|a[219]| |b209| |c224| Evangelium am 16 Sontage nach Trinitatis.
Lucä 7, c√ 11–17.
Hier ist alles Deutlich, und alles Kraftvoll. Rürender, und majestätischer kan keine Geschichte seyn, und keine Erzälung davon mehr das Gepräge der Wahrheit an sich tragen, und in die Seele des Lesers tiefer eindringen! – Man lieset hier, oder vielmehr man
siehet, den erblaßten Jüngling; den Leichenzug aus dem Thore der Stadt; die Mutter mit abgehärmtem Gesicht, nassen Augen und Wangen und noch immer herabfliessenden Thränen; das zärtliche Herz
Jesu ;
die Träger welche den Leichnam zum Grabe bringen. Nun stehen sie stille
c√ als Jesus
hinzutritt und die Bahre anhält.
Er thut den Spruch der Allmacht. Und der
Todte richtet sich auf. Und fängt an zu reden. Und
Jesus eilet, ihn in die Arme der trostlosen Mutter zu füren. – – Welche herzrürende Auftritte! Welche majestätische Thaten!
|a220| Und wie simpel,
überzeugend und tief eindringend erzält! Leser die ihr euren Geschmack durch
Lectüre der
Geschicht-Bücher gebildet, und euer Herz an feinere Empfindungen gewönet!
Fület hier die Wahrheit der Wunder
Jesu , und die Göttlichkeit seiner Religion. Fület, daß dieses irrdische Leben nicht unsre Bestimmung; und das Christenthum unser allertheuerstes Kleinod ist!
|b210| |c225| {vers 11. 12.} Es begab sich daß Jesus in eine Stadt, mit Nahmen Nain, gieng, und viele seiner Jünger giengen mit ihm, auch eine Menge andrer Menschen. Als er nun nahe an das Stadt Thor kam, – Siehe da trug man einen Todten heraus.
Als er dem
Stadt Thor sich näherte, siehe! da trug man einen Todten heraus. Warum
gerade in diesem Augenblick? Wäre es eine Stunde früher, oder später
geschehen, so wäre der Jüngling begraben
worden; seine Mutter trostloß geblieben, vielleicht von der Last ihres herzzerreissenden Grams erdrückt in wenigen Tagen auf eben dem Wege zur Gruft getragen worden; so wäre das Wunder nicht geschehen und
{vers 16. 17.} viele hundert Menschen in ihren Irrtümern und Lastern geblie
|a221|ben, und für Zeit und Ewigkeit unglücklich geworden. So unzälich viel Elend ward gehindert, so unzälich viel Gutes ward gestiftet,
bloß durch den wie es uns Kurzsichtigen scheint,
kleinen Umstand, daß der Todte nicht eine Stunde früher, oder später zu Grabe getragen ward. Lasset uns hier lernen,
nichts in der Welt, vornehmlich keine unsrer freien Handlungen für Kleinigkeit ansehen.
In einer Welt, wo Alles nur Eine Kette ausmacht, so genau verbunden daß wenn nur ein Ring darin, es sey der zehnte oder zehntausendste zerbricht,
so fällt die ganze Kette
c√: wo der Stein mit der Pflanze, diese mit dem Thier, das Thier mit dem Menschen, der Mensch mit dem Engel,
c√ und so ins Unermesliche fort, zusammengeknüpfet ist:
wo ein einziger fast unmerkli
|c226|cher
|b211| Funke in den Pulverthurm
geworfen Städte zerschmettert;
ein Lüftchen aus dem Gleichgewicht gesezt den Abgrund der Erde eröfnet und Berge und Städte verschlinget; eine Lustreise Kriege erreget, und Empörungen verursachet,
wo Regenten durch die Hand des Henkers und Tausende von Menschen durch die Wuth des Krieges das Leben verliehren: wo jede Handlung und Begebenheit Folgen hat, die Jahrtausende, und in Ewigkeit fort wären; wo aus dem Kleinsten das Gröste entstehet, wie Pfen
|a222|nige immer vermehrt endlich Millionen
Tonnen Goldes machen.
Mensch, der du erst seit gestern bist und kaum einen Schritt vorwärts siehest; dessen
Spannen-langes Leben kaum so viel Zeit giebt, dich herum zu sehen und
denn zu sterben! Lerne in einer Welt, die von dem
Unendlichen geschaffen ist und regieret wird, nichts als
Kleinigkeit verachten! Lerne insbesondre Vorsicht bei
jeder deiner freien Handlungen; auch bei der
kleinsten nach Grundsäzen und Gewissen handeln. Lerne aber auch – die Kunst, die unsichtbaren Gänge des Unendlichen zu bemerken,
Gott in allem zu sehen und
Seine Stimme in jeder Begebenheit deines Lebens zu hören.
