|a[45]| |b42| |c42|
Evangelium am 4 Sontage nach Trinitatis.
Menschen-Liebe ist unsrer Seele vom Schöpfer so nachdrücklich empfohlen; wir empfinden alle das Edle, Schöne dieser Tugend so stark; wir fülen alle so sehr, wie unentbehrlich diese Gemüts Art zur Ruhe und Wohlfarth der Menschen ist: daß daher alle Welt, Christen und Nicht-Christen, selbst die Lieblosesten und grösten Menschen-Feinde sich zum Lobe dieser Tugend vereinigen; und ein jeder sich gerne und leicht einbildet, er besize diese rümliche, edle, grosse Eigenschaft, − die Menschen-Liebe.
Eben darum ist denn auch keine Tugend die so gemishandelt wird als diese. Man zerstümmelt; man verfälschet sie; man verwandelt sie in Laster, man machet sie gar zu einem Freiheits-Briefe der schändlichsten Thaten. Nur gar zu viele Menschen zeiget uns die Erfahrung, welche einige Fruchtlose Empfindungen und Reden mit diesem ehrwürdigen Nahmen belegen; die gar Partheien-Geist, Unbarmherzigkeit, und Grausamkeit gegen das gemeine Beste, Menschen-Liebe nennen; und bei einer solchen zerstümmelten Tugend, ihren Stolz, Müssiggang, Betrug, Unzucht und andre Laster für völlig entschuldiget halten.
|b43| |c43| Es ist daher eine sehr erhebliche Angelegenheit für uns, sicher zu wissen, ob wir diese Tugend in der That besizen. Eine äusserst wichtige Frage für einen jeden, bin ich ein wahrer Freund|a46| der Menschen? „habe ich Die Menschen Liebe, welcher Gott einen so hohen Werth beilegt, daß er sie für das sicherste Kenzeichen des wahren Glaubens an Jesum , und des Antheils an seinem Verdienst erkläret?“
Zu dieser Untersuchung giebt uns
Jesus hier, eine ausfürliche Anleitung;
eine Anweisung unsre Menschen Liebe zu prüfen. Um gewiß zu werden, ob wir wahre
Menschen Liebe haben?
Ob das was wir bei uns mit diesem Nahmen belegen, diese erhabene Tugend, oder eine blosse Larve und Nachäffung derselben sey? müssen wir folgende Fragen an uns thun:
- 1) Bin ich Liebesvoll gegen diejenigen die mir zuwider sind?
- 2) Fliesset meine Güte gegen einzelne Personen, aus reiner Liebe zu Gott und Seinen Menschen?
- 3) Entsage ich jeder Begierde und Handlung die mir Gottes Gesez verbiethet?
- und 4) Näre und übe ich meine Menschen Liebe mit Demuth?
Jede dieser Regeln ist zugleich auch ein kräftiges Mittel, unsre Menschenliebe zu befestigen und zu stärken.
|b44| |c44| {Erste Regel} Auch der gröste Bösewicht, – so tief hat Gott den Trieb der Menschenliebe in unsre Seele gelegt! – hat immer noch einige Menschen, denen er wohl will; gegen die er Mitleiden, Theilnehmung an ihrem Schicksahl, Güte und Wohlwollen fület; deren Vergnügen und Glück er auch wohl mit Aufopferung mancher eigenen Vortheile befördert. Dies nun ist eine Quelle des scheinbahrsten und gefärlichsten Selbst-Betruges. – Wie? „Dort als ich einen Menschen leiden sahe, ward |a47| ich bis zu Thränen gerürt! Da, gab ich so reiche Allmosen, unterstüzte den Nothleidenden so kräftig, freuete mich über diese Liebreiche That und die Aufheiterung des Leidenden so herzlich! So manchem Menschen leiste ich recht beschwerliche Dienste. Ich weine mit ihm in seiner Noth, bringe bei ihm ganze Nächte zu ihn in seiner Krankheit zu pflegen! Soll ich nun nicht Ursache haben von meinem Seelen-Zustande gut zu denken? Soll ich denn das nicht für Menschen-Liebe halten?“
Nein! Christ! – Weil du, als Christ, eine
vorzügliche Kentniß hast, oder doch haben kanst, darum solst du nicht,
bloß deswegen von dir gut denken; solst du das
alles noch nicht so gleich für
Menschenliebe halten! Einem Menschen, der von der Bibel nichts weiß, dem Heiden, Türken, mag dieses vielleicht, auch bei
Gott genug seyn, weil er nichts besseres wissen kan. Von uns Christen aber, wird bei unsrer
vorzüglichen Kentniß, auch eine
vorzügliche Tugend gefordert. Denn, so lehret uns unser
|b45| |c45| Heiland:
{vers 32} So ihr liebet die euch lieben, oder wie er es, nach
Matth. 5,
46 ausgedruckt, wenn ihr
nur den liebet der euch liebet,
was Danks habt ihr davon? Das kan euch keinen Ruhm und Lohn bei
Gott verschaffen. (siehe
vers 35, und
Matth. 5,
45 verglichen mit vers
46−48) Denn, die Sünder (oder,
nach
Matth. 5, 46.
47, die
Zöllner, Menschen die solche verworfene Bösewichter sind, als die Zolleinnehmer in den Augen der Juden waren)
lieben auch ihre Liebhaber. „Auch die Bösewichter lieben diejenigen, von denen sie geliebet werden.“
Diejenigen lieben, denen wohlwollen, die uns lieben; die uns schüzen; die mit uns durch Bande |a48| des Bluts oder der Freundschaft verknüpft sind; wenigstens uns nie beleidiget und zuwider gewesen: hiezu treibet uns schon die blosse Natur, so wie sie uns zum Essen, Trinken, und Schlafen treibt. Auch kan dieses mit den gröbsten Lastern, den ärgsten Feindseligkeiten gegen die Welt bestehen. Selbst der fülloseste Barbar, welcher zwanzig, hundert Menschen mit kaltem Blut peiniget, zu Tode martert, liebet seine Kinder, seine Verwandten, seine Freunde. Wenn wir demnach, bloß die lieben die uns zugethan, oder wenigstens nicht zuwider sind: so ist das sicherlich nichts anders, als blinder Trieb; nicht Menschen-, sondern Eigen-Liebe.
Vers 33. Und wenn ihr nur euren Wohlthätern wohl thut, was Danks habt ihr|b46| |c46| davon? Denn die Sünder thun dasselbige auch. „Dies kan euch keinen Ruhm und Lohn bei Gott bringen. Denn, auch die Bösewichter thun dasselbe.“ – Die Dankbahrkeit lieget so tief in jeder menschlichen Seele, daß auch das verruchteste Herz durch anhaltende Wohlthaten kan erweichet werden. Nicht selten sind auch solche Gefälligkeiten und Liebes-Proben gegen unsre Wohlthäter, der Preiß womit wir neue Wohlthaten von ihnen erkaufen wollen. Wenn wir daher bloß unsre Wohlthäter, nicht aber unsre Beleidiger lieben: so ist das abermahls nichts anders, als ein blinder Natur-Trieb, oder gar ein feiner und niedriger Eigennuz.
Vers 34.
Und wenn ihr nur denen leihet, von denen ihr hoffet zu nehmen: was Danks habt ihr davon? Denn die Sünder leihen den Sündern auch, auf daß sie gleiches wieder nehmen. – Der Geldgeizige leihet häufig
|a49| aus, um mit seinem Gelde zu wuchern. Der Ehrsüchtige hilft einer sinkenden Familie mit
einem
Capital, auch ohne Zinsen: denn schon im Geist belustiget ihn das
Lob womit man seine
Grosmuth preisen wird. Der gewissenlose Hofmann hat sich hundert Familien durch Darleihen ohne Interessen
verbunden, um ihre Stimmen und Hände desto sicherer zu seiner Ungerechtigkeit bereit zu haben. – So ist denn ja das blosse Leihen, das blosse Wohlthun noch kein sicheres Zeichen unsrer
Menschen Liebe. Zuweilen kan es gar eine nichtswürdige, schlechte, niederträchtige; eine schändliche und strafbahre That bei uns seyn.
|b47| |c47| Vers 35.
Aber liebet eure Feinde; thut wohl und leihet, daß ihr nichts dafür hoffet: Oder, nach
Matthäi 5, 44. 45.
Liebet eure Feinde, wünschet Gutes denen die euch fluchen, thut wohl denen die euch hassen, betet für die so euch schmähen und verfolgen. So werdet ihr Kinder des Allerhöchsten seyn; denn er ist gütig über die Undankbaren und Boshaftigen. – Auch die sollen wir also lieben, auch denen wohlthun,
die uns nichts vergelten können: da wo wir keinen Ruhm, keinen Lohn, gar keinen Vortheil von unsrer Liebe und Wohlthun zu erwarten haben. Noch mehr! Auch unsre
Beleidiger und Feinde. Auch die
ärgsten und boshaftesten Feinde; die uns fluchen; uns schmähen; uns an der empfindlichsten Seite, an unsrer
Ehre und
guten Nahmen angreifen; welche gar darauf ausgehen unser ganzes Glück zu Grunde zu richten. Auch diese sollen wir Christen lieben, von ganzem Herzen lieben.
So wie nur das, ächtes Gold ist, was die
Probe des Feuers aushält: so ist auch nur
das ächte
|a50| Menschenliebe, welche bei den Beleidigungen und Feindseligkeiten anderer die Probe aussteht. Ist es uns also darum zu thun, uns nicht in einen
Selbst Betrug zu stürzen, der über kurz oder lang sich in Schande und Elend endiget: so müssen wir nicht bloß auf unser Betragen gegen
Freunde oder solche die uns nicht
beleidigen, sondern vornehmlich auf unser Verfahren gegen die Feinde sehen, und unserm Gewissen die Frage
|b48| |c48| ernstlich vorlegen:
bin ich liebesvoll auch gegen diejenigen die mir zuwider sind? „Wie bin ich gegen die gesinnet, die anders denken als ich, mir widersprechen, mich tadeln? Dulde ich ihre verschiedene Meinung gern? Höre ich Widersprüche und Tadel, wenn sie auch von Unwissenden kommen und auf
eine unbescheidene Art gemacht werden, gelassen an, um sie ruhig zu überlegen, und wenn ich sie gegründet finde, zur Besserung meiner Einsichten und Handlungen zu brauchen?
Befleissige ich mich wenigstens redlich, so zu handeln? Oder kan ich dagegen, keinen Widerspruch leiden? Gerathe ich bei dem Tadel anderer sogleich in Flamme, und erlaube mir
alles um sie verächtlich und lächerlich zu machen, ihre Meinung zu unterdrücken, und die Ueberlegenheit meiner Einsichten zu zeigen? – Wie bin ich gegen die gesinnet, deren
Ruhm den meinigen verdunkelt, deren Gewinn den meinigen verringert? Gegen den Amts-Gehülfen, denjenigen der mit mir auf einem Posten stehet, einerlei Handlung, Gewerbe, Profession treibet, gleiche Vortheile mit mir suchet?
Sehe ich den glücklichen Fortgang seiner Arbeit und Bemühung, den Wachsthum seines Beifalls, Einnahme, Gewinns gerne? Bemühe ich mich, ihm diese Freude so viel an mir ist und mit Wahrheit geschehen kan, durch
|a51| gute Urtheile und Empfehlungen zu sichern und zu befördern?
Befleissige ich mich wenigstens redlich, dergestalt gegen ihn gesinnet zu seyn und zu handeln? Oder werde ich hingegen, durch jeden Vorzug dieser meiner Neben-Menschen
aufgebracht, unruhig verdrüslich
gemacht, zum
|b49| |c49| Neid, Misgunst und Schaden-Freude, auch wohl
c√ hämischen Urtheilen und Handlungen gegen sie verleitet? – Wie bin ich gegen
diejenigen gesint,
die sich gar wider mich erklären, gegen meine Beleidiger und Feinde? Trage ich ihre Beleidigungen? Vergebe ich ihnen so gleich und von ganzem Herzen? Bete ich für ihr Wohl zu
Gott?
Bemühe ich mich wenigstens redlich, dis alles zu thun? Oder erlaube ich mir Haß, Feindschaft, beleidigende Reden, und rachsüchtige Handlungen gegen meine Feinde?“
{Zweite Regel.} Jedoch! auch hiebei sind wir noch nicht für allem Selbst-Betruge gesichert! Das alles kan die Wirkung einer natürlichen Kaltblütigkeit und Schläfrigkeit; einer Einfalt; der Eitelkeit; der Heuchelei; oder gar einer ausstudirten Bosheit seyn. Jesus giebt uns daher noch die zweite Regel zur Selbst-Prüfung. Fliesset meine Güte gegen einzelne Personen, aus reiner Liebe zu Gott und seinen Menschen?
Vers 36.
Seyd barmherzig, so wie auch euer Vater barmherzig ist. Oder nach
Matth. 5, 48.
Seyd vollkommen, (aufrichtig in eurer Menschen-Liebe)
wie auch euer Vater im Himmel vollkommen ist. „Seyd aufrichtige Freunde aller Menschen, so wie
Gott euer
Vater es ist.“ – Also,
Gott änlich und dankbahr zu werden: dis
muß die Quelle, die Absicht unsers gütigen Sinnes und Betragens gegen andre seyn.
Darum müssen wir gegen alles was Mensch ist,
|a52| gütig seyn,
weil Gott es ist, und wir nichts höher schäzen als nach
Seinem|b50| |c50| Muster uns zu bilden:
darum, weil Gott gütig gegen uns ist; weil wir durch die unaussprechliche Liebe, womit
Er uns jeden Augenblick behandelt, inniglich beschämt und gerürt, herzlich wünschen,
Ihm dafür uns recht dankbahr zu bezeigen.
Barmherzig, Gütig müssen wir Christen seyn,
um Kinder des Allerhöchsten zu werden, welcher auch gegen die Undankbahren und Bösen gütig ist.
Fehlet es uns an dieser Gesinnung und Gemüts-Art: so sind wir zu allem, was Schön, Edel und Groß ist, schlechterdings ungeschickt. Denn ein Undankbahrer, ein im höchsten Grade Undankbahrer, der sich des schändlichsten, allerschwärzesten Undanks, des Undanks gegen
Gott, schuldig
macht, kan nicht anders als schlecht, niederträchtig und schändlich handeln. Fehlet es uns an dieser Gemüts-Art: so sind alle, auch noch so glänzende Handlungen nichts werth; nichts als Betrug der Welt und unsrer selbst. Denn man kan die glänzendsten Thaten aus so schändlichen Absichten verrichten, daß sie recht grobe Schandthaten werden. Man kan Beleidigungen vergeben, um den Feind desto empfindlicher zu ärgern. Man kan seine Untergebene freundschaftlich behandeln
, um sie zu Werkzeugen seiner Laster zu machen. Nur eine im Herzen gegründete, die ganze Seele beherrschende Liebe zu
Gott und
Seinen Menschen, giebt wie allen unsern Handlungen, also auch dem gütigen Betragen gegen andre allererst einen
Werth, machet es zu edler That, ächter Tugend, zu wahrer Menschen-Liebe.
|b51| |c51| {1 Corinth. 13, 1−3} Wenn ich mit Menschen- und Engel-Zungen redete, und hätte die Menschen-Liebe nicht: so wäre ich ein tö|a53|nend Erz, oder eine klingende Schelle. Und wenn ich weissagen könte, und wüste alle Geheimnisse
, und alle Erkentniß; und hätte allen Glauben, also, daß ich Berge versetzte; und
hätte der Liebe nicht: so wäre ich nichts. Und wenn ich alle meine Habe den Armen gäbe, und liesse meinen Leib brennen, und hätte der Liebe nicht: so wäre mirs nichts nütze.
Um demnach den verfürerischen Blendwerken der Eigenliebe zu entgehen, müssen wir unsre Menschen-Liebe auch nach dieser Regel probiren; c√ unserm Gewissen die Frage vorlegen: Entspringet meine Güte gegen einzelne Personen, aus reiner Liebe zu Gott und Seinen Menschen? „Warum thue ich den Armen Gutes? Warum vergebe ich die Beleidigungen? Was ist die Ursache meiner Herablassung, Gesprächigkeit, Gefälligkeit, Nachgebens, Dienstbeflissenheit? Warum behandle ich die Irrende und Lasterhafte, so nachsichtlich und schonend? Geschiehet es darum, weil mir jeder Mensch als ein Geschöpf, Erlöseter, und bestimter Freund Gottes theuer und lieb ist? Darum, weil ich so gerne dem Gott recht dankbahr und änlich werden möchte, der mir durch Christum so unermesliche Liebe erwiesen, und mich täglich mit solcher unaussprechlichen Herablassung, Nachsicht, Langmuth, Wohltätigkeit, und Freundlichkeit behandelt?“ Wohl uns! wenn unser Gewissen uns dieses Zeugniß giebt! Sodenn, aber |b52| |c52| auch nur allein alsdenn, ist, nach Jesu Versicherung, unser Lohn groß; und wir sind – Kinder des Allerhöchsten.
{Dritte Regel.} Eben die Liebe zu Gott und Seinen Menschen, welche uns antreibet, das eine Böse zu lassen, in dem einen Stück liebreich zu seyn, wird uns auch |a54| sicherlich antreiben, alles andre Böse zu lassen, und in jedem andern Stück liebreich zu seyn. Dies leitet uns zur dritten Regel, der dritten Frage unsre Menschenliebe zu prüfen: Entsage ich jeder Begierde und Handlung, die mir Gottes Gesez verbiethet?
Vers 37. 38. Richtet nicht so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammet nicht so werdet ihr auch nicht verdammet. Durch Richten verstehet hier Jesus nicht, jedes nachtheilige Urtheil das man von andern fället. Dies ist ofte, eine obgleich dem Christen traurige, c√ Pflicht. Sondern, ein Verdammungs-Urtheil über den Nächsten fällen; ihm Gottes Gnade und die ewige Seligkeit absprechen. Die damahligen Juden, (wolte Gott daß mit ihnen diese Bosheit ausgestorben wäre!) giengen in ihrem Stolz und Menschen-Haß so weit, alle Nationen ausser der ihrigen, jeden Samariter und Heiden, als Gott-abscheuliche Menschen, als Kinder des Satans und der Hölle anzusehen. Diesem höllischen Religions-Hasse und Verdammungs-Sucht sezet sich Jesus so ofte entgegen. {Johann 3, 17.} Des Menschen Sohn, sagt er ist nicht gekommen daß er die Welt richte, (verdamme) |b53| |c53| sondern daß die Welt durch ihn selig werde. Und so verbiethet er hier, auch allen seinen Anhängern, das Richten, oder wie er es gleich erkläret, das Verdammen ihrer Neben-Menschen. Er will daß wir, als Anhänger einer Religion die jeden Menschen zum Erlöseten des Sohnes Gottes macht, weit entfernt von aller Verdammungs-Sucht, jedem unsrer Neben-Menschen, auch dem bösesten, auch dem gröbsten Feinde der Religion, die ewige Seligkeit von ganzem Herzen anwünschen; ihm dazu aus allen Kräf|a55|ten behülflich seyn; sie liebreich hoffen; und das entscheidende Urtheil darüber, lediglich dem Allwissenden überlassen sollen. – Richtet nicht so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammet nicht, so werdet ihr auch nicht verdammet. Vergebet, so wird euch vergeben. Gebet, so wird euch gegeben. Ein voll, gedruckt, gerüttelt, überflüssig Maaß wird man in euren Schooß geben. Denn eben mit dem Masse da ihr mit messet wird man euch wieder messen. Mit andern Worten: „Alles was irgend einem Menschen, ohne Noth und Recht, auch nur einen misvergnügten Augenblick macht, sey euch abscheulich und verhaßt. Vergnügen und Wohlthun sey hingegen der grosse Zweck aller eurer Ueberlegungen, Reden und Handlungen. So werdet ihr auch an Gott, einen so gütigen Richter, und freygebigen Wohlthäter finden, als ihr es gegen eure Neben-Menschen zu seyn euch bemühet.“
|b54| |c54| Ein solcher Sinn aber kan schlechterdings nicht Statt finden, ohne die redliche Bestrebung allem dem zu entsagen was uns irgend ein Gesez Gottes verbiethet, und alles das zu thun, was uns irgend ein Gesez Gottes gebeut. Denn Gottes Gesez ist durch und durch Wohltätig und Gemeinnüzig. Gott verbiethet uns nichts als was der menschlichen Geselschaft schädlich, und befiehlet nichts als was ihr heilsahm ist. Müssiggang, Schwelgerei, Verschwendung, Unzucht aller Art Vernachlässigung des öffentlichen Gottesdienstes, Kälte gegen Gott und Religion, und was es auch immer seyn mag, das uns Gottes Gesez untersaget; das alles vermindert die Summe des Vergnügens und Wohls unsrer Neben-Menschen, stürzet sie dagegen in Unruhe, Kummer, Traurigkeit, |a56| Schmerz, Elend und Jammer. Hingegen Arbeitsamkeit, Sparsamkeit, Mässigkeit, Keuschheit, äussere Ehrerbietung gegen Gott und die Religion und jede andre Tugend die uns Gottes Gesez befiehlet, hindert Schmerz und Elend und leitet im Gegentheil Freude, Wohlstand und Glück unter die Menschen. Menschen-Liebe ist die Erfüllung des ganzen Gesezes Gottes. Alle Geseze Gottes sind in dem Einzigen, als ihrer Summe enthalten; liebe deinen Nebenmenschen eben so wohl als dich selbst. Röm. 13, 8−10. Gal. 5, 14.
Um also unsre Menschen-Liebe sicher zu prüfen, müssen wir diese Frage an uns
thun, entsage ich jeder Begierde und Handlung|b55| |c55| die mir Gottes Gesez verbiethet? „Bändige ich meine Spottsucht? Unterdrücke ich die Rachbegierde?
Mässige ich meinen Zorn? Schränke ich meine Begierde nach Ergözung ein? Bin ich sorgfältig in Besuchung des öffentlichen Gottesdienstes, Genuß des
h. Abendmahls, und jeder andern
Sache die zur Empfehlung der Religion dienet?
Insbesondere, hasse ich die Unzucht aller Art: nicht allein den Ehebruch, sondern auch die Hurerei und Selbst-Befleckung; nicht allein Unzucht in äussern Thaten, sondern auch in Reden, Gedanken, und
bloß-innern Begierden?
Befleissige ich mich dagegen aus allen Kräften der unbefleckten Keuschheit in Werken, Reden und Gedanken? da diese Sünde besonders, eine Pest der menschlichen Gesellschaft, und die christliche Keuschheit zum Flor derselben so unentbehrlich ist! Ueberhaupt,
{Römer 12, 2.} strebe ich ernstlich
darnach jeden Theil des göttlichen Willens immer besser zu lernen, und immer glücklicher auszurichten? da
Gottes Wille, durch und durch ein
wohltätiger und angenehmer Wille
|a57| ist.“ – Finden
wir dieses nicht bei uns,
herrschet auch nur
eine einzige Sünde sie sey welche sie wolle, mit unserm Wissen und Willen über uns: so ist es
unmöglich daß wir Freunde der Menschen sind. So ist
alles was wir Menschen-Liebe bei uns nennen, sicherlich nichts als blinder Trieb, oder Wirkung des Ehrgeizes und Eigennuzes.
{Vierte Regel.} Noch eine Regel unsre Menschen-Liebe zu prüfen und zugleich zu stärken, giebt uns Jesus |b56| |c56| in unserm Text. Aechte Menschen-Liebe muß mit Demuth genärt und ausgeübet werden.
Vers 39−42.
Und er sagte ihnen dis Gleichniß. Mag auch ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beyde in die Grube fallen? Der Jünger ist nicht über seinen Meister: wenn der Jünger ist wie sein Meister, so ist er vollkommen. (Wenn der Lehrling so geschickt ist als sein Meister: so bleibt er nicht länger Lehrling.) Der Sinn dieses Gleichnisses ist, wie der
Zusammenhang Vers 37.
38, lehret, folgender: „Alle Strenge der Untersuchung und des Tadels richte auf dich selbst. Suche vor allen Dingen,
dich zu bessern, deine eigene Blindheit zu heilen. Und bedenke stets, daß du von sündlichen Eltern gebohren, nichts besser als sie, ein Sünder, zu allen Lastern aufgelegt bist, wie es alle deine Vorfahren waren.“ –
Was siehest du aber, einen Splitter in deines Bruders Auge, und des Balken in deinem Auge wirst du nicht gewahr? Oder wie kanst du sagen zu deinem Bruder; halt stille, Bruder, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen: und du siehest selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zeuch zuvor den Balken aus deinem Auge: und be|a58|siehe denn, daß du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehest. Mit andern Worten: „verächtlich, stolz deinen irrenden und sündigenden Neben-Menschen behandeln, ist äusserst thöricht. So thöricht, als wenn ein
blinder den andern leiten; der Lehrling klüger als der Meister seyn; oder jemand mit einem unbemerkten
Balken in seinem Auge, den Splitter aus dem Auge seines
Nebenmenschen ziehen wolte.“
So müssen wir
denn um wahre Menschen-Freunde zu seyn,
uns selbst recht kennen. Uns selbst, das heißt,
unsre vielfache grosse Mängel und Schwachheiten kennen.
Denn ist auch der beste Mensch nicht ganz frei davon: wie zahlreich werden sie denn bei dem Schwächern, bei dem Anfänger in der Tugend seyn? Uns selbst kennen, das heißt, den
Ursprung aller unsrer Gaben kennen: wissen, und lebhaft, mit Empfindung wissen,
daß alles unser Gute lediglich von
Gott komt; jede gute Gesinnung, Handlung, Empfindung, Entschliessung nur ein Werk
seiner Kraft ist. Uns selbst kennen, das heißt auch,
unsre gänzliche Unwürdigkeit und grosse Strafbarkeit vor Gott kennen: wissen, daß aller unser Werth, aller der Ruhm und
Lohn womit unser Gutes
gekrönet wird, lediglich
ein unverdientes Geschenk der Gnade
Gottes durch
Jesum Christum ist.
Auch in dieser Absicht hänget also die wahre Menschen-Liebe mit dem Verdienst Jesu genau zusammen. Näre ich, so muß ein jeder, der sich nicht mit leeren Träumen täuschen will, sich hier fragen, und übe ich meine Menschen-Liebe mit Demuth? „Stehe ich in der reuvollen Kentniß und Empfindung meiner grossen Mängel und Fehler auch in diesem Stück? |b58| |c58| Fliehe ich deshalb |a59| gläubig und Besserungs-begierig, zu Jesu Verdienst? Flehe ich oft und herzlich zu Gott, daß er mich immer mehr und mehr von dem mir noch anklebenden Neide, Stolz, Heftigkeit, Lieblosigkeit säubern, und Seinen Geist der Menschen-Liebe immer mehr in meine Seele ergiessen wolle? Oder brüste ich mich hingegen mit meinen menschenfreundlichen Thaten? Voll von küner Zufriedenheit mit mir selbst; und leer von Empfindung der Barmherzigkeit Gottes, die so viele Fehler an mir trägt und alles Gute in mir wirket!“
In diesem Spiegel lasset uns ofte unsre Gestalt betrachten. Auf diese Probe lasset uns das bringen, was wir bei uns Menschen-Liebe nennen! Selbst offenbahre
Sclaven des Lasters, Diener der Wollust und Unzucht, Feinde der Religion
sprechen von Menschen-Liebe, sprechen mit Begeisterung davon, rümen sie als den Inbegrif aller wahren Würde, alles gottgefälligen Dienstes. Auch für diesen Rest von Achtung der Tugend sey
Gott gepriesen! Aber wolten diese Menschen nur sich die Mühe geben, ihre Ansprüche auf diese Tugend genauer zu prüfen: so würden sie bald entdecken, daß es ein blosser matter guter Wille; oder eine romanhafte Schwärmerei; oder ein
freygebiger Gebrauch des Geld-Kastens; oder flüchtige Anfälle von
Wohltätigkeit; oder Partheien-Liebe; oder nichts mehr als ein natürlich-gutes, weiches Herz; folglich nicht Menschen-Liebe, sondern eine blosse Larve, eine blosse Nachäffung derselben ist, was sie unter diesem Nahmen an sich schäzen.
|b59| |c59| Allerdings ist
Menschen-Liebe, bei
Gott der würdigste Nahme.
{Röm. 13, 8−10 Jacobi 1, 26. 27 1 Corinth. 13, 1−7. Matth. 25, 31−Ende 1 Johan 4, 11−Ende.} Ist die Summe des göttlichen Gesezes, des wahren Gottesdienstes; die höchste Würde eines Menschen vor
Gott; die Re
|a60|gel
Seines künftigen Gerichts; das sicherste Zeichen
Seines göttlichen Wohlgefallens. Aber eine
solche Menschen-Liebe
wie sie uns Gottes Gesez vorschreibt.
„Eine
allgemeine Güte
des Herzens, die uns antreibt, lauter liebreiche
wohltätige Gesinnungen und Handlungen zu hegen und zu üben:
sie unermüdet, bis an den Todt, zu hegen und zu üben.“ Da müssen wir auch denen mit Liebe zugethan seyn, die uns zuwider sind. Da muß unser gütiges
Betragen aus reiner Liebe zu
Gott und Seinen
Menschen fliessen. Da müssen wir jede
Sache die uns
Gottes Gesez verbiethet, aus allen Kräften meiden; und uns jeder Tugend des göttlichen Gesezes
befleissigen. Da müssen wir unsre Menschen-Liebe mit Demuth nären und ausüben.
Wohl uns wenn wir eine solche Menschen-Liebe zu unserm täglichen Geschäfte machen! {1 Timoth. 1, 5.} Eine Liebe aus reinem Herzen, verbunden mit durchgängig-gutem Gewissen und ungeheucheltem Glauben. Sodenn tragen wir das Siegel der Wahrheit unsers Glaubens, das Unterpfand des göttlichen Wohlgefallens, den Vorschmack des ewigen Lebens in uns! Sodenn wird unser Lohn groß; und unsre Würde die allererhabenste seyn. Kinder des Allmächtigen, und Seine ewige Gesellschafter im Himmel!