262.
Wir kommen zu den sogenannten
schönen Wissenschaften, wohin man
c√ Redekunst und
Dichtkunst zu rechnen pflegt. –
Was haben diese
vor andern Wissenschaften und Künsten
|c278| eignes? – Darin ist man wohl
c√ eins, daß der Redner und Dichter nicht bloß
c√ vorstellen,
bloß lehren oder erzählen, sondern
c√ dergestalt vorstellen wolle, daß er für oder wider die Sache einnehme, Gefallen an der dargestellten
Sache, oder
Mißfallen errege. Dieses läßt sich
entweder durch die Sachen selbst bewirken, (die schon in so fern gefallen, als sie
unsre Thätigkeit
beschäftigen, und
unsre Wißbegierde
befriedigen,) oder durch die
Art, wie man sie vorstellt. Dieses
letztre kan wieder
entweder durch Verdeutlichung
oder durch Versinnlichung geschehen. Jenes ist der Zweck der
strengern,
*) dieses der
schönen Wissenschaften und Künste. Die
schönen Wissenschaften gehen darauf hinaus, vermittelst der Rede, also vermittelst willkührlicher, und nur durch den Gebrauch gebilligter
|a261| Zeichen, die gedachte Absicht auszuführen; die
schönen Künste aber, durch natürliche Zeichen,
|b311| wodurch eine Vorstellung der
Sachen bewirket werden
kan.
Anm.
1. Jene werden daher auch die
redenden, wie diese die
bildenden Künste
genannt. Aber diese Benennung scheint
Künste und
Wissenschaften zu vermengen.
Dies kommt daher, weil Griechen und Römer die Wörter
τέχνη und ars von jeder regelmäßigen Fertigkeit und von jedem
Ingebriff der Regeln zu gewissen Verrichtungen brauchten, dergleichen Regeln
bey den Wissenschaften sowohl als
bey den Künsten statt finden; wiewohl
sie noch freye Künste (artes liberales,
ἀβάναυσοι τέχναι) von
solchen unterschieden, die mehr Hand- als Geistes-Uebungen erforderten, und daher unter jenem Namen meistens eigentliche Wissenschaften begriffen. In neuern Zeiten hat man Wissenschaften und Künste, und unter den letztern schöne und mechanische Künste mehr unterschieden. |c279| Der Unterschied der Wissenschaften und Künste scheint darauf zu beruhen, daß jene zunächst zur Befriedigung geistiger, diese zunächst zu Befriedigung sinnlicher Bedürfnisse dienen (§. 3 ). Diese sinnlichen Bedürfnisse sind entweder nur körperliche, und die zu ihrer Befriedigung abzielenden Künste sind bloß zur Befriedigung der äusserlichen Sinne bestimmt, oder die Bedürfnisse nähern sich mehr den geistigen, und durch gewisse Künste soll mehr der innre Sinn und die Einbildungskraft befriedigt werden. Die von der erstern Art scheint man durch den Namen der mechanischen, die von der letztern aber durch den |b312| Namen der schönen Künste zu bezeichnen. Man vergleiche nur Philosophie,
Tonkunst oder Malerey, und eigentliche Handwerker mit einander, um sich von der Richtigkeit dieses Unterschiedes der Wissenschaften, der schönen und der mechanischen Künste zu überzeugen.
a√
Anm.
2. *)
Strengere Wissenschaften sind
hier in diesem §. nicht mit den Wissenschaften im
strengsten Verstande zu verwechseln, als welche letztere nur solche Wissenschaften sind, deren
Inhalt aus der Natur der
Sachen selbst bewiesen werden
kan, und die
hier als eine Art (species) mit unter den
strengern Wissenschaften, im Gegensatz gegen
schöne Wissenschaften, begriffen sind. Auch ist
Verdeutlichung hier, im Gegensatz gegen
Versinnlichung, im weitern Verstande genommen, so daß sie nicht nur die Entwickelung desjenigen, was in einem
Begriff liegt, (intensive
Verdeutlichung) sondern auch die ausführlichere Vorstellung der Sachen (extensive Verdeutlichung) in sich faßt.
Vergl.
§.
223 .
263.
Sonach sind die
schönen Wissenschaften solche, welche lehren, wie man den Vortrag versinnlichen, und dadurch an
den Sachen selbst Gefallen oder Mißfallen erregen soll. Sie beschäftigen sich also 1) nur mit Bildung des
Vortrags oder des Ausdrucks der Sachen durch Worte.
|c280| 2) Ihr Zweck ist,
Vergnügen, oder das Gegentheil, an den vorgetragenen
Sachen zu
|a263| |b313| erwecken, welches übrigens die Belehrung nicht ausschließt, nur daß diese nicht der nächste Zweck ist. Diesen Zweck suchen sie 3) durch die
Form der Vorstellung oder die Art des
Vortrags und die
Einkleidung der Sachen zu befördern, indem sie dadurch 4) die Sachen
sinnlich darstellen, welcher Vortrag eben durch dieses Sinnliche gefallen, und daher auch Gefallen an den Sachen erwecken soll. Durch das erste Stück unterscheiden sie sich von den schönen Künsten; durch die
drey letztern von den
strengern Wissenschaften. – Da sie aber, abgesehen von der Rede, die sie als Mittel zu jener Absicht bilden sollen,
einerley allgemeine Regeln mit den schönen Künsten enthalten: so läßt sich eine allgemeinere Wissenschaft entwerfen, welche die Regeln für schöne Wissenschaften und Künste zugleich, oder die Regeln der Vollkommenheit sinnlicher Erkenntniß und ihres Ausdrucks in sich faßt.
A. G. Baumgarten hat ihr den Namen der
Aesthetik gegeben.
Anm.
1. Man nennt
schön im
weitern Verstande
alles, was vollkommen ist,
so fern diese Vollkommenheit sinnlich erkannt
wird, und in einem
engern c√, was, seiner sinnlich erkannten
Form nach, vollkommen ist.
Schöne Wissenschaften und Künste lehren nicht nur, Sachen, als vollkommen, sinnlich darstellen, sondern auch dieses durch die Art des Ausdrucks, also durch die Form,
bewirken; daher haben sie ihren Namen bekommen.
Anm.