Gott spricht nicht mehr, wie ehedem zu den Propheten und Aposteln, mit vernehmlicher Stimme zu uns: aber
er redet zu einem jeden der
Seine Sprache gelernt
c√ und hören will,
durch die Begebenheiten. Denn
Er wirket in allem, und durch alles. Durch
Ihn wärmet die Sonne, und kület das Lüftchen. Durch
ihn blühet der Baum und glänzet der Stern. Für
Ihn, den
Unendlichen, ist eben darum, nichts Geringe.
Er wird nicht, wie sterbliche
|b212| |c227| Menschen, genötiget das Wichtigere zu versäumen indem
er sich mit dem Kleinen beschäftiget.
Sein Unendlicher Verstand übersiehet
Alles, mit
Ei|a223|nem Blick. Und eben deswegen
ist für
Ihn, so wenig etwas zu Klein als zu Groß. Auch die kleinste Begebenheit wird von
Ihm Bemerket, und
Geordnet, das
heißt verordnet oder zugelassen und in Absicht ihrer Umstände und Folgen gelenkt. Denn,
{Apostelgesch. 17, 24–28.} durch Ihn lebt alles, und wird beweget, und ist.
Jacob läßt
dem geliebten
Joseph ein besseres Kleid machen als seinen Brüdern. Viele Eltern, und hundert andre Menschen halten dies für eine Kleinigkeit, wobei man gar nichts zu bedenken, und die Vorsehung nichts zu thun habe. Gleichwohl fürete ihn diese Kleinigkeit an den Rand des Unterganges; und sodenn, machte sie ihn durch eine aller menschlichen Weisheit ganz unerwartete Wendung, zum Premier Minister von Egypten.
David übt sich bei seiner Heerde im Schleudern: und dies erhebt ihn auf den Thron. Der todte Jüngling zu
Nain wird gerade in diesem Augenblick zu Grabe getragen: und nun begegnet
Jesus der Leiche; und der Jüngling wird auferweckt, seine Mutter erfreuet, und Hunderte von Menschen in Zeit und Ewigkeit beglükt. Diese Betrachtung gewöne uns denn, daß wir bei jeder auch noch so geringen Begebenheit unsers Lebens die Stimme unsers Herren zu hören, und Seinen Willen zu erkennen suchen. Denn sicher
|a224|lich keine Begebenheit ist so klein,
Gott spricht durch sie zu dir. Unvermuthet entschliessest du dich auszugehen; es begegnet dir ein Elender. Du sprichst mit ihm, und findest einen wahren Freund der Tu
|b213||c228|gend. Dein
thränendes Auge und freundschaftlicher Zuspruch richtet ihn mächtig auf; die reiche Gabe deiner wohlthätigen Hand hilft seiner Noth auf lange Zeit
ab: und nun erheitert sich bei ihm Gesicht und ganze Seele; nun fliesset Herz und Mund dieses Würdigen von Dank und Liebe gegen
Gott über; und deine Seele genießt – den Vorschmack des Himmels. War dieser Elende
nicht von Gott, an dich
gewiesen, dir
empfohlen? – Der Tugendhafte legt sich am Abende eines Tages, den ihm manche Fehltritte verbittert, kummervoll in sein Bette, besorgt, ängstlich besorgt ob er auch in seiner Tugend bis ans Ende beharren werde. Kaum erwacht er des Morgens, so ist der
Gedanke in seiner Seele schon da,
c√ {2 Timoth. 1, 12.} Ich weiß an wen ich glaube, und bin gewiß daß er meine Beilage, unverbrüchlich bewahren wird. Ward dieser nicht, von
Gott selbst gestärket? – Auf einer Reise wirst du zu deinem grossen Verdruß einige Stunden aufgehalten. Und gerade in diesen Stunden ward ein Reisender auf eben dem Wege den du nahmst, ermordet. – Verlegen um
|a225| Rath in einer dir wichtigen Sache, gehest du dich aufzuheitern in eine Gesellschaft. Hier fällt das Gespräch auf eine völlig änliche Sache. Du hörest Urtheile und Nachrichten die dich auf einmahl aus aller Verlegenheit ziehen
u. s. f.
Sind dieses nicht,
Wirkungen, Seegnungen, Winke, Befehle Gottes? Es ist nicht auszusprechen, was diese Kunst des Christen, allenthalben
Gott zu
Sehen und zu
Hören, für einen seeligsten Einfluß in unsre Tugend, Ruhe und Glück hat! „
Er blieb[“], sagt Paulus
von
Mose , „bei allen Gefahren und Elend
|b214| |c229| unbeweglich[“]; –
{Hebräer 11, 27.} den Unsichtbaren gleichsam Sehend.
