|a[79]| |b80| |c80| Evangelium am 6 Sontage nach Trinitatis.
Matthäi 5, vers 17–26.
Dieser Text ist ein Stück der Rede, welche
Jesus auf einem Berge in Galiläa, vor einer sehr zahlreichen Versammlung hielte.
{Lucä 6, 12} Auf diesem Berge hatte er die Nacht im Gebet zugebracht.
{Lucä 6, 13.} Bei Anbruch des Tages wälet er die zwölf Apostel.
{Luc. 6, 17–19 vergl.
mit Matthäi 4, 24 – 5, 1.} Nun gehet er den Berg hinab, den Kranken entgegen, die man von allen Seiten her zu ihm brachte. Er heilet sie durch seinen Allmachts-Befehl.
{Matth. 5, 1} Und um die Schaar von Menschen, welche zu ihm geströmt, besser übersehen und mit einer allenthalben vernehmlichern Stimme anreden zu können, steigt er abermahls auf die Anhöhe des Berges, sezet sich, und hält an die versamlete Menge,
c√ eine Rede, die eben darum die
Berg-Predigt pflegt genant zu werden.
Matthäi Kapitel 5, 6 und
7. und
Lucä 6, 20–49.
c√ c√
Eine Rede, die Stoff zu Jahrelangen Betrachtungen enthält! Die jedem
aufmerksamen, und unpartheiischen Leser Achtung für die Religion
Jesu , und grosse, erhabene, göttliche Gesinnungen einflössen muß!
{Matth. 5, 2–12} Wie edel sind die Neigungen,
|b81| |c81| welche er dort, als die
herrschende Gesinnungen eines Christen, so kraftvoll beschreibt und empfiehlet? –
{vers 13–16} Wie erhaben die
Bestimmung, die Würde eines Christen! welche in jedem noch nicht ganz füllosen Gemüt die edelste Ehrbegierde entzünden muß! –
{v.
17–20} Wie höchst würdig
|a80| Gott, dem Vater der Menschen, wie unaussprechlich heilsam für die menschliche Gesellschaft, ist der
Zweck, der Geist,
seiner Religion, wie er ihn im
17–20 beschreibt! –
{vers 21 bis zum Schluß des 7den Kapitels} Wie vernünftig,
weise, und gütig sind die
einzelne Geseze, welche er aus jenen
Gesinnungen, jener
Würde des Christen, und dem Geist
der christlichen Religion herleitet! –
– Mit einem Wort, diese Berg-Predigt, ist der
Inbegrif der ganzen Moral, der
edelsten und besten Moral. Oder, mit den Worten unsers von
Gott gesandten
Lehrers „der Abriß der
vorzüglichen Tugend die das Christenthum
fordert, und wirket!“
Die Jünger, an welche
Jesus nach dem
ersten Vers diese Rede hielte, sind alle diejenigen, die ihm damahls
folgeten um seinen Unterricht zu hören. Die grosse Menge, welche er (
vers 1) zu sich herzudringen sahe.
Das Volk seiner Jünger, wie es
Lucas 6,
17 nennt. Also
nicht bloß, auch nicht vornehmlich für die Apostel, sondern für
alle Christen, ist diese Rede gehalten.
Ihr alle denn, meine Mitchristen, was ist der
Zweck, der Geist, die Absicht, der Religion die wir bekennen? Etwa, uns mit einer Last von Cärimonien zu beladen
? Oder, uns Dinge
|b82| zu lehren, die wir bloß glauben und bekennen sollen; die höchstens einige
müssige Empfindungen
|c82| hervorbringen; aber mit unserm
alltäglichen Leben nichts zu thun haben? Oder gar, den Geist der Zwietracht und
Faction in uns zu entflammen? – –
{vers 17. 20} Höret
Ihn, den Stifter
unsrer Religion,
höret die ewige
Weisheit Selbst reden!
|a81| {vers 17.} Ihr sollt nicht wänen, daß ich kommen
bin das Gesez oder die Propheten aufzulösen. „Das Gesez und die Propheten,“ ist der damahls unter den Juden gewönliche Nahme
der Schriften des alten Testaments. Lucä 24, 27.
u. a.
