend ein Naturalist ihm als ganz notwendig zuerkennen will. Es hatten sich daher die Christen in besondre öffentliche Religionsgeselschaften begeben: damit sie nicht täglich neuen Lehrmeistern unterworfen sein wolten. Und nun wird es allerdings eine Aufgabe, ob in eine jede Religionsgeselschaft allen Critikern oder Zweiflern täglich der freie Eingang darin offen stehe,
weil Critiker, Spötter, Zweifler ihre Menschenrechte hiemit auszuüben vermeinen? Oeffentliche Religionsverfassungen, in so fern sie in Verträgen und gemeinschaftlichen Einrichtungen bestehet, die der Landesherr sanciret hat: müsten durchaus nicht beliebi|f374|gem Spotte öffentlich Preis gegeben werden. Die Mitglieder solcher christlichen Religionsgeselschaft verlieren sonst geradehin ihre öffentliche Religionsfreiheit, sogar durch die Herolde der Rechte der Menschheit und der Vernunft, wenn sie ihre öffentliche Religionsübung so öffentlich verspotten lassen müssen; und der Staat selbst müste es wissen, daß die bürgerlichen Folgen hievon viel nachtheiliger und gefärlicher sind, als der neue Ertrag je für baaren moralischen Profit gerechnet werden kan, wenn nun manche Bürger und Landleute einige lustige Einfälle und leichtsinnige Grundsäze für die alte christliche Gesinnung einwechseln. Eben so solte niemand die öffentliche Religionsordnung, die sich auf eine große Menge beziehet, darum für überflüßig und unnötig erklären, weil er selbst zu seiner Privatreligion jene öffentliche Anstalten nicht nötig hat. Dies lezte ist ohnehin nur wahr, wenn die öffentlichen Religionsdiener ihr öffentliches Amt sehr schlecht verrichten, und sich des Unterschieds ihrer Zuhörer zu wenig bewust sind. Es ist aber auch das erste nicht wahr, daß ein jeder guter Bürger darum die öffentliche Religionsordnung überhaupt verächtlich machen helfen |f375| möge, weil sie ihm keinen besondern Nuzen für seine Privatreligion mehr gewäre. Jede Geselschaft ist nicht vornemlich da, um des Privatvortheils einzelner Glieder willen; sonst würde sie bald wieder zerrissen werden: sie müssen alle etwas sich entziehen oder beitragen, um die ganze ungleiche Geselschaft zu erhalten. Und alle öffentliche Geselschaften, die unter dem Schuz des Staates da stehen, weil sie zum größern Besten des Staats noch immer gehören können: müssen noch viel mehr öffentliche und gemeinschaftliche Hochachtung durchaus behalten, bei allen patriotischen guten Bürgern des Staats. Nun können freilich aufmerksame Zeitgenossen und Mitbürger ihre besondern Gedanken und Einsichten auch an andre mittheilen: aber ohne schon so abzusprechen, daß eine wirkliche Trennung oder Zerrüttung der Religionsgeselschaft die nächste Folge sein kan; weil hiedurch dem Staat selbst ein größeres Nachtheil zuwachsen mag, als je der Vortheil für den Staat gros und gewis wird, wenn einige Bürger und |f376| Landleute anfangen, sich auf
Vielwissen etwas einzubilden und andere neben sich, auch wol die politischen Ordnungen zu verachten; wenigstens mus der Staat hierüber zunächst urtheilen, und nun Zeit suchen für die neue Wisbegierde, die doch der Verbesserung seiner Profession oder seiner Wirtschaft immer zugewendet werden solte. Es ist eine sehr unfreundliche Anmaßung, wenn man schon voraussezt, daß durch die öffentlichen Lehrer der christlichen Gottesverehrung gar nichts zur Aufklärung und Besserung der Christen, also auch zur Festigkeit des Staats, geschehe, oder gethan werden könne; daß daher der ganze Grund und Boden aller christlichen Religion umgerissen werden müsse. Alle verständige Christen gestehen es ein, daß von Zeit zu Zeit viel Mängel sich in die christliche so wol öffentliche als Privatreligion eingeschlichen haben; das ist aber das gemeine unvermeidliche Schicksal aller Beschäftigungen der Menschen, und die Mängel entstunden und entstehen allemal durch die Menschen selbst, |f377| welches durch noch so viel Neuerungen nicht geändert werden kann. Der allererste Anfang der christlichen Religion bestund in relativer Aufklärung, wider die Vorurtheile und Mängel des Judentums.
Erleuchtung, ein neues Licht, ein heller Schein, in dem eigenen Gemüt der Christen, neue Erkentnis war ihr eigener Vorzug;
sie solten selbst prüfen, δοκιμαζειν,
nachdenken, λογιζεσθαι, über die neuen Begriffe von besserer würdigerer Verehrung Gottes, die sie selbst nur nach eignen Vermögen leisten sollen; sie solten
immer selbst wachsen in der Gnade und Erkentnis Christi ; der solte durch ihren eigenen Glauben, durch ihre freie Ueberzeugung, in ihrem Herzen wonen; sie solten selbst Christum moralisch anziehen –– kurz, die fähigern Christen solten alle ihre Seelenkräfte dazu anwenden,
aus dem Stande der Kindheit fortzurücken, und ein vollkommener Mann zu werden, und durch den Geist Gottes immer mehr moralische Belehrung und Offenbarung in sich zu sammlen. Aufklärung eines jeden Christen, |f378| zu immer willigerer, reinerer Verehrung Gottes, war die allernächste und immer erste, fortgehende Absicht der neuen Religion. Diese freie moralische Bewegung des Verstandes und Willens der Christen, war aber nicht gleich gros in allen Christen, sondern behielte das Maas, das jedem Subjekt gehörte;
nicht aller Acker gab denselben Saamen dreißig, sechszig, hundertfältig wieder. Kein Lehrer konte dem Subjekto ein so großes Maas geben, als andere schon hatten; und zu welchem Endzwek hätte denn dieses geschehen mögen, da der stete Unterschied aller Menschen von allen andern durchaus stehen bleiben mus? Unter den Christen soll also die angefangene Aufklärung ihrer selbst immer fort gehen; aber zunächst zu ihrem moralischen Privatvortheil. Alle Verbindungen oder Verträge, die zu einer öffentlichen Geselschaft gehören, sezen diese ungleiche Privatreligion schon voraus. In der öffentlichen Religionsform wird nur eine äußerliche Einheit und Gleichheit eingefüret; wir müsten schon eine päbstliche Dumm|f379|heit und Sklaverei unter uns begünstigen, wenn wir behaupten, diese äußerliche Gleichförmigkeit, worin eine große Menge eine nur kurze Zeit da und da vereiniget wird, seie das Wesen der christlichen Verehrung Gottes. Wenn nun der stete innere und äußere Unterschied der Menschen, also auch der Christen, immer da ist; und mancherlei Mängel sich in der öffentlichen Religionsform von Zeit zu Zeit finden können: so ist eine immer wachsende christliche Erkentnis ganz gewis immer zugleich da, in einigen Christen; in allen aber kan sie nie als eben so stark wachsend und fortgehend angenommen werden. Nun haben aber fähigere Christen ihren innern Vorzug nicht dazu anzuwenden, daß sie immer die öffentliche Religionsform verändern wolten, als welche gerade die vielen ungleichen Christen auf eine gewisse Zeit als äusserlich vereiniget darstellen soll. Diese äusserliche Vereinigung der immer ungleichen Christen soll den übrigen steten Unterschied und die ganz unmoralische Ungleichheit der Christen nicht |f380| aufheben; also wird der fähigere Christ hiedurch nicht gehindert in seiner innern eigenen Religion; (denn wir haben kein Pabsttum behalten;) und die vielen unfähigern Geselschafter behalten zunächst die äußerliche Religionsform als das Mittel, die ihnen selbst fehlende Erkenntnis nach und nach auszubessern, durch den öffentlichen Unterricht, und durch gute Beispiele. Wenn nun die öffentlichen Lehrer in der jezigen Anwendung der Bibel, oder in unfruchtbarem Gebrauche einer Kirchensprache so fehlen, daß sie nicht auf den immer daseienden Unterschied der Theilnemer an der öffentlichen Religionsform aufmerksam bleiben: so sind sie Schuld an den jezigen daseienden Mängeln, welche der gemeinschaftlichen äusserlichen Religionsordnung von Zeit zu Zeit zu wachsen, daß die innere eigene Verehrung Gottes bei dem großen Haufen gar verkant und vergessen wird. Aber eben diese eigene innere christliche Verehrung Gottes wolten die Protestanten durch eine neue äusserliche Religionsform aufs allergewisseste wider jene |f381| todte schlechte Kirchenordnung beschüzen, und dazu haben die christlichen Lehrer eine Lehrvorschrift bekommen, damit ja nicht jüdische, päbstliche, pfaffische Grundsäze von Hinlänglichkeit oder Unentberlichkeit einer einzigen Kirchenordnung zur christlichen Seligkeit aller Christen, sich wieder unter ihnen einschleichen könten, die selbst eine Beherrschung der Regenten nach und nach wieder erleichterten.
Protestanten sezen das jus circa sacra publica oder multis communia, ausdrüklich über den ganzen Lehrstand, und hiemit ist die Freiheit des Gewissens entschieden, bei aller Vorschrift über geselschaftliche, öffentliche, gemeinschaftliche Religionshandlungen. Diese Geselschaft mag von jeder Vorschrift so oder so eingerichtet werden; sie betrift, als Vorschrift, nie die Privatreligion, weder der Lehrer, noch der fähigern Christen. Wenn nun Naturalisten wirklich gar keine Absichten haben, öffentliche Neuerungen und Reformationen der Christen, ohne und wider die christlichen
Editorische Korrektur von: christichen (digital)
Religionsformen, zu befördern: so ist nicht |f382| abzusehen, warum sie unter den Christen eine Aufklärung betreiben wolten, da sie selbst keine Christen sein wollen, und wir weder als Christen noch als Bürger irgend eine Ursache haben, Naturalisten zu werden. Wir Christen wollen den patriotischen Schlußreim ernstlicher wiederholen, den Luther zu Ende des Katechismus gesezt hat:
Ein jeder lern und thu sein Lection,So wird es wohl in jedem Hause stohn!
|f[383]|
Drukfehler.
Seite 272 Zeile 5 von unten
statt ἐνσαρκος lies: ἐνσπαρτος.
Liebhaber oder Theilnemer
Semler verwendet diese im 18. Jh. nicht unübliche Wendung mehrfach. Er scheint hier eine unterschiedliche Intensität der Verbundenheit zum Christentum abbilden zu wollen. Interessanterweise kennt die niederländische reformierte Kirche schon im 17. Jh. eine ähnliche Einteilung in Liebhaber (nl. liefhebbers), die zwar zur Kirche gehen, aber ein loses Verhältnis dazu pflegen, und den Mitgliedern (nl. lidmaten), die sich unter die strenge Kirchenzucht stellen und zum Abendmahl zugelassen sind.
braminische
Vgl.
.
natürliche Religion
Vgl.
.
ob sie 2 oder 3mal an Sontagen und Festtagen sich versammeln will
Bis ins 18. Jh. hinein war es durchaus üblich, mehrmals am Sonntag zur Kirche zu gehen. Es gehört zu den vielfältigen Reformen im Protestantismus um 1800, diese Nebengottesdienste (etwa Metten, Frühpredigten und Nachmittagsgottesdienste) weitgehend abzuschaffen. In Preußen wurde 1773 die Anzahl der Feiertage reduziert, darunter auch die dritten Feiertage christlicher Hochfeste.
Priester und Leviten
Vgl. Joh 1,19. Leviten, benannt nach dem Stammvater Levi (Gen 29,34), erfüllen neben dem Priester (oder Rabbiner) bestimmte Funktionen in der Synagoge, vor allem bei der Thora-Lesung.
der allererste Grundsaz der neuen christlichen Religion, daß ein und derselbe Gott aller Menschen und Völker Herr und Vater sey
Anspielung auf z.B. Röm 3,29f.; vgl. aber schon Ps 67 oder Jer 32,27.
nach dem Maße ihrer Erkenntnis vom Guten und Bösen
Vgl. Gen 3,22.
Hellen
D.i. Grieche.
Skythe
Angehöriger eines antiken Nomadenvolks, das nördlich des Schwarzen Meers beheimatet war. Der Ausdruck „Skythen“ wurde in der Antike häufig verallgemeinernd auf alle nichtgriechischen Völker Osteuropas und des Kaukasus angewandt.
alle Nationen haben eben so wenig schon einen moralischen Vorzug, als Mann und Frau, Herr und Knecht
Anspielung auf Gal 3,28 und Kol 3,18.
daß schon Tertullian [...] und nach ihm andere christliche Lehrer, von einer dritten Nation reden
Quintus Septimius Florens Tertullianus (ca. 150–ca. 225) wird häufig als eigentlicher Begründer der christlichen Theologie im lateinischen Sprachraum betrachtet. Semlers Zuschreibung ist irreführend: In seinem Werk Ad Nationes I,8 diskutiert Tertullian zwar die zu seiner Zeit offenbar verbreitete (und abschätzig gemeinte) Vorstellung, die Christen seien eine „dritte Nation“ (genus tertium), weist sie jedoch scharf zurück. Die Trichotomie von Griechen (Heiden), Juden und Christen setzte sich aber des ungeachtet durch, s. etwa Eusebius und seine Praeparatio evangelica (vgl.
).
elenden Schriftstellern
Vermutlich benutzt Semler das Adjektiv „elend“ hier nicht, um eine Wertung auszudrücken, sondern gemäß seiner ursprünglichen Bedeutung „fremd, nicht dazugehörig“. Gemeint sein dürften also heidnische Kritiker der Missstände im antiken Christentum wie Celsus (vgl.
), Porphyrius (233–301) oder Julian (vgl.
).
den lauten Klagen eines Cyprians
Cyprian (ca. 200–258), Bischof von Karthago, Märtyrer und bedeutender lateinischer Autor der frühen Kirche. Semler dürfte sich vor allem auf die Schrift Über die Gefallenen (De lapsis) beziehen, in der Cyprian nicht nur den Abfall vieler Christen während der Verfolgung unter Kaiser Decius (ca. 200/249–251) beklagt, sondern auch Missstände unter den Bischöfen.
Eusebius
Vgl.
. In seiner Kirchengeschichte berichtet Eusebius nicht nur von zahlreichen christlichen Märtyrern unter Diokletian (vgl.
) und Galerius (ca. 250/305–311), sondern auch von Feigheit unter den Amtsträgern (8. Buch, 2f.).
Verfolgung unter dem Diokletian
Der römische Kaiser Aurelius Diokletian (284–305) verfügte weitreichende Maßnahmen gegen Christen. Sie gelten als Höchst- und Endpunkt der Christenverfolgungen in der Antike.
Hieronymus
Hieronymus (347–420), Kirchenvater, Asket, Verfasser der Vulgata, galt als ein scharfer Kritiker des römischen Klerus. 385 hielt er es für ratsam, Rom auf immer zu verlassen. Vgl. seine kaum verbrämte Kritik an den römischen Zuständen im Brief an Heliodorus (epist. 14).
alle Privat-Religion durch eine Vorschrift [...] abzuschaffen. Es gibt kein bürgerliches Gebot und Verbot über die eigene Grösse und Anwendung des Verstandes und Urtheils; weil es keine menschliche Gewalt [...] einschränken könnte
Hier klingt eine der Kernideen aus John Lockes A Letter concerning Toleration (1689; 7f.) an: „The care of souls cannot belong to the Civil Magistrate, because his Power consists only in outward force; but true and saving Religion consists in the inward perswasion of the Mind, without which nothing can be acceptable to God. And such is the nature of the Understanding, that it cannot be compell’d to the belief of any thing by outward force. Confiscation of Estate, Imprisonment, Torments, nothing of that nature can have any such Efficacy as to make Men change the inward Judgement that they have framed of things. [...] It is only Light and Evidence that can work a change in Mens Opinions.“ Vgl.
.
Es giebt hie und da sehr nützliche Verzeichnisse öffentlicher Missethäter
Daten zur Kriminalstatistik lagen der Öffentlichkeit Ende des 18. Jh.s nur spärlich und regional begrenzt vor. Vgl. aber C.G.M. [Christian Gottlieb May], Geschichtliches Verzeichniß aller öffentlichen Lebensbestrafungen, welche in der oberlausitzischen Sechs Stadt Zittau, an unterschiednen Missethätern, seit Anfange der Stadt, bis auf gegenwärtige Zeiten, sind vollzogen worden (1774); eine Statistik der Nürnberger Exekutionen vom 15. Jh. bis ins Jahr 1781 liefert: Georg Andreas Will, Nürnbergische Criminal-Parallele, mit Bemerkungen und einem Anhang von allen Statuten, Historischdiplomatisches Magazin für das Vaterland und angrenzende Gegenden 2, 2. St. (1782), 218–266.
der Christ [...] gleichsam aus Gott geboren ist
Anspielung auf Joh 1,13; 1Joh 3,9 u.a.
in dem so genannten alten Testament
Es nicht klar, ob Semler hier mittels des Ausdrucks „so genannten“ eine Distanzierung vornehmen will (vgl. auch unten „so genannte Propheten“). Zu Semlers Auffassung, die (meisten) Bücher des Alten Testaments seien nicht als Quelle von Heilswahrheiten anzusehen, vgl. b91 , d114 . Nicht nur hier (s. weiterer Text) nimmt Semler von diesem Verdikt vor allem die Psalmen und manche der Propheten aus, vgl. z.B. Versuch einer freiern theologischen Lehrart (1777), 92.
hatten auch griechische Juden schon vielerley griechische moralische Aufsätze unter ihren Bekannten ausgetheilet
Anspielung auf das hellenistische Judentum, vgl.
(Philo); s. auch f119 .
Pharisäer, Essäer und Sadducäer
Gemeint sind führende Religionsparteien des antiken Judentums, wie sie etwa Flavius Josephus (37/8–nach 100) in seinem Bellum Judaicum (75–79) und rabbinische Quellen nennen. „Pharisäer“ (hebr. Peruschim „Abgesonderte“) wurde im 18. Jh. teils von hebr. Parasch („auslegen“) hergeleitet; man verstand darunter eine Schule von Schriftgelehrten. Essener (Essäer) lebten abgeschieden in klosterähnlicher asketischer Gemeinschaft, weshalb heutzutage die Gemeinschaft von Qumran zu dieser Partei gerechnet wird. Sadduzäer (wahrscheinlich benannt nach Sadok, dem Priester Davids) formten eine Priestergruppe, die den dynastischen Anspruch erhob, den Hohepriester von Jerusalem zu stellen. Nach der Tempelzerstörung (70) verblasste der Einfluss dieser Gruppen, die mit Ausnahme der Essener auch im Neuen Testament vorkommen, wo sie durchweg negativ konnotiert sind. Vgl. zu zeitgenössischen Deutungen Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 281–295.
ehedem noch ein Mysterium
Semler nimmt in der (Heils-)Geschichte unterschiedliche Offenbarungsstufen im Sinne einer Akkommodationslehre (vgl.
) an.
vielerley Engeln und Geistern
Semler spielt hier auf die rabbinische Dämonologie an, nach der der Erzengel Michael über die Juden wache, die übrigen Menschen jedoch unter dem Joch der Engel und Dämonen stünden. Vgl. dazu ausführlich Semler, Versuch einer freiern theologischen Lehrart (1777), 326–330.
LXX
Die griechische Übersetzung des hebräischen Alten Testaments, die um die Zeitenwende im griechischsprachigen Ägypten entstand, wird als Septuaginta („Siebzig“) bezeichnet, weil der Überlieferung nach siebzig Übersetzer daran gearbeitet haben, die wortgleich zur selben Übersetzung gekommen sein sollen. Kritisch dazu Semler, Versuch einer neuen Aufgabe des Erdichters der Geschichte von Siebzig in ihren Uebersetzungen des Alten Testaments aufs genaueste miteinander harmonirenden Dolmetschern, Magazin für das Kirchenrecht[,] die Kirchen- und Gelehrten-Geschichte nebst Beiträgen zur Menschenkenntniß überhaupt 1 (1787), 385–396.
Goim
Hebr. גוים bezeichnet alle Nicht-Juden.
Rabbinen
Gemeint sind die Rabbinen (hebr. „Lehrer“), die als Sammelbezeichnung für jüdische Autoren religiöser Schriften nach der Zerstörung des Tempels (70) benutzt werden, etwa für die Verfasser von Mischna, Tosefta, Talmud und Midrasch. Vgl. auch Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 301–305.
Dieser folglich blos historische Glaube
Siehe z.B. auch Semler, Vorbereitung auf die Königlich Großbritannische Aufgabe von der Gottheit Christi (1787), „Ueberaus gern komme ich immer auf den Unterschied der moralischen und der historischen Religion; ich kann das Wesentliche der christlichen Religion, das allen Christen unentbehrlich ist zu ihrer christlichen Wohlfahrt und Seligkeit, sonst nicht gehörig unterscheiden, von dem was seiner Natur nach unwesentlich, zufällig, unfruchtbar, und also eigentlich unchristlich, ungeistlich [...] ist.“ Vgl. ferner die ganz ähnliche Unterscheidung von „historischem“ und „moralischem Glauben“, die Kant wenig später in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft (1793) vornimmt, AA 6, v.a. 102–124.
(μετανοειν, πιστευειν.)
„Den Sinn ändern“; „glauben“; vgl. f218 .
hieß ein Bund, den Gott mit dem Patriarchen Abraham schon gemacht, und nachher durch den Moses [...] bestätiget habe
Vgl. Gen 15,18; 17,7 und Ex 19,5.
bessern Bunde
Anspielung auf Jer 31,31–34; vgl. auch Hebr 8,6.
alle Heiden, alle Völker Gott loben und preisen, und ein reines Opfer bringen
Anspielung auf Ps 117,1; Mal 1,11; vgl. auch Röm 11,25.