2. Da schöne Wissenschaften und Künste zeigen sollen, wie Sachen, die nicht selbst dargestellt
|b314| werden können, vermittelst
des Ausdrucks,
|a264| es
sey durch Wörter oder natürliche Zeichen,
vergegenwärtiget werden müssen: so lehren
sie, für die
Einbildungskraft arbeiten, die nichts anders ist,
|c281| als das Vermögen der Seele, sich Dinge, die nicht selbst da sind, durch Vorstellungen zu vergegenwärtigen.
Anm.
3. Wenn
bey uns durch Darstellung gewisser
Sachen vermittelst gewisser Zeichen Wohlgefallen erweckt
wird: so empfinden wir dieses
entweder über die Art der Darstellung,
oder über die so dargestellten Sachen selbst. Jenes
kan zwar wieder ein Mittel
werden dieses zu befördern, es
kan aber auch allein da seyn ohne dieses. Nur gar zu oft schränkt man den Zweck der schönen Wissenschaften und Künste bloß auf die Hervorbringung jenes Wohlgefallens ein, und erniedrigt dadurch, daß man sie zum
bloßen Werkzeug der Belustigung macht, ihren Werth und
große Nutzbarkeit unglaublich.
Freylich ist ihre Absicht, durch die Art der Darstellung geradezu Vergnügen zu
erwecken, aber was ist dieser Kitzel der Einbildungskraft werth, wenn das Vergnügen darüber nicht wieder eine Quelle
des Wohlgefallens an den Sachen selbst wird?
264.
So schwer es ist, die Gränzen bestimmt anzugeben, wo sich Werke der Rede- oder Dichtkunst
scheiden: so läßt sich doch der Hauptcharakter von
beyderley Werken
bey einiger Aufmerksamkeit nicht verkennen. Offenbar nähern sich jene mehr
|b315| den Werken der strengern
Wissenschaften, (
§.
262 ) diese, den Werken der schönen Künste. Der Charakter dichterischer Werke
ist: alles so gegenwärtig als möglich darzustellen, die Vorstellungen davon
|a265| so lebhaft zu machen, als es immer die Natur der Sache und der Rede erlaubt,
d. i.
viele klare oder solche Merkmale der Sachen, die eine Menge von Nebenvorstellungen erwecken, wodurch die Sachen selbst
klärer oder
anzüglicher werden,
auf einmal zum Uebersehen darzustellen. Sie ziehen also oft selbst dunkle Vorstellungen mit ins Spiel; Werke der Redekunst hingegen suchen die
nemliche Wirkung mehr
nach und nach hervor
|c282|zubringen, legen das, was zur klaren Vorstellung der Sachen gehört, mehr aus einander, nehmen deutliche Vorstellungen so weit zu Hülfe, als es ohne Schwächung der sinnlichen Darstellung geschehen
kan. Gleichwohl haben
beyderley Werke den Zweck, durch
sinnliche Darstellung der
Sachen Gefallen an
den Sachen selbst zu erregen, und, da dieses anders nicht als durch Vorstellungen geschehen
kan, auch zu belehren. Demnach
kan wohl der wesentliche Unterschied zwischen den Werken der Rede- und der Dichtkunst am sichersten nach dem Zweck bestimmt werden, der in
beyderley Werken am meisten
hervorsticht; und dieser ist,
bey Werken der Redekunst,
Belehrung, oder extensive Deutlichkeit (
§.
262. Anm.
2.), wozu Lebhaftigkeit der Darstellung nur als Mittel gebraucht
wird, bey dichterischen Werken aber, Lebhaftigkeit, und Belehrung nur so weit, als sie Lebhaftigkeit befördern
kan.
- |b316|
Anfangsgründe einer Theorie der Dichtungsarten (von J. J. Engel ), Erster Theil, Berlin 1783.
8. im ersten Hauptstück.
|a266| Anm.
1. Die Schwierigkeiten in genauer Absonderung
beyder schönen Wissenschaften, und die Gewohnheit, bald Sylbenmaaß, bald Erdichtung, bald das Ungewöhnlichere des Ausdrucks, als den unterscheidenden Charakter der Poesie anzunehmen, rühren wohl
daher: daß, weil dichterische Werke meistens metrisch sind, man Verse und Poesie,
ungebundne Rede und Prose, als ganz
einerley angenommen hat; daß Poesie nicht zu allen Zeiten und überall gleich vollkommen war, oft Nebenzwecke,
z. B.
Verse zum Gesang, manchmal nur zum bessern Behalten der Gedanken zu brauchen, den Hauptzweck verdrängt haben; hauptsächlich aber, daß, nach gewissen besondern Arten rednerischer und dichterischer Werke, Redekunst an
Poesie z. B.
in rührenden Reden, und, wie im Lehrgedichte oder poetischen Erzählungen, Poesie an Redekunst streift.
c√
Anm.
2. Aus dem hervorstechenden Zweck
bey poetischen Werken läßt sich erklären, warum einförmiges
Sylben- Zeilen- und Strophenmaaß, Erdichtung, und
bilderreicher, oder überhaupt von dem gewöhnlichen sich entfernender Ausdruck, in dergleichen Werken gebraucht wird; weil
nemlich alles dieses die Lebhaftigkeit
befördert; daher es auch wegfallen muß, wenn die zweckmäßige Lebhaftigkeit schon ohne dieses erhalten werden
kan, oder gar durch diese Dinge gestört werden würde. Es ist
|b317| hieraus zugleich begreiflich, warum Gedichte mehr Reitz haben als Werke der Prose.
Anm.
3. Man könnte die beschriebene Art der sinnlichen Darstellung, die in dichterischen Werken hervorsticht,
c√ sinnlich lebhafte, und die, welche in rednerischen Werken herrscht, die
sinnlich deutliche nennen.
|a267| 265.
Hienach würde der den Namen eines Redners (Orator) verdienen, der die Geschicklichkeit besäße, durch einen sinnlich deutlichen, und der c√ den Namen c√ Dichters, welcher die Geschicklichkeit hätte, durch einen sinnlich lebhaften Vortrag Sachen annehmlich darzustellen. Die Anweisung zu diesem Vortrag würde die Poetik oder Dichtkunst (als Wissenschaft oder Innbegriff von Vorschriften genommen); die Anweisung aber zu jenem Vortrag, die Redekunst (Rhetorik) im weitern Verstande, oder Theorie der Beredsamkeit seyn.