Also nicht vom
Gesez Mosis redet Jesus
, sondern von
den Schriften Mosis und der Propheten. Diese
aufzulösen, oder deutlicher übersezt,
aufzuheben, abzuschaffen, ist Er nicht gekommen.
Sondern sie zu erfüllen:
oder genauer, zu
vollenden,
sie vollständig zu machen, den darin enthaltenen Unterricht zu erweitern, und in helleres Licht zu
sezen. – {vers 18} Denn ich sage euch, wahrlich bis daß Himmel und Erde vergehe, wird nicht vergehen der kleinste Buchstab, noch ein Tittel (ein Häkchen an dem kleinsten Buchstaben)
vom Gesez: (den Schriften des
A. T.
Nichts, gar nichts soll davon
aufgehoben werden.)
bis daß es alles (
d. h.
was darin
c√ geschrieben ist)
geschehe. „Nie sollen[“], dies ist der Sin dieser Worte, „Moses und die Propheten, die Schriften des A. T.
abgeschaffet werden. Bis ans Ende der Welt sollen sie ihr göttliches Ansehen behalten.“
|b83| |c83| {vers 19} Wer nun eines von diesen kleinsten Geboten auflöset, (aufhebet)
und lehret die Leute also: Durch diese Gebote verstehet
Jesus nicht, die im
A. T.
enthaltene Gebote
. Diesen waren die damahligen Lehrer der Juden, von ganzem Herzen, nur mit Unverstand und Aberglauben, zugethan. Er meinet
Seine eigene, diejenigen Geseze, die er nun vortragen wolte. Dies ist klar aus dem
zwanzigsten Vers, wo er den Grund
|a82| dieses Ausspruchs anfüret: „Niemand, nämlich, könne Sein Jünger seyn, der nicht die
Vorzügliche Tugend die
Er lehre, auszuüben
trachtet.[“] –
Der wird der kleinste heissen im Himmelreich.
Das
Himmel- oder
himlische, Reich,
oder, das Reich
Gottes, ist das Reich, zu dessen König, der
{Psalm 2} Messias, von
Gott bestellet worden.
{Johannis 18, 37.} Das Reich, welches Er, der Welt-Heiland, durch seine Religion sich in der Welt aufrichtete.
Der wird der kleinste heissen (seyn)
im Himmelreich, oder wie es
vers 20 erkläret wird,
nicht ins Himmelreich kommen;
c√
heißt, „der kan nicht ein Anhänger meiner Religion, der kan kein Christ, seyn.“ –
Wer es (alles was ich jezo lehre
vers 20–Ende des
7 Kap.
)
thut. – Also,
Christen,
Thun, nicht bloß glauben, oder empfinden, ist es was das Christenthum fordert! –
und lehret, der wird groß heissen (seyn)
im Himmelreich;
der ist mein wahrer Anhänger, ein ächter
Christ! – – – Du wilst wissen, ob du ein wahrer Christ, ob du von
Gott zur Seligkeit des Himmels auserwälet seyst? Da darfst du nicht lange, tiefe Untersuchungen anstellen;
|b84| |c84| darfst nicht in die Geheimnisse der
Gottheit dringen, in die Tiefen der göttlichen Rathschlüsse dich versenken. Siehe auf dein Leben, und in dein Herz. Frage dein Gewissen, „
thue ich was Jesus
gebeut?“ Denn, –
wer dies thut und lehret der ist groß im Himmelreich. vers 19.
{vers 20} Denn ich sage euch, es sey denn eure Gerechtigkeit besser, denn der Schriftgelehrten und Pharisäer; so könnet ihr nicht ins Him|a83|melreich kommen.
Das
Wort welches durch
Gerechtigkeit, gegeben worden, bedeutet hier und in
allen den Stellen wo es alleine, ohne einen Beisaz stehet, eben
das was unser deutsches Wort,
Tugend.
Denn, es wird der
Sünde entgegen gesezet. „Ihr seyd[“], sagt
z. E.