Diese Prophezeiungen [...] reden zuweilen [...] von einem besondern Knecht oder Diener Gottes, von einem rechten König, oder Gesalbten Gottes, Messias
Anspielung auf die Gottesknechtslieder (Jes 42; 49; 50 u. 52f.); auf den „rechten König“ (Sach 9,9 u. Jes 9,1–6); auf den „Gesalbten Gottes“ (Jes 11,1–16).
Nachricht, daß dieses nun erfüllet seie, oder eintreffe an diesem Jesus als Christus
Anspielung auf die typologische Deutung der alttestamentlichen Weissagungen im Christentum, etwa in Hebr 8,5.
alexandrinischen Juden
Das ägyptische Alexandria war der Mittelpunkt des hellenistischen Judentums, es beheimatete etwa Philo(n) von Alexandrien (vgl.
) und die Übersetzer der Septuaginta (vgl.
).
moralischen Kindern, Unmündigen, oder fleischlichen, sehr unfähigen, sinnlichen Christen
Anspielung auf 1Kor 3,1; vgl. z.B. Röm 8,5–9.
die starke Speise
Anspielung auf 1Kor 3,2 und Hebr 5,12–14.
tausendjähriges Reich auf Erden
In Offb 20,1–7 ist davon die Rede, dass vom Tode auferstandene Märtyrer sowie wahrhaft Gläubige zusammen „mit Christus“ eine tausendjährige Regierung auf Erden errichten. Erst anschließend komme es zum Jüngsten Gericht am Rest der Menschheit. Solche millenaristischen Vorstellungen erfreuten sich im frühen Christentum großer Beliebtheit und waren im 18. Jh. etwa bei Quäkern oder radikalen Pietisten verbreitet.
Apocrypha, oder ihres Inhalts wegen geheim gehaltenen Bücher
Gemeint sind alle frühjüdischen und frühchristlichen Texte, die nicht im Alten oder Neuen Testament kanonisiert (vgl.
) wurden. Vgl. auch Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I (1771), 10.
wie denn aus der Apostelgeschichte und dem Briefe Pauli an die Christen in Galatien schon die grose erste Theilung ersehen wird
Gemeint ist der Konflikt zwischen sog. Juden- und Heidenchristen, der u.a. auf dem Apostelkonzil in Jerusalem (ca. 48 n. Chr.) ausgetragen wurde, vgl. Apg 15,1–29; Gal 2,1–21.
Verbrüderung der Bischöfe
Gemeint sind etwa die Kanonisierungsbemühungen auf der Synode von Karthago (397). Vgl. Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I (1771), 14: „daß daher 4) einige Bischöfe sich wegen des Canons eben nun vereiniget haben; daß 5) namentlich die africanische catholische Parthey sich mit der römischen Kirche ausdrücklich verabredet und vereiniget hat, nur so und so viel Bücher als canonische zum Vorlesen gelten zu lassen“.
unter dem Namen Canon
Ab dem 2. Jh. wurden erste Versuche unternommen, die unterschiedlichen Überlieferungen verbindlich zusammenzustellen. Um 200 taucht auch der Begriff „novum testamentum“ für diesen Kanon (gr. „Richtschnur“) heiliger Schriften auf. Vgl. dazu auch Semlers Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I (1771), 110–113[!] statt 129.
Es wurden [...] allerley Evangelia, Geschichten und Briefe der Apostel, Offenbarungen (Prophezeiungen) [...] untersagt
Gemeint sind etwa das Thomas- und Petrusevangelium, die Andreas- und Johannesakten, der Barnabasbrief oder die Petrusapokalypse und Hirte des Hermas. Die ausführlichste Liste solcher Schriften bietet ein wohl späterer Zusatz zum Decretum Gelasianum (382).
13 oder 14 Briefe Pauli, 7 oder 4 Briefe anderer Apostel
Das Corpus Paulinum umfasst traditionell 13 Briefe, die Alte Kirche zählte noch häufig Hebr dazu. Während die Synode von Karthago (397) sieben weitere Briefe: 1/2Petr, 1–3Joh, Jud und Jak als kanonisch ansah, qualifizierte Luther viele dieser Schriften als deuterokanonisch (vgl.
). Unterschiedliche historische Beispiele der Kanonisierung bietet Semler, Abhandlung von freier Untersuchung des Canon I (1771), 9–15.
Wesen der christlichen Religion, die innere heilige Wirksamkeit zur täglichen Besserung und Vollkommenheit der einzelnen Christen
Hier klingen zwei für das Denken der Aufklärung charakteristische Ideen an: 1) Vervollkommnungsfähigkeit (Perfektibilität) als zentrales Merkmal der Natur des Menschen; vgl. dazu etwa Spaldings Bestimmung des Menschen (1748) und Jean-Jacques Rousseaus (1712–1778) Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes (1755); 2) Identifikation des Wesens religiöser Praxis mit dem Streben nach Moralität, beispielhaft ausgeführt in Kants Religionsschrift (vgl.
), vorweggenommen im Werk der meisten Neologen, freilich – im Gegensatz zu Kant – unter Betonung des irreduzibel christlichen Charakters moralischer Religion. Vgl. auch
.
schon Justinus [...] bis auf den Augustinus, glaubten, diese LXX enthielten durch Inspiration
Justin der Märtyrer (ca. 100–165) beruft sich zwar in seinem Dialog mit dem Juden Tryphon wiederholt auf die Septuaginta (LXX; vgl.
) als einer verlässlichen Übersetzung des hebräischen Texts, die unzweifelhaft auf Christus vorausdeute, behauptet aber nicht, sie sei göttlich inspiriert o.Ä. In der Ersten Apologie, 31, liefert Justin zudem eine von der Legende des Aristeasbriefs abweichende Erklärung der Entstehung der Septuaginta, die ohne Rekurs auf übernatürliche Vorgänge auskommt. Anders Augustinus (vgl.
), der sich im Gottesstaat (De Civitate Dei), 18,42, besagter Legende anschließt und u.a. von „göttlicher Übereinstimmung“ und „nicht-menschlichen, göttlichen Schriften“ spricht; vgl. auch De doctrina christiana, 2,15. Zum Entstehungsmythos der Septuaginta äußert sich Semler ausführlich in: Versuch einer neuen Aufgabe (vgl.
).
Daher sich unter den Christen eben diese Meinung [...] ausbreitete
Vgl. a21 , b104 .
Schoos Abrahams
Abrahams Schoß (vgl. Lk 16,23) gilt im Judentum als Ort der Seligkeit oder aber als ruhevoller Ort, wo die Verstorbenen das Kommen des Messias erwarten.
in jener Parabel; ein Acker trägt 10–20, ein andrer 60 fältig
Anspielung auf das Gleichnis vom Sämann (auch „Gleichnis vom vierfachen Ackerfeld“) und Jesu Deutung desselben; vgl. Mt 13,3–9.18–23; Mk 4,3–20; Lk 8,4–8.11–15 .
die Erkenntnis und Verehrung Gottes im Geist und in der Wahrheit
Anspielung auf Joh 4,24.
unter dem Namen der allein wahren Kirche
Anspielung auf das Cyprian v. Karthago (3. Jh.) zugeschriebene Diktum extra ecclesiam nulla salus („außerhalb der Kirche kein Heil“), das katholischerseits häufig in Abgrenzung zum Protestantismus bemüht wurde.
daß er Gott unter den Juden verklären, verherrlichen wolle und solle
Das Motiv des Verherrlichens (δοξάζειν) Gottvaters durch Jesus findet sich im Johannesevangelium, vgl. etwa Joh 17. Luther übersetzt „verkleren“.
Christus hatte sich [...] von allen Königen und Fürsten [...] gar sehr unterschieden
Vgl. etwa Mk 12,17 oder Joh 18,36.
der machte es seinen Schülern zur Pflicht, alles selbst für sich zu prüfen
Anspielung auf 1Thess 5,21; vgl.
.
für falschen Propheten sich zu hüten [...] hie ist Christus, da ist Christus
Anspielung auf Mt 24,23f.; vgl. auch Mt 7,15; Mk 13,22f.; 1Joh 4,1.
so liessen die Apostel alle bürgerliche Obrigkeit, alle äusserliche Ordnung stehen
Vgl. etwa Röm 13,1–7.
einander alle als Brüder ältere oder jüngere lieben können
Anspielung auf das biblische Gebot der Brüderliebe; s. etwa 1Joh 3, wo u.a. auch Kains Mord an seinem „jüngeren“ Bruder angesprochen wird (1Joh 3,12); vgl. außerdem Joh 13,34; Jak 2,8.
Diese eigene Religionsübung kann an ihrer Stelle kein Bischof oder Priester, oder Religionsbedienter vornemen
Siehe auch Semler, Versuch einer neuen Aufgabe (vgl.
), 394: „der kindische Begrif von Priestern, welche zwischen Gott und Menschen die steten unumgänglichen Mittler wären, [ist] ganz und gar durch Christum und durch die Apostel, zumal durch den Brief an die Hebräer, aufgehoben worden“.
der alte jüdische Irtum
Vermutlich Anspielung auf die Apologie der Confessio Augustana, Art. 13: „Das ist aber stracks ein jüdischer Irrtum, so sie halten, daß wir sollten durch ein Werk und äußerliche Zeremonie gerecht und heilig werden ohne Glauben“ (BSLK 295).
muste auch Petrus endlich lernen und einsehen
Anspielung auf Apg 10,34f.
sogar zum Kirchengesez gemacht hat
Anspielung auf die Häretikerverfolgung durch die Inquisition, vgl.
.
das Gesez, das Gott ebenfals gleichsam selbst in ihre Herzen schreibt, wie ehedem in Moses Tafeln
Anspielung auf 2Kor 3,3; vgl. auch Jer 31,33; Röm 2,15; Hebr 8,10 („ins Herz geschriebenes Gesetz“) und Ex 31,18 („Moses Tafeln“).
das jüdische kleinere Gesez erfüllet
Anspielung auf Mt 5,17–20.
der falsche Begriff der Juden von einem Sohn Gottes
Gemeint ist die Vorstellung vom Sohn Gottes oder Messias als einem politischen Befreier oder Heilsbringer (vgl. oben f36 .54 ).
eine andere vollkommnere Beschneidung
Anspielung auf die „Beschneidung des Herzens“ in der christlichen Taufe (Röm 2,29 und Kol 2,11; vgl. auch Jer 4,4).
Verehrung Gottes im Geist und Wahrheit
Anspielung auf Joh 4,24.
Tempel in Samaria
Semler erwähnt den Tempel aufgrund des biblischen Kontexts der von ihm zitierten Phrase aus Joh 4,24 (Gespräch mit der Samariterin, vgl. v.a. 4,20). – Vermutlich Ende des 6. vorchristlichen Jh.s kam es zu einer Art innerisraelitischem Schisma zwischen Juden und Samaritanern. Letztere errichteten Mitte des 5. Jh.s auf dem Berg Garizim (Westjordanland) einen Tempel, der bis zu seiner Zerstörung durch den jüdischen Hasmonäerkönig Johannes Hyrkanos I. (164/34–104) im Jahre 111 v. Chr. bestand.
Opfer und äusserliche Reinigung
Gemeint sind hier vor allem die im Alten Testament genannten Tieropfer und rituellen Waschungen.
Anwendung des ganzen Gemüts und aller Seelenkräfte des Menschen
Anspielung auf Mt 22,37; Mk 12,33; Lk 10,27.
eine Nachahmung der ehemaligen politischen römischen Regierung
Semler insinuiert hier eine Kontinuität zwischen dem antiken römischen Reich und der römischen Papstkirche.
Wenn Paulus sich über jene Spaltung zu Corinth so deutlich heraus läßt
Anspielung auf 1Kor 3,3.
Anhänger des Petrus, des Apollos
Anspielung auf 1Kor 3,4.
Arbeiter an demselben neuen Anbau
Im Neuen Testament häufig benutzte Metapher für die Anhänger Jesu und Verkünder des Evangeliums, vgl. Mt 9,37f., Lk 10,2; 2Tim 2,15, s. auch die Parabel von den Arbeitern im Weinberg (Mt 20,1–16).
Christus, als Eckstein
Anspielung auf Eph 2,20; vgl. auch Ps 118,22; Mt 21,42; Apg 4,11; 1Petr 2,7.
Geist und Wahrheit
Vgl. Joh 4,23f.
Concilien
Gemeint sind die seit der frühen Kirche abgehaltenen Versammlungen (lat. concilia; gr. σύνοδοι) der Bischöfe, auf denen versucht wurde, strittige Punkte zu klären und Lösungen allgemeinverbindlich festzulegen.
Professionisten
Menschen, die einen Beruf ausüben, eine Profession betreiben; insbesondere Handwerksleute.
beweisen alle diese Kirchenlehren
Semler bezieht sich im Folgenden auf den Gegensatz zwischen dem protestantischen sola scriptura-Prinzip und der katholischen Auffassung, wie sie klassischerweise in Melchior Canos (1509–1560) De locis theologicis (postum 1563) formuliert wurde, wonach neben der Bibel auch Tradition und Lehramt unverzichtbare Quellen theologischer Erkenntnis sind.
wie schon Augustinus zu seiner Zeit ehrlich sagte und doch selbst zu noch mehr Unterdrückung half
Semler spielt auf eine Spannung im Werk (und Leben) Augustinus’ an. Auf der einen Seite beruft sich Augustinus verschiedentlich auf das Gleichnis vom Unkraut unter dem Weizen (Mt 13,24–30), betont, dass die Kirche aus einer Mischung aus beidem bestehe, und fordert zur Toleranz auf, vgl. etwa seine 73. Predigt, 4 (PL 38, 472): „Sowohl unter den Spitzen der Kirche ist Weizen und Unkraut, als auch im Volk ist Weizen und Unkraut. Lasst die Guten die Schlechten tolerieren; lasst die Schlechten sich ändern und die Guten nachahmen.“ Auf der anderen Seite kämpfte Augustinus aber nicht nur mit harten Bandagen gegen Juden und Manichäer, sondern auch gegen innerkirchliche Gegner wie die Donatisten und Pelagianer (vgl.
und
). Etwa ab dem Jahre 407 interpretierte er das Gleichnis vom großen Gastmahl, Lk 14,23 (Nötige sie hereinzukommen; „Compelle intrare“), im Sinne einer Rechtfertigung von Gewalt gegen tatsächliche oder vermeintliche Häretiker, vgl. Brief 185 (De correctione Donatistarum liber unus), 10f.: „Falls sie [die Donatisten] denken, dass niemand im Gebrauch von Gewalt gerechtfertigt sein kann [...]. Es gibt eine ungerechte Verfolgung der Kirche Christi durch die Gottlosen, und eine gerechte Verfolgung der Gottlosen durch die Kirche Christi. Letztere ist daher gesegnet, wenn sie um der Gerechtigkeit willen leidet; doch jene sind nichtswürdig, wenn sie um der Ungerechtigkeit willen leiden. Außerdem verfolgt die Kirche aus Liebe, sie hingegen aus Grausamkeit.“ Siehe ähnlich auch Brief 93.
der alte Geist der Furcht und Knechtschaft
Anspielung auf 2Tim 1,7 („Geist der Furcht“) und Röm 8,15 („Geist der Knechtschaft“).
durch einen so gar zweideutigen Papst, als durch einen Vicarium
Die Päpste verstanden sich seit dem 13. Jh. als vicarius („Stellvertreter“) Christi, was Semler klassisch durch die Anspielung auf das Schisma in der lateinischen Christenheit (1378–1417), währenddessen es mehrere Päpste in Rom und in Avignon gleichzeitig gab, als nichtigen Anspruch entlarvt.
Anathema
In Anlehnung an Gal 1,8f. (ἀνάθεμα ἔστω) benutzten seit der Synode von Elvira (52) kirchliche Lehrentscheidungen diese Bannformel zum Ausschluss (Exkommunikation) aus der Kirche.
allein durch den eigenen Glauben hat der Mensch seine christliche Seligkeit
Semler rekurriert auf das reformatorische sola fide-Prinzip, für das es Vorläufer bei Kirchenvätern und -lehrern gibt: Der Mensch ist vor Gott allein gerechtfertigt durch den Glauben, nicht durch Werke (vgl. Gal 2,16; Röm 3,28).
Es ist jezt die Rede nicht davon, ob diese Christen wirklich hiezu verbunden gewesen sind
Hintergrund dieser Bemerkung ist der Streit um die Frage, ob es supererogatorische Akte gibt, d.h. gute Handlungen, die über das moralisch Gebotene hinausgehen. Thomas von Aquin (z.B. Summa Theologiae I-II, q.108, a.4) unterschied, wie vor ihm andere Theologen, zwischen moralisch verbindlichen Geboten (praescripta) und bloßen Ratschlägen (consilia), deren Befolgung für die ewige Seligkeit zwar nicht notwendig, aber förderlich sei. Viele römisch-katholische Autoren nahmen entsprechend an, dass ein weltliches Leben mit Familie und Besitz zwar moralisch nicht beanstandet werden könne, einem mönchischen Leben in Armut, Keuschheit und Gehorsam aber gleichwohl nicht an Wert gleichkomme. Eine solche Konzeption ließ auch Raum für die Ansicht, große Nachteile oder gar den Tod für den Glauben auf sich zu nehmen, sei unter bestimmten Umständen zwar ein supererogatorischer oder heiliger Akt, aber keine moralische Pflicht. Dieser Auffassung wurde von den Reformatoren heftig widersprochen, für sie ist der Begriff einer supererogatorischen Handlung in sich widersprüchlich. In der Erläuterung zu seiner 58. Ablassthese schreibt Luther: „Jeder Heilige ist verpflichtet, Gott so sehr zu lieben, wie er kann, ja mehr, als er kann, doch niemand hat das je geleistet, noch konnte er es je leisten. [...] Die Heiligen tun in ihren vollkommensten Werken durch Tod, Martyrium, Leiden nicht mehr als verlangt ist. Tatsächlich tun sie [nur], was sie verbunden sind zu tun, und kaum das“ (Resolutiones disputationem de indulgentiarum virtute [1518], WA 1, 606 [Übers. Hgg.]).
und die Entberlichkeit eines Concilium [...] dargethan
Bereits in der Vorrede zu den Schmalkaldische[n] Artikel[n] (vgl.
) verwirft Luther die Notwendigkeit eines Konzils.
Gerson in der Schrift de auferibilitate papae
Semlers Bezugnahme auf Jean Gersons (vgl.
) Schrift De auferibilitate papae ab ecclesia (1409) ist rätselhaft, denn in ihr streitet Gerson gerade entschieden für die Unentbehrlichkeit von Konzilien. Dabei richtet er sich nicht nur gegen einen Provinzialismus, gemäß dem jeder Bischof sein eigener Papst sei (consideratio 8), sowie gegen die Auffassung von der Unabsetzbarkeit und unumschränkten Macht des Papstes (considerationes 10–12), sondern auch gegen einen u.a. von Ockham (ca. 1285–1347) ins Spiel gebrachten religiösen Individualismus, gemäß dem prinzipiell denkbar sei, dass der wahren Kirche nur eine einzige Person angehört (consideratio 7). Ein solcher Individualismus mache das sakramentale christliche Leben unmöglich. Umso merkwürdiger erscheint es, dass Semler Gerson hier zum Gewährsmann seiner Konzeption von Privatreligion machen will. – Vgl. allerdings auch Versuch eines fruchtbaren Auszugs der Kirchengeschichte III (1778), 192: Semler referiert dort die Ansicht, bestimmte altkirchliche Autoren von Tertullian bis Gerson „setz[t]en die Schrift über den Pabst und über ein algemeines Concilium“. Für diesen Prioritätenstreit wäre allerdings nicht das von Semler angegebene Werk einschlägig, sondern De sensu litterali Sacrae Scripturae (1413/14).
Die papistischen Gelerten rechneten auch jene apocryphischen Bücher
Vgl.
.
wie im Colloquio zu Regensburg [...] das Hündlein (Tobiae) wedelte mit dem Schwanze
Vgl.
.
nur ex traditione oder per auctoritatem ecclesiae ihre Gewisheit [...] hätten
Die katholische Kirche erkennt neben der Bibel auch andere theologische Erkenntniswege wie die Lehrtradition an; vgl.
.
Photinianer
Benannt nach Bischof Photin von Sirmium (gest. 376), dessen Lehre zu Lebzeiten mehrfach als häretisch verurteilt wurde. Photinianer betonen die Einpersönlichkeit Gottes und lehnen deshalb sowohl die göttliche Fleischwerdung in Christus als auch eine Präexistenz Christi ab.
Kirchen-Polizey
„Polizey“ von gr. πολιτεία meint hier noch nicht die „Ordnungsinstanz“, sondern in der älteren Bedeutung des Wortes die „Verfasstheit“ und „Ordnung“ der Kirche; vgl. auch f146f.
Teufel, als bisherigen Herrn der heidnischen Welt Κοσμοκρατωρ, oder sonst auf kleinere jüdische Begriffe
Der Ausdruck „κοσμοκράτωρ“ (Weltenherrscher) kommt im Neuen Testament einmal (im Plural) vor, Eph 6,12: „Denn wir haben nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Mächtigen und Gewaltigen, mit den Herren der Welt [πρὸς τοὺς κοσμοκράτορας], die über diese Finsternis herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel.“ Parallelen zu gnostischen Vorstellungen (vgl.
) sind augenfällig: Sowohl Anhänger des Valentinus (ca. 100–160) als auch des Markion (ca. 85–160) bezeichneten den Teufel (Demiurgen, das böse Prinzip) als Kosmokrator. – Zu Semlers Auffassung von Teufeln, Dämonen, vgl.
,
; zu (bösen) Geistern und Engeln im Judentum vgl. f24 .36 .46 .244 .
Umgekehrt mus es eine öffentliche gemeinschaftliche Religionsform geben, so bald eine große Menge schon eine besondere Gesellschaft ausmacht
Vgl. dazu
.