Anm.
Redekunst im weitern
Verstande; welche sich also über den ganzen prosaischen
Vortrag und Schreibart erstreckte, so fern er mehr als deutlich seyn soll, er
möchte in Lehr- oder Geschichtsbüchern, in Briefen oder
Gesprächen oder eigent
|c284|lichsten Reden gebraucht werden. Gemeiniglich, und zumal
bey Griechen und Römern, wird
Redekunst im engern Verstande genommen für die
Anweisung eine eigentliche Rede, oder Ausführung eines Hauptsatzes auf die
erwähnte Art,
|b318| abzufassen und zu halten, und darauf die
Beredsamkeit eingeschränkt. (Die Anweisung zum Halten einer
Rede, oder zum mündlichen Vortrag (Declamatio), gehört doch mehr den schönen Künsten als Wissenschaften zu.) Indessen, da der gute Prosaist sich der Sprache
bedienet, und dadurch Vorstellungen erwecken will, welche aufs wirksamste belehren und bewegen sollen: so bedarf er eben sowohl der Grammatik und Logik als der Rhetorik. Der Dichter braucht die Grammatik auch, bedarf aber mehr
|a268| des Unterrichts in schönen Künsten, als in den strengen Regeln der Logik.
266.
Schönheit wirkt auf jeden Menschen mit unwiderstehlicher Gewalt, und die schöne Gestalt, unter der eine Sache erscheint, nimmt uns für die Sache selbst ein. Man verweilt gern mit seiner Betrachtung bey solchen Gegenständen, und man kan sicher auf Eindruck bey Andern rechnen, wenn man das, womit man Eindruck machen will, bekleidet mit diesen Reitzen darzustellen weiß. Schon dies könnte jeden überzeugen, wie nöthig es sey, das zu studieren, was wirklich schön ist, und wie man einer Sache diese Gestalt geben könne; wäre es auch nur 1) um unsre eigne Aufmerksamkeit zu fesseln, unsre Seele zu einer angenehmen Unterhaltung mit gewissen Sachen zu stimmen, unsern Fleiß zu ihrer Untersuchung zu erregen und zu erhalten; noch mehr, um nur vorerst Andre dahin zu bringen, daß sie uns hören, und, wenn |b319| sie dahin gebracht sind, eben den Antheil an der Sache nehmen, den wir ihnen einflößen wollen.
|c285| 267.
Und ist denn 2) unsre sinnliche Erkenntniß weniger wirksam als die deutliche? Bedarf sie der Erweiterung, der Berichtigung, der Leitung, weniger als diese? Wir urtheilen und handeln doch häufiger nach Empfindung als nach Ueberlegung, müssen |a269| selbst oft, wenn es uns an Zeit oder hinlänglichen Gründen der Entscheidung fehlt, den Ausspruch der Empfindung überlaßen. Empfindung spricht gemeiniglich stärker als Vernunft, letztre wenigstens weit stärker für oder wider eine Sache, wenn sie durch das Urtheil der Empfindung unterstützt wird. Sinnliche Vorstellungen sind auch die Grundlage der vernünftigen; wo jene ganz mangeln, fehlt es auch an diesen; wo jene irren, theilt sich der Irrthum auch diesen mit. Jene können oft mißleiten; nur die Vernunft sichert den Menschen dagegen, nur sie kan die Gesetze entwerfen, wonach die Sinnlichkeit eingeschränkt und gelenkt werden muß; diese bedarf also sowohl als der Verstand einer regelmäßigen Bearbeitung, Pflege und Richtung. Und wenn der Mensch zwischen den Thieren und den Engeln in der Mitte steht, nicht bloß gröbern Empfindungen, wie jene, folgen darf, und nicht bloß vernünftigen Vorstellungen folgen kan wie diese: was ist zu seiner Bildung nöthiger, als die Bildung feinerer Empfindungen, in welchen sinnliche und deutliche Vorstellungen gleichsam in einander schmelzen?
|b320| 268.
Mag es 3) seyn, daß
Genie und
Geschmack mehr als alle Regeln der Kunst vermag, daß ohne
beydes weder ein schönes Werk hervorgebracht, noch auch einmal geschätzt werden
kan: so
kan doch jenes ausschweifen, und dieser verdorben werden, oder schon verdorben seyn.
Beydes be
|c286|darf
|a270| wenigstens Uebung und Nahrung. Wenn nun
Genie nichts anders ist als vorzügliche Stärke der Seelenkräfte, und wenn dazu eine vorzügliche Aufgelegtheit zu sehr lebhaften oder sehr deutlichen Vorstellungen, sowohl als eine vorzügliche Reitzbarkeit des Geistes zu dergleichen Vorstellungen gehört: so wird ein Mann von Genie weit mehr Bedürfnisse fühlen als ein
Andrer, er wird nicht mit dem Gemeinen zufrieden seyn, sondern nach
den Vollkommnern dürsten, und, ist er zu sehr lebhaften Vorstellungen aufgelegt, so wird er gerade sinnlicher Vorstellungen der Vollkommenheit
bedürfen; daher werden eben Werke der schönen Künste das seyn, was dem Genie die meiste Nahrung giebt, weil sie ganz eigentlich dergleichen Vorstellungen gewähren. Weil aber ein lebhafter und reitzbarer Geist auch leichter hingerissen
wird: so wird eben darum das fleißige Studium fester Regeln zur Beurtheilung des Schönen,
d. i.
der sinnlichen Vollkommenheit, ihn gegen Ausschweifungen verwahren, und seinen
Geschmack,
d. i.
seine sinnliche Beurtheilungskraft, bilden.
|b321| Anm.
Wenn man durch die Gründe, die
hernach sollen angegeben
werden (
§. 270 –74. vergl.
mit Theil 3. §. 105. 96 f.
) von dem
großen Einfluß des Geschmacks und der Bildung desselben, auf die Denkungsart, den Charakter und die Handlungen der
Menschen, überzeugt seyn wird: so wird sich auch ergeben, daß der Einfluß der schönen Wissenschaften und Künste viel weiter reiche, und beträchtlicher
sey, als sich die
meisten vorstellen.
|a271| 269.