Paulus Römer 6,
18, „frei von der
Sünde; und Diener der
Gerechtigkeit (Tugend) geworden.“ – Der Ausspruch
Jesu lautet also in einer genauern Uebersezung, wie folgt: Ich
sage euch, woferne eure Tugend die (heuchlerische, zerstümmelte, körperliche)
Tugend der Gesezgelehrten und Pharisäer, nicht bei weitem übertrift: so könnet ihr nicht meine Jünger, nimmermehr Christen,
seyn.
Und, was ist nun der
Zweck, der Geist, der Lehre Jesu
, des
Christenthums? –
{vers 1[–]18} 1) „Den Religions-Unterricht des
A. T.
zu
erweitern; und in das rechte volle Licht zu
stellen.“ Dies lehret auch der Augenschein. Die Kentnisse der Gläubigen des
A. T.
verhalten sich gegen die Kentnisse der Christen, wie die
|c85| Kentniß
|b85| eines Kindes zu der Kentniß eines Mannes; wie die Dämmerung zu dem vollen Tage.
{2 Timoth. 1, 10 vers 19. 20} Und 2) „Eine
ganz-vorzügliche Tugend
in der Welt auszubreiten.“ Alles was die Vernunft; auch was das
A. T.
von Tugend lehret, ist nur dürftig, gegen die Vollständige, Reine, Edle Tugend, welche das Christenthum fordert und einflösset. – Die
Beispiele davon sehet in dem ganzen Fortgange dieser
Berg-Predigt Jesu !
|a84| {Siehe vers 38. und 43} Die Pharisäer und vornehmsten
bc√ damahligen Lehrer der Juden behaupteten: nur der grobe Mord sey eine
Todt-Sünde, eine
Sünde die dem Menschen
Gottes Gnade raube. Hingegen
Groll, Feindseligkeit, Rachbegierde sey gar keine, oder höchstens eine
Schwachheits Sünde die
Gott dem Menschen gar nicht zurechne. Eine
Lehre die schon allein, die Menschen sich unter einander zu Teufeln, und die Welt zur Hölle machen würde! Mit edlem Muth, mit so brennendem als erleuchtetem patriotischen Eifer für sein Vaterland, und die Welt, verdammet daher
Jesus diese höllische Maxime, und zeiget, wie gar anders, wie vorzüglich hierin die Tugend eines Christen seyn müsse.
{vers 21} Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt ist: (genauer, „ihr höret gemeiniglich, daß von den
Alten, euren alten Lehrern, den Vätern der Tradition, gesagt ist.“
Was
Jesus hier, als von den Alten
gesagt anfüret, sind offenbar nicht die Geseze
Gottes beim
Mose ; sondern gottlose Sazungen der jüdischen
Lehrer. v.
21. 33. und besonders
v.
43.)
Du solt nicht tödten: wer aber tödtet|b86| |c86| der soll des Gerichts schuldig seyn. Das fünfte Gebot 2
Buch Mos. 20,
13 heißt,
du solt nicht morden. Ganz anders lautet der Saz dem hier
Jesus widerspricht. Das
Gericht, das Stadt-Gericht ist die Obrigkeit jedes Orts, welche auch über einige peinliche
Sachen als erste Instanz richtete.
Der ist dem Stadt-Gericht verschuldet,
das heist „der hat eine Todt-Sünde begangen.“ Dies war die Lehre der Pharisäer und Gesez-Gelehrten, welche nur den groben Mord, nicht aber Groll und Feindseligkeit für Todt-Sün
|a85|de hielten: wie man aus vers 38.
43, und dem Widerspruch Jesu
, vers
22 ersiehet.
{vers 22} Ich aber sage euch, wer mit seinem
Bruder,
(Neben-Menschen. Malachiä 2,
10)
zürnet, der ist des Gerichts schuldig, (der ist dem Stadt-Gerichte
verschuldet.) –
Durch ein Versehen – denn der
sel.