{vers 12.} Man trug einen Todten heraus, den Einzigen Sohn seiner Mutter – die eine Witwe war.
Ach wie viel Unterstüzung, wie viel Pflege, wie viel Sicherheit für die Zukunft, wie viel süsse Hofnungen und herzinnige Freuden, wurden durch diesen einen Streich zernichtet! – {Psalm 146, 3–6.} So verlasset euch denn, nie auf Menschen. Sie können euch nicht helfen. Nur einen Athemzug, und sie sind in ihren Staub zurücke gekehret!|a226| Und augenblicklich verschwinden alle ihre grosse Anschläge. Glücklich ist der, dessen Hülfe der Gütige, dessen Zuversicht der Herr, sein Gott ist! Er der Himmel und Erde, das Meer und alles was darin ist gemacht c√, und ewiglich Treu bleibet!
Warum aber, nahm
Gott dieser Witwe, ihre einzige Stüze? Warum ließ
er ihren einzigen Sohn sterben da
Er doch beschlossen hatte, ihn wiederum lebendig zu machen? Warum erhielt
er ihn nicht am Leben, um seiner Mutter jenen tödtlichen
Gram abzuwenden? – Dieser
Gram erweckte und stärkte ihr Vertrauen auf
Gott, und brachte sie
{vers 16.} zur Annehmung der Lehre
Jesu . So ward denn
der kurze Schmerz, für Sie, Langes,
c√ Ewiges Glück! Dies lehre uns
{Römer 11, 33–36.} daß die Fürungen Gottes zwar ofte Unbegreiflich, Allezeit aber väterlich sind. Und was ist natürlicher, als daß uns Kurzsichtigen, in einem Regierungsplan der Unermeslich in seinem Umfange und Ewig in seiner Dauer ist, Tausend Dinge ganz
|b215| |c230| Geheimniß und Räthsel sind? Diese auch dem höchsten Geist unbegreifliche Weisheit, diese durch so viel Millionen Proben bewiesene
Unermesliche Güte
anbeten; und feste davon überzeugt, auch
|a227| für die unerklärlichsten und bittersten Fürungen Gott
loben: dies macht unserm Verstande so wie unserm Herzen Ehre, und erhebet uns zu dem Range der
{1 Petri 2, 9.} königlichen Priester Gottes.
{vers 12.} Und viel Volks aus der Stadt gieng mit ihr. Desto sicherer ist die Wahrheit dieses Wunders. Es geschahe so öffentlich, vor den Thoren der Stadt, und in Gegenwart einer Menge von Menschen.
Und da sie der Herr sahe, ward er innigst gerürt, und sprach zu ihr; – – Weine nicht! – Welch ein sanfter
Character! Der Anblick der weinenden Mutter rürt
Jesum bis ins Innerste. So groß ist sein Schmerz, daß er ihn fast sprachlos macht.
Nur zwei Worte, – aber voll von Zärtlichkeit, drängen sich aus der beklemten Brust hervor. Und kaum hat er den Jüngling lebendig gemacht, so –
{vers 15.} giebt er ihn seiner Mutter. – – So müssen auch wir,
{Römer 12, 15, verglichen vers 9. 10.} mit den Weinenden weinen: nicht eher ruhen als bis wir nach allem Vermögen das Elend in Freude verwandelt. Diejenigen aber welche Freude in Elend verwandeln, wie fern sind die noch vom Reiche
Gottes!
|a228| Unser Heiland tadelt nicht die Thränen der Mutter. Er tröstet sie. Er nimmt gar selbst Theil daran. Die christliche Geduld ist also keine füllose Härte. Fülen dürfen, und sollen wir unsre Leiden. Unser Schmerz, unsre Thrä|b216||c231|nen dabei, sind natürlich, sind gerecht und heilsam. Aber sie mit c√ Vertrauen auf Gott und Dank tragen, und fromm gebrauchen: dies ist die Pflicht die alsdenn das Christenthum von uns fordert. Oder vielmehr, dies ist die Grösse und Seeligkeit des Geistes, wozu es uns erhebet. Hebräer 12, 1–11.
{vers 14. 15.} Nun trat er hinzu,
und hielte die Bahre an, worauf der Leichnam frei, und
unbedeckt lag.
Und die Träger stunden. Er aber sprach, Jüngling, – so schüzet uns kein Alter vor dem Tode! –
Jüngling ich sage dir, stehe auf! – Alsbald richtete der Todte sich auf, und fieng an zu reden. Und Jesus gab ihn seiner Mutter.
Für Unmöglich kan dies Niemand halten der auch nur weiß, was mit einer Raupe vorgeht. Unnüz aber kan es Niemanden dünken der die christliche Religion kennt. Nirgends können Wunder würdiger angewandt werden, als zum |a229| Beweise einer Religion, welche Millionen Menschen in Zeit und Ewigkeit beglückt.
Bemerket aber hier den Anstand, die Würde in dieser Handlung Jesu ! Nachdem er der Menschheit zu Ehren, das Opfer des Mitleidens gebracht, tritt er hinzu, und hält den Sarg an; und spricht das Macht-Wort, Jüngling ich sage dir, stehe auf! In dem allen drückt sich so lebhaft als rürend, beides die gröste Zuversicht zu seiner Macht, und das Wohltätige, Liebesvolle seiner Religion aus. – Sezet hinzu, daß die Begebenheit so umständlich beschrieben; und so ganz ohne allen Schmuck mit der edelsten Simplicität erzälet wird. So kan uns an der |b217| |c232| Wahrheit und Göttlichkeit dieses Wunders kein vernünftiger Zweifel mehr übrig bleiben.
Noch fester wird unser Glaube durch die Wirkung dieses Wunders. –
{vers 16[.] 17.} Sie erstaunten alle, lobpreiseten Gott und sprachen, Es ist ein grosser Prophet unter uns aufgestanden, und Gott ist seinem Volk gnädig. Und die Nachricht davon verbreitete sich in das ganze Jüdische Land und die angränzende Länder.
|a230| Lasset uns noch einen Blick auf diese Geschichte in ihrem ganzen Zusammenhange werfen! Ihr zärtliche
Eltern, Ehegatten, und
Freunde! Wie zittert
eure Seele
für dem Verlust desjenigen was euch auf der Welt das Liebste ist! Wie blutet euer Herz, wenn ihr euer Kind, euren Gatten, euren Freund leiden sehet! Welch ein herber
Gram, was für ein unbeschreiblich peinlicher Schmerz, wenn sie der Todt aus euren Armen, oder vielmehr aus eurem Herzen reißt! Hier, wo alles
c√ was uns
erfreuet nur Augenblicke dauert; und so sehr mit Kummer,
Schmerz und Sorge vergället ist; wo unsre
beste Freuden
sich über kurz oder lang in peinlichsten
Schmerz verwandeln: hier wo unsre
feinste Empfindungen, diese Ausflüsse
deiner Liebe,
Vater unsrer Seele! uns
c√ zur Folter werden, Nein!
Ewige Liebe! dieses Leben kan nicht unsre Bestimmung,
c√ unser Alles
seyn!
Doch nein, sie sind nicht Marter für uns, selbst der Todt der Freunde unsers Herzens verliert nun seine Schrecken,
nachdem du uns
durch
deinen Sohn, die Ewigkeit eröfnet und gelehret, wo
|b218||c233|hin sie vorangehen.
{Hebräer 12, 22–24.} Da werden wir sie wieder finden, um mit ihnen, und allen
deinen treuen Verehrern, und allen
deinen heiligen Engeln, und den noch
|a231| erhabeneren Bewohnern
deines Himmels, und mit unserm
Erlöser, und mit
dir,
Gott aller Völker! in der nächsten Verbindung und allerzärtlichsten Freundschaft ewig zu leben. So geniesset denn,
Seelen zur Freundschaft gemacht! geniesset ruhig und froh eure
Freunde. Druckt sie an eure wallende Brust, nezet ihre Wangen mit Thränen der Zärtlichkeit, gehet mit ihnen Hand in Hand auf dem Wege der irrdischen Wanderschaft fort. Aber
dankt es eurem Erlöser, der den Todt zernichtet, der uns und unsern Freunden die Versicherung gegeben
c√,
{Johannis 11, 25. 26.} Ich bin die Auferstehung und das Leben. Wer an mich gläubet, der wird leben, ob er gleich stirbt. Ja! wer in diesem Leben an mich gläubt, der wird – ganz und gar nicht sterben!
Weil indessen der Todt unsers sterblichen Leibes, uns auf einige Zeit von unsern Freunden trennet, und weil das ununterbrochene seelige Leben nur den Tugendhaften versprochen c√: so sey diese Geschichte auch eine Lehre für euch Eltern und Kinder. Für die Eltern, daß {1 Corinther 7, 29–31.} sie nie das Herz an die Kinder fesseln, sie bei aller Inbrunst, immer mit dem himmlischen Sinn des Christen lieben. Und für die Kinder, daß sie sich |a232| desto mehr eines christlich-tugendhaften Lebens befleissigen. Dies wird sie für hundert Verkürzungen des Lebens bewahren; und wenn dennoch ein früzeitiger Todt sie wegnimt, ihren Eltern und Freunden den Trost sichern, daß sie durch den Todt zum Leben übergegangen.