Inquisition
Im frühen 13. Jh. entwickelte die Papstkirche das Inquisitionsverfahren als neue Prozessform, bei der keine Anklagepartei (Akkusationsverfahren) nötig war, sondern das Gericht von Amts wegen (ex officio) eine „Befragung“ (lat. inquisitio) einleiten konnte. Ursprünglich zur Verfolgung innerkirchlicher Missstände gegründet, entwickelte sich die Inquisition im Verlauf des Spätmittelalters schnell zum Instrument gegen Häretiker, deren persönliche Glaubensüberzeugungen überprüft und deren Verstöße gegen die Rechtgläubigkeit geahndet wurden.
haben schon alle verständige Heiden ehrlich geleugnet, [...] selbst ein Julian
Zu Kaiser Julian vgl.
. Obwohl er ein entschiedener Gegner des Christentums war, gewährte Julian allen Religionen im römischen Reich Toleranz und (weitgehend) gleiche Rechte. Er ließ sogar unter seinem arianischen Vorgänger Constantius II. (317/353–361) ins Exil verbannte Häretiker wieder zurückholen – wenn auch wohl in der Hoffnung, damit innerchristlichen Zwist zu säen.
so wenig er alle Menschen in einerley oder gar unveränderlichen Zustand und Verhältnis ihres Menschenlebens gesezt hat, welches schon die physische Beschaffenheit und stete Veränderlichkeit des Erdbodens unmöglich macht
Semler referiert hier und im Folgenden so etwas wie den kleinsten gemeinsamen Nenner der zeitgenössischen Klima- und Rassetheorien, wie sie von Montesquieu (1689–1755), Carl von Linné (1707–1778), Kant, Christoph Meiners (1747–1810) oder Johann Friedrich Blumenbach (1752–1840) vertreten wurden. Anders als die meisten der genannten Autoren (Ausnahme: Blumenbach) stellt Semler jedoch nirgendwo eine intellektuelle oder charakterliche Rangliste von Völkern oder Menschenrassen auf – auch wenn er im Folgenden konstatiert, dass manche Völker „wol [...] besser als ihr Juden bisher, sind“. Vgl. auch f123f. , f130 und
(moralische Geographie).
auf dem Menschen sich nach Gottes Ordnung und Willen, immer mehr ausbreiten sollen
Anspielung auf Gen 1,28.
Aus der Unterwerfung an Römer und an andre heidnische Oberherrn [...] wird euch ein Sohn Gottes gewis nicht erlösen
Vgl. z.B. oben f74 .
sein Vater, den ihr den Hochgelobten immer nent
Anspielung auf Ps 18,4; 35,27. Vgl. auch Mk 14,61f. („Da fragte ihn der Hohepriester abermals und sprach zu ihm: Bist du der Christus, der Sohn des Hochgelobten? Jesus aber sprach: Ich bin’s“).
gelerte Juden haben [...] aus griechischen [...] Schriftstellern [...] ihre moralische Erkenntnis erweitert
Anspielung auf das hellenistische Judentum, vgl.
(Philo);
.
Wenn ihr auch gar sagt, die Heiden haben es aber aus unsern Büchern ehedem entwendet
Vgl. etwa den jüdischen Geschichtsschreiber Flavius Josephus, Contra Apion, 281–286, der behauptet, griechische Philosophen und Stadtväter hätten die Juden in ihrer Treue zum Gesetz, Ansicht über Gott, Lehre von einfacher Lebensweise und sozialer Gemeinschaft, Einhaltung eines wöchentlichen Ruhetags u.v.w.m. nachgeahmt; vgl. auch 168; 257. Semler hatte Auszüge der Schrift übersetzt und kommentiert (Samlung von Erleuterungsschriften und Zusätzen zur algemeinen Welthistorie. Fünfter Theil [1761], Anhang 59–84).
der keinesweges ein König und Monarch der Juden auf Erden seyn solte
Absage an einen politischen Messias; vgl. Joh 18,36.
wo der Sohn Gottes ja ohnehin schon immer gewesen ist
Anspielung auf die Lehre von der Präexistenz Christi (vgl.
).
Reich der Finsternis oder des Teufels [...], als eure Rabbinen, spät genug es erdacht haben
Für Semler ist erst im alexandrinischen Judentum (vgl.
) etwa durch die Übersetzung der Septuaginta (vgl.
) eine Lehre des Teufels und seiner Macht über die Menschen ins Alte Testament eingedrungen. Vgl. Semler, Abfertigung der neuen Geister und alten Irtümer (1760), 212. Er hofft, man möge erkennen, „daß ich mit gutem Gewissen mehr nicht auf die griechische Uebersetzung und diese apocryphischen Bücher jetzt bauen kan, da die Rede ist von einem wirklich biblischen Grunde und Beweise der gemeinen Meinungen von der leiblichen Gewalt des Teufels, und von Zaubereien.“
Religionsbotmäßigkeit
D.i. religiöse Gerichtsbarkeit oder Herrschaft.
ein ungeschriebenes, in dem Gewissen der Menschen bekantes Gesez
Anspielung auf Röm 2,14f., wo Paulus seinerseits auf die etwa bei Aristoteles (384–324 v. Chr.; rhet. 1368b 7–9) oder Philo (vgl.
; decal. 1) zu findende Vorstellung eines ungeschriebenen Gesetzes (ἄγραφος νόμος; ius naturale) zurückgreift.
Opfer
Anspielung auf Hebr 9.
Hohenpriester in dem allerhöchsten Verstande
Anspielung auf Hebr 7.
eine ganz andre Beschneidung
Vgl. Röm 2,29 und Kol 2,11.
Osterlam
Gemeint ist das Pessachlamm, das an den Auszug der Israeliten aus Ägypten erinnern soll (Ex 12). Durch die johanneische Identifikation von Christus als dem „Lamm Gottes“ (Joh 1,29.36, vgl. auch Jes 52,13ff.) und der überlieferten Kreuzigung und Auferstehung Christi in einer Pessachwoche kommt es zu der Gleichsetzung des jüdischen Pessachfestes mit dem christlichen Ostern; vgl. dazu auch den Eintrag „Oster-Fest, oder Ostern der Jüden“ in: Zedler, Universal-Lexicon 25 (1749), 2269–2276.
Der Geist Gottes wird zeugen, wie es Luther übersezt
Luther übersetzt μαρτυρήσει in Joh 15,26 mit „zeugen“.
euch immer mehr lehren, unterweisen, versicherte Christus selbst
Anspielung auf Joh 14,26.
daß die natürlichen Seelenkräfte der Menschen schon von vorneher, oder von ihrer localen Anwendung eine so ungleiche Stimmung haben
Vgl. f118 .
Im N. T. wird sie wirklich als eine fortgehende moralische Familie, von den andern Menschen unterschieden, die immer Κοσμος heissen, weil diese vornemlich sich nur mit der sinnlichen, sichtbaren Welt beschäftigen
Der Ausdruck „κόσμος“ bezeichnet im Neuen Testament nicht nur das physische Universum, sondern – analog zur Verwendung des Ausdrucks „Welt“ im Deutschen – auch die Gemeinschaft der menschlichen Bewohner der Erde. „κόσμος“ wird dabei, wie Semler hier feststellt, häufig verwendet, um den moralischen Gegensatz zwischen Anhängern Jesu und (dem Rest) der „Welt“ zu betonen, vgl. z.B. Joh 1,10 (hier beide Verwendungsweisen von „κόσμος“ [!]); 7,7; 1Kor 1,21; 11,32; 2Petr 2,20; 1Joh 3,1.
woher eben ehedem viele so gar die von Kezern ertheilte Taufe nicht für gültig hielten
In der antiken Kirche war die Frage, ob von Häretikern vollzogene Taufen Gültigkeit haben, umstritten. Sowohl Tertullian (vgl.
), de bapt. 15, als auch Cyprian (vgl.
), z.B. ep. 69,11, verneinten dies entschieden, während die Synode von Arles (314) und Augustinus (vgl.
;
), z.B. ep. 93,46, in Auseinandersetzung mit den Donatisten die gegenteilige Ansicht vertraten. Die Auffassung, dass der rechte Ritus und die rechte Absicht über die Gültigkeit einer Taufe entscheiden, nicht jedoch die Rechtgläubigkeit des Spenders, setzte sich schließlich durch, wurde von mehreren Konzilien bestätigt und in der Neuzeit ausschließlich von den Taufgesinnten (vgl.
) in Frage gestellt.
und sagen, daß dieses nur ein orientalischer Sprachgebrauch sei, oder ein Ueberbleibsel aus der Kindheit der moralischen Welt
Während Semler selbst durchaus eine Akkommodationslehre vertritt (vgl.
), führt er hier die Aporien einer solchen Lehre bei den Naturalisten vor, wenn diese jede Religion nur als historische und letztlich nicht notwendige Überformung der eigentlichen natürlichen Religion ansehen. – Zur Idee einer moralischen Kindheit in der Menschheitsentwicklung vgl. Lessing, Die Erziehung des Menschengeschlechts (1777/80), v.a. § 16.
petitio principii
Im nachklassischen Latein bedeutet der Ausdruck in etwa „Postulieren des Beweisgrundes“; gemeint ist damit eine Argumentationsfigur, bei der das, was eigentlich zur Debatte steht, vom Sprecher bereits (in trivialer Weise) vorausgesetzt wird, z.B.: „Das Universum hat einen Anfang, weil alles einen Anfang hat“; hier: „Natürliche Religion ist dem Christentum vorzuziehen, da Letzteres gegen die Natur des Menschen verstößt“. – Der Ausdruck „petitio principii“ geht vermutlich auf eine mittelalterliche Übersetzung von Phrasen aus den logischen Schriften (Organon) des Aristoteles zurück, vgl. Aristot. an. pr. 64b 29: Τὸ δ᾿ ἐν ἀρχῇ αἰτεῖσθαι καὶ λαμβάνειν („den ursprünglichen Punkt zu fordern oder vorauszusetzen“) und soph. el. 166b 25.
Die moralische Welt ist ganz gewis nicht weniger in sehr ungleiche Climata, oder unabänderliche Einflüsse schon getheilt, als die Lage der Erdkugel
Vgl.
(moralische Geographie) und
.
da der Ertrag der moralischen Welt eben so unendlich ungleich seyn kann
Vgl.
.
Proselytenmachen
Als „Proselyten“ (gr. Προσήλυτοι, „Hinzugekommene“) bezeichnete man ursprünglich Anhänger des Judentums aus anderen Völkern (Apg 2,11). Der Ausdruck „Proselytenmachen“ steht für das häufig negativ bewertete Abwerben von Gläubigen aus anderen Religionen.
die sogenannte einzige wahre Kirche [...] ja gar eine ewige Seligkeit hiemit zu assecuriren
Vgl. z.B. die von Papst Eugen IV. (1383/1431–1447) auf dem Konzil von Florenz 1442 erlassene Bulle Cantate Domino: „Sie [die Kirche] glaubt fest, bekennt und verkündet, daß niemand, der sich außerhalb der katholischen Kirche befindet, nicht nur [keine] Heiden, sondern auch keine Juden oder Häretiker und Schismatiker des ewigen Lebens teilhaft werden können, sondern daß sie in das ewige Feuer wandern werden [...]. Und niemand kann, wenn er auch noch so viele Almosen gibt und für den Namen Christi sein Blut vergießt, gerettet werden, wenn er nicht im Schoß und in der Einheit der katholischen Kirche bleibt“ (DH 1351); vgl. auch
.
Es ist aber eine unendliche Aufgabe, worin das gröste Wohlergehen aller so verschiednen Menschen, bürgerlich und moralisch bestehe
Das Bild einer für den menschlichen Geist unerschöpflichen „unendlichen moralischen Welt“ taucht seit Beginn der 1780er Jahre immer wieder in Semlers Schriften auf. Vgl. als ein Beispiel unter vielen: „Wenn aber der Sohn Gottes kein weltlicher König ist, sondern in viel grösserm Begriff, Gott, Urheber und Herr der unendlichen moralischen Welt; wenn er die innere moralische Wohlfahrt und Seligkeit offenbaren, schaffen und an seinem Beispiel kenntlich machen sollte: so war eine allereinzige, eine unveränderliche Summe und Stuffe der Erkenntniß, welche nun die immer ungleichen Menschen aus seiner Lehre und Historie sammlen sollten, nicht möglich“ (Vorbereitung auf die Königlich Grossbritannische Aufgabe von der Gottheit Christi, 1787, 34); vgl. auch f130 .203 .
sollen alle Menschen Gott lieben von ganzen Herzen
Anspielung auf Dtn 6,5; Mt 22,37; Mk 12,30; Lk 10,27.
Mennonit
Benannt nach Menno Simons (1496–1561), zunächst Priester, nach dem Fall des Münsteraner Täuferreichs (1535) führender Ältester der niederländischen Täufer (vgl.
) und Autor einflussreicher täuferischer Schriften (Fundamentbuch, 1539). Schon früh avancierte Menno zum Namensgeber für unterschiedliche Sammlungsbewegungen friedfertiger Täufer und deshalb auch insgesamt zum Synonym für die Nachfahren kleinerer radikalreformatorischer Gruppierungen.
Die Augspurgische Confession heißt auch anfänglich eine Apologie und Schuzschrift
Die CA (vgl.
) war zunächst als kursächsische Schutzschrift geplant, wandelte sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts aber immer stärker zu einer Bekenntnisschrift.
zürchischen Partei
Gemeint sind die Anhänger von Zwingli (vgl.
).
Priester- und Pfaffenbetrug
Die Auffassung, die Entstehung und/oder Gestalt positiver Religionen gehe auf einen „Priesterbetrug“ zurück, ist antiken Ursprungs und findet sich schon bei dem Sophisten Kritias (ca. 460 v. Chr.–403 v. Chr.), DK B25. Im 18. Jh. war die Theorie vor allem unter radikalen Aufklärern in Frankreich populär. Siehe exemplarisch den von Baron d’Holbach (1723–1789) verfassten Encyclopédie-Artikel „Prêtres“ [Priester], Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers 13 (1765), 340f. In zuvor unerreichter Breite wurde die Betrugstheorie in Bezug auf Juden- und Christentum von Reimarus verfochten – freilich nur in Auszügen („Fragmenten“) postum und anonym publiziert (vgl.
). Bahrdt verarbeitete das Thema literarisch in seinen Ideenromanen Geschichte des Prinzen Yhakanpol (1790) und Ala Lama (1790; s.
).
bis nachher der öffentliche Religionsfriede auch auf die Reformirten im teutschen Reiche erstrekt worden
Gemeint ist die Duldung der Anhänger der CA im Augsburger Religionsfrieden (1555), der dann 1648 offiziell auch auf die Reformierten ausgeweitet wurde.
daher schon Spener über solchen Misbrauch der symbolischen Bücher ernstlich geklagt hat
Spener (vgl.
) äußerte sich dazu mehrmals, vgl. seine unpaginierte Vorrede zu Balthasar Köpke, Sapientia Dei in mysterio crucis Christi abscondita I (1700), § 29, sowie Spener, Auffrichtige Ubereinstimmung mit der Augsp. Confession (1695), 67.
die sich selbst berichten können, wie Luther redet
Das Verb „berichten“ wird bei Luther (auch) mit der Bedeutung „das Abendmahl reichen/mit einem Sakrament versehen“ verwendet; vgl. z.B. Vom mißbrauch der Messen (1521), WA 8, 514f.: „Do man aber fur das brechen und außteylen der sacrament selbst behalden und genommen hatt und den diener priester geheyssen, do ist das opffer erfunden wurden, auff das der heylige priester auff dem alltar ettwas tzu thun hette und nicht müssig stünde. Wenn aber yemandt sich selbst berichten wollt, ßo nehm erß doch nicht alleyn, sunder breche es und gebe den andern auch, das er doch etwas thu, das dem exempel unnd der eynsatzung Christi gemeß sey.“ Vgl. auch Zedler, Universal-Lexicon, Supp.-Bd. 3 (1752), 827.
wenn sie ihre moralische Wohlfart nicht als eine physische Folge [...] ansehen sollen
Vgl.
.
Pauli Vorschrift, der [...] fordert; διδακτικος soll der Lehrer seyn
Anspielung auf 1Tim 3,2; siehe auch 2Tim 2,24; διδακτικός, „geschickt im Lehren“.
Die Christen würden zu todten Maschinen gemacht
Das Bild des „maschinenmäßigen Christen“ könnte Semler aus Predigten von Spalding (1765; SpKA II/1, 278) oder Herder (1768; Sämtliche Werke 31 [1889], 120) entlehnt haben. Vgl. auch Gottlieb Wilhelm Rabener (1714–1771), Satiren IV (1755), 105: „maschinenmäßige Andacht“.
jus publicum sacrorum communium
Gemeint ist der auf Religionsgemeinschaften bezogene Teil des öffentlichen Rechts.
sanciret
Vom lateinischen sancire; wörtlich „heiligen“, im übertragenen Sinne: „etwas unverbrüchlich festsetzen“, vgl. auch f292 .
auf das Kanzelholz schmäleten
Der aus dem Deutschen so gut wie verschwundene Ausdruck „auf etwas schmälen“ bedeutet „über etwas schimpfen, etwas herabsetzen“. Vermutlich will Semler hier sagen, dass die protestantischen „Dissidenten“ die wichtige Funktion der Predigt leugneten. Ein literarisches Vorbild hierfür konnte nicht ermittelt werden.
Beichtstul und Höllenpful zusammenreimeten
Der Ausspruch „Beichtstuhl, Satansstuhl, Höllenpfuhl [auch: Feuerpfuhl]“ wird dem pietistischen Berliner Pfarrer Johann Caspar Schade (1666–1698) zugeschrieben, der sich weigerte, nach der Ohrenbeichte routinemäßige Absolution zu erteilen, s. Spener (vgl.
), Theologische Bedencken II (1701), 144. Der sog. Berliner Beichtstuhlstreit endete schließlich mit der Freigabe des Abendmahlsbesuchs auch ohne vorherige Einzelabsolution.
ein armes Wortspiel mit Bibel, Bubel, Babel aufbrachten etc.
Der Reformator Johannes Agricola (1494–1566) schreibt die Alliteration „Bibel, Bubel, Babel“ Thomas Müntzer (vgl.
) zu: „Er verachtete und verlachte auch spötlich alle so sich der heyligen schrift annahmen und trösteten/ und sagte/ Wen man sich auff die Bibel berieff. Was Biebel/ bubel/ Babel Man mus auff ein Winckel krichen und mit Gott reden“ (Die Episteln durchs gantz Jar. Mit kurtzen summarien, 1544, Bl. P). – In Müntzers erweitertem deutschen „Prager Manifest“ von 1521 heißt es jedoch lediglich: „Ich becrefftige unde schwere bey dem lebendigen Goth: wer do nicht horeth auß dem munde Gots das rechte lebendige worth Gots, was bibel und Babe[l], ist nicht anders denn ein todt ding. Aber Gots wort, das durch hertz, hyen [Hirn], haut, haer, gebein, marck, safft, macht, krafft durchdringet, dorff woll anders herdraben dan unser nerrisschen, hodenseckysschen [sic!] doctores tallen.“ (Thomas Müntzers Schriften und Briefe, [1968], 501) – Vermutlich handelt es sich bei „Bibel, Bubel, Babel“ um eine gegen Müntzer gerichtete Verballhornung Luthers, die dann von Agricola zunächst in seiner Auslegu[n]g des XIX Psalm (1525) übernommen und schließlich Müntzer selbst als Zitat zugeschrieben wurde, s. Luther, Eyn brieff an die Fürsten zu Sachsen von dem auffrurischen geyst (1524), WA 15, 211: „‚Gottes stym (sagen sie [die Aufrührer]) mustu selbst hören und Gottes werck ynn dyr leyden und fülen wie schweer deyn pfund ist, Es ist nichts mit der schrifft, Ja Bibel Bubel Babel‘ etc.“. – Im 18. Jh. wurde der Ausspruch häufig auch mit den Anhängern Andreas Karlstadts (vgl.
) und der Täuferbewegung (vgl.
) assoziiert; vgl. z.B. Barthold Nicolaus Krohn, Geschichte der Fanatischen und Enthusiastischen Wiedertäufer (1758), 227.
geradehin stinkend gemacht
Möglicherweise Anspielung auf Luthers Sendbrief an den Papst Leo X. (1520), WA 7, 7: „Adeh, liebs Rom. stinck furt an, was da stinckt, und bleyb unreyn fur und fur, was unreyn ist.“
die Rede von gesellschaftlichen Rechten und Verträgen, wohin alle Gedanken oder Grillen von Naturstande, von Menschenrechten, von kosmopolitischen Anstalten gar nicht gehören
Theoretiker des Gesellschaftsvertrags wie Hobbes, Locke, Rousseau oder Kant teilen bei allen Unterschieden in etwa folgendes Bild: Die Menschheit befand sich unmittelbar nach ihrer Entstehung in einem vorrechtlichen Naturzustand, der geprägt war von großer Freiheit, aber auch großer Unsicherheit. Nach Hobbes (Leviathan, 1651, Kap. 14) besaß in diesem Zustand jeder „ein Recht auf alles, selbst auf den Körper eines anderen“. Andererseits hatten Menschen immer schon (oder erwarben jedenfalls im Laufe ihrer Geschichte) ein objektives Interesse daran, Freiheit für Sicherheit sowie die Aussicht auf arbeitsteilige Kooperation einzutauschen. Dieser Umstand lässt sich mit der Idee eines (fiktiven) Gesellschaftsvertrags ausdrücken, in dem Bürger natürliche Rechte auf einen Souverän übertragen, der ihnen im Gegenzug Schutz und Rechtssicherheit garantiert. Sowohl für Hobbes als auch für Rousseau ergibt sich aus dem Gesellschaftsvertrag das Recht besagten Souveräns, im Sinne der Staatsräson eine einheitliche öffentliche Gottesverehrung (Hobbes, Leviathan, Kap. 31) bzw. ein einheitliches „bürgerliches Glaubensbekenntnis“ (Rousseau, Contrat Social, 1762, 4. Buch, Kap. 8) vorzuschreiben; vgl. auch f109 –114 . – Semler will hier betonen, dass, insofern die „öffentliche Religionsordnung“ oder die „gemeinschaftliche Theilnemung an feierlichen äusserlichen Handlungen“ (s.u.) betroffen ist, die Berufung auf den „Naturzustand“ fehlgeht, da der Naturzustand ja eben gerade im Zuge der Vergesellschaftung verlassen wurde – und zwar aus völlig vernünftigen Gründen (vgl. f369 ). Ähnliches gilt für die Rede von natürlichen „Menschenrechten“, die (nach Zustandekommen des Gesellschaftsvertrags) dort ihre Grenze haben, wo das Funktionieren des Gemeinwesens in Frage steht; vgl. auch f184 .368 .375 . „Kosmopolitische Anstalten“ oder „Grillen“ (d.i. wunderliche Einfälle/fixe Ideen), wie man sie etwa bei Kant (z.B. Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht [1784], AA 8, 15–31) findet, sind für Semler schließlich solange irrelevant, wie es sich um bloße „Anstalten“ handelt und die Diskutanten mit nationalen Rechtsgemeinschaften zu tun haben. Zu Semlers Skepsis bezüglich universalreligiöser Bestrebungen vgl. z.B. b[VII] ; f6 –9 .
Luther hat im 2ten Theil der schmalkaldischen Artikel
Der vierte Artikel im zweiten Teil der Schmalkaldische[n] Artikel (vgl.
) spricht dem Papst die Vormachtstellung über alle Christen ab und nennt ihn „verum Antichristum“ (BSLK 430).
Geist und Kraft
Anspielung auf 1Kor 2,4.
so scheint es [...], daß kein Christ selig werden könne, ohne durch die Lehrer und Bediente der öffentlichen Religion; und daß notwendig alle andre Menschen, die nicht Christen heissen, aller Seligkeit entberen
Vgl.
und
.
wenn gleich dieser Ausdruck [...] gar oft im teutschen N.T. vorkommt, wie das hebräische Wort
Es handelt sich im Neuen Testament keineswegs nur um Ableitungen von σωτήρια. Teller vermerkt dazu in seinem Wörterbuch (1785, BdN IX), 426: „Im Grundtext sind es verschiedene Wörter, für die Luther allezeit ohne Unterschied diese Wörter und Redarten braucht.“ Nur die wenigsten Fälle leiten sich von hebr. גאל („erlösen“) ab.
Dein Glaube hat dir geholfen, oder hat dich wieder gerettet aus deiner Krankheit
Anspielung etwa auf Mt 9,22; Lk 8,48.
Er wird sein Volk selig machen von ihren Sünden
Mt 1,21 (vgl. Wortlaut der Luther-Übersetzung von 1545 im Gegensatz zu späteren Modernisierungen).
zur Strafe der Sünden ihrer Väter
Anspielung auf Ex 20,5.
Es wird also in vielen Stellen des N.T. [...] die Seligkeit oder Erlösung der Heiden bejahet
Vgl. etwa Röm 11,11; Eph 2,16.
Gott [...] will also, daß allen Menschen (moralisch) geholfen werde; (daß sie selig werden, σωδηναι im Griechischen,) und also daß sie immer mehr selbst zur Erkentnis der Wahrheit kommen
Anspielung auf 1Tim 2,4. Die korrekte Form des griechischen Aorist Infinitiv Passiv zu σώζω („ich rette“) lautet σωθῆναι („gerettet werden“).
daß Christus dem, der bisher des Todes Gewalt hatte, [...] alle Macht genommen
Hebr 2,14.
daß er die bisherigen Werke und Geschäfte des Teufels zerstöret
Anspielung auf 1Joh 3,8.
Christus hat uns erlöset von aller vorigen Ungerechtigkeit
Tit 2,14.
oder von allem vorigen eitlen Wandel
1Petr 1,18.
von der unwürdigen Herrschaft der sinnlichen Begierden
Anders als beim Rest der langen Aufzählung handelt es sich um kein Zitat, vgl. aber Tit 3,3 oder Jak 1,14f.
er ist gestorben um unsrer Sünden willen
Röm 4,25.
Christus sagt: mein Blut wird vergossen zur Vergebung der Sünden proprie oder logice verstanden
Anspielung auf Mt 26,28; den Zusatz „proprie oder logice“ erklärt Semler in seiner Schrift Vorbereitung auf die Königlich Großbritannische Aufgabe (1787), 31, wie folgt: „Alle diese Beschreibungen [die von Christus als Sohne Gottes und von seiner Bestimmung u.a. als Opfer für die Sünden der Menschen reden] können, der Sache nach, an und für sich, zu gleicher Zeit in zweyerlei Sinne verstanden werden; proprie, physice, buchstäblich; und imroprie, logice, vergleichungsweise.“ S. auch f171 .342 .
wenn sie die Gnade und Wahrheit Gottes immer mehr erkennen
Anspielung auf Joh 1,14.
jene jüdische Meinung von den unreinen oder verworfenen Heiden [...] aus einigen Stellen der griechischen [...] LXX hergeleitet [...] der man unrichtig eine götliche Eingebung beigelegt hat
Vgl.
.
Es haben [...] die meisten Kirchenväter eine solche locale Theorie beibehalten, Christus habe die Menschen aus der physischen Gewalt des Teufels erlöset
Vgl.
(Lösegeld-Theorie). Semler diskutiert den tatsächlich oder vermeintlich lokalen Charakter dieser Theorie in vielen seiner Zusätze zu Hugh Farmer (1714–1787), Briefe an D. Worthington über die Dämonischen in den Evangelien (1783; orig. 1778), vgl. etwa Zusätze 25, 50 oder 91. Zu einer möglichen Anpassung (Akkommodation) der Kirchenväter an ihren damaligen Hörerkreis vgl. auch Semlers [A]scetische Vorlesungen (1772), 266f.
die ältere lateinische Uebersezung
Gemeint sind die als Vetus Latina zusammengefassten älteren lateinischen Übertragungen der Bibel, bevor sich die „allgemeine [Übersetzung]“ (Vulgata) des Hieronymus (vgl.
) aus dem späten 4. Jh. durchsetzte.
So hies es überhaupt: Christus ist für die Sünden gestorben, vor der Taufe
Die christliche Vorstellung, dass mit der Taufe alle bisherigen Sünden des Täuflings (bei Neugeborenen: die Erbsünde) „abgewaschen“ werden, hat ihren Ursprung in Apg 22,16; vgl. u.a. auch Apg 2,38, 1Petr 3,21. Sowohl Luther als auch das Konzil von Trient blieben der Auffassung der alten Kirche im Grundsatz treu, die Reformierten sahen in der Taufe hingegen eine bloß symbolische Handlung (vgl.
). – Viele Aufklärer hielten die Idee einer durch die Taufe bewirkten Sündenvergebung für moralisch anstößig. Laut Kant (Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, 1793, AA 6, 199) stellt die Auffassung, mit der Taufe ließen sich „alle Sünden auf einmal abwaschen“, gar einen „Wahn“ dar, vergleichbar einem „fast mehr als heidnischen Aberglauben“.
Die Seligkeit selbst wurde gar erst nach dem Tode der Christen angesetzt
Semler unterstellt hier eine präsentische Eschatologie, gemäß der sich das für das menschliche Heil entscheidende Geschehen im Hier und Jetzt vollzieht (im menschlichen Gewissen oder Glauben) und nicht, wie Vertreter einer futurischen Eschatologie annehmen, während eines endzeitlichen Jüngsten Gerichts o.Ä. Vgl. Luther in einer Predigt zu Joh 3,17 aus dem Jahre 1538, WA 47, 102f.: „Den wen wir die Wortt betrachteten: Wer do gleubet an mich, der darff das Jungste gerichte nicht furchten. Den das Gerichte ist auffgehoben, es gehet ihn so wenig an, als es die Engel angehet. [...] Ehr bedarf der Heiligen nicht zu Furbitter, furchtet sich auch nicht fur dem fegfeuer [...] Allhier werde ich nun, und wers sonst aus der weitten welt sein mochte, selig gemacht, wen ehr gleubet“ (Hervorh. d. Hgg.).
im Fegefeuer erst sich reinigen
Der Sache, wenn auch nicht dem Ausdruck nach, findet sich die Idee eines Fegefeuers (lat. purgatorium) bereits Anfang des 3. Jh.s bei Tertullian (vgl.
), de anima 58. Die Vorstellung vom Fegefeuer als einem Ort der Läuterung der Seele – im Unterschied zur Hölle als einem Ort ewiger Verdammnis – reagierte auf ein systematisches Problem: Wie kann ein Sünder, der sich zwar mit Gott versöhnt hat, jedoch die zu seiner Rechtfertigung, wie man glaubte, notwendige Buße zu Lebzeiten nicht erbringen konnte, zur Seligkeit gelangen? Dogmatisch festgeschrieben wurde die Lehre vom Fegefeuer in der Bulle „Benedictus Deus“ von Papst Benedikt XII. im Jahre 1336. Die Reformatoren lehnten die Lehre ab: Sie sei zum einen unbiblisch, zum anderen sei eine postmortale Buße für die Rechtfertigung vor Gott, die allein aus Glauben, und nicht aus Werken, geschehe, überflüssig. Vgl. z.B. Zwingli, De vera et falsa religione commentarius (1525), CR 90, 855–867; Luther, Widderruff vom Fegefeur (1530), WA 30.2, 367–390. Das Konzil von Trient bestätigte 1563 in seiner 25. und letzten Session die römisch-katholische Lehre vom Fegefeuer sowie die Wirksamkeit von Fürbitten, Messopfer und Ablass hinsichtlich der in ihm zu erleidenden zeitlichen Sündenstrafen (DH v.a. 983).
das Meßopfer [...] und lies viele Messen für die Seelen im Fegefeuer Jahr aus Jahr ein halten
Der Ausdruck „Messopfer“ ist eine andere Bezeichnung für die heilige Messe der römisch-katholischen Kirche. Die Eucharistie wird dabei als sakramentale Vergegenwärtigung und Darbringung des Opfers Christi verstanden. Die Vorstellung, das Los (reuiger) Verstorbener lasse sich durch das Lesen von Messen in günstiger Weise beeinflussen, ist fast so alt wie die Idee des Fegefeuers selbst; vgl. z.B. Augustinus, Enchiridion, 29; Papst Gregor der Große (ca. 540/590–604), Dialogi de vita et miraculis patrum Italicorum, IV, 55. Das Konzil von Trient bestätigte wie andere Konzile zuvor diese Auffassung, vgl.
(Fegefeuer).
In der orientalischen [...] Kirche
Vgl.
.
wenn gleich schon Flacius sein Corpus doctrinae N.T.
Fehlzuschreibung Semlers. Bei dem Corpus Doctrinae. Das ist/ Die ganze leer unsers Herren Jesu Christi/ unnd der Aposteln/ von allen und jeden Heuptartickeln der waaren Religion [...] (1562; lat. Σύνταγμα, seu Corpus doctrinae Christi, ex novo Testamento tantum, 1563) handelt es sich um ein Gemeinschaftswerk von Johann Wigand (1523–1587) und Matthaeus Judex (Matthias Richter; 1528–1564). Freilich weisen beide Autoren eine große persönliche Nähe zu Flacius (vgl.
) auf: Alle drei Theologen sind dem Kreis der sog. Gnesiolutheraner (vgl.
) zuzurechnen, wurden 1561 an der Universität Jena ihres Amtes enthoben und waren als Initiatoren bzw. Hauptverfasser maßgeblich an der Entstehung der Magdeburger Centurien (vgl.
) beteiligt. Offenbar nahm Semler (vgl. Lebensbeschreibung I, 1781, 281f.) an, dass auch das Corpus Doctrinae auf Flacius’ Anregung zurückging, doch dafür fehlt ein schlüssiger Beleg. – Bei Wigands und Judex’ Werk handelt es sich um den Versuch der systematischen Entfaltung klassischer Theologumena auf ausschließlich neutestamentlicher Grundlage. Bemerkenswert ist – und darauf spielt Semler hier an –, dass Belege aus Evangelien/Apostelgeschichte und Belege aus den Briefen nicht gemeinsam, sondern in jeweils eigenen Kapiteln in zwei voneinander getrennten Buchteilen abgehandelt werden.
proprie oder improprie, logice
Vgl.
.
wes Geistes Kinder sie seyn sollen
Anspielung auf Lk 9,55.
über eine Satisfaction, über Zurechnung der Gerechtigkeit [...] Christi
Vgl.
,
,
.
allein durch den Glauben
Anspielung auf die protestantische Sola-Lehre, darunter auch die Überzeugung, dass die Gläubigen nicht aufgrund ihres Verdienstes, sondern sola fide („allein durch den Glauben“) selig werden.
daß auch ein Tröpflein kleine die ganze Welt kann reine, ja gar aus Teufels Rachen frey los und ledig machen etc.
Anspielung auf Zeilen aus der 9. Strophe des evangelischen Kirchenlieds „Wo soll ich fliehen hin“ von Johann Heermann (1585–1647), die auch in Bachs Choral „Erforsche mich, Gott, und erfahre mein Herz“ (BWV 136) benutzt wurden. Dieses Lied ist unter der Nr. 279 auch im neuen neologisch beeinflussten Berliner Gesangbuch (1780) weiterhin vorhanden, wurde dort jedoch deutlich überarbeitet und um die Nennung des Teufels gereinigt (vgl.
).
Anabaptisten
Vgl.
.
Anhänger der schwenkfeldischen Schriften
Der schlesische Adelige Caspar Schwenkfeld von Ossig (1490–1561) war seit 1519 ein Anhänger von Luthers Reformation, der sich zunehmend radikalisierte. Aufgrund seiner spiritualistischen Ansichten, die er auch in vielen Schriften verbreitete, lebte er nach Stationen in Straßburg und Justingen in Ulm im Verborgenen. Seine zahlreiche Anhängerschaft in Süddeutschland verlor sich während des Dreißigjährigen Krieges. In Schlesien lassen sich Schwenkfelder hingegen bis ins 19. Jh. nachweisen, viele wanderten 1734 ins nordamerikanische Pennsylvanien aus. Vgl. dazu Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 1057–1062.
In England und Holland entstehen noch einzelne christliche Familien etc.
Semler benutzt den Begriff „Familie“ allgemein für kleine Gruppierungen (s.o. f29 ). Hier dürften jedoch konkret die Anhänger der Familia Caritatis (Hausgemeinschaft der Liebe) gemeint sein, die der Emdener Kaufmann Hendrik Niclaes (ca. 1500–ca. 1580) um 1540 stiftete und die besonders in den Niederlanden und England erfolgreich war. Die Familisten betonten die private häusliche Frömmigkeit, forderten den strikten Gehorsam unter das jesuanische Liebesgebot und lehnten konfessionelle Streitigkeiten um den äußeren Ritus ab. Um 1700 entwickelten ihre Schriften vor allem unter Pietisten eine neue Wirkmächtigkeit. Vgl. Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 903; 1065–1067.
gleich vom Anfange [...] die römischen Päbste die Protestanten für Kezer und Unchristen [...] sogleich erklärt haben
Semler spielt auf die Bannandrohungsbulle Exsurge Domine Papst Leos X. (1475/1513–1521) an. Sie stammt vom 15. Juni 1520. In ihr wurde Luther eine Frist von 60 Tagen zum Widerruf bestimmter Thesen gesetzt, andernfalls würden er und seine Anhänger als Häretiker verdammt und jeder, der sie aufnehme oder unterstütze, mit Exkommunikation belegt. In der Bulle Decet Romanum Pontificem vom 3. Januar 1521 wurde die Drohung vollzogen.
Luther den Zwingli einen Heiden gescholten
Das Marburger Religionsgespräch (1529) konnte die bestehenden dogmatischen Differenzen nicht beilegen, sondern war Ausgangspunkt zahlreicher Verdikte Luthers gegen Zwingli. Vgl. Luther, Kurzes Bekenntnis vom heiligen Sakrament (1544), Bl. B1: „Weil nu [...] Zwingel [...] gar zum Heiden worden ist“ (WA 54, 144).
die nachherigen lutherischen Theologen den Calvin, Beza erschrecklich verkezert
Theodor Beza (1519–1605) war Nachfolger des Genfer Reformators Calvin (vgl.
). Während die Konkordienformel (1577) gewisse innerlutherische Differenzen auszugleichen half, bestätigte sie die Abgrenzung zur reformierten Theologie, so etwa in der Lehre vom Abendmahl (Art. VII), von der Person Christi (Art. VIII) oder von der Prädestination (Art. XI). Vgl. auch die sächsischen Visitationsartikel im Zusammenhang mit dem Vorwurf des Kryptocalvinismus; Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1777), 830–833.
auch die Socinianer geradehin für Unchristen angesehen haben
Anhänger von Sozzini (vgl.
) und andere Rationalisten wurden mit dem Vorwurf des Sozinanismus belegt und häretisiert.
wie die ältern Reformirten die jüngern Arminianer verdammten
Der Leidener Theologieprofessor Jacobus Hermanszoon/Arminius (1560–1609) lehnte eine strikte Lehre der Prädestination ab, was sein Leidener Kollege und Gegenspieler Franciscus Gomarus (1563–1641) als häretisch brandmarkte. Die Parteinahme des Statthalters Moritz von Oranien (1567–1625) zugunsten der Gomaristen führte zu einer politischen Krise der jungen Republik der Vereinigten Niederlande, die in der Gefangennahme von Hugo Grotius (s.
) und der Hinrichtung von Ratspensionär Johan von Oldenbarnevelt (1547–1619) eskalierte. Während die Arminianer 1610 in der sog. Remonstranz (dt. Eingabe) ihre Lehre nochmals darlegten, konnten sich auf der Synode von Dordrecht (1618/19) die strikten Reformierten durchsetzen, was zu einem vorläufigen Verbot der arminianischen/remonstrantischen Prediger führte.
Zurechnung der Gerechtigkeit Christi
Vgl.
.
ich mus Gotte mehr in meinem Gewissen [...] gehorchen [...] als andern Menschen
Anspielung auf Apg 5,29.
moralische Gewisheit
Eine Aussage ist für eine Person P genau dann moralisch gewiss, wenn sie für P einen so hohen Grad an (epistemischer) Wahrscheinlichkeit aufweist, dass P gerechtfertigt ist, die Wahrheit der Aussage selbst bei moralisch-praktisch höchst folgenreichen Entscheidungen vorauszusetzen. Die Wahrheit einer solchen Aussage muss für P sehr wahrscheinlich, nicht jedoch logisch, mathematisch oder „absolut“ gewiss sein. Der Begriff (certitudo moralis) geht wohl auf Jean Gerson zurück (De consolatio theologiae, 1418, 4. Buch, 2. Prosa). Für den Naturforscher Robert Boyle (1627–1691) ist „moralische Gewissheit“ der Grad an Gewissheit, der einen Richter berechtigt, ein Todesurteil zu fällen (Some Considerations about the Reconcileableness of Reason and Religion, 1675, 95). Einer der wichtigsten Pioniere der modernen Wahrscheinlichkeitstheorie, Jacques Bernoulli (1655–1705; Ars conjectandi, postum 1713, Teil 4, Kap. 2, § 9), schlug vor, moralische Gewissheit numerisch zu beziffern, z.B. als eine mindestens 99%ige Gewissheit oder eine mindestens 99.9%ige. Vgl. auch die Verwendung des Ausdrucks bei Semlers Lehrer Georg Friedrich Meier, Auszug aus der Vernunftlehre (1752), § 175, und in Kants Kritik der reinen Vernunft (1781; 1787), A829/B857.
freie unendliche Kraft Gottes durch einige todte Worte hindern
Möglicherweise Anspielung auf 2Kor 3,6: „der uns auch tüchtig gemacht hat zu Dienern des neuen Bundes, nicht des Buchstabens, sondern des Geistes. Denn der Buchstabe tötet, aber der Geist macht lebendig.“
Lösegeld
Vgl. Mt 20,28; Mk 10,45; 1Tim 2,5f.
erkaufen
Vgl. Gal 3,13; 4,5 („Christus hat uns losgekauft“ etc.).
es habe Christus dem Teufel sich als ein Aequivalent für das Recht gegeben, das er bisher an den Menschen durch die Sünde gehabt hat
Die im Text beschriebene sog. Lösegeld-Theorie war, bis sie von Anselms in Cur Deus Homo entwickelter Satisfaktionslehre (vgl.
) abgelöst wurde, die dominierende Auffassung unter christlichen Theologen. Erstmals formulierte Origenes (vgl.
) sie in klarer Weise in seinem Matthäuskommentar (16, 8), vgl. auch Augustinus, de trinitate 13, 15.
in unserer Zeit hat die Historie der christlichen Lehrform ein grösseres Licht hinlänglich ausgebreitet
Semler spielt auf die sich im 18. Jh. zu einer eigenständigen theologischen Disziplin entwickelnde Dogmengeschichte an, wobei er an Autoren wie Gottfried Arnold (1666–1714), Christoph Matthäus Pfaff (1686–1760), Johann Lorenz von Mosheim (1693–1755), Siegmund Jacob Baumgarten (vgl.
) und nicht zuletzt auch an sich selbst denken dürfte. Gottlieb Jakob Planck (1751–1833) hatte 1781 mit der Herausgabe einer insgesamt sechsbändigen Dogmengeschichte des Protestantismus begonnen: Geschichte der Entstehung, der Veränderungen und der Bildung unseres protestantischen Lehrbegriffs vom Anfang der Reformation bis zu der Einführung der Konkordienformel (1781–1800).
selbst edle würdige Männer in der römischkatholischen Kirche diesen Misbrauch der öffentlichen Religion eingestehen
Semler spielt hier auf die breite Tradition der Klerikerkritik an, die schon im Mittelalter aus der innerkirchlichen Polemik zwischen unterschiedlichen religiösen Experten, etwa zwischen Weltklerikern und Mendikanten, resultierte. Einige dieser Kritiker hielten dann protestantischerseits Einzug in die protoreformatorische Ahnengalerie von ‚Wahrheitszeugen‘, so etwa in Flacius’ Catalogus testium veritatis (1556).
Kein Befel, keine Vorschrift kann [...] aufheben oder einschränken
Vgl.
.
von Christo und seiner Versönung, daß er ein Opfer, ein Hoherpriester ist für die Sünden der Menschen
Anspielung auf Hebr 7,9f.
Es sind wenigstens thörichte unglückliche Grundsäze, wenn eine äusserliche Gleichheit aller Zeitgenossen eingefürt werden wil
Semler mag hier an Bernard Mandevilles (1670–1733) viel diskutierte „Bienenfabel“ gedacht haben: The Fable of The Bees: or, Private Vices Publick Benefits (1714, erste Fassung 1705, mehrfach erweitert, 2. Buch 1729; dt. 1761 als Anti-Shaftesbury), die u.a. Rousseau und Adam Smith (1723–1790) beeinflusste. Mandeville gilt als Vordenker des Kapitalismus, ihm gelang das seltene Kunststück, gleichermaßen von Karl Marx und Friedrich August Hayek gepriesen zu werden. Laut Bienenfabel beruht das Gedeihen von Gesellschaften auf billiger Arbeitskraft, eine hinreichend große Anzahl an Armen ist entscheidend für den Wohlstand und zivilisatorischen Fortschritt einer Nation.
grössere Ehre Gottes [...] darf man nicht mehr vorwenden
Anspielung auf das Verbot (1773) des Jesuitenordens, dessen Wahlspruch „Ad maiorem Dei gloriam“ (Zur größeren Ehre Gottes) lautete.
die ganze Christenheit auf Erden, [...] hält in einem Sinn gar eben
Zitat aus Martin Luthers Kirchenlied „Wir glauben all an einen Gott“ (1524; Evangelisches Gesangbuch Nr. 183), 3. Strophe. Vgl. z.B. auch Röm 12,16.
Gott [...] von ganzem Herzen und allen Kräften lieben
Anspielung auf Dtn 6,5; Mt 22,37; Mk 12,30; Lk 10,27.
die jüdische Redensart, vom Zorn und Eifer Gottes
Vgl. z.B. Dtn 29,20.
Sehr gelehrte Väter, Scholastiker, bis auf den Calixtus, haben es bejahet
Zur Bestreitung eines notwendigen Zusammenhangs zwischen Erlösung (und Besserung) der Sünder und Menschwerdung Christi vgl.
. Auf welche Aussagen des Irenikers Georg Calixt (vgl.
und
) sich Semler genau bezieht, ist nicht klar. Die Frage wird von Calixt diskutiert in De pactis quae Deus cum hominibus iniit (1654), §§ 26–32. (Es handelt sich um eine von Samuel [von] Voss [1621–1674] unter Vorsitz Calixts verteidigte Disputation, von Letzterem verantwortet und herausgegeben).
die Behauptung, daß das Blut Christi nur als causa moralis anzusehen sey, und nicht physice wirke
Vgl.
.
Richard Baxter [...] in dem Buch Methodus theologiae
Vgl.
; s. dazu Semler, Versuch einer freiern theologischen Lehrart (1777), 454–466.
der grosse Philosoph Wolf, in den marburgischen Nebenstunden
Christian Wolff (1679–1754), schulbildender Philosoph, Jurist, Naturforscher und Mathematiker. Semler bezieht sich auf Wolffs in drei Bänden zusammengefasste Horae Subsecivae Marburgenses, die Aufsätze der Jahre 1729–1731 versammeln und zwischen 1729 und 1741 veröffentlicht wurden. Eine strenge Demonstration der Satisfaktionslehre sucht man in ihnen vergebens: In der Schrift „Notio Servi Jesu Christi Rom I 1 evoluta“ (2, 550–559; 559) stellt Wolff allerdings fest, dass ein Beweis „nicht schwierig“ zu erbringen sei, wenn Platzgründe es nicht hinderten: „Non difficile nobis foret ex notionibus creationis, redemtionis ac generationis demonstrare, quomodo inde nascatur jus Dei in homines, quod dominii nomine appellari solet, nisi angustia spatii excluderemur.“ In den Beiträgen „De Usu methodi demonstrativae in explicanda Scriptura sacra“ (3, 281–317) und „De usu methodi demonstrativae in tradenda Theologia revelata dogmatica“ (3, 480–542) setzt Wolff ausführlich auseinander, wie die eng mit seinem Namen verbundene „demonstrative Methode“ nicht nur auf die natürliche Theologie, sondern auch auf Schrift und Offenbarungstheologie angewendet werden könne.
für alle fähigern Menschen, oder für πνευματικους
Semler nimmt hier eine Gradation der Gläubigen an, bei der die besseren Christen „geistlich“ sind, was schon Paulus abstuft zu den „Fleischlichen“, vgl. 1Kor 3,1–3.
Discantstimme
D.i. Sopran.
Unendlichkeit der moralischen Welt
Vgl.
.
seit dem nicänischen ersten Concilio, oder christlichen Landtage, die Homousie [...] als eine katholische Bestimmung, eingefürt haben
Vgl.
und
; zu „katholisch“ s.
.
diesen falschen Lehrsatz einfürte, kein Mensch kann selig werden, ohne durch die katholische Kirche
Vgl.
.
Ich wil, doch sehen, sagte Luther, wer mich zwingen wil, homousios zu sagen
Vgl. dazu Luther, Rationis Latomianae confutatio (1521), WA 8, 36–128; 117. Während Luther hier dieses Wort als außerbiblisch abqualifiziert, stellte er sich später deutlich hinter diese auf dem Konzil von Nicäa (325) verabschiedete Zentralformel der Christologie.
Calvin und mehr würdige Gelerte bedauerten es ganz laut, daß man die Worte drey Personen so gebieterisch eingefüret habe
Während Calvin heute vor allem mit der Hinrichtung des Trinitätskritikers Michel Servet (1509?–1553) in Verbindung gebracht wird, mussten sich 1537 die Genfer Reformatoren Calvin, Guillaume Farel und Pierre Viret in ihrer Auseinandersetzung mit Pierre Caroli noch dafür rechtfertigen, dass sie die altkirchliche Formulierung der Trinität vermieden.
extra ecclesiam lutheranam non dari salutem, war noch vor 50–60 Jahren eine öffentliche Disputation
Unter dem Vorsitz des Rostocker Theologieprofessors Johann Nicolaus Quistorp (1651–1715) disputierte der spätere Rostocker und Greifswalder Theologieprofessor Albertus Joachim Krakewitz (1674–1732) über De speranda extra ecclesiam lutheranam salute (1699).
Da aber die christliche [...] Seligkeit nicht erst mit dem Tode anfängt, wie die Juden ein Paradies, einen Schoos Abrahams erst dahin sezen
Vgl.
(Seligkeit bereits vor dem Tode). Zum „Schoß Abrahams“ s.
.
Fertigkeit, welche Buße und Glauben im N.T. heist
Vgl. z.B. Mk 1,15.
kann kein Priester das leisten, was jeder schon zur Pflicht hat
Anspielung auf das reformatorische „Priestertum aller Gläubigen“, das die Notwendigkeit einer Vermittlung durch die kirchliche Instanz aufhob.
Vorurteile der Juden, daß andre Völker vor Gott unrein hiessen
Vgl. z.B. Lev 18,24–28; Esra 9–10.
Christen älterer Zeit, so lange sie noch äusserliche Begebenheiten und Veränderungen erwarteten, die zu einem sichtbaren Reiche Christi gehören sollten
Semler denkt hier wohl u.a. auch an die sog. Parusieverzögerung, d.h. an das Ausbleiben der von den frühen Christen erwarteten Wiederkunft Jesu. Für den jüngeren Paulus war es eine ausgemachte Sache, dass Christus in seiner Generation wiederkehren werde, um die Gläubigen zu erhöhen (1Thess 4,15–17; 1Kor 15,51–58). Vgl. außerdem Mk 9,1; 13,30. Zu Semlers Annahme einer präsentischen Eschatologie vgl.
.
das eigene jezige moralische μετανοειν, πιστευειν
S.
.
Selbstchristen
Vgl. auch f300 . Ein „Selbstchrist“ ist jemand, der ohne Vermittlung der Kirche oder der Theologie aus eigener Erfahrung zum (moralisch-praktischen) christlichen Glauben findet. Der Ausdruck taucht nur bei Semler auf. Vgl. insbesondere: Einige Berrachtungen [sic!] über die bisherige Streitigkeit zwischen Christen und Naturalisten, Berlinische Monatsschrift 17 (1791), 295–312; 302f.: „Da ist eine geheime Verehrung Gottes im Geist und Wahrheit ohne alle Dekrete der Bischöfe, die stets nur eine äußerliche Menge Menschen durch äußerliche Ordnung nach äußerlichen Absichten, öffentlich, kenntlich, sichtbar, einschränken. Dort aber erfährt der Selbstchrist durch das Evangelium von einem solchen Christus eine neue Kraft Gottes zu einer neuen (übernatürlichen, oder sonst unbekannten) Seligkeit. [...] Diese praktischen Selbstchristen wissen wahrlich, daß ihr eigner Glaube der eigne einheimische Sieg ist, den sie in einer neuen täglichen Uebung gewiß behalten, um selbst, ohne andre Menschen, nach ihrer neuen Erkenntniß in Gott moralisch zu leben. [...] Die [sic!] freie praktische Evangelium des unendlichen Gottes durch Christum ist in allen Sekten oder Parteien der Christen immer einerlei Geist und Leben, und unterscheidet diese Selbstchristen von allen ganz ordentlichen oder schulgerechten Kirchenchristen.“ – Zur Begriffsverwendung vgl. ferner Semler, Vorbereitung auf die Königlich Großbritannische Aufgabe (1787), 28; und Unterhaltungen mit Herrn Lavater über die freie practische Religion (1787), 9.
Photinianern
Vgl.
.
da Katholicken die Unzulänglichkeit der Bibel [...] behaupten
Vgl.
.
Caluinum iudaizantem
Anspielung auf den Vorwurf, Calvin (vgl.
) nähere sich zu sehr jüdischen Vorstellungen an, den der Wittenberger Theologe Ägidius Hunnius (vgl.
) in seinem Calvinus Iudaizans (1593) erhob.
wie schon vorhin (Frage 14)
Verweis auf f92 –107 .
modum cogitandi und loquendi
Der modus cogitandi ist die Art und Weise, wie eine bestimmte Sache gedacht, vorgestellt, begrifflich definiert wird; der modus loquendi die Art und Weise, wie über eine bestimmte Sache gesprochen wird. Veränderungen in den modi cogitandi oder loquendi bedeuten keine Veränderung der Sache selbst. Vgl. dazu Crusius, Weg zur Gewißheit (1747), 378–381; vgl. auch
.
unitatem specificam [...] unitatem numericam
Der Ausdruck „unitas specifica“ bezeichnet die Identität der Gattung (lat. species), der Ausdruck „unitas numerica“ numerische Identität. Johannes, Petrus und Paulus fallen unter dieselbe natürliche Art oder Gattung „Mensch“, sie sind daher gattungsmäßig identisch. Doch sie sind numerisch verschieden, denn es handelt sich bei ihnen um drei Exemplare der Gattung Mensch, nicht um ein und dasselbe Exemplar. Marcus Tullius, der Autor der Reden gegen Catilina und Cicero sind hingegen numerisch identisch. – Theologiegeschichtlich ist die Unterscheidung für das Verhältnis von Vater, Sohn und Heiligem Geist relevant. Sind die Genannten als göttliche Wesen nur gattungsmäßig identisch oder auch numerisch identisch, sodass es sich bei ihnen um ein und dasselbe Wesen handelt? Und falls sie numerisch identisch sind, wie können sie gleichwohl als Personen verschieden sein? Vgl.
und
.
Apollinarismus
Es folgt eine Aufzählung von spätantiken häretischen Positionen, denen vorgeworfen wurde, die doppelte Natur Christi, wie sie auf dem Konzil von Chalcedon (451) festgeschrieben wurde, in Frage zu stellen. Gemeint sind zunächst die Anhänger von Apollinaris von Laodicea (4. Jh.), die lehrten, der sündlose Christus könne bei seiner Menschwerdung nicht den depravierten menschlichen Verstand (πνεῦμα) angenommen haben. Vgl. Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 471–473.
Nestorianismus
Gemeint sind die Anhänger des Nestorius (um 381–451/3). Ihm wurde (vermutlich fälschlich) vorgeworfen, die zwei Naturen Christi – entgegen der späteren Formulierung des Konzils von Chalcedon – als „geteilt“ zu konzipieren, so dass sich der Logos im Menschen nur einwohne und zwei Personen in Jesus nebeneinander existierten. Er lehnte außerdem den Titel θεοτόκος („Gottesgebärerin“) für Maria ab. Diese Lehre wurde 553 auf dem zweiten Konzil von Konstantinopel verurteilt. Vgl. Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 473–481.
Eutychianismus
Gemeint sind die Anhänger des Eutyches (gest. 454), der als radikalster Vertreter der Einnaturenlehre (Monophysitismus) gilt. Eutyches lehrte, dass bei der Menschwerdung Christi die menschliche in der göttlichen Natur aufgegangen sei. Seine Lehre wurde auf dem Konzil von Chalcedon (451) verurteilt. Vgl. Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 481–486.
Monotheletismus
Im Gegensatz zum Monophysitismus wurden hier nicht die zwei Naturen bestritten, jedoch Christus nur ein Wille (von gr. μόνος „ein“ und θέλημα „Wille“) zugesprochen. Diese Lehre wurde auf dem dritten Konzil von Konstantinopel (680) verurteilt. Vgl. Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 486–489.
so verstunden sie in eben der Substanz Gottes ein 2tes Subjekt: consubstantiuus secunda in deo persona, sagte schon Tertullianus
Die lateinische Wendung ist nicht belegt. Tertullian (vgl.
) benutzt zwar die Begriffe „consubstantialis“ (Herm. 44,3) und „consubstantivus“ (Val. 12,5; 18,1; 37,2) als Übersetzung des griechischen „ὁμοούσιος“ (wesensgleich; vgl.
), jedoch lediglich um die Ansichten der Gnostiker (vgl.
) zu referieren und ohne Bezugnahme auf Christus. In trinitätstheologischem Zusammenhang spricht er vielmehr von „una substantia“ (z.B. Adv. Prax. 2,4). Inwieweit Tertullian damit die nicänische Lehre (vgl.
) vorwegnimmt, ist umstritten.
Die im Orient aber sagten, Gott hat dieses Subjekt zum Sohn d.i. zum Mitregenten über alles gemacht
Semler bezieht sich auf den sog. Adoptianismus, der vor allem in Kleinasien vertreten wurde, z.B. von Theodotus von Byzanz (2. Jh.) und dem Bischof von Antiochien Paul von Samosota (ca. 200–275). Gemäß dieser Lehre, von der wir ausschließlich durch ihre Gegner wissen (u.a. Hippolyt von Rom, ca. 170–235; Epihanios von Salamis, ca. 315–403) wurde Jesus erst nach seiner Taufe (abweichend auch: seiner Auferstehung) zum Gottessohn erhoben.
andre aber sezten [...] gerade vor die Erschaffung aller Dinge
Zur Lehre von der Präexistenz Christi, die u.a. von Adoptianisten (s.
) und Arianern (s.
) abgelehnt wurde, vgl.
.
wie der Kaiser Aurelianus im J. 275 der italischen oder römischen Loge den Vorzug gab
Lucius Domitius Aurelianus (214–275) war von 270–275 römischer Kaiser. Wie Eusebius in seiner Kirchengeschichte (VII 30, 18f.) berichtet, stärkte Kaiser Aurelian die Hegemonie der römischen und italienischen Bischöfe gegenüber den Bischöfen in Antiochien, nachdem er aufgefordert worden war, im Streit um den als häretisch gebrandmarkten und abgesetzten Bischof Paul von Samosata einzugreifen.
diese ganze Religion [...] um ihres moralischen Besten willen da ist, und die Christen nicht da sind, um blos eine kirchliche Regierung über sich [...] zu begünstigen
Anspielung auf Mk 2,27 („Der Sabbat ist für den Menschen gemacht, nicht der Mensch für den Sabbat“).
als wenn sie ein Fegfeuer nach dem Tode [...] Infallibilität und Almacht der Kirche etc. zu Glaubensartikeln erhoben hat
Zu Fegefeuer, Fürbitte der Heiligen und Messopfer vgl.
. Ein Ablassbrief oder -zettel bescheinigte dem Erwerber einen Ablass, d.h. den Nachlass von auferlegten Strafen, die vom Sünder nach reuiger Umkehr noch zu verbüßen sind. Der Handel mit Ablassbriefen ist in der römisch-katholischen Kirche seit 1570 unter Strafe der Exkommunikation verboten. Die Verbindlichkeit von Ordensgelübden (inkl. Ehelosigkeit usw.) ist seit Papst Leos I. (vgl.
) Epistolas fraternitatis (458/59; DH 321f.) geregelt. Die Lehre von der Unfehlbarkeit der Kirche – nicht zu verwechseln mit der Unfehlbarkeit des Papstes – hinsichtlich Glaubens- und Sittenlehre, wurde zwar erst vom I. Vatikanum (1869/70) dogmatisch festgeschrieben, aber schon seit etwa dem 4 Jh. von Kirchenoberen in aller Regel als selbstverständlich vorausgesetzt. Worauf genau Semler mit der Behauptung hinauswill, die „Allmacht der Kirche“ sei zum Glaubensartikel erhoben worden, ist nicht klar.
warum in Sachsen damalen die äusserliche Reformation [...] als in der [...] Schweiz
Gemeint ist die vergleichsweise größere Unabhängigkeit der Eidgenossenschaft vom katholischen Kaiserhaus, wiewohl die Schweiz erst 1648 aus dem Reichsverband ausgegliedert und offiziell unabhängig wurde.
die alten kaiserlichen Strafgeseze, die wider die Kezer reden
Seit dem 12. Jh. hatten die Kaiser im Rückgriff auf das römische Recht das Ketzereidelikt als Gottesbeleidigung mit dem crimen laesae maiestatis (Majestätsbeleidigung) gleichgesetzt. Häretiker wurden seitdem nicht nur kirchlicherseits durch das kanonische Recht verfolgt, sondern waren auch mit scharfen obrigkeitlichen Strafen bis zum Tod bedroht. Entsprechend war Luther nach seiner Verurteilung als Häretiker in Rom (1520) auf dem Reichsgebiet mit der Strafe der Acht („vogelfrei“) belegt.
nun gar Geheimnisse heissen
Ein Glaubensgeheimnis (mysterium fidei) im strikten Sinne ist eine Wahrheit, die zwar offenbart und Gegenstand allgemeinen Wissens werden kann, sich jedoch nicht mit den Mitteln der Vernunft herleiten oder vollständig verstehen lässt. Die Ansicht, die christliche Lehre enthalte solche übervernünftigen Wahrheiten, findet sich schon bei Paulus (z.B. 1Kor 2) sowie den meisten Kirchenvätern. Die Bestreitung von Glaubensgeheimnissen war ein Kernanliegen deistisch (vgl.
) und rationalistisch gesinnter Autoren; vgl. das programmatisch betitelte Werk John Tolands (1670–1722), Christianity Not Mysterious: Or, A Treatise Shewing, That there is nothing in the Gospel Contrary to Reason, Nor Above it: And that no Christian Doctrine can be properly call’d A Mystery (1696).
Festtäge für die Christen [...], die doch weder Christus noch die Apostel eingefürt hatten
Gemeint sind alle Festtage jenseits des Sonntagsgebots und der christlichen Hochfeste (Ostern, Pfingsten und Weihnachten). Kritik an außerbiblischen Festtagen formulierten bereits die Reformatoren, sie wurde jedoch in der Aufklärung verstärkt geübt. Parallel dazu wurde in den Reformen um 1800 vielerorts die Anzahl der Festtage reduziert (s.
).
wenn sie wolte
Wiewohl grammatisch und inhaltlich möglich, erscheint es wahrscheinlicher, dass hier ein Satzfehler vorliegt und „wen sie wollte“ gemeint ist.
durch so viel paternoster, aue Maria, [...] Bestellung der Seelmessen
Semler spielt hier auf die spätmittelalterliche Tradition der „gezählten Frömmigkeit“ an, nach der schon die schiere Anzahl bestimmter religiöser Handlungen über die Seligkeit des Gläubigen entscheide, was im Ablasshandel gipfelte. Die Reformation betonte gegenüber einer solchen taxierbaren Werkgerechtigkeit die Rechtfertigung „allein durch den Glauben“, wonach gute Werke nicht als Voraussetzung, sondern als Wirkung des Glaubens verstanden wurden.
daß ja selbst noch iezt Protestanten einen Beweis der Wahrheit der christlichen Religion von Mirakeln und Weissagungen etc. entlenen
Anspielung auf Gottfried Leß (1736–1797), Beweis der Wahrheit der christlichen Religion (1768; 1786). Der Göttinger Theologieprofessor und Universitätsprediger Leß betrachtete Wunderwerke, zu denen er auch Weissagungen („Wunderwerke der Kenntniß“) rechnete, als „das vornehmste Fundament der christlichen Religion“. Es komme für die Glaubwürdigkeit des Christentums „beinahe alles auf den Erweis dieser Begebenheit an: daß Jesus wahrhaftig göttliche Wunderwerke verrichtet“ (290; vgl. 410).
so sind die miracula der nächsten Jahrhunderte gar zu ungewis und zweideutig; ja häufig als listige Betrügereien bekant worden
Vgl. hierzu ausführlich Semlers Versuch einiger moralischen Betrachtungen über die vielen Wundercuren und Mirackel in den ältern Zeiten; zur Beförderung des immer bessern Gebrauchs der Kirchenhistorie (1767).
Es ist aber allerdings kein Theil der christlichen Religion oder algemeinen Glaubenslehre, daß alle Christen über diese Zeichen und Wunder im N. T. durchaus einerley denken müsten
Semler denkt an die mit großer Intensität geführte Wunderdebatte, zu der Autoren wie Spinoza, Locke, Reimarus, Richard Price (1723–1791), George Campbell (1719–1796) oder Leß wichtige Beiträge lieferten. Besonders viel diskutiert wurde David Humes (1711–1776) berühmt-berüchtigte Wunderkritik „Of Miracles“ (An Enquiry concerning human understanding, 1748; dt. 1755, Kap. 10). Gegen Semlers ausgleichende Auffassung stellt Hume am Ende seines Essays mit deutlich ironischem Zungenschlag fest: „Christian religion not only was at first attended with miracles, but even at this day cannot be believed by any reasonable person without one. Mere reason is insufficient to convince us of its veracity“.
Juden [...], die durchaus immer Zeichen und Wunder sehen und hören wolten
Vgl. z.B. Joh 4,48; s. schon Ex 7,3.
wie Bengel selbst gestund
Der lutherische Theologe Johann Albrecht Bengel (1687–1752) gilt als Hauptvertreter des württembergischen Pietismus. In seinem Gnomon Novi Testamenti (1742) äußert Bengel sich zu den Wundern und Zeichen in Joh 4,48.
die nicht sehen [...] und doch selbst gläuben
Anspielung auf Joh 20,29.
wie zu Ende des Evangelii Johannis stehet, diese Zeichen damalen erzälet wurden
Verweis auf Joh 20,30.
daß sie durch diesen ihren Glauben [...] das Leben haben möchten, in seinem Namen
Joh 20,31.
Ganz recht sagten auch die zu Samaria, Joh. 4.
Anspielung auf Joh 4,41f.
Freilich hat die Kirche auch das so genante donum Miraculorum gar als fortdauernd angesehen
In der lateinischen Kirche wurde das „Geschenk von [gottgewirkten] Wundern“ durchaus weiterhin angenommen. Zur Kritik daran vgl. etwa Semler, Versuch einiger moralischen Betrachtungen über die vielen Wundercuren und Mirackel in den ältern Zeiten (1767).
ἀληθείαν [...] πνεῦμα
ἀλήθεια, Wahrheit; πνεῦμα, Geist.
oder durch die eigene starke Speise der freien volkomnen Christen
Vgl. Hebr 5,14.
Christus nur nach dem Fleische [...] kennen
Anspielung auf 2Kor 5,16.
Wunder und Zeichen fordern nur die Juden, sagt Paulus
Anspielung auf 1Kor 1,22.
weil die Juden die Körperwelt unter dem Mond dem Gebiet der guten und bösen Engel unterworfen hatten
Die Einteilung des Kosmos in eine unveränderliche, sich ewig kreisförmig bewegende translunare Sphäre und eine dem Werden und Vergehen unterworfene sublunare Welt („unter dem Mond“) bildete seit dem vierten vorchristlichen Jh., von bedeutenden Ausnahmen abgesehen, die vorherrschende Auffassung unter antiken Gelehrten. Die klassische, bis in die Frühe Neuzeit enorm einflussreiche Formulierung dieser Konzeption geht auf Aristoteles zurück (vgl. v.a. De caelo). Entsprechende kosmologische Vorstellungen wurden auch vom hellenistischen, rabbinischen und mittelalterlichen Judentum (z.B. Maimonides, ca. 1135–1204) aufgegriffen. Juden (wie Christen und Muslime), die sich an Aristoteles orientierten, wichen freilich insofern von ihm ab, als sie eine göttliche Schöpfung der translunaren Sphäre und einen Anfang der Zeit behaupteten. Zu jüdischen Vorstellungen von Engeln und Dämonen s.
.
eine weise unverbesserliche Ordnung in dem einzigen Reiche der Natur
Semler steht hier vor Augen, dass die Naturforscher des 17. und 18. Jh.s die Unterscheidung von trans- und sublunarer Sphäre (s.
) aufgaben und die Einheit der Natur und ihrer Gesetzmäßigkeiten betonten. So behauptete etwa Newton in seinem epochemachenden Werk Philosophiae Naturalis Principia Mathematica (1687; 1726) die Gültigkeit des Gravitationsgesetzes für alle Körper – seien es Sterne, Planeten oder Äpfel (3. Buch, prop. VII). Die Rede von „unverbesserlicher Ordnung“ spielt möglicherweise auf Newtons Antipoden Leibniz und seine Theorie der „besten aller möglichen Welten“ an, vgl. etwa Essais de Théodicée (1710), 1. Buch, § 8.
böse Geister in der Luft herrschten, also auch in die Menschen durch die Luft eingehen
In der Antike war die Vorstellung, körperliche und mentale Krankheiten entstünden durch böse Geister (Dämonen-Theorie), weit verbreitet. Gleiches galt für die Auffassung, schlechte Luft sei für Gebrechen verantwortlich (Miasma-Theorie). Als Beleg für die Hartnäckigkeit besagter Theorien kann gelten, dass sich noch Anfang des 18. Jh.s der Name Malaria (ital. „schlechte Luft“) zur Bezeichnung der entsprechenden Krankheit etablierte.
Der ganze Beweis aus so genannten Weissagungen in den Schriften des A.T.
Zur von Semler abgelehnten typologisch-christologischen Auslegung des Alten Testaments vgl.
. Zur hier und im Folgenden Anwendung findenden Akkommodationstheorie vgl.
.
der und jener Prophet redet davon, er war getrieben durch den Geist Gottes
Anspielung auf 2Petr 1,21.
nun trifft es ein, es wird erfüllet, was da geschrieben stehet
Anspielung auf Lk 24,44.
uns hat es Gott näher offenbaret durch eben diesen Geist
Anspielung auf 1Kor 2,10.
eine geistliche viel vollkomnere Beschneidung
U.a. Anspielung auf Kol 2,11; vgl.
.
ἐπιπνοην adspirationem dei nente man schon lange vor der Zeit der Christen
Gemeint sein dürfte „ἐπίπνοια a(d)spirationis dei“. Die griechisch-lateinische Phrase bedeutet „Einhauchen des Odems [eigentl. Anhauchen; Ausdünstung] Gottes“; vgl. Gen 2,7.
Stoiker erinnerten ihre Schüler an den Geist Gottes
Eine gängige stoische Definition spricht vom Wesen Gottes (τὴν τοῦ θεοῦ οὐσίαν) als intellektuellem, „feuerartigen“ Atem/Geist (πνεῦμα νοερὸν καὶ πυρῶδες), der alles durchdringt, alles nach seinem Plan formt (Aetius; Stoicorum Veterum Fragmenta II, 1009). Die mit Notwendigkeit ablaufende, gesetzmäßige Umsetzung dieses Plans bezeichneten die Stoiker als fatum (gr. εἱμαρμένη). Die Vernünftigkeit und Unentrinnbarkeit des Fatums zu akzeptieren (sich an sie zu „erinnern“), ist Voraussetzung eines guten Lebens. Vgl. auch
(Epiktet).
die geheimen Grundsätze der Magisten
Es ist nicht klar, auf wen und was Semler sich hier bezieht. Gemeint sein könnten: a) antike Anhänger magischer Praktiken im Allgemeinen; b) zoroastrische Priester, genannt „Magi(ere)“ (vgl. Mt 2,1: μάγοι, „Weise aus dem Morgenland“); c) Anhänger des Simon Magus (1. Jh.; Apg 8,9–25), der ähnlich wie die Stoiker (s.
) gelehrt zu haben scheint, Gott sei das „feuerartige“ Prinzip des Kosmos, eine unendliche Kraft oder Potentialität (vgl. Hippolyt von Rom, s.
, Refutatio omnium haeresium, 6, 7–20; v.a. 9 u. 17). Die dritte Lesart erscheint aufgrund des Kontexts zwar plausibel, allerdings werden die vor allem im 2. und 3. Jh. in Rom aktiven Anhänger Simons in der Literatur fast ausschließlich als „Simonianer“ angesprochen, die Bezeichnung „Magisten“ lässt sich für sie nicht belegen.
in Gott leben, weben und sind wir
Apg 17,28.
So sagt einer erst neuerlich: Gott würde durch eine übernatürliche Belerung den natürlichen Gang einzler Menschen stören [...] als wenn man einen Haufen Sand in eine Uhr schütten wolte etc.
Semler bezieht sich auf Bahrdts politischen Roman Ala Lama oder der König unter den Schäfern, auch ein goldner Spiegel, 2 Bde. (1790). Vgl. Bd. 1, 226: „Wenn [der Gott] Bohama den natürlichen Gang vernachlässigen und ganz neue und auf dem Wege der Natur unentdekbare Theorien uns mittheilen wolte; so würde das unsere ganze Seele zerrütten, und alle Räder der Maschine stoken machen. Denn wenn alles nach dem Gange der Natur verkettet ist, wenn alle Ideen des Menschen, die er durch Sinne, Erfahrung und Vernunft sich samlete, unter sich associiret sind und ein homogenes Ganzes ausmachen; so müßte das Hinzukommen hetrogener Ideen durch eine Offenbarung, ohngefähr das anrichten, was die Einschüttung eines Haufen Sandes in eine Uhr, anrichten würde.“ – Der Titel der Schrift spielt auf Wielands utopischen Roman Der goldne Spiegel oder die Könige von Scheschian (1772) an. In der „Vorrede“ des Ala Lama erklärt sich ein gewisser „Johan Niklas, Illuminat“ zum Übersetzer des anonymen Werks „aus dem Deutschen“ (!), was gewiß „sonderbar“ klinge, aber ein „Räthsel“ sei, das „nicht eher, als im Jahre 2442“ aufgelöst werden könne. Auch angesichts dieser für Bahrdt charakteristischen Art von Humor dürfte Semler über die Identität des Verfassers im Bilde gewesen sein.
wenn der Naturalist die unendliche Weisheit Gottes dahin ziehen wil, daß ausser der physischen Ordnung aller Dinge, die doch von Gott immer abhängt, Gott gar keine Wirkung weiter übrig haben könne
Vgl.
und
.
Wir wissen [...], daß die guten Früchte einer neuen Belerung [...] eine moralische Natur behalten
Möglicherweise Anspielung auf Gal 5,16–25: „Ich sage aber: Wandelt im Geist [...]. Die Frucht aber des Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue, Sanftmut, Keuschheit.“
das Alte ist vergangen, es ist alles neu worden
Anspielung auf 2Kor 5,17.
Wie es Eine Taufe war
Anspielung auf Eph 4,5.
Geist und Leben, Geist und Wahrheit, Volkommenheit, Geist und Kraft
Anspielungen auf Joh 6,63 („Die Worte, die ich zu euch geredet habe, die sind Geist und sind Leben“); Joh 4,23f. (Anbeten „im Geist und in der Wahrheit“); Mt 5,48 („Darum sollt ihr vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist“); 1Kor 2,4 („Erweis des Geistes und der Kraft“).
So heißt es, Gott ist dem Abraham, dem Moses – – erschienen; ein Engel ist erschienen
Anspielung auf Gen 18; Ex 3,2 und Lk 1.
Indes bejahen doch so gar mehrere christliche Schriftsteller, daß Philosophen, Dichter, Historiker – eben dieselben moralischen Begriffe und Wahrheiten [...] gekant hätten
Vgl. hierzu als ein Beispiel unter vielen: Clemens von Alexandrien (ca. 150–215): Stromateis (Teppiche), 1, 20,99: „Freilich machte einst auch die Philosophie allein die Griechen gerecht“; man beachte aber auch Clemens’ – für christliche Autoren der Zeit genauso typische – direkt anschließende Einschränkung: „wenngleich sie sie nicht zur Gerechtigkeit überhaupt [καθόλου] führte“. Vgl. auch 1, 5,28.
λογος ἑνσπαρτος
Während im Druck das in der Christologie gebräuchliche λογος ἐνσαρκος („fleischgeborenes Wort“) steht, folgen wir den autorschaftlichen Corrigenda am Ende der Vorrede und am Ende des Werks. Gemeint ist hier das insitum verbum („eingepflanzte Wort“), vgl. Jak 1,21, also eine Art natürlicher Glaube an Christus in allen Menschen. Vgl. auch Semler, Unterhaltungen mit Herrn Lavater (1787), 458.
nemo sine Christo nascitur, sagte so gar Hieronymus
Eine vergleichbare Formulierung gibt es bei Hieronymus (vgl.
) in seinen Commentarii in Epistolam Pauli Apostoli ad Galatas, I, 1,15 (CCL 77A, 31). Die von Semler gebrauchte Formel dann etwa bei Louis Thomassin, De verbi Dei incarnatione I (1680), 46. Vgl. auch Semler, Freimütige Briefe über die Religionsvereinigung (1783), 143.
eine Theurgia, vielen platonischen Schülern gar geläufig
Die fehlerhafte Schreibung im Druck wurde bereits in den autorschaftlichen Corrigenda am Ende der Vorrede vermerkt und ist hier stillschweigend verbessert worden. – Der aus dem Griechischen stammende Ausdruck „Theurgie“ (wörtlich „Gotteswerk“) bezeichnete in der Antike rituelle Praktiken, die mit der Absicht vollzogen wurden, in Verbindung mit Gott (oder Göttern) zu treten. Das Ziel bestand in der Herbeirufung einer göttlichen Wirkung oder in der Herstellung einer Einheit (Henosis; ἕνωσις) mit dem Göttlichen. Schon der platonische Sokrates forderte im Theätet (176a–b) dazu auf, der irdischen Welt zu entfliehen und, soweit es Menschen möglich ist, wie Gott zu werden. Einige (wenngleich keineswegs alle) Neuplatoniker verfochten die Theurgie als Mittel eines solchen Aufstiegs der Seele von der irdischen in die geistige Welt, darunter Iamblichos von Chalkis (ca. 245–325), Proklos (412–485) und Pseudo-Dionysius Areopagita (6. Jh.). Iamblichos verfasste auch eine Schrift, De mysteriis Aegyptiorum, die unter dem Namen Theurgie bekannt ist.
wie die Stoiker davon reden, daß Gott in manchen Menschen wone
Anspielung auf Seneca (vgl.
), Brief 41,2: „In unoquoque virorum bonorum – quis deus incertum est – habitat deus“. (In jedem einzelnen guten Menschen wohnt Gott – welcher Gott ist unsicher). Vgl. 1Kor 3,16. Zur Rolle Gottes im Denken der Stoa s.
.
Wenn nun viele unfähigere Menschen bisher an den Kirchengesängen und gemeinsten Cärimonien nicht nur keinen Anstos finden
Semler denkt hier wohl vor allem an Gesangbuchstreitigkeiten, zu denen es im Zuge aufklärerischer Reformbemühungen in Berlin (vgl.
) und anderswo gekommen war. In seiner Lebensbeschreibung I (1781), 207, stellt er dazu fest: „Es ist sehr rümlich und löblich, daß [...] in vielen Kirchen eine solche gemeine Revision der Gesangbücher vorgenommen wird [...]. Nur mus doch gleichwol sehr viel Vorsichtigkeit dabey statt finden, um nicht, durch ganz unnötige Veränderung oder Vertilgung mancher Lieder, viele gute Christen unruhig und unzufrieden zu machen, deren wahre feste Erbauung oft auf einem solchen alten Liede oder Verse gegründet ist.“
die Christen sind nicht um der Bibel willen da
Anspielung auf die jesuanische Lockerung des jüdischen Sabbatgebots in Mk 2,27.
Denn in der Gesellschaft schon leben, und doch auf den Stand der so genannten Natur sich berufen
Vgl.
.
Alles, was wirklich nüzlich ist, ist es nur durch die Schranken und durch das gehörige Maas [...] Der Feler [...] war ebenfals das zu Viele, das nimium.
Anspielung auf das Prinzip der richtigen Mitte (μεσότης), das seinen Ursprung in der aristotelischen Ethik hat (eth. Nic. 1106b–1107a), sowie auf den Ausspruch Senecas (vgl.
), de tranquilitate animi 9,6: „vitiosum est ubique, quod nimium est“ (Fehlerhaft ist all das, was zu viel ist); sprichwörtlich als „omne nimium nocet“ oder „omne nimium vertitur in vitium“.
obgleich Protestanten gar keine Priester haben, als in der alten Sprache, die vor der Zeit der Protestanten diesen Namen mit einem Meßopfer eingefürt hatte
Gemeint ist, dass es im Protestantismus keine (sakramentale) Weihe von Pfarrern (Priestern) mehr gibt, denen im Rahmen eines Pontifikalamts die Messopfergewalt (s.
) übertragen wird.
Wenn die ganze natürliche Religion zunächst im Genusse alles sinnlichen Vergnügens, in Frölichkeit und Lustigkeit der Menschen bestehet
Möglicherweise Anspielung auf Bahrdts Anthropologie und Pädagogik, vgl.
.
Augenlust, Fleischeslust, hoffärtiges Leben
1Joh 2,16.
schandbare Worte und Narrentheidung
Anspielung auf Eph 5,4; „Narrent(h)eiding“: mhd., Narrengeschwätz.
Man samlete sich aus der Bibel jene alten Psalmen [...] Bilder, die Christum so fruchtbar beschreiben, Hirte, Lehrer, vollkommner Priester, Licht der Welt, Weinstock, Lamm Gottes, Opfer für die Sünden der Juden und Heiden
Vgl. Ps 23 mit Joh 10,11–16 (Hirte); Ps 25,5; 71,17; 94,10 mit Joh 3,2 (Lehrer/lehren); Ps 110,4 mit Hebr 7,24–27 (vollkommener Priester); Ps 27,1 mit Joh 8,12; 9,5; 12,46 (Licht der Welt); Ps 80,9–14 mit Joh 15,1–8 (Weinstock); Ps 50/51 mit Hebr 10,12 (Sündopfer). Lediglich das Bild vom „Lamm Gottes“ (z.B. Joh 1,29) taucht nicht im Buch der Psalmen auf, wohl aber in einem anderen berühmten poetischen Text des Alten Testaments, im vierten sog. Gottesknechtlied (Deutero-)Jesajas 52,13–53,12; 53,7.
2 Petri 1,5 folg.
Von den Herausgebern korrigiert. Die Textvorlage hat „2 Petri 1–5 folg.“ Diese Angabe kann jedoch nicht stimmen, da der 2. Petrusbrief nur aus drei Kapiteln besteht.
Erzälungen von Besessenen, von Engeln
Semler bezieht sich auf Berichte über Besessenheit (z.B. Mk 1,21–28) und Engel (z.B. Mt 4,11) im Neuen Testament, die er der akkommodierenden (vgl.
) Lehre Jesu bzw. Erzählweise der Evangelisten zuschreibt.
als ihnen selbst Friedrich der Zweyte verstatten oder zugeben wollte
Anspielung auf die weitreichende religiöse Duldung in Preußen unter Friedrich II. (s.
).
Selbst das so liebe Losungswort, Freiheit, bringt eine Gegenkraft mit sich, es gehört nur Zeit dazwischen
Als der römische Senat nach der Ermordung Caligulas im Jahre 41 n. Chr. die Republik wiederherstellen wollte, benutzte er (angeblich) das Losungswort „Freiheit“ (libertas); vgl. Flavius Josephus, ant. Iud. 19,186. Nach nur wenigen Tagen oder Wochen obsiegten jedoch die imperialen „Gegenkräfte“ und setzten Claudius (10 v. Chr./41–54 n. Chr.) als Alleinherrscher ein. Semler mag auch an die Französische Revolution und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte 1789 (vgl. Art. 4) denken.
die vielen Romane von platonischen schönen Republiken, die im Monde sind
Semler spielt hier auf das Urbild utopischer (vgl.
) Staatsentwürfe, Platons Politeia (frühes 4. Jh. v. Chr.), an. Ein Beispiel für eine utopische Erzählung, die auf einem fremden Planeten, wenngleich nicht dem „Mond“, angesiedelt ist, bildet Christoph Martin Wielands (1733–1813) Frühwerk Gesicht von einer Welt unschuldiger Menschen (1755). In ihm schildert das lyrische Ich die Vision einer der Erde ähnlichen, von intelligenten Wesen bewohnten Welt ohne Sünde oder Privateigentum, voller Liebe, Schönheit und Harmonie. Der anonyme Herausgeber des Theologische[n] Briefwechsel[s] eines Laien: über die Versöhnung unsers Planeten und anderer Welten mit Gott durch Christum (1782), an dem auch Semler sich beteiligte, gab Wielands Werk als Inspiration an. Zum „Mond-Roman“ Bahrdts vgl.
.
Inquisition [...] vogelfreyen Märtyrer
Vgl.
.
daß nicht alle Früchte gleich gut überal wachsen
Anspielung auf Mt 13,1–23.
man schränkte daher so gar die Philosophie ein, die ja freilich ihre vielerley Lehrmeister nicht zugleich zur Volksregierung erheben konte
Anspielung auf Platons Konzept der Philosophenherrschaft, das er in seiner Politeia entfaltete (vgl. z.B. 473c–d), auch Leibniz und Wolff sympathisierten mit ihm (z.B. Wolff, De rege philosophante et Philosopho regnante, Horae Subsecivae Marburgenses 2, 1732, 563–632). Semler, der Wolffs Aufsatz gekannt haben dürfte (vgl.
), lässt hier erneut die Ansicht durchblicken, dass durch gemeinschaftliches Philosophieren oder vernünftiges Nachdenken kein Konsens in politischen oder religiösen Fragen zu erzielen sei und es immer „vielerley Lehrmeister“ geben werde. Einen Einwand ganz anderer Art, den bereits Platon in seinem Spätwerk Nomoi gegen sein jüngeres Ich erhob, formuliert Kant in Zum ewigen Frieden (1795): „Daß Könige philosophiren, oder Philosophen Könige würden, ist nicht zu erwarten, aber auch nicht zu wünschen: weil der Besitz der Gewalt das freie Urtheil der Vernunft unvermeidlich verdirbt“ (AA 8, 369).
würdige, edle Männer [...], die nie eine Bittschrift erst nötig hatten, welche um Abolition ihrer anstössigen Auffürung nachsuchte
Vermutlich Anspielung auf Bahrdt, der in seinem Leben häufig in die Verlegenheit kam, Bittschriften verfassen zu müssen, ganz zu schweigen von den zahlreichen Fällen, in denen Familienangehörige, Gemeindemitglieder oder Kollegen gute Worte für ihn einlegten (vgl. etwa
). Zuletzt wandte Bahrdt sich nach seiner Verhaftung im Jahre 1789 (vgl.
) u.a. an den von ihm zuvor verspotteten Minister Woellner und brachte auch Semler dazu, sich höheren Orts für ihn zu verwenden. Vgl. Bahrdt, Geschichte und Tagebuch meines Gefängnisses (1790), 114–133.
sie lassen sich für jeden Bogen bezalen; sie genießen bey ihres gleichen eine Genemhaltung solcher besondern Projecte
Womöglich Anspielung auf Bahrdts Vielschreiberei (vgl.
) und Projektmacherei (vgl. z.B.
). Zumindest was den Ausstoß an Publikationen anging, saß Semler allerdings im Glashaus: Die bereits beachtliche Bahrdt’sche Produktivität wurde von ihm noch einmal deutlich überboten (vgl.
) – und man darf annehmen, dass er den Verlegern die jeweiligen Manuskripte nicht umsonst überließ.
es gebe keinen Timotheus und Titus in unsern Zeiten
Timotheus und Titus waren Mitarbeiter des Apostels Paulus und begleiteten ihn auf einigen seiner Reisen (vgl. z.B. Apg 16,1–5; Gal 2,1–10). Zumindest Timotheus scheint auch unter Verfolgungen gelitten zu haben (Hebr 13,23); die nur apokryph belegte Geschichte seines späteren Martyriums im Jahre 97 dürfte aber erfunden sein. Die paulinische Autorschaft der beiden Timotheusbriefe und des Briefs an Titus wird heute in der Forschung – anders als zu Semlers Lebzeiten – mehrheitlich bestritten.
Pietisten
Ursprünglich als „Frömmlerei“ (lat. pietas; „Frömmigkeit“) verspottet, entwickelte sich der Pietismus im 17. und 18. Jh. zu einer der wirkmächtigsten Reformbewegungen innerhalb des Protestantismus, deren Kritik an den bestehenden kirchlichen Verhältnissen teils bis zur Separation (radikaler Pietismus) führen konnte. Das pietistische Ideal von gesteigerter Innerlichkeit und Soziabilität äußerte sich etwa in eigenen Kirchenliedern und umfangreicher Erbauungsliteratur.
Schibboleth
D.i. Losungswort, nach Ri 12,5f.
nicht blos Hörer sondern Thäter des Worts
Anspielung auf Jak 1,22.
Selbstchristen
Vgl.
.
Synedriums
Das Synedrium (von gr. συνέδριον; Synhedrion, „Zusammensitzen“) war ein vermutlich zwischen Beginn der Makkabäerzeit (165 v. Chr.) und Zerstörung des Tempels (70 n. Chr.) existierendes, religiöses und politisches Gremium der Juden, das aus 70 Ältesten bestand und unter dem Vorsitz des Hohepriesters tagte. Luther übersetzte schlicht „Rat“. Dem Synedrium kam die höchste Gerichtsbarkeit im Judentum zu, es wurde in seinen Kompetenzen allerdings von Herodes (73/37–4 v. Chr.) und den Römern beschnitten (vgl. Joh 18,31). Laut den synoptischen Evangelien wurde Jesus vom Synedrium verhört und vor Pilatus verklagt (z.B. Lk 22,66–23,5).
Geheimnisse fingen auch unter den Christen an, die hauptsächliche Reizung und Empfelung für den Zutritt zur neuen Religion zu werden
Semler scheint hier einen Einfluss antiker Mysterienkulte (Mithraismus u.a.) auf das frühe Christentum anzudeuten – eine Auffassung, die in der Forschung erst Ende des 19. Jh.s vermehrten Zuspruch fand. Vgl. auch Semler, Neue Versuche die Kirchenhistorie der ersten Jahrhunderte mehr aufzuklären (1788), 12: „Alle [frühchristlichen] Partheien beobachten geraume Zeit diese Nachahmung der Mysterien, oder geheimen Brüderschaften. [...] Ich denke immer mehr, daß dieses gerade zur ersten Geschichte der Christen gehört; so sehr wir bisher das Gegentheil glauben.“
kam die große bischöfliche Gesellschaft blos historisch in die Höhe, die vornemlich wundervolle Historien Christi, [...] und noch bevorstehender Dinge, nun zum Gegenstande der öffentlichen Religion machten
Gemeint sind die zahlreichen apokryphen Schriften (s.
).
die auch Mutter aller Christen hies
Vgl. z.B. Augustinus, De Moribus Ecclesiae Catholicae [388], Kap. 30.
Unterschieds der Schwachen und Unfähigern andrer Christen
Vgl.
.
die sogenannten Geistlichen allein musten den Gottesdienst öffentlich verrichten
Semler baut erneut einen Gegensatz zum protestantischen „Priestertum aller Gläubigen“ auf, s.
.
allegorische, mystische Deutung
Gemeint ist eine übertragene Deutung und innere Bedeutung jenseits der wörtlichen Lektüre der heiligen Schriften, wie sie in der christlichen Exegese eine lange Tradition haben; vgl. auch 2Kor 3,6.
einen geistlichen Simson
Simson ist eine Figur aus dem Buch der Richter (Ri 13,1–16,31), die oftmals als Vorausdeutung auf Christus interpretiert wurde (vgl.
und
): Die Geburten Simsons und Christi wurden beide von Engeln angekündigt; Simson wurde von einer unfruchtbaren Frau, Jesus von einer Jungfrau geboren; Simson bezwang einen Löwen, Christus den Teufel; Simson war mit einer Tochter des Feindes verheiratet, Christus mit der ihm feindlich gesonnenen Menschheit; Simson wurde von Delila, Jesus von Judas Ischariot für Silbermünzen verraten; beide wurden vor ihrem Tod misshandelt und gedemütigt. Vgl. dazu etwa Daniel Cramers (1568–1637), Biblische Außlegung (1627), 192–195: Simson ist für Cramer „Bildnuß Christi“ (192; 195) und Christus „unser geistlicher Simson“ (193).
geistlichen Ahasverus, geistliche Esther
Bei Ahasveros und Est(h)er handelt es sich um Figuren aus dem Buch Est(h)er. Es erzählt die Geschichte der Jüdin Esther, die sich mit dem persischen Herrscher Ahasveros vermählt. Dieser wird heute zumeist mit Xerxes I. (ca. 519/486–465 v. Chr.) identifiziert, die ältere Tradition hält ihn für Artaxerxes I. (?/465–424 v. Chr.) oder Artaxerxes II. (ca. 453/404–358 v. Chr.). Für keinen der drei Herrscher ist eine jüdische Gemahlin außerbiblisch belegt. – Einige römisch-katholische Theologen sahen in Ahasveros und Esther das Abbild Gottvaters und der Jungfrau Maria. Das Versprechen Ahasvers, Esther sein halbes Königreich zu überlassen (Est 5,3), wurde von Gabriel Biel (ca. 1410–1495) etwa wie folgt gedeutet: „Wir fliehen aber zuerst zur allerseligsten Jungfrau, Königin des Himmels, der der König der Könige, der himmlische Vater die Hälfte seines Reichs gegeben hat. Dies wird angezeigt durch die Königin Esther, der Ahasverus [...] die Hälfte seines Königreichs versprach. So hat unser himmlischer Vater, der Gerechtigkeit und Barmherzigkeit besaß, die Gerechtigkeit behalten und die Ausübung der Barmherzigkeit an die jungfräuliche Mutter abgetreten“ (Sacri Canonis Missae Lucidiss. Expositio Profundissimi [1576], Lectio 80, 799 [Übers. Hgg.]).
Braut Christi
Der Ausdruck „Braut Christi“ dient in der christlichen Tradition als Metapher für die Kirche, im Neuen Testament lässt er sich explizit nicht finden (vgl. aber Mt 25,1–13; 2Kor 11,2; Eph 5,25–27; Offb 19,7–9). Das Bild einer Beziehung zwischen Gott und den Menschen, analog zu derjenigen zwischen Brautleuten oder Ehepaaren, ist im Alten Testament vorgezeichnet, am deutlichsten wohl in Jes 62,5.
Absonderung von der despotischen Kirche, die allen Gebrauch des eigenen Gewissens bey den Christen aufgehoben hatte, war die Hauptsache, in der Augspurgschen Confession [...] und den Catechismis
Zur Rolle des Gewissens in der protestantischen Abgrenzung von der Papstkirche vgl. in den von Semler aufgeführten Bekenntnisschriften exemplarisch: Confessio Augustana Art. 15 („das man die gewissen damit [mit der Einhaltung von Kirchenordnungen] nicht beschweren sol“, BSLK 69), Apologie, Vorrede (BSLK 141–144); Schmalkaldische Artikel, Einleitungspassage des Dritten Teils („Denn Conscientia [Gewissen] ist bey inen [= dem Papst und seinen Anhängern] nichts, Sondern gelt, ehr und gewalt ists gar“, BSLK 433); Großer Katechismus, Vom Sakrament des Altars („Das sol nu das erste sein, sonderlich für die kalten und nachlessigen, das sie sich selbs bedencken und erwecken. [...] man [muß] sich je mit dem hertzen und gewissen befragen und stellen als ein mensch, das gerne wolt mit Gott recht stehen“, BSLK 718).
die Luther ohnehin nur für Pfarrhern [...] aufgesezt hat
Luther widmete 1529 seinen Kleine[n] Katechismus „allen treuen fromen Pfarhern und Predigern“ (BSLK 501). Schnell entwickelte er sich als Basis für die grundlegende Katechese der Hausgemeinschaft und wurde auch häufig im Schulunterricht benutzt. Sowohl der Kleine wie auch der Große Katechismus (1529) wurden 1580 als zentrale Bekenntnistexte ins Konkordienbuch aufgenommen.
Selbst die formula concordiae hat eben diese äusserliche Absicht
Vermutlich Anspielung auf folgende Passage aus der Vorrede der Konkordienformel (1577): „Was dann die Condemnationes, aussetzung und verwerffung falscher unreiner Lere [...] betrifft, so in dieser erklerung und gründlicher hinlegung der streitigen Artickeln ausdrücklich und unterschiedlich gesetzt werden müssen, [...] ist gleicher gestalt unser wille und meinung nicht, das hiemit die Personen, so aus einfalt irren und die warheit des Göttlichen Worts nicht lestern, viel weniger aber gantze Kirchen in oder ausserhalb des heiligen Reichs deutscher Nation gemeint, sondern das allein damit die falschen und verführischen Leren und derselben halsstarrige Lerer und lesterer, die wir in unsern Landen, Kirchen und Schulen keines weges zugedulden gedencken, eigentlich verworffen werden, dieweil dieselbe dem ausgedruckten Wort Gottes zu wider und neben solchem nicht bestehen können, auff das fromme hertzen für derselben gewarnet werden möchten“ (BSLK 755f.).
Cryptocalvinismus
Ausgelöst von der postumen Veröffentlichung des Arztes Joachim Curaeus (1532–1573) wurde 1574 in Kursachsen Anhängern der Lehre Melanchthons (Philippisten) vorgeworfen, sich in der Abendmahlsauffassung zu stark der Theologie Calvins (vgl.
) und Bezas (vgl.
) angenähert zu haben. Sie wurden daraufhin gefangen genommen und genötigt, ihrem „Kryptocalvinismus“ abzuschwören.
Man muß aber hier die politische Lage nicht vergessen
Zwar waren die Anhänger der Confessio Augustana (1530) durch den Augsburger Religionsfrieden (1555) reichsrechtlich geduldet, strittig war jedoch, ob auch Anhänger des Reformiertentums darunterfielen. Offiziell wurden die Reformierten erst 1648 gleichgestellt.
Unsere Fürsten sagen daher selbst am Ende
So heißt es im Beschluss des Augsburger Bekenntnisses: „es ist ye am tage und offentlich, das wir mit allem vleis mit Gots willen on rhum zuredden verhut haben, damit je kein neu und gotlose lere sich in unsern kirchen heimlich einfluchte, einrissen und uberhant nemen“ (BSLK 134).
Oder wie es Melanchthon ausdrückt, daß nicht neue unchristliche Lehre bey uns angenommen würde.
Philipp Melanchthon, eigentlich Schwarzerdt, (1497–1560) gilt als wichtigster Mitstreiter Luthers in Wittenberg. Nach dem humanistischen Studium in Heidelberg und Tübingen kam er 1518 nach Wittenberg, bekleidete zunächst den neugestifteten Lehrstuhl für Griechisch und las als Baccalaureus biblicus ab 1519 biblische Vorlesungen. Ab 1525 erhielt er wie Luther einen Sonderstatus, der es ihm erlaubte, sich stärker der reformatorischen Bewegung zu widmen. Entscheidend war sein Einfluss auf die frühen Kirchenvisitationen und insgesamt auf die Konsolidierung des lutherischen Protestantismus. So war er 1530 maßgeblich an der Formulierung des Augsburger Bekenntnisses (CA) sowie der Apologie (AC) beteiligt. Nach Luthers Tod haben sich Teile des Luthertums stärker auf Melanchthon bezogen, weshalb sie von den „Gnesiolutheranern“ abschätzig als „Philippisten“ bezeichnet wurden (s.o. Cryptocalvinisten). Die deutschsprachige Ausgabe der CA wurde im besonderen Maße Melanchthon zugeschrieben, vgl. dazu Baumgarten, Erleuterungen der im christlichen Concordienbuch enthaltenen symbolischen Schriften (1761), 47. Aus dieser Ausgabe zitiert Semler hier die Parallelstelle des eben gebotenen Zitats: „das nicht neue unchristliche lar bey uns geleret odder angenomen werden möcht“ (zitiert nach Confessio odder Bekantnus des Glaubens [1530], vgl. BSLK 134 ).
Jesuiten suchten [...] Freiheit, den Lutheranern, durch solche politische Schreckbilder [...] zu nemen
Ein Paradebeispiel hierfür bildet das als Gegenschrift zu Niccolò Machiavellis (1469–1527) Il Principe (1513) konzipierte Werk des spanischen Jesuiten Pedro de Ribadeneira (1527–1611) Tratado de la religion y virtudes que deue tener el principe christiano (1595). Das 27. Kap. trägt die Überschrift: „Que las heregias son causa de reuoluciones, y perdimientos de Estados“ (Wie Häresien Revolutionen und das Verderben von Staaten verursachen); für eine Aufzählung der tatsächlich oder vermeintlich von Protestanten verursachten Konflikte vgl. 184–187.
gar elende Beschaffenheit dieser schlecht compilirten Samlung, formula concordiae
Über Entstehungsgeschichte und Hauptaussagen der Konkordienformel äußert sich Semler ausführlich im Apparatus ad libros symbolicos Ecclesiae Lutheranae (1775), 252–432.
lutherische Theologen diese symbolischen Bücher dazu gemisbraucht haben, eine Art von päbstlichen Inquisitionsgericht damit wider einander in Gang zu bringen
Der Philosoph und Mathematiker Thomas Abbt (1738–1766) – ein Freund Moses Mendelssohns, zuletzt als Hofrat in der Grafschaft Schaumburg-Lippe tätig – veröffentlichte in seinem Todesjahr anonym eine schmale Satire, Erfreuliche Nachricht von einem hoffentlich bald zu errichtenden protestantischen Inquisitionsgerichte und dem inzwischen in Effigie zu haltenden erwünschten Evangelisch-Lutherischen Auto da Fe. Unter den für ein erstes Autodafé vorgesehenen Kandidaten zählt Abbt Semler auf (12.21), während der damals noch als orthodox geltende Bahrdt zu den die symbolischen Bücher schwingenden (17) Inquisitoren um die Hamburger Pastoren Christian Ziegra (1719–1778) und Goeze gerechnet wird (19f.23–26): „Hernach bittet der Hr. Magister [Bahrdt], daß die Akademie den Juden Moses zwingen solle, jährlich einen Beweiß für die Wahrheit der christlichen Religion anzuhören, der aber nicht so eingerichtet seyn solle, daß man mit der Vernunft darüber nachdenken könne, [...] sondern einen solchen (eben zur Demüthigung dieses stolzen Vernünftlers), der blos und allein für den Glauben und gar nicht für den Verstand“ sei (25).
weil niemand Gott ausschließen kann, wenn Menschen ihn suchen
Möglicherweise Anspielung auf Apg 17,26f.
es seie ihnen mehr gegeben worden als andern
Anspielung auf Mk 4,11f., vgl. auch Lk 12,48.
buchstäblich und proprie, oder aber logice, improprie
Vgl.
.
klingende Schelle
Anspielung auf 1Kor 13,1.
Mystiker
Vgl.
.
Theosophen
Unter gr. Θεοσοφία („Göttliche Weisheit“) wurden recht unterschiedliche mystische und naturphilosophische Ansätze zusammengefasst. Im späten 18. Jh. muss hier zunächst an Anhänger von Jacob Böhme (vgl.
) gedacht werden, aber auch an andere Einflüsse wie Paracelsus. Vgl. Baumgarten, Geschichte der Religionspartheyen (1766), 1067–1082.
König Friedrich lies auch dem Apitsch alle Privatreligion ungekränkt
Der Kaufmann Samuel Lobegott Apitzsch (?–1786) war ein Hauptprotagonist im Berliner Gesangbuchstreit. Nachdem 1780 unter der Federführung von Johann Samuel Diterich (1721–1797), Spalding (vgl.
) und Teller (vgl.
) ein neues Gesangbuch für Preußen erschienen war, das ganz im aufklärerischen Sinne viele Liedtexte glättete oder ältere Lieder strich, rührte sich dagegen Protest. Apitzsch zettelte eine Kontroverse an und forderte die Abschaffung des neuen Gesangbuchs. Friedrich II. lehnte diesen Wunsch ab, ließ ihn hingegen in einer Kabinettsresolution vom 18. Januar 1781 wissen, es stehe in Preußen allen frei zu singen, was sie wollten. Privatreligion meint hier also nicht ein Zuviel an Neuem, sondern gerade das Verharren in älteren Traditionen.
Haben wirklich die Naturalisten den Auftrag, Repräsentanten der ganzen Menschheit zu seyn?
Vgl. a22 ; s. schon b112f.
sequi antecedentem gregem, ire non qua eundum est, sed qua itur, war schon ein alter Tadel
Leicht abgewandeltes Zitat aus Senecas (vgl.
) De vita beata, 1,3: „Nihil ergo magis praestandum est quam, ne pecorum ritu sequamur antecedentium gregem pergentes non, quo eundum est, sed, quo itur“ (Vor nichts sollten wir uns folglich mehr in Acht nehmen als davor, wie Schafe der Herde zu folgen, die vor uns dahinzieht, und nicht die Richtung einzuschlagen, in die man gehen müsste, sondern die, in die man geht [Übers. G. Fink]). Kant stellte das Zitat der Vorrede seiner Schrift Gedanken von der wahren Schätzung der lebendigen Kräfte (1746) als Motto voran.
warmer Christ
Die Einteilung in „warme“, d.h. eifrige, „lau(warm)e“ und „kalte“ Christen war gängig, sie entstammt ursprünglich Offb 3,16.
daß Christus der Grund der Seligkeit ist
Vgl. 1Kor 3,11.
Feuerländer, Kamschadalen
Die südamerikanischen Ureinwohner Feuerlands und die indigenen Bewohner (Itelmenen) der nordostasiatischen Halbinsel Kamtschatka galten Europäern des ausgehenden 18. Jh.s als ganz besonders „primitiv“. Der Naturforscher Johann Reinhold Forster (1729–1798), der zusammen mit seinem Sohn Georg (1754–1794) Captain James Cook (1728–1779) auf dessen zweiter Südseereise begleitet hatte, vermeinte in seinen Bemerkungen über Gegenstände der physischen Erdbeschreibung (1783; engl. 1778; Übers. G. Forster) „Dummheit“ und „Stumpfsinn“ in der „leeren Physiognomie“ der Feuerländer zu erkennen (513) und bescheinigte ihnen, weit unter allen anderen Südseevölkern, ja selbst unter den Grönländern zu stehen (257–259; 274). – Georg Wilhelm Steller (auch: Stöller) (1709–1746), Teilnehmer der zweiten Kamtschatkaexpedition unter Vitus Bering (1681–1741), begegnete den Itelmenen zwar mit größerer Sympathie und Einfühlungsvermögen als die Forsters den Feuerländern, stellte aber u.a. fest: „Es ist diese Nation dem Gemuthe [sic!] nach, so biegsam zum Guten als Bösen, und gleichen hierinn den Affen die ohne Untersuchung alles nachmachen, was sie vor Augen sehen. [...] [Sie richten] einig und allein alles dahin, ohne Sorgen allezeit fröhlich und völlig vergnügt in ihrer Dürftigkeit zu leben“ (Beschreibung von dem Lande Kamtschatka, postum hg. von J. B. Scherer, 1774, 285f.).
Es mag in Europa gar viel geheime Verbindungen geben
Vgl.
und
.
Haben dort Schüler des Augustinus und Flacius [...] sich zu viel herausgenommen
Semler spielt auf die radikalen Sündenlehren des Kirchenvaters Augustinus und des Reformators Flacius an. Seit einer theologischen Kehrtwende im Jahre 396/397 behauptete Augustinus, dass die Menschheit als Konsequenz aus dem Fall Adams einen einzigen „Sünden“- oder „Sünderklumpen“ (massa peccati bzw. peccatorum) bilde, zu dem er selbst ungeborene Kinder rechnete (de. div. quaest. ad Simplicianum I,2, 16.19). Dabei berief er sich vor allem auf Röm 9,9–29 und 1Kor 15,22. Im nämlichen Geiste hatte Flacius die Sünde zu einem essentiellen Bestandteil der menschlichen Natur nach dem Fall erklärt. Vgl.
(Augustinus) und
(Flacius).
Erstgeborne und Eingeborne Sohn Gottes
Vgl.
.
seine Erzeugung aus dem Wesen [...] Jahrhunderte lang streiten
Vgl.
;
u.a.
schwärmerisch
Vgl.
.
Feler [...], davon selbst Luther und Calvin nicht frei waren
Gemeint ist etwa Luthers harsche Verurteilung der Täufer und der Bauern als „Schwärmer“ und „Fanatiker“ sowie die durch Calvin veranlasste Hinrichtung Michel Servets.
sacramentliche Wirkung auf die Seele
Während Orthodoxe, Katholiken und Lutheraner (vgl. CA, Art. 13 [BSLK 68]) annehmen, dass Sakramenten eine Gnadenwirkung zukommt, verstehen Reformierte (vgl. Heidelberger Katechismus, Frage 66) und Sozinianer sie als bloß symbolhafte Handlungen.
Wirkungen in der körperlichen Welt von Reliquien, Bildern und geweiheten Sachen
In der orthodoxen und römisch-katholischen Volksfrömmigkeit wurde (und wird) Reliquien (Überresten von Heiligen), Heiligenbildern (Ikonen) und geweihten Dingen (Weihwasser, Weihekreuz etc.) bei Berührung oder ehrfurchtsvoller Huldigung eine wundersame Wirkung auf das körperliche Wohl und seelische Heil des Glaubenden zugeschrieben. Schon im Jahre 386 ließ der Kirchenvater Ambrosius Märtyrergräber öffnen, um die Gebeine an einen Altar zu überführen. Im Laufe der Kirchengeschichte kam es immer wieder zu Versuchen, besagte Art von Kult zu unterbinden (Ikonoklasmus, Bildersturm), u.a. im sog. byzantinischen Bilderstreit (8./9. Jh.) oder bei Abfassung der fränkischen Libri Carolini (794). Durchsetzen konnte sich schließlich die Ansicht, eine Verehrung (veneratio) von Bildern und Reliquien sei legitim, nicht jedoch die Anbetung (adoratio). Während der Reformation kam es an verschiedenen Orten (z.B. in Wittenberg und Münster) zum Bildersturm. Luther lehnte zwar den Reliquienkult und die Weihe von Gegenständen ab, wollte Bilder jedoch im Gegensatz zu Calvin (als vor allem pädagogisches Mittel) weiterhin gelten lassen.
in reiner Tugend gegen sich selbst
Die Rede von „Tugenden gegen sich selbst“ hat Semler von seinem Lehrer Siegmund Jacob Baumgarten übernommen; vgl. z.B. dessen postum erschienenen und von Semler mit einer Vorrede versehenen [A]usführliche[n] Vortrag der Theologischen Moral (1767), v.a. 1439–1460. Eine Tugend ist für Baumgarten die „Fertigkeit zur Leistung seiner Pflicht“ (1384), eine Tugend gegen sich selbst folglich die Fertigkeit zur Leistung einer Pflicht gegen sich selbst (1399). Zu letzterer Art von Tugend zählt Baumgarten u.a. rechtmäßige Selbstliebe, Demut, Mäßigkeit, Keuschheit, Vergnügsamkeit, Gelassenheit, Sparsamkeit, Fleiß, Selbstbewusstheit, Vernünftigkeit, Beständigkeit, Tapferkeit, Sorgfalt, Weisheit und Sinn für das Himmlische.
Nebenmenschen, über die Gott einerlei Sonne scheinen läßt
Anspielung auf Mt 5,45.
Jesus hat selbst dieses als das vornemste und gröste Gebot anempfolen, woran alles Gesez und alle Propheten bei den Juden gleichsam hängen
Anspielung auf Mt 22,34–40.
daß niemand Gott zu erkennen, zu lieben mit Grunde vorgeben kann, der seinen Bruder und Nebenmenschen nicht um des gemeinschaftlichen Gottes willen, liebet
Anspielung auf 1Joh 4,20.
aus den Ikkanien, oder allgemeinen jüdischen Religionsartikeln der jüdischen Nation
Es handelt sich hier offensichtlich um einen Satzfehler und müsste vielmehr „Ikkarim“ heißen. Gemeint ist das Sefer ha-Iqqarim („Buch der Grundlehren“, 1425) des spanischen Rabbiners Josef Albo (1365–1444), das Semler an mehreren Stellen seiner Schriften bemüht, vgl. etwa Beantwortung der Fragmente eines Ungenanten (1779), 47. Albo hatte in der Tat den Juden den Glauben an einen künftigen Messias freigestellt, vgl. Sefer ha-Iqqarim I,1.
Einwoner von Palästina, die ihr Land für ein heilig Land ansahen
Der auf Pälastina bezogene Ausdruck „Heiliges Land“ findet sich in den kanonischen Schriften des Alten Testaments nur einmal: Sach 2,16 (vgl. aber 2Makk 1,7; Weish 12,3). Er tritt zurück gegenüber Palästina als dem „Land der Verheißung“ (z.B. Gen 13,15). Der Sache nach wird die Heiligkeit Israels in der rabbinischen Literatur aber zumeist unterstellt, vor allem im Hinblick auf den eschatologischen Vorzug, dort zu siedeln und begraben zu werden. Im Babylonischen Talmud heißt es etwa: „Wer vier Ellen im Land Israel geht, dem ist ein Platz in der Welt, die kommen wird, sicher“ (Ket. 111a).
Viele fanatische Juden [...], rechneten die Zeit aus, da der Christus kommen, und den heidnischen Antichrist überwinden würde, sie waren daher [...] geneigt zur Rebellion wider die Römer
Pälastina war seit dem Einmarsch des Feldherrn Pompeius (106–48) im Jahre 63 v. Chr. Teil der römischen Herrschaftssphäre. Rom übte zunächst über Vasallenkönige (am bedeutendsten: Herodes 73/37–4 v. Chr.) Kontrolle aus, von 6–66 n. Chr. fungierte Judäa mit einer kurzen Unterbrechung als römische Provinz. Trotz der römischen Toleranzpolitik (pax romana) kam es immer wieder zu Spannungen, die sich u.a. an der Steuerlast, dem jüdischen Bilderverbot (im Angesicht römischer Standarten, Münzen etc.), dem Versuch Kaiser Caligulas (12/37–41 n. Chr.), den Kaiserkult durchzusetzen, oder der Anwesenheit und dem mitunter provozierenden Verhalten der in Jerusalem stationierten römischen Garnison bzw. des dortigen Statthalters entzündeten. Zu großen, von messianischen Erwartungen befeuerten Aufständen kam es in den Jahren 66–70, 115–117, und 132–135 (Bar-Kochba-Aufstand). Die erste Erhebung mündete in den Jüdischen Krieg und führte zur Zerstörung des Jerusalemer Tempels durch die Truppen des späteren Kaisers Titus (39/79–81). Nach dem letzten Aufstand wurden die jüdischen Einwohner Jerusalems vollständig enteignet und die Stadt paganisiert. – Die Idee eines Gegenmessias (Antichrist) taucht im Judentum erst ab dem zweiten vorchristlichen Jh. auf und auch dann nur andeutungsweise, vgl. v.a. Dan 7f. sowie die vermutlich auf die Zeit der genannten Aufstände zurückgehenden pseudoepigraphischen Texte 2Bar 39,5–40,3 (im 18. Jh. unbekannt) und Sib 2–5 .
daß sein Tod das größte Opfer für die Sünden aller Menschen seie
Vgl. z.B. Hebr 10,12.
daß die Gnade und Liebe Gottes sich auch auf die Heiden erstrecke
Vgl. z.B. Eph 3,6.
daß er kein neues Reich in Palästina anfangen wolle
Vgl. z.B. Joh 18,36.
daß eine Beschneidung – – nicht mehr nöthig seie, weil man nun eine ganz andre Beschneidung hatte kennen lernen
Anspielung auf Röm 2,29 und Kol 2,11; vgl. auch 1Kor 7,19.
den allerersten Artikel [...] (Gott, Christum, Geist Gottes [...]) [...] über alles zu lieben, und den Nächsten als sich selbst
Mt 22,34–40; Mk 12,28–31; Lk 10,25–28.
von ganzem Herzen, aus allen Kräften der Seele
Erneute Anspielung auf Mt 22,34–40.
So ist der pluralis im symbolo nicaeno πιστευομεν eine Erzählung der Bischöffe
Vgl. Semler, Apparatus ad libros symbolicos Ecclesiae Lutheranae (1775), 30.
Ausgehen des heiligen Geistes
Semler denkt an den sog. filioque-Streit: „Geht“ der Heilige Geist vom Vater „aus“, wie es im nicäno-konstantinopolitanischen Glaubensbekenntnis von 381 heißt, oder von Vater und Sohn (lat. filioque)? In der Westkirche wurde der Zusatz seit dem 5. Jh. dem Bekenntnis häufig hinzugefügt, Anfang des 13. Jh.s wurde er schließlich dogmatisch fixiert, auch die Reformatoren behielten das filioque bei. Mit der Formulierung sollte vor allem der Anschein einer Unterordnung (Subordination) des Sohns unter den Vater vermieden werden (vgl.
). Bis heute bildet der zugrundeliegende trinitätstheologische Dissens die wohl größte dogmatische Differenz zwischen Katholizismus und Ostkirche.
den sogenannten Pelagianern
Vgl.
; s. auch
.
Albigensern, Waldensern, Hussiten
Alle drei Gruppen gehören zur traditionellen Häresiologie: Im südfranzösischen Albi lebten im späten 12. Jh. sog. „Katharer“, die im Albigenserkreuzzug (1209–1249) nahezu ausgerottet wurden. Unter Katharern werden Christen verstanden, die in einer Art Gegenkirche eine private Devotion der „Reinen“ (gr. καθαροί) anstrebten. – Die Waldenser um den wohlhabenden Petrus Valdes aus Lyon verpflichteten sich 1180 zunächst innerhalb der mittelalterlichen Kirche zu Armut und einer Lebensweise gemäß der Evangelischen Räte, was viele Anhänger fand und langfristig zu einer Distanzierung von kirchlichen Strukturen führte. – Der Prager Priester Johannes Hus (1370–1415) nahm bestehende Reformimpulse auf, die sich im Streit um die Kelchkommunion entluden. Die Bewegung fand auch nach Hus’ Verurteilung und Hinrichtung auf dem Konstanzer Konzil vor allem in Böhmen zahlreiche Anhänger.
der Christ darf Gott durch Christum selbst erkennen
Anspielung auf Joh 14,7–9.
unterminirlich
Die sehr seltene Vokabel hat nichts mit „unterminieren“ zu tun, sondern leitet sich vom lateinischen „interminabilis“ (unbegrenzt, unendlich) ab.
in Sachsen, in der Schweiz
Sachsen steht hier wieder einmal pars pro toto für das Luthertum, die Schweiz für das Reformiertentum.
Sie müssen umgekehrt allen alles werden
Anspielung auf 1Kor 9,22.
Brüderschaften
Bruderschaften (lat. fraternitates) waren freiwillige Personenvereinigungen, die in erster Linie religiöse und karitative Aufgaben verfolgten. Neben berufsspezifischen Bruderschaften im Kontext von Zünften und Gilden gab es vor allem religiöse Bruderschaften, die stark von der spätmittelalterlichen Laienbewegung des langen 15. Jh.s geprägt waren. Sie bildeten spezifische Formen der Devotion und verbanden gesellige, soziale und religiöse Zwecke, etwa in der Kranken- und Armenpflege und beim Totengedenken. Einerseits nahmen sie somit teils Formen und Funktion späterer Konventikel vorweg, andererseits verloren sie im Protestantismus an Bedeutung, so dass Semler sie hier als Auswuchs der vorreformatorischen Kirche brandmarken kann.
Gott, Christus, der Geist Gottes wonet moralisch in den Christen, nicht im Tempel zu Jerusalem
Anspielung auf 1Kor 3,16, vgl. auch Joh 4, 20–24.
im todten alten Buchstaben
Vgl. 2Kor 3,6 und
.
Betrügereien einer sogenanten Priester- und Pfaffenreligion
Vgl.
.
Unkraut und Waizen wächset mit einander
Anspielung auf Mt 13,24–30.
σωμα und πνευμα
D.i. Körper und Geist.
aus dem bürgerlichen Stande einen Stand der Natur schaffen
Vgl.
.
an moralischen kosmopolitischen Projekten
Vgl.
.
politischen Kirchenstaat
Gemeint ist jede Form von Theokratie, in der – wie auch im päpstlichen Kirchenstaat, der damals weite Teile Mittelitaliens umfasste – der Monarch sowohl weltliches als auch geistliches Oberhaupt ist.
wie sie auch ihr eigen Kirchenrecht nur als eine menschliche Ordnung gelten lassen
Semler bezieht sich darauf, dass die römisch-katholische Kirche im Unterschied zu den protestantischen ein göttliches Recht (ius divinum) annimmt, das die grundsätzliche Funktion und hierarchische Ordnung der Kirche vorschreibt. Anders als das menschengemachte bloße Kirchenrecht (ius mere ecclesiasticum) kann ein Gesetz, das auf den Willen Gottes zurückgeht, nicht aufgehoben, modifiziert oder ausgesetzt werden. Unterschieden wird häufig zwischen einem positiven göttlichen Recht (ius divinum positivum), das aus der Offenbarung entspringt, und dem natürlichen göttlichen Recht (ius divinum naturale; s.
), das mit Mitteln der Vernunft anhand der Schöpfungsordnung erkannt werden kann. Welche Rechtsinhalte genau göttlicher – und damit unabänderlicher – Natur sind, war und ist umstritten. Zumindest die Unterscheidung von Laien und Klerikern wird aber allgemein auf göttliche Weisung zurückgeführt; auch das Primat des Papstes gilt als Ergebnis eines von Christus selbst an Petrus und seine Nachfolger ergangenen Auftrags. Zur Unterscheidung von göttlichem und menschlichem Recht vgl. die einleitenden Passagen des Decretum Gratiani (ca. 1140), das Teil des zu Semlers Zeit einschlägigen Corpus Iuris Canonici war; vgl. ferner im heutigen Codex Iuris Canonici (1983) Can. 24 § 1; außerdem Can. 207 § 1 (Priester/Laien) und Can. 331 (Primat des Papstes).
Alle Protestanten haben aber schon lange den wahren Begrif Kirche, wozu freilich kein Pabst, [...] gehört, unterschieden
Vgl. dazu Luther, An den Christlichen Adel deutscher Nation (1520), WA 6, 404–469; 407: „Dem nach szo werden wir allesampt durch die tauff zu priestern geweyhet.“ Die Confessio Augustana, Art. 7, spricht von der christlichen Kirche als einer „versamlung aller gleubigen, bey welchen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sacrament laut des Evangelii gereicht werden“ (BSLK 61).
wie immer fort alle verständigen Regenten und Zeitgenossen curiam und ecclesiam romanam unterschieden haben
Semler denkt vor allem an die Gravamina nationis Germaniae, Beschwerden gegen Papst und Kurie, die von den Reichsständen u.a. auf dem Reichstag zu Augsburg 1518 vorgebracht wurden und sich der im Text genannten Unterscheidung bedienten. Luther knüpfte daran in seinem 1. Galaterkommentar (1519) an: „Quare et ego horum Theologorum laycorum exemplo pulcherrimo longissime, latissime, profundissime distinguo inter Rhomanam ecclesiam et Rhomanam Curiam.“ (WA 2, 448).
desto mehr giebt man ferner dem Kaiser was seine ist
Anspielung auf Mt 22,21; Mk 12,17; Lk 20,25.
das Reich Christi doch nicht von dieser Welt
Anspielung auf Joh 18,36.
Michael Molinos, über die freie Seelenruhe der wahren Christen
Der spanische Jesuitenzögling und Priester Miguel de Molinos (1628–1696) gilt als Zentralfigur des Quietismus, dessen großer Einfluss bis hin zum römischen Papsthof reichte. In seinem Hauptwerk Guía espiritual (dt. „Seelenführer“) lehrte er eine von der Mystik beeinflusste Seelenruhe. Molinos’ Geringachtung äußerlicher Frömmigkeitspraktiken weckte den Argwohn der Jesuiten, was zu einem Inquisitionsverfahren gegen ihn und einer lebenslangen Klosterhaft führte. Besonders in pietistischen Kreisen wurden Molinos’ Schriften sehr geschätzt. So brachte August Hermann Francke die lateinische Fassung Manuductio Spiritualis (1687) heraus sowie Gottfried Arnold die deutsche Fassung Der Geistliche Wegweiser (1699).
Weder ein Recht der Menschheit noch der Natur [...] so wenig als alle Künste und Wissenschaften, Früchte des Standes der Natur waren
Zum Begriff des Naturzustandes vgl.
. Semlers folgende Bemerkungen lassen sich als ein Kommentar zu Rousseaus viel diskutiertem Discours sur les sciences et les arts (1750; dt. 1752) verstehen. Semler stimmt mit Rousseau überein, dass Künste und Wissenschaften ein Ergebnis der menschlichen Vergesellschaftung sind, betrachtet ihre Hervorbringung aber anders als der französische Philosoph durchweg als „Vorzug“. Während Rousseau beklagt, dass das Leben in der modernen Zivilisation die Menschen unglücklich mache und der Aufstieg der Künste und Wissenschaften sie moralisch korrumpiere („Bei einem Menschen fragt man nicht mehr, ob er rechtschaffen ist, sondern ob er Talent hat“; Rousseau, Schriften zur Kulturkritik [1995; Übers. K. Weigand], 47), spricht Semler umgekehrt von „neue[n] moralische[n] Fertigkeiten“, die uns eine „cultivirte[.] Natur“ eröffnet habe (f369 ).
Darum leben wir eben in einer geselschaftlichen Verbindung, um nicht durch einzelne Menschen täglich überwältiget und beunruhiget zu werden
Vgl. Hobbes’ berühmte Charakterisierung des vorgesellschaftlichen Naturzustands (Leviathan [1651], Kap. 13) als einer Zeit, „während der die Menschen keine andere Sicherheit als diejenige haben, die ihnen ihre eigene Stärke und Erfindungskraft bietet. In einer solchen Lage ist für Fleiß kein Raum, da man sich seiner Früchte nicht sicher sein kann [...]. [E]s herrscht, was das Schlimmste von allem ist, beständige Furcht und Gefahr eines gewaltsamen Todes – das menschliche Leben ist einsam, armselig, ekelhaft, tierisch und kurz“ (Übers. W. Euchner). Vgl. auch erneut
.
das fruchtbare lehrreiche Buch, das Martini in Helmstädt [...] unter dem Titel: Vernunftspiegel, drucken lassen
Der Philosoph und Theologe Jakob Martini (1570–1649) war ab 1602 Professor der Logik und Metaphysik in Wittenberg, ab 1613 der Ethik und ab 1623 Professor der Theologie. Sein Vernunfftspiegel. Das ist gründlicher vnnd vnwidertreiblicher Bericht was die Vernunnft [...] sey [...] vnd fürnemlich was für einen gebrauch sie habe in Religions-Sachen (1618) gilt als eines der ersten philosophischen Werke in deutscher Sprache und macht sich zur Aufgabe, Philosophie und Luthertum zu vereinen. Anders als es Semler angibt, erschien dieses Werk nicht in Helmstedt, sondern in Wittenberg, so auch richtig in Semlers Lebensbeschreibung II (1782), 25. Womöglich verwechselt Semler den Verfasser hier mit dem namensgleichen Helmstedter Theologen Cornelius Martini (1568–1621), der ebenfalls in den durch den philosophiekritischen Theologen Daniel Hofmann (1538–1611) ausgelösten Streit um die aristotelisch geprägte Metaphysik verwickelt war.
weil Critiker, Spötter, Zweifler ihre Menschenrechte hiemit auszuüben vermeinen
Anspielung auf a16 .24 . Vgl. auch b21 .26 .63 .119 .
sich auf Vielwissen etwas einzubilden
Der Topos der (bloßen) Vielwisserei findet sich schon bei Heraklit (6./5. Jh. v. Chr.): „Viel zu wissen, lehrt nicht Verstand“ (DK B40). Während der Renaissance und im Barock galt die Polymathie (πολυμαθής; „vielgelehrt“) gleichwohl als Erkenntnisideal, dem nicht nur Universalgenies wie Leonardo oder Leibniz folgten. – Die Neologen betonen zwar in der Regel den Wert der Gelehrsamkeit, aber doch nur insofern, als es sich bei ihr nicht um leeren Selbstzweck handelt, sondern um ein Mittel, der Welt nützlich zu sein. Vgl. exemplarisch Spalding, Bey der Jubelfeyer des Berlinischen Gymnasiums [1774], in: Neue Predigten. Zweyter Band (1784, SpKA II/3), 32–51; v.a. 43f. und Nösselt, Anweisung zur Bildung angehender Theologen (1786, BdN VI), 29–34 .
Erleuchtung, ein neues Licht, ein heller Schein
Anspielung auf 2Kor 4,6.
sie solten selbst prüfen, δοκιμαζειν
Anspielung auf 1Thess 5,21: „Prüfet [gr. δοκιμάζετε] aber alles und das Gute behaltet.“
nachdenken, λογιζεσθαι
Vgl. 2Kor 10,7.11: „Bedenke [gr. λογιζέσθω]“ usw.
immer selbst wachsen in der Gnade und Erkentnis Christi
Anspielung auf 2Petr 3,18.
aus dem Stande der Kindheit fortzurücken, und ein vollkommener Mann zu werden
Anspielung auf Hebr 5,13f.
nicht aller Acker gab denselben Saamen dreißig, sechszig, hundertfältig wieder
Anspielung auf Mt 13,23 und Mk 4,20.
Protestanten sezen das jus circa sacra publica oder multis communia, ausdrüklich über den ganzen Lehrstand
Vgl.
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Ein jeder lern und thu sein Lection, So wird es wohl in jedem Hause stohn!
Semler zitiert den von ihm leicht abgewandelten Schlussreim der „Haustafel“, die Luthers Kleine[m] Katechismus (1529) angehängt wurde: „Ein jeder lern sein Lection./ So wird es wol im Hause ston“ (BSLK 527).