Luther , der unsre deutsche Uebersezung gemacht, war bei allen seinen grossen Vorzügen, kein Apostel, sondern ein trüglicher Mensch, ausgesezt dem
Irthum wie ein jeder unter
uns[.] – Durch ein Versehen also fehlet hier in unsrer deutschen Uebersezung ein Wort, welches
Jesus , wie wir aus den
zuverlässigsten Gründen wissen, seinem Urtheil über den Zorn noch beigefüget. Dies Wort bedeutet in der biblischen Sprache, so viel als im deutschen,
ohne Ueberlegung; ohne Grund und
Maaß. Er sagte nämlich, nicht schlechtweg, ohne Ausnahme,
wer mit seinem Neben-Menschen zürnet; sondern mit der beigefügten Einschrän
|b87|kung, „Wer mit seinem Neben-Menschen
ohne Ueberlegung zürnet:“
schon der hat eine
|c87| Todt-Sünde begangen. – Wer aber zu seinem Neben-Menschen saget,
Racha, nichtswürdiger Mensch! „Wer jenen innern Groll und Feindschaft, gar in Schmähungen ausbrechen läßt.“ Es ist hier nicht von Uebereilungen die Rede: sondern von
Schmähungen die aus einem feindseligen Gemüt fliessen.
Denn, dieser Ausspruch ist mit dem vorigen genau verbunden. Die Rede
Jesu steigt hier, von einem Verbrechen, zu einem noch
grösseren hinauf. „Wer
aber zu seinem Neben-Menschen saget, nichts
|a86|würdiger Mensch!“
Der ist des Raths schuldig. Der Rath, ist der
hohe Rath zu Jerusalem: das höchste Gericht der Nation, welches über die vorzüglich
grobe Verbrechen erkante.
Der ist dem hohen Rath verschuldet, das
heist also, „der hat eine
noch schwerere Todt-Sünde begangen.“ Denn hier ist das Verbrechen
zwiefach: das feindselige
Gemüt welches der Mensch
heget und die
Schmähung worin er es ausbrechen läßt. –
Wer aber sagt, du Narr. Was hier,
Narr, übersezet worden, ist eigentlich
das Wort, womit in der Bibel, der
{Siehe Psalm 14, 1.} Gottesverleugner, der verruchteste Bösewicht, bezeichnet wird.
c√ Der Ausspruch
Christi hat also den Sinn, „Wer jenen Groll bis zur
Verdammungs-Sucht treibt; seinen Neben-Menschen
Gottes Gnade und Seligkeit abspricht.“ Es ist abermahls, nicht von Urtheilen die Rede,
|c88| die in der Hize ausgesprochen und sogleich bereuet werden: sondern von
solchen die aus einem feind
|b88|seligen Gemüt fliessen. Denn auch hier steigt die Rede
Jesu .
Der ist des höllischen Feuers schuldig: „der hat ein noch gröberes Verbrechen begangen, als selbst der grobe Mord.“ – Wie aber? Ist das nicht zu hart? Freilich, die weltliche Obrigkeit, kan die Verbrechen nicht
anders als nach ihren sichtbaren
Folgen in Absicht der Wohlfarth des Staats, beurtheilen. Sie kan nicht ins Herz sehen. Sie kan auch nicht, die
Innere, und
Ewige Wohlfarth
des Unterthanen, sich zum Zweck machen: die menschliche Ohnmacht nötiget
sie; bloß bei der
äussern, und
zeitlichen stehen zu bleiben. Der
Allwissende und
Allmächtige aber richtet vornehm
|a87|lich nach der innern Gesinnung und Absicht. Jener Verdammungssüchtige hat ein boshafteres und menschenfeindlicheres Gemüt als der Mörder. Dieser nimmt dem andern nur das zeitliche Leben; jener aber will ihm gar das ewige nehmen. Der Mörder ermordet den andern, vielleicht nur in dem Taumel der Rachbegierde, des
Geizes oder einer andern strafbaren Leidenschaft. Der Verdammungssüchtige aber spricht dem andern sein ewiges Leben im külen
Blut ab.(Siehe oben Seite
54 .
55 .)
c√
{vers 23. 24.} Darum wenn du deine Gabe (ein freiwilliges Opfer; 3
Buch Mos. 1, 2. die edelste Art der gottesdienstlichen Handlungen)
auf den Altar opferst; (schon zum Altar gebracht
hast.)
und wirst alda eindenken daß dein Bruder (Neben-Mensch)
etwas wider dich habe:
|c89| (von dir beleidiget worden; besonders durch
|b89| Schmähung, oder lieblose
Urtheile S.
vers 22)
so laß alda vor dem Altar deine Gabe, und gehe zuvor hin, und versöhne dich mit deinem Bruder; und alsdenn komm, und opfere deine Gabe. – Denn, wird nicht der Schuldner jedes Mittel brauchen, um seinen Gläubiger zum gütlichen Vergleich zu
bringen! {vers 25. 26.} Sey wilfertig, (versöne dich, vertrage dich)
deinem Widersacher (mit deinem Gegen-Part, dem Gläubiger)
bald dieweil du noch bei ihm auf dem Wege bist. (auf dem Wege zum Richter, wohin dein Gläubiger dich füret. Alsdenn ist noch Zeit zum gütlichen
Vergleich.)
damit nicht dein Gegen-Part dich dermaleins überantworte dem Richter, und der Richter überant|a88|worte dich dem Diener, und werdest in den Kerker geworfen. Ich sage dir wahrlich: du wirst nicht von dannen heraus kommen, bis du auch den letzten Heller bezahlest. „Der
Schuldner der sich nicht zu rechter Zeit mit seinem Gläubiger abfindet, sondern es darauf ankommen
läßt daß ihn dieser vor Gericht ziehe: der verliehret alle Gelegenheit zum guten Vergleich; ziehet sich Schimpf zu; und
sezt sich in
Gefahr bis auf den lezten Heller zu
bezahlen oder ins Gefängniß geworfen zu werden. Darum verliehre keine Zeit, die Beleidigungen bei deinem Neben-Menschen gut zu machen. Der Todt kan dich sonst übereilen; dich in diesem unversönlichen Zustande antreffen; und dem unerbittlich-gerechten Gerichte
Gottes übergeben.“
|b90| |c90| {vers 22} So ist denn,
auch bloß-innerer Groll und Feindschaft gegen irgend einen Menschen, vor Gott, Todt-Sünde. – –
Schwerer noch ist die Sünde, wenn man diesen innerlich herrschenden
Groll, in Schmähungen, Schimpf-Worte, heimliche üble Nachreden, oder
Beschimpfungen einiger Art ausbrechen läßt. – Ganz ausserordentlich strafbahr aber, ist die
Verdammungs-Sucht. Jene alte Bosheit der Juden erneuren, welche jede
Nation die nicht von ihrem Glauben war, für
Gott abscheulich und zur Hölle
verworfen erklärete: seinen Neben-Menschen, darum weil er nicht eben so denkt, und
glaubt und lebt als wir, mit bitterm Herzen für einen Unbekehrten und Verdamten
erklären; einen andern, der wirklich
Religions-Ir|a89|tümer auch gefärliche, glaubt und ausbreitet; und einen dritten, der wirklich
Sünden auch schwere begehet, sogleich und ohne
Einschränkung einen Verdamten nennen; unaufhörlich
klagen daß fast alle unsre
Mitbürger und
Neben-Menschen Unwiedergebohrne seyn: das ist –
Todt-Sünde; noch schwerere
Sünde als ein grober Mord. – – Und warum? Darum, weil kein Sterblicher im Stande ist, mit Gewisheit auszumachen, ob die grobe Unwissenheit und
Irthum, eines Menschen, bei ihm
Verschuldet, oder Unverschuldet? ob seine schwere Sünde,
Vorsäzliche oder Unwissenheits- und Schwachheits-Sünde ist?
Darum weil dies immer einen geheimen Stolz; immer ein liebloses, hartes, menschenfeindliches Herz verrät! – –
„Soll ich denn aber Irthum, Wahr
|b91||c91|heit; und Unrecht, Recht nennen?“ Keinesweges! Sage immerhin, diese Meinung meines
Nebenmenschen scheint mir, (denn, bist du
Untrüglich?) Irrig zu seyn; diese seine Handlung ist Sünde; und wenn sie mit Vorsaz begangen wird, Todt-Sünde. Dies gebiethet die
Wahrheit. Was hindert dich aber, liebreich hinzuzudenken; „vielleicht ist dieser Irthum bei ihm unverschuldet; und seine Sünde, Uebereilung, oder Unwissenheit. Ach daß es so wäre! Ja
Gott! ich bete, ich
hoffe daß es so sey.“ So kanst du, so mußt du mit der
Wahrheit, die
Liebe verbinden! – – „Aber! ich werde doch meinem Heilande es nachsprechen dürfen,
daß die Pforte eng und der Weg schmal ist der zum Leben
füret, und der Weg zur Hölle weit und breit, und sehr volkreich ist?“ Erstlich
lieber Mitchrist geziemet es uns gerade nicht,
alles zu
|a90| sagen, was unser
Herr, der Heiland und Gebiether der Welt saget. Und vornehmlich, mußt du doch erst recht verstehen, was er saget. Er
redet
wie wir aus
vers 15 vergl.
Matth. 23. und
Matth. 21, 16.
u. a.
St. sehn, nur von den Juden seiner Zeit: daß von diesen wenige seine Religion annehmen, die meisten hingegen sie verwerfen würden. Er sagt nie, daß nur der kleinste Theil der Menschen selig werde. Wohl aber weiset er uns in uns selbst zurück.
Es fragte ihn jemand, nach Lucä 13,
23 24, „Herr werden nur wenige selig?“
Jesus antwortete. Ringe darnach daß du durch die enge Pforte eingehest!
|b92| |c92| {v.
23. 24.} Selbst das freiwillige Opfer, die edelste Art des äussern
Gottesdienstes, soll vor dem Altar gelassen werden: ohne
Verzug soll man gehen und mit seinem
Neben Menschen sich aussönen. Vergebens ist also alles unser Kirchen-Gehen,
Haus-Andacht und Gebrauch des Abendmahls, wenn diese Handlungen uns nicht den Geist
Gottes,
{1 Cor. 13, 1–3.} Seine Menschen-Liebe einflössen. – – Welch ein Gewicht muß diese Tugend in
Gottes Augen haben? Selbst vor dem Altar soll man das Opfer lassen; um sein Herz von aller Feindseligkeit zu säubern. Menschen-Liebe, nach
Gottes Muster gebildet, und aus einem Herzen geflossen, das nur
Ihm zu gefallen
wünschet,
{Galat. 5, 6} ist die unausbleibliche, die kostbarste Frucht des Glaubens an
Jesu Verdienst; und hat darum, nach
Gottes gnädiger
Schäzung, einen höheren
Werth als die glänzendsten Gebräuche des Gottesdienstes.
|a91| Barmherzigkeit gefällt mir besser als Opfer! Matth. 12, 7.
Der
Zorn hat von je her so schreckliche Verwüstungen in der Welt angerichtet, er ist noch immerfort die Quelle so
entsetzlicher Uebel, daß der Erlöser und Lehrer der Menschen, ihnen auch hierüber besonders, die reinen bessern Kentnisse geben muste. Viele der
einsichtsvollesten Menschen haben diesen Affekt für schlechterdings sündlich, für eine Regung
erklärt die man nicht bloß
mässigen, sondern ganz und gar
ausrotten müsse. Eine Vorschrift, die noch nie ein Mensch auf der Welt hat befolgen können! Die auch nach der ganzen Einrichtung unsers Leibes und Seele,
|b93| |c93| nicht kan befolget werden! Und wenn sie es könte, tausend gute
grosse Handlungen, Millionen Wohlthaten, der menschlichen Gesellschaft unersezlich rauben, und an deren Stelle vielfaches Unheil in sie bringen würde!
Wie sehr gereichet es demnach unserm Heilande zur Ehre, daß er auch hier den geraden, richtigen Mittelweg gehet; den Zorn selbst, keinesweges für sündlich, aber auch eben so wenig seine Ausschweifungen für erlaubt erkläret; hingegen die Anweisung giebt, diesen gefärlichen Affekt in solche Grenzen einzuschliessen, ihn so zu mässigen und anzuordnen daß er das Schiff unsers Lebens nicht wie ein reissender Sturm in den Abgrund versenke, sondern als ein günstiger Wind in den Hafen füre.
|a92| Nicht ausrotten sollen wir den Zorn: er selbst ist unsündlich. Denn
Jesus sagt mit der
Einschränkung; Wer mit seinem Neben-Menschen – ohne Ueberlegung –
zürnet, der ist dem Gerichte verschuldet. Aber auch angenommen, daß er diese Einschränkung damahls nicht hinzugesezt: so würde uns doch
die Abzweckung dieses Affekts; das Beispiel Jesu ;
und sein Unterricht durch die Apostel, unwidersprechlich
lehren daß dieser Ausspruch nach
Jesu Absicht, also verstanden und ausgelegt werden müsse. Der Zorn ist ein
unentbehrliches Vertheidigungs-Mittel, womit uns die Güte des
Schöpfers bewafnet.
Jesus selbst gerieth mehr als einmahl in Zorn.
Marci 3, 5.
u. a.
|b94| |c94| Seine Apostel ermahnen uns,
{Ephes. 4, 26. 27. Jacobi 1, 19. 20} langsam zum Zorn zu seyn; beim Zorn nicht zu sündigen. – Also nicht
ausrotten;
Sondern, weise beherrschen, sollen wir ihn. {Matth. 5, 22 Ephes. 4, 26. 27. Jacobi 1, 19. 20.} 1) Ihn nur bei zulänglicher Ursache hegen; 2) Selbst diesen gerechten Zorn so mässigen, daß er unsrer Gesundheit, Vernunft und Menschen-Liebe nicht schade; und 3) auch diesen gerechten und wohlgemässigten Zorn, nur durch erlaubte, Gottes Gesezen gemässe, Mittel befriedigen: – das ist die christliche Beherrschung des Zorns! So soll der Christ, selbst im Zorn, Herr seiner selbst bleiben. Und der Würde eines Christen gemäß, auch hierin, das Muster, {Matth. 5, 14–16} die Sonne der Welt seyn!
|a93| ⌇
Uebersezung des Textes.
{v.
17. 18} Glaubet nicht daß ich gekommen bin das Gesez und die Propheten aufzuheben. Nicht aufzuheben, sondern sie vollständig zu machen, ist meine Absicht. Denn ich versichere euch, bis Himmel und Erde vergehen, wird nicht ein Jota, oder ein Häkchen vom Gesez vergehen; es sey denn alles darin geschriebene erfüllet.
{vers 19 20.} Wer denn eines der geringsten dieser Gebothe aufhebet, der ist kein Glied meines Reichs. Wer aber sie ausübet und lehret, der gehöret zu meinem|b95| |c95| Reich. Denn, ich sage euch, woferne eure Tugend, die bc√ Pharisäer und Gesezgelehrten nicht bei weitem übertrift: so könnet ihr nicht Bürger meines Reichs, (Christen) seyn.
{v.
21. 22.} Ihr höret eure Lehrer sagen, „du solst nicht
morden: wer aber
mordet der ist dem Gericht verschuldet.“ –
Ich aber sage euch. Wer mit seinem Nebenmenschen ohne Ueberlegung zürnet, der ist dem Gericht verschuldet. Wer aber noch dazu seinen Neben Menschen, einen Nichtswürdigen nennet: der ist dem hohen Rath verschuldet. Wer ihn gar, Gottesverleugner, nennet: der ist in flammende Hölle verschul|a94|det. {v.
23. 24} Wenn du also, dein freiwilliges Opfer Gott zum Altar gebracht hast, und dich da erinnerst daß dein Nebenmensch von dir beleidiget worden: so laß da, vor dem Altar, dein freiwilliges Opfer, und gehe
vor allen Dingen hin, versöne dich mit deinem Nebenmenschen. Und sodenn komm und bringe dein Opfer. –
{v.
25. 26} Sey geneigt deinem Gegen-Part, alsbald da du noch mit ihm auf dem Wege bist. Sonst wird der Gegen Part dich dem Richter, und der Richter dem Bedienten übergeben daß er dich ins Gefängniß werfe. Ich versichere dich, du wirst da nicht losgelassen, als bis du den lezten Heller bezahlet.