Von den schönen Wissenschaften und Künsten können auch 4) viele andre Wissenschaften große Vortheile ziehen. Sie führen uns, wenn man sie fleißig studieret, auf viele feine Beobachtungen über die Kräfte, Triebfedern und Ver|c287|änderungen der menschlichen Seele, und erweitern dadurch nicht nur die Kenntniß der Psychologie, sondern leiten uns auch auf Grundsätze, viele, zum Theil widersprechend scheinende, Erscheinungen zu erklären. Hiedurch gewinnt die Aesthetik, die Logik, das feinere Sprachstudium, die Geschichte, sofern sie pragmatisch behandelt wird, die Moral, in Absicht auf neue oder neubestimmte Pflichten, auf neue Bewegungsgründe, auf bessre Art die Ausübung unsrer Pflichten zu befördern, und eben dadurch selbst die Religion. Wie weit anziehender sind selbst alle diese Wissenschaften worden, und haben die Lernbegierde selbst der Ungelehrten erregt, seitdem man ihnen durch |b322| Hülfe der schönen Wissenschaften ein gefälligeres Gewand gegeben hat?
270.
Was hilft auch 5) alle Erkenntniß, wenn sie nicht wirksam ist?
Dies wird sie aber, je lebhafter, und überhaupt je sinnlicher sie uns die
Sachen, die wir begehren oder verabscheuen sollen,
darstellt; und diese Klarheit und Lebhaftigkeit den Vorstellungen zu geben, ist ganz eigent
|a272|lich der Zweck, worauf die schönen Wissenschaften arbeiten. Ihr Studium benimmt der Denkungsart das Trockne und Einförmige, das so wenig reitzt und
unterhält, benimmt dem Charakter das
Rauhe, und macht ihn geschmeidiger, stimmt die Seele zu sanftern Empfindungen, macht sie theilnehmender an
allem, was den Menschen
interessiren kan, veredelt unsre ganze Natur. Wie sehr es daher
– 6) auf die Leidenschaften wirke, es
sey, sie zu mildern und einzuschränken, oder sie in Bewegung zu setzen, wie sehr
– 7) auf die Beförderung aller Tugenden, bedarf keiner Ausführung. Wer fühlt die Macht der wahren
Beredsamkeit und Dicht
|c288|kunst nicht?
und was hat von jeher jeden noch so rohen Menschen oder
c√ Nation biegsamer und menschlicher gemacht, als Werke der
c√ Schönheit
c√? – Selbst von den höhern Wirkungen abgesehen, die alle dergleichen Werke hervorbringen können, abgesehen also davon, daß sie die Fähigkeiten des Menschen veredeln, sei
|b323|nen thätigen Fleiß in Bewegung setzen und unterhalten, ihn lehren und antreiben, durch
Thätigkeit
nach der Vollkommenheit zu ringen, – selbst die Glückseligkeit
der Menschen auf
Genuß und
bloßes Vergnügen eingeschränkt: veredlen sie doch schon dieses
Vergnügen, sie machen es
unschädlicher, sie verhindern
die zu frühe Sättigung und
Uebermaaß, sie befördern mehr den Geschmack an
geistigen Vergnügungen, der nie den Menschen so tief sinken
läßt als der Geschmack
am gröbern Vergnügen, der doch
auch den Geist immer mit beschäftigt, der ihm eher die Rückkehr zum Besin
|a273|nen und den Verstand
zu Gegenvorstellungen offen erhält.
271.
Wenn die Werke der schönen Wissenschaften und Künste, oder diese selbst, diese angegebnen Vortheile nicht wirklich gewähren, oder wenn sie gar den Geist, das Herz und die Sitten verderben helfen: so liegt die Schuld nicht an ihnen, sondern an dem Mißbrauch, den man mit ihnen treibt. Eigentlich sollte Schönheit der Kunst, wie Schönheit in der Natur, nur dazu dienen, durch erregtes Vergnügen die Seele zu erheitern, zu stärken, und die Fähigkeiten des Menschen zur Thätigkeit, zum Streben nach größrer Vollkommenheit, zu spannen; seine Aufmerksamkeit und seine Neigungen auf das, was wahr, was nützlich, was sittlich |c289| gut ist, zu lenken. Es sollte alle sinnliche Erkennt|b324|niß und Neigung des mit höhern Fähigkeiten gezierten, zu höhern Absichten bestimmten Menschen, unter der Regierung seiner Vernunft stehen, diese, nicht nur die Wahl, das Maaß, das Ziel aller sinnlichen Vergnügungen bestimmen, sondern auch, als Begleiterin der Empfindung, allgemeinere Gesetze zur Beurtheilung des Schönen entdecken und festsetzen, das Genie und den Geschmack regelmäßig machen, und den, der schöne Werke studierte, wenn ihm dazu die Talente nicht versagt sind, zur Verfertigung ähnlicher schönen Werke bilden. Fehlt es an diesen zwey Stücken; – begnügt man sich mit dem Vergnügen, das die Werke der schönen Kunst erwecken; – überläßt man sich bloß den |a274| sinnlichen Eindrücken, studiert man diese Werke nicht nach Regeln, zieht daraus nie das Allgemeinere, was uns in ähnlichen Fällen leiten könnte: so wundere man sich nicht, – wenn man bey steter Beschäftigung mit schönen Werken, doch nie durch diese an Verstand, an Geschmack, an Herzen, an Sitten und im guten Vortrag gebildet wird; – wenn man, von dem Geist dieser Werke entwöhnt, bloß an äusserlichen Verzierungen hängen bleibt, in Tändeleyen seine Nahrung sucht, wichtigere Pflichen darüber vergißt, nach und nach den Geschmack an allem Ernsthaften, an aller deutlichen Kenntniß, an allem, was nicht geschmückt ist, oder keinen Schmuck verträgt, verliert; und – wenn man, indem es uns an Genie oder Geschmack zu wahrhaftig schönen Werken fehlt, den Empfindler oder Gecken spielt, oder, hat man jene Talente, |b325| selbst den Reitz der Schönheit zu Verstellung der Wahrheit und Empfehlung der Laster, wenigstens feinerer Ausschweifungen, mißbraucht.
|c290|
272.
