|a[257]| |b241| |c256| Evangelium am 19 Sontage nach Trinitatis.
Matthäi 9, 1–8 und Marci 2, 1–12. Lucä 5, 17–26.
{Marci 2, 1. Matth. 4, 13. 17, 24 f.
} Jesus war zu
Capernaum, einer Stadt
in Galiläa, wo er sich gewönlich befand und als Bürger die Abgaben an die Obrigkeit zahlete. In dem Hause
Petri , wo er sich gemeiniglich aufhielt,
{Marci 2, 2.} hatte sich eine solche Menge zu ihm gedränget, daß Haus und Strasse von Menschen angefüllet war, welche seinen Unterricht anhöreten.
{Lucä 5, 17.} Auch angesehene und mächtige Feinde
Jesu , Pharisäer und Gesezgelehrte aus
Galiläa und
Judäa, besonders aus
Jerusalem, waren zugegen, um seine Reden und Thaten zu bemerken. Hier nun, in Gegenwart so vieler Menschen, im Angesicht listiger und
allesvermögender Feinde
{Lucä 5, 17. und vers 15.} heilete er eine Menge von Kranken die man von allen Seiten her dahin gebracht
c√. –
Jesus befahl, und augenblicklich wurden sie alle gesund. Wer kan hier die
Macht Gottes verkennen, welche ihm zu Gebothe stand!
Lucä 5, 17.
{vers 2} Insbesondre brachte man zu ihm einen Gichtbrüchtigen, (eigentlich einen
Schlagflüssigen, einen vom Schlagfluß ganz gelämten)
auf dem Bette liegend. Es war, wie gesagt,
{Marci 2, 2.} eine solche Menge Menschen da beisammen,
daß Zimmer, Vorhaus, und Strasse nicht hinreichte sie zu fassen. Die
mitleidigen Seelen, welche jenen Unglücklichen auf seinem Bette trugen fanden es
|b242| |c257| unmöglich, sich
Jesu zu nähern.
{Marci 2, 4. und Lucä 5, 19.} Sie eröfneten sich also das Hausdach, brachen durch, und liessen ihn zusamt dem Bette, an den|a258| Ziegeln, in den Hoff, vor Jesum hinab. – – Menschen die nichts weiter kennen als die Sitten ihrer Väter und Mütter und alles kindisch verlachen was diesen nicht gemäß ist;
oder Feinde des Christenthums die alles ängstlich aufsuchen um etwas Lächerliches an einer Religion zu zeigen die ihren schimpflichen Lüsten feind ist; selbst nachdenkende Verehrer der Bibel haben dieses ungereimt, oder doch unwahrscheinlich befunden. Nach unsrer gewönlichen Uebersezung – denn,
Luther der unzäliche Dinge zum Erstaunen gut gemacht,
konte doch nicht alles gleich gut machen. Und wie in jeder Kunst und Wissenschaft, so auch in Auslegung der Bibel, wachsen die Kentnisse immer. – Nach unsers
seel.
Luthers Uebersezung also, decken die Träger des vom Schlage gerürten das Dach ab, und graben es auf, und lassen ihn durch die Ziegel hinab, mitten unter die Menschen, die Kopf an Kopf gedrängt, vor Jesu
und um ihn standen. Dies ist freilich unmöglich. Das Dach, die Sparren, Ziegeln, Mauren, Latten aufbrechen, und den Kranken auf dem Bette, durch die Ziegel herablassen konte man nicht, ohne
Jesum nebst der ganzen Versamlung zu verwunden, zu zerschmettern, und unter
Staub und Graus zu begraben. Aber das alles sind Schwierigkeiten, – nicht der Bibel sondern einer
nicht glücklichen Uebersezung, und
Unkunde in der
damahlgen Bau-Art.
In den wärmern Gegenden
Asiens war, und ist noch jezo, die Bauart ganz anders, als bei uns,
|b243| |c285[!]| die wir in einem ganz andern
Clima leben, und ganz verschiedene Gebräuche haben. Dort ist
der Hoff der gewönliche
Versamlungs-Plaz; denn das ist der küleste Ort des Hauses. Das Haus
|a259| selbst aber umgiebt gemeiniglich den Hof, welcher also
in der Mitte des Gebäudes ist. In diesen
Hoff gehen auch alle Fenster des Hauses. Das
Haus-Dach ist nicht wie bei uns, eine Reihe von Sparren, an denen Latten befestiget werden, um die Ziegel aufzuhängen. Sondern eine flache Decke über das Hauß. Hier hält man sich gemeiniglich auf.
{Josua 2, 6.} Auf dem
Dache werden allerlei häusliche Geschäfte verrichtet. Man wohnet da, und geniesset besonders die küle Abendluft. Das Haus-Dach ist der Ort, wo man seine Andacht verrichtet.
(Apostelgeschicht. 10,
9)
{1 Samuelis 9, 25. 26.} Man schläft auch wohl daselbst. Und darum befahl das Gesez,
{5 Buch Mose 22, 8.} das Dach mit einem
Gelender, einer Brustwehr zu umgeben. Dieses Haus-Dach ist endlich, mit dem Dache des Nachbahren verbunden. Wenn man das Gelender (die Brustwehr) durchbricht: so kan man vom Dache des Nachbahren, auf das Hausdach kommen, ohne in oder durch das Haus zu gehen.
In dem
Hofe des Hauses nun, nicht im Zimmer, saaß
Jesus , umgeben von einer Menge Volks, das bis auf die Strasse hinaus, gepfropft an einander stand. Die Träger, welche hier nicht durchkommen konten, bringen den Kranken mit seinem Bette, auf das Hausdach des Nachbahren. Hier brechen sie das Gelender, die Brustwehr des Hauses durch wo
Jesus war; bringen den Kranken auf das Dach des Hauses; und nun lassen sie ihn an
|b244| |c259| der Mauer des Hauses herunter, in den Hofraum wo Jesus
saaß. – – Solchergestalt sind hundert Einwürfe gegen die Bibel, nichts als Unwissenheit! Und die Menschen die
sogerne über die
Bibel spotten, gleich den verdorbenen Maagen die alles Süsse in Sauer verwandeln!
|a260|
{vers 2} Da lag nun der Elende auf seinem Bette,
bleich, abgehärmt, und unvermögend sich zu regen!
Jesus aber, als
er ihren Glauben (der Träger so wie des Kranken)
sahe; (indem sie ihn mit so vieler Mühe vom Dach herunterliessen)
sprach er zu dem vom Schlage gerürten, – Getrost mein Sohn! Deine Sünden sind dir vergeben!
Vermuthlich hatte der Leidende, sich dieses Elend durch
Unmässigkeit, Unkeuschheit oder andre Sünden selbst verursachet; oder doch sonst, schwere
Sünden begangen, welche ihn nötigten diese Krankheit als eine Strafe
Gottes anzusehen. Und dies machte ihn trostlos. Denn was kan schrecklicher seyn, als bei einer peinlichen Krankheit oder sonst einem schweren Leiden,
in sich selbst die Stimme jenes gerechten Richters hören,
Siehe da die gerechte Strafe deiner Sünden! Wo sollen, wo können wir Trost finden, wenn unser eigenes Gewissen aufstehet uns zu foltern? Und wie süß, wie entzückend muß also diesem Mitleidenswürdigsten, jene Stimme gewesen seyn,
Getrost mein Sohn! deine Sünden sind dir vergeben!
Ofte befinden wir uns in einem änlichen Fall. Wie peinlich es auch immer seyn mag, so zwinget uns doch die Wahrheit das Bekenntniß
ab, daß nur wenige Menschen krank sind oder sonst leiden, die
|b245| |c260| nicht selbst die einzige Ursache ihres Elendes sind. Denn unverschuldet zu leiden, ist es noch bei weitem nicht genug, daß wir nicht durch Völlerei, Ehebruch und änliche, auch vor der Welt grobe Laster uns in das Leiden gestürzt. Aber ein jeder lege hier die Hand auf seine Brust, und sage:
„haben wir nicht durch Genuß solcher Speisen und Getränke von denen wir wusten daß sie uns schädlich
|a261| sind;
haben wir nicht durch unzeitige
Weichlichkeit, oder
durch Vernachlässigung der Sorge für unsern Körper, oder durch manche gewagte Handlungen, oder durch
ausschweifenden Zorn, durch Eigensinn;
haben wir nicht durch unmässige Anstrengung im Arbeiten
u. s. f.
unsre Gesundheit allmälich, und unvermerkt untergraben, täglich immer etwas in unserm Körper verrückt, bis hie und da ein Theil zu wanken anfängt, und endlich die ganze
Maschine den Einsturz drohet?“ Selten, nur selten leiden wir, wo wir nicht Ursache haben uns selbst zu sagen, das ist deiner Sünden Frucht! wo wir nicht unser Elend, uns selbst
verursacht! Und ist gar vom –
Verschulden die
Rede, Herr! wer kan da vor
dir bestehen!
Welch ein Trost, ein unaussprechlicher Trost ist nun diese Geschichte für uns! Dem Elenden der seine jammervolle Krankheit, sich selbst
verursacht, oder doch durch seine Sünden
verschuldet c√; der nun aber voll von Schaam, Reue, und Besserungs-Begierde war,
wirft
Jesus nicht sein
ehemahliges Leben vor. Nein! er ruft ihm zu; mit solcher Zärtlichkeit ruft er ihm zu,
mein Sohn! – Getrost mein Sohn! Deine Sünden sind dir vergeben! So dürfen wir denn, auch bei Krankheiten und
|c261| E
|b246|lende in die wir uns durch Unmässigkeit, und andre Sünden gestürzt, dennoch nicht trostlos leiden.
Gott und unser Erlöser siehet in unserm Herzen, die innige Reue, den herzlichen Haß der Sünde, die redliche Bestrebung uns zu bessern, das sehnliche Verlangen nach
seiner Gnade, das demütige Vertrauen auf
Seine Erbarmung und das Verdienst
Seines Sohnes.
Er siehet es, der Herz und Innerstes durchschauet. Und mitleidig, und
|a262| zärtlich spricht er auch zu uns,
Getrost mein Sohn! Deine Sünden sind dir vergeben!
Jesus hatte bereits, durch unläugbahr göttliche Wunder unwidersprechlich bewiesen, daß er von Gott gesandt, mit Seiner Kraft ausgerüstet, und mit der Vollmacht bekleidet war, Begnadigung, der Welt zu publiciren, und nicht allein zu publiciren, sondern auch zu erwerben. Eben jezo hatte er vor ihrer aller Augen eine Menge von Kranken, durch blossen Befehl, auf der Stelle gesund gemacht. Gleichwohl {vers 3} sprachen einige der gegenwärtigen Gesezgelehrten bei sich selbst, dieser lästert Gott. Das Urtheil war auf die Wahrheit gegründet, daß eine unbefugte Anmaassung göttlichen Ansehens, Gotteslästerung sey. Aber durch Neid verleitet machten sie davon eine üble Anwendung. Und nun fielen sie, in der Meinung Gottes Ehre zu vertheidigen, in das ungerechteste und liebloseste Urtheil das je gefället worden; ein Urtheil welches genau zu reden, Gotteslästerung war – Selbst die Wahrheit wird uns schädlich wenn irgend eine sündliche Leidenschaft bei uns herrscht. Sie dienet alsdenn nur zum Werkzeuge des Irthums und Selbst|b247||c262|betruges. Und so wird, nach Pauli Ausdruck, {2 Corinther 2, 14–Ende} der kostbarste Lebens Balsam in ein tödtendes Gift verwandelt.
Ohne Zweifel sahe Jesus diese schwere Versündigung seiner Feinde vorher. Er, der nicht bloß die Handlungen der Menschen sahe, sondern auch {vers 4} ihre Gedanken. Dennoch ließ er sich dadurch von jener Handlung nicht abhalten. So müssen auch wir unsre Pflicht nie unterlassen, wenn gleich andre einen Anstoß, und Anlaß zur|a263| Sünde daraus hernehmen. Untersuchen ob etwas Gottes Wille sey; alle erlaubte Mittel der Klugheit brauchen um allen Anstoß andrer dabei zu verhüten; und sodenn die Folgen unsrer Handlung, der Regierung desjenigen überlassen der sie uns anbefohlen: das ist der leichte und sichre Weg den uns das göttliche Wort vorschreibt. {Epheser 5, 10. 15.} Prüfet was dem Herren wohlgefällig ist. Und handelt vorsichtig als Weise.
{vers 4–8} Als aber Jesus ihre Gedanken sahe, – ein neuer Beweis seiner göttlichen Sendung und seiner Vollmacht Sünde zu vergeben; –
sprach er, warum denket ihr so Arges in eurem Herzen? Denn, welches ist leichter, zu sagen, dir sind deine Sünden vergeben; oder zu sagen, stehe auf und gehe hin? Mit andern Worten, „beides fordert gleiche Macht und Ansehen. Wer Krankheiten durch Wunder heilen kan, der hat auch die Macht Sünde zu vergeben.“
Ihr werdet aber alsbald sehen, daß des Menschen Sohn, (der, den ihr für nichts als einen blossen
c√ Menschen haltet)
die Macht hat Sünde zu vergeben. – Nun sprach|c263| er zu|b248| dem vom Schlage gerürten, stehe auf, hebe dein Bett auf und gehe heim. Und er stund auf und gieng heim. Da das die Versamlung sahe,
verwunderten sie sich, und lobpreiseten Gott daß er eine solche Macht, Menschen gegeben.
Nicht so wohl die Macht Sünde zu vergeben, als vielmehr die wundertätige Heilung leiblicher Krankheiten war es, was diese schwache, niedrige, am Sinnlichen klebende Menschen in Erstaunen sezte. Aber für bessere edlere Seelen kan nichts
|a264| wichtiger, nichts erfreulicher seyn, als diese Lehre
Jesu des Welt-Heilandes von Begnadigung der Sünder.
Jesus Christus hat uns in seinen Reden und in den Schriften seiner Apostel, so
ofte im Nahmen
Gottes der ihn gesandt, die Versicherung gegeben, daß wer an
{Johannis 3, 16} ihn glaubet nicht verlohren werde, sondern das ewige Leben habe;
{Römer 8, 1} daß keine Verdammung mehr bei denen sey die ihn annehmen, wenn sie nicht nach den sündlichen Begierden sondern nach den Vorschriften des heil.
Geistes leben; ja; {Römer 8, 14. 15} daß so gar ein jeder welcher nach göttlicher Gemütsart strebet und wandelt, ein Kind Gottes sey. Und diese Begnadigung, diese Aufnahme zur Freundschaft und Kindschaft des
Allmächtigen hat er dem sich redlich bessernden Sünder nicht allein als Gesandter
Gottes an die Welt, versprochen, sondern auch als Erlöser der Welt erworben.
Denn, {Johannis 1, 29} er ist das Gott geweihete Lamm, welches die Strafen für der Welt Sünde geduldet.
{Römer 3, 24. 25} Ihn hat Gott|b249| |c264| zum Versön-Opfer gemacht durch den Glauben an seinen Todt.
Und diese Lehre ist das
einzige sichere Fundament aller ächten Tugend und Trostes. Denn 1) Nur dadurch erhalten wir
festen Muth zur Besserung; indem sie uns die gewisse Versicherung von Vergebung aller unsrer vorigen Sünden
giebt. Wo
diese nicht ist, wo wir an dieser Vergebung auch nur zweifeln; da wird die Furcht
für den
einmahl verwirkten Strafen
Gottes allen Muth niederschlagen. Wie ein Mensch, der seine besten Jahre unnüz vorbeistreichen lassen, und nun zweifelt daß er je in Wissenschaften fortkommen
|a265| werde, allen Muth aufgiebt: so wird, und muß auch bei jedem Sünder
– und welcher Sterbliche kan sich von dieser Zahl ausnehmen! – die Lust und Entschliessung sich zu bessern, immer durch den Gedanken niedergeschlagen werden
„Aber einmahl ist doch schon
Gottes Gnade verscherzt! Wer weiß,
will er, kan er mir vergeben, und mich zu Gnaden aufnehmen?“ 2) Die Lehre von der Begnadigung und Beglückung durch
Jesu Verdienst,
flösset der Seele des also Begnadigten
innige Dankbahrkeit und Liebe zu Gott ein; zu dem
Gott der sich hier als die Liebe selbst gegen ihn beweiset. Und nun hat er auch, die
Kraft sich zu bessern. 3) Nur
{Römer 8, 31–39} dadurch erhalten wir Muth und Stärke, in der angefangenen Tugend zu beharren und zu wachsen. Auch unsre beste Tugenden sind immer noch mit mancherlei Mängeln und Fehltritten beflecket. Und für diese giebt uns jene Lehre,
väterliche Nachsicht Gottes.
Römer 8, 1.
|b250| |c265| Auch der Stärkste in der Tugend findet noch immer so viel Versuchungen von Innen und Aussen, daß diese jezige Schwäche unsrer Natur, uns muthlos und bestürzt machen, und auf solche Art dem Laster Preiß geben würde. Dieser Bedürfniß hilft jene Lehre durch den
{1 Thessalonicher 5, 23. 24.} beständigen Beistand Gottes ab dessen sie uns versichert. 4) Eben darum wird auch dadurch, die Tugend-Uebung allererst, uns
recht angenehm und freudenvoll gemacht. Erlöset und Begnadiget durch den Sohn
Gottes, Freunde und Kinder des
Allmächtigen, sind wir nun auch vergewissert, daß
|a266| Gott {1 Corinther 4, 2. 15, 58.} mehr auf die Redlichkeit als die Volkommenheit unsrer Tugend achtet; daß
er jede tugendhafte That, Rede, und Empfindung mit Beifall bemerket, und dereinst mit einem eigenen
Gnaden Lohn, im Himmel vergelten wird. Nun wird die redliche Uebung der Tugend, für uns eine nie versiegende Quelle, woraus an jedem Tage, Ruhe,
Heiterkeit und Freude in die Seele fließt. – So
Beruhiget, Reiniget, und
Veredelt die Lehre von
Jesu Verdienst und dem wahren Glauben an dasselbe, unsre Seele. So wichtig, so unaussprechlich wichtig ist für die Welt, sein Ausspruch,
Getrost! Dir sind deine Sünden vergeben!
Abkürzungsauflösung von "f.": folgend