Schöne Wissenschaften und das Bestreben, sich zum
anzüglichen und gefälligen Vortrag zu bilden, sollten keinem Gelehrten, am wenigsten dem gleichgültig seyn, der künftig ein
Lehrer der
Religion werden will. – Mag es seyn, daß Wahrheit, daß deutliche Einsicht und Ueberzeugung, der
Haupt- oder vielmehr der nächste Zweck der Wissenschaften
sey, daß die überzeugende und eindringliche Kraft der Wahrheit selbst ihr
Beyfall verschaffe, daß es oft genug
sey, diesen durch deutliche Darlegung der
|a275| Gründe zu befördern: so liegen doch in denen, die man überzeugen will, Hindernisse genug, welche dieser Ueberzeugung und dem
Eindruck den Zugang versperren
oder die Ueberzeugung nicht zur
Entschließung, die
Entschließung nicht zur That kommen
laßen, und der Eindruck, den die Wahrheit macht,
kan doch immer durch den Vortrag verstärkt werden. Wenn daher ein Lehrer der Religion alles
Mögliche thun muß, um ihr und allem Guten Eingang zu
verschaffen: so muß er nichts
vernachläßigen, was seinen Vortrag eindringlich und annehmlich machen
kan. Ein trockner oder geschmackloser Vortrag erweckt Widrigkeit gegen Sachen selbst, oder verhindert doch den Antheil, den man daran nehmen sollte. Ein Vortrag, der
|b326| sich durch seine Annehmlichkeit empfiehlt, erregt die Aufmerksamkeit, und unterhält sie, macht den Zuhörer
geneigt das
Vorgetragne zu untersuchen, und das
Empfohlne zu versuchen, bricht dadurch die Macht der Gleichgültigkeit, der Vorurtheile und bösen Gewohnheiten, theilt den Antheil, den der Lehrer an den Sachen verräth, auch dem Zuhörer mit, verstärkt wenigstens durch seine Reitze den Eindruck noch mehr, den die Wahrheit und das Gute
|c291| an sich, und die Gründe dafür in der Seele erregen können. Wenn ein Lehrer keine Fähigkeit, Hülfsmittel oder
Muße hätte, sich ausgebreitete und ganz deutliche Erkenntniß zugleich mit der Geschicklichkeit im Vortrag zu
erwerben: so wäre es verzeihlicher, sich mit einer guten aber mäßigen Erkenntniß zu begnügen, und desto mehr Fleiß auf den Vortrag zu wenden,
als bey dem eifrigen Bestre
|a276|ben nach Weitläufigkeit und Deutlichkeit der Erkenntniß, diesen zu
vernachläßigen.
c√ Je ausgebreiteter
das Gefühl für das Schöne und der gute Geschmack unter denenjenigen ist, auf die man wirken will, je mehr Leichtsinn oder Gleichgültigkeit unter ihnen herrscht, und je mehr
bey ihnen das Ansehen der Vernunft und Religion gesunken, und das Interesse dagegen gering ist: je nöthiger ist
es, auf den guten und anziehenden Vortrag bedacht zu seyn.
|b327| 273.
Und gewiß hat doch auch der Lehrer, der selbst eines gewissen Ansehens und guten Vorurtheils bedarf, um die Religion wirksamer empfehlen zu können, Ursach genug, sich dieses durch feinere Sitten zu erwerben und zu erhalten. Aber der vernünftigere Theil der gesitteten Welt schätzt und erwartet diese nach derjenigen Art von Ausbildung, die der Charakter und Beruf eines Gelehrten oder Lehrers mit sich zu bringen scheint, das ist, nicht nur nach ausgebreitetern und gründlichern Kenntnissen, die ihn über Andre erheben, sondern auch nach der Geschicklichkeit, diese aufs wirksamste mitzutheilen. Bemerkt man diese Geschicklichkeit an einem Lehrer, und sieht man, daß er sie geflissentlich zu erwerben und zu benutzen suche: so giebt dieses den Zuhörern die |c292| Ueberzeugung, daß es ihm nicht gleichgültig sey, ihnen zu gefallen, sich zu ihnen herabzulaßen, ihnen auf dem Wege beyzukommen, wo sie am liebsten mit ihm wandeln; welches nothwendig mehr Zutrauen und Liebe erwecken muß, als wenn man wahrnimmt, daß ihm das Wohlgefallen der Zuhörer an seinem Vortrag gleich|a277|gültig, und ihm alles für diese Zuhörer gut genug scheine.
274.
Sogar um sein selbst willen sollte ein Lehrer der Religion in Bildung seines Vortrags nicht
|b328| nachläßig seyn. Denn wenn das wahr ist, was oben (§.
59 f.
) über den Einfluß der Sprache auf die Bildung des Verstandes und Herzens gesagt
wurde: so wird seine Erkenntniß weit
klärer, lebhafter und lebendiger werden, wenn er sie aufs
möglichste zu versinnlichen sucht, so weit es immer ohne Nachtheil der
deutlichen Erkenntniß geschehen
kan. Dazu dient aber das Studium der schönen Wissenschaften (
§.
262. 263 ); und
bey praktischen Wissenschaften, wie die Religion ist, die er eigentlich praktisch vortragen muß, sind die
angegebnen Eigenschaften der Erkenntniß, wo nicht noch wichtiger, doch wenigstens eben so wichtig, als
deutliche und
bestimmte Erkenntniß. – Und wenn die immer mehrere Ausbreitung des guten Geschmacks, wie unten erhellen wird, sehr viel zur Aufklärung in der Religion und zur Läuterung der Frömmigkeit
beytragen kan: sollte nicht der Lehrer der Religion auch mit dahin arbeiten, daß selbst durch sein
Beyspiel, in dem Kreise wenigstens, wo Er wirken
kan, auf einer Seite der gute Geschmack
allgemeiner, und somit der Anhänglichkeit an
unfruchtbaren Untersuchungen, der
Schwärmerey und dem Geiste der Kleinigkeit oder Sonderlichkeit, den verächtlichen Begriffen von Religion und Frömmigkeit
gesteuret, auf der andern aber der Geschmack mehr veredelt würde, mehr Festigkeit und eine bessere Richtung
|a278| auf dasjenige bekäme, was wahrhaftig gut und des vernünftigen Menschen würdig ist, wenn er angefangen
hat sich
zu nichtswürdigen Dingen und
|b329| zur Weichlichkeit oder gar zur Empfehlung
der Ausschweifungen zu neigen?
275.
Wenn aber die schönen Wissenschaften so leicht dem Mißbrauch unterworfen
sind, wenn die Beschäftigung mit ihnen so manchen guten Kopf, so manches gute Herz verdorben, für die Welt unbrauchbar, wenigstens minder brauchbar gemacht hat:
wie weit wäre das Studium derselben,
a√ wenigstens dem zu empfehlen, der nicht
ausserordentliche Anlagen zum Redner oder Dichter hat, der nicht ganz eigentlich
dazu geboren zu seyn scheint? – Vorausgesetzt, daß es jemandem nicht ganz an
Fähigkeit, sich ordentlich
auszudrucken, und von dem, was er vortragen will, mit Antheil zu sprechen, fehlte – denn ohne dieses hat er zu einem künftigen Lehrer der Religion gar keinen
Beruf: – so sollte man 1) nie eher an die
Verschönerung des Vortrags denken, ehe man nicht
ordentlich denken, und 2)
rein sich
auszudrucken gelernt hätte. Wahrheit und Richtigkeit der Gedanken soll doch nur durch Schönheit empfohlen werden; Schönheit ohne Wahrheit ist ein bloß betrügliches
Blendwerk; Ordnung ist unentbehrlicher als Zierlichkeit; und es ist gar zu ungereimt,
c√ auf
Verzierung des Hauses,
hernach erst, oder vielleicht gar nicht, auf Festig
|c294|keit und Nutzbarkeit Bedacht zu nehmen.
|a279| Wer also noch nicht deutlich und ordentlich
c√ denken
|b330| kan, wer sich noch nicht selbst versteht, wer noch nicht einmal rein und den Sachen gemäß lesen, sprechen und schreiben
kan, der müßte
c√ nicht
schon etwas schön
ausarbeiten, er müßte nicht einmal schöne Werke, als solche, studieren wollen. Er würde sich sonst zum schönen Unsinn gewöhnen, seinen Geschmack und Verstand verderben, wenigstens
sich gewöhnen, nach
bloßem Vergnügen zu haschen, und der Schönheit die weit wesentlichern Vollkommenheiten des Wahren und Guten, der Verständlichkeit und Ordnung, aufzuopfern.
276.
Ueberhaupt ist das bloße Vergnügen kein genug edler Zweck für die Würde des Menschen, der immer nach größerer Vollkommenheit streben soll. Das Vermögen zu angenehmen Empfindungen ist uns nur gegeben, unsre Seele zu erheitern, unsre erschlafften Kräfte zur Vollkommenheit wieder zu spannen, und in Thätigkeit zu setzen. Selbst das edlere, geistige Vergnügen, das den Menschen den Vorzug vor den Thieren giebt, läßt sich ohne Wahrnehmen und Gefallen an Wahrheit, Ordnung, Deutlichkeit und aller Vollkommenheit unseres Geistes, die daraus entsteht, nicht denken. Daher kan auch 3) alle Beschäftigung mit schönen Wissenschaften und Werken, die nicht mit auf jene höhere Vollkommenheit geht, oder den Fleiß vermindert, den wir auf das Wachsthum in dieser wenden sollen, nicht anders als verderb|b331|lich seyn. Sie ist eine Schwelgerey, die uns um |a280| die gesunde Nahrung des Geistes bringt, die Auszehrung der vernünftigen Seele.
|c295| 277.
Auch
kan man nicht oft genug sagen, wie nöthig es
sey, mit Unterschied und Ueberlegung (Discretion) Schönheiten in schönen Werken aufzusuchen, und in seinen
eignen Arbeiten anzubringen. Es ist nicht jedem leicht,
das Schickliche wahrzunehmen und
auszudrucken. Nicht zu gedenken, daß es auch einen besondern Geschmack giebt, welchen nachzuahmen vielleicht, nur unter ähnlichen Umständen mit einem Meister eines schönen Werks, erlaubt seyn möchte: so hört Schönheit auf, Schönheit zu seyn, wenn sie am unrechten Orte angebracht wird,
d. i.
bey Sachen, die ihrer Natur nach eigentlich keiner Verschönerung, wenigstens nicht ohne Nachtheil der Deutlichkeit, fähig sind, oder die der Verschönerung nicht bedürfen, oder durch Verschönerung mehr zerstreuen, und von der Hauptsache, die empfohlen werden soll, die Aufmerksamkeit zu sehr abziehen, mit
einem Wort, wo sie unnatürlich, zwecklos, oder gar zweckwidrig seyn würde. Auch sollte man nicht
alles, was man selbst schön findet, und wirklich schön seyn mag, in seinen
eignen Arbeiten Andern wieder mittheilen wollen; man sollte vielmehr durch das Studieren schöner Werke seinen
eignen Geschmack so zu bilden suchen, daß man
|b332| das Gefühl des Schicklichen immer mehr zur Reife brächte, und
daß man lernte, nach den Fähigkeiten und Bedürfnissen derer, vor wel
|a281|chen wir zu reden oder zu schreiben haben, die Wahl und den Gebrauch des Schönen zu bestimmen.
In so fern kan gerade das Lesen der schönsten
und bewundertsten Schriftsteller,
vornemlich Dichter, für
den Prediger, dem es
am Verstande und
Gefühle des Schicklichen fehlt, am verderblichsten werden.
Der Ton
|c296| der sogenannten guten Gesellschaft und der Schauspiele darf nicht der Ton der Kanzel
werden; was dem erlaubt ist, der lauter oder
meistens Zuhörer von sehr
gebildeten Geschmack hat, ist dem nicht erlaubt, der meistens vor
Zuhörern ganz
andrer Art
redet; und selbst jene, wenn sie wirklich gebildeten Geschmack haben, werden es abgeschmackt finden, da, wo Belehrung und Würde des Ausdrucks erfordert wird, Glanz und Schimmer oder gesuchte Schönheit anzutreffen.
278.
Eben deswegen kommt viel darauf an,
wie man die schönen Wissenschaften treibt? – Wie
bey dem Studium der Sprachen (§.
68 ), so würde auch
hier, Theorie, Lesung guter Schriftsteller und
eigne Uebung zu verbinden seyn. – Ich setze 1) immer voraus, daß man nicht eher nach
Schönheit des Ausdrucks trach
|b333|ten sollte, ehe man nicht
richtig denken, und sich
gut ausdrucken gelernt hätte. Die Theorie des vernünftigen Denkens, Uebung in Bemerkung der Wahrheit, der Ordnung und der Deutlichkeit
bey einem Schriftsteller, Uebung in der Ausarbeitung wohl durchdachter, zusammenhängender, gut geordneter, verständlich und bestimmt
geschriebner Aufsätze,
müßte immer
vorangehn; und
Sprachrichtigkeit in der Sprache, worin man Schrif
|a282|ten lesen, oder Aufsätze verfertigen will,
müßte man vor allen Dingen in seiner Gewalt haben.
279.
Hätte man
alsdann das Glück, unter Anleitung eines Mannes von
reifem Geschmack, gute Schriftsteller lesen zu
können: so
würde 2) dieses Lesen unstreitig vor aller eigent
|c297|lichen Theorie vorhergehen müssen. Denn es ist anziehender und unterhaltender als trockne Theorie, die, wenn sie deutlich und praktisch werden soll, ohnehin
alles durch
Beyspiele erläutern muß, welche man immer besser im Zusammenhange beurtheilen und schätzen
lernt, als in
abgerissenen Stücken.
Vornemlich befördert dieses Lesen die Aufmerksamkeit und das eigne Gefühl des Schönen, und lehrt uns, ob wir dieses haben, ohne welches man sonst auf schöne Wissenschaften Verzicht thun müßte. – Sollte man aber eine solche Aufsicht und Anleitung eines guten Führers nicht
genießen können: so wäre wohl eher zu rathen, daß man
|b334| sich die Grundsätze der schönen Wissenschaften und des guten Geschmacks aus guten Schriften bekannt machte, welche in der Absicht geschrieben sind, um durch
Beyspiele der Schönheit und darüber gemachte Bemerkungen den Anfänger zu bilden.
Für die Dichtkunst würden vorzüglich Engels Anfangsgründe einer
Th. der Dichtungsarten (§. 264 ), für die Redekunst ein Buch wie die
Principes pour la lecture des Orateurs, à Paris 1754
in gr.
12, und noch weit mehr
J. J. Eschenburg's Anhang zu dessen Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften, enthaltend eine Beyspielsammlung aus den besten Schriftstellern in alten und neuen Sprachen, Berlin, 1788–1791
in 6 Bänden gr.
8, zu empfehlen seyn. c√
|a283| 280.
Aber nach einer solchen Anweisung müßte man 3) sogleich zum Lesen der besten Schriftsteller fortschreiten, weil auf die anschauliche Erkenntniß des Schönen so viel
ankömmt, und Theorie mehr den Geschmack
bessert, und den guten befestigt, als hervorbringt und ernährt.
Wie diese, in Rücksicht auf Schönheit, in ihrem ganzen Umfange zu lesen wären, ist schon oben (§.
84 ) gesagt. Hier möchten noch folgende
Räthe nicht am unrechten Orte stehen.
|b335| 281.
Hat man
c√ musterhafte Schriftsteller in seiner
eignen Sprache: so verdienten
4) diese – in
der Art
c√ Schriften, wo sie
musterhaft, und
fremden gleich
sind – vornemlich studiert zu werden. Denn in
unsrer Muttersprache denken und schreiben wir doch meistens, und sollten uns in ihr gut und schön zu denken und vorzutragen vorzüglich
bilden. (§.
92 f.
) Selbst verstehen können wir die feinern eigenthümlichen Schönheiten und Anspielungen
der Fremden weniger als die unsrigen; und jede Nation hat ihren
eignen Geschmack, der, so fern er auch in seiner Art gut ist, doch nur mit Ueberlegung und Vorsicht in den unsrigen überzutragen wäre,
und nicht die gute Originalität des unsrigen durch
auswärtige erborgte Schönheiten, wenn sie uns
zumahl nicht
c√ so natürlich sind, zu verdrängen. (
a√ §.
104. )
|c299| 282.
Ob man 5) eher und mehr Dichter oder Prosaisten studieren sollte? ist eine Frage, worüber die |a284| Stimmen sehr getheilt seyn möchten. Wahr ists, Dichter gefallen meistens mehr, weil sie näher auf Vergnügen als Belehrung arbeiten, und weit mehrere Arten der Schönheit c√ vereinigen können als der Prosaist; überdies sind ihre Schönheiten hervorstechender, und also für den Anfänger bemerkbarer. Allein – Belehrung ist doch noch wichti|b336|ger als Vergnügen, und führt ihr eignes Vergnügen mit sich, ohne es erst von der Einkleidung erborgen zu müssen. – Eben das hervorstechende Schöne in den Werken der Dichtkunst verwöhnt auch den Geschmack eher, und verursacht, daß hernach das wirklich aber weniger auffallende Schöne der prosaischen Werke nicht genug Reitz für uns hat, und überhaupt der Geschmack an natürlicher Schönheit, über der Liebe zur Schönheit der Kunst und des Ausserordentlichen, geschwächt wird, wo nicht verlohren geht. – Endlich bedürfen wir der Prose häufiger als der Dichtkunst, da wir mehr in jener, seltner aber als Dichter denken, empfinden und reden, und wenn die meisten guten Köpfe gute Prosaisten werden können, so sind doch nur wenige, die Fähigkeiten haben, gute Dichter zu werden.
283.
Vorzüglich sollte man
6) die, auch in Absicht auf den
Vortrag, besten Schriftsteller studieren, die in
dem Fach gearbeitet haben,
welchem wir uns eigentlich
widmen. Denn es verräth doch entweder
großen Unverstand, oder beweiset, daß man schöne Schriften nur zum Vergnügen und nicht
|c300| zu höhern Absichten lese, wenn
einer, der sich zum künftigen Lehrer der Religion bilden soll, sich mit Lesung
|a285| der Romanen,
der Schauspiele, und
überhaupt der Schriften
, die ihre größeste Schönheit von der Erdichtung haben, weit mehr
beschäftigt, als mit solchen, welche eigentlich die
Religion, Kenntniß,|b337| der Menschen,
zumal derer, mit denen wir zu thun haben, ihre wirkliche Beschaffenheit, Denk- und
Handlungsart, und was am meisten auf sie wirkt, betreffen.
Mögen diese gleich weniger Reitz und Unterhaltung
für die gewähren, welche entweder für
Alles, was ernsthaft und vernünftig ist, oder die Angelegenheiten der Seele
betrift, keinen Sinn, oder ihren Geschmack durch stetes Haschen nach sinnlichen Vergnügen verwöhnt
haben: so sind sie
doch nicht nur
wichtiger zur wahren Vollkommenheit des Menschen als jene, sondern sie sind auch eben sowohl der
sinnlichen Darstellung fähig
, die das Wesen der Schönheit im Vortrag ausmacht. Aber es giebt
verschiedne Arten und Grade der Schönheit, und man
kan nicht eben dieselben von dem Prosaisten wie von dem Dichter, von dem geistigen wie von dem sinnlichen Gegenstande, fordern. Ein Vortrag, der sich durch
natürliche Schönheit, durch
c√ Einfalt, durch klare Bestimmtheit, durch lichtvolle Ordnung, durch anständige Würde empfiehlt, der die Sachen dem schlichten Menschenverstande von annehmlichen Seiten vorstellt, der sanfte Empfindungen erregt, der mehr belehrt als hinreißt, mehr das Herz erwärmt als erhitzt, ist gewiß auch schön. Solche Wirkungen sind, wenn gleich minder lebhaft, doch heilsamer und
dauerhafter, und es zeigt von einem weit feinern Gefühl des wahrhaftig Schönen, wenn man
|a286| diese
verborgnern, als wenn man nur die hervorstechenden Schönheiten empfinden
kan. – Und haben wir nicht auch
unsre
Mosheims ,
Jerusalems ,
Spaldinge ,
Tellers ,
Eberharde ,|b338|
Döderleins ,
Niemeyers und andre, denen man selbst feinere Schönheiten des Vortrags
, mit Discretion, ablernen
kan? – der treflichen Schriftsteller, unserer
Gellerte ,
Leßings ,
Mendelsohns ,
Garvens ,
Engels und andrer nicht zu gedenken, die, wenn gleich nicht alle in Schriften über die Religion, doch in andern eigentlich dogmatischen, den Ruhm der
classischen behaupten.
c√
284.
7) Die Aesthetik (
§.
263 ), oder
der Theil derselben,
der sich mit der Schönheit der sinnlichen Erkenntniß beschäftigt, (§.
177 Anm.
2) d. i.
die Theorie der schönen Wissenschaften und Künste, ist freylich nicht ihrem ganzen
Umfang nach, und in Absicht auf die Beobachtungen und Regeln feiner Schönheiten,
jedem zu wissen nöthig, der sich nicht vorzüglich diesen Wissenschaften widmen will. Sie ist auch, weil sie sich mit dem
dunklern Theil der Seele, mit den Empfindungen, beschäftigt, und ein sehr feines Studium der
Seele erfordert – wenn sie anders den Charakter wahrer Philosophie behaupten
und deutlich erklären soll, – nicht jedem zugänglich. Die
meisten könnten sich daher wohl mit den allgemeinen Grundsätzen der Schönheit, sonderlich der Schönheit der Rede,
ohngefähr so wie sie in den
alten Griechen und
|a287| Römern, vornemlich in den
hieher gehörigen Schriften des
Ari|c302|stoteles , Cicero und
Quintilian , vorgetragen sind, und mit dem fleißigen Studieren schöner Schriften begnügen. Aber
|b339| Grundsätze und Regeln überhaupt machen doch auf manches unerkannte und unmerkliche Schöne des Vortrags
aufmerksam, und so gewiß es ist, daß der fleißige Beobachter des Schönen in schönen Werken sich selbst
c√ Regeln
des Schönen abziehen
kan, so erleichtern doch bewährte
Regeln feiner Beobachter diese Beschäftigung gar sehr.
Vornemlich aber verbessern dergleichen Regeln den Geschmack, leiten ihn
sichrer, und geben ihm mehr Festigkeit.
Vorzügliche Schriften, die dergleichen Theorien über den ganzen Umfang oder über einzelne Theile der schönen Wissenschaften enthalten, können, nach dem Zweck dieses Buchs, nicht angeführet werden. ⌇c Die Theorie der schönen Künste und Wissenschaften, von Joh. Aug. Eberhard , dritte Aufl.
Halle 1790.
in 8. ⌇c und der ⌇c Entwurf einer Theorie und Literatur der schönen Wissenschaften von Joh. Joachim Eschenburg , Neue Aufl.
Berlin 1789.
in gr.
8. sind zwar nur zu Vorlesungen bestimmt, also dem Anfänger ohne diese nicht ganz verständlich und brauchbar. Sie verdienen aber vor allen andern hier angeführt zu werden, weil sie sich nicht nur durch den zusammengedrängten Reichthum der Sachen, die Gründung der Regeln auf die feinsten Beobachtungen der besten Köpfe und die Natur des Schönen selbst, und durch sorgfältige Bestimmtheit empfehlen, sondern auch die auserlesenste Literatur und Anzeige der besten zu den schönen Wissenschaften gehörigen Schriften enthalten.
|a288| |b340| 285.
Wenn man sich
8) in Abfassung solcher Aufsätze üben will, die sich auch von der Seite des schönen Vortrags empfehlen
sollen: so muß man nie vergessen, die strengste Kritik
Andrer, die davon wirklich zu urtheilen im Stande sind, zu Rathe zu
ziehn, und zu benutzen.
Kan man dergleichen Richter nicht
finden: so wird uns selbst das
unbefangne Urtheil gemeiner Leser oder Zuhörer, für deren
|c303| Bedürfnisse man einen solchen Aufsatz bestimmt hat, und denen es, auch
bey geringem Grade der Ausbildung, nicht an
gesunden Menschenverstande und Gefühl des Verständlichen, Schönen, Schicklichen und
Eindrücklichen fehlt, von
großem Vortheil seyn. Je mehr man Schriften studiert, die eine genaue und scharfe Kritik schöner Werke enthalten,
– worin die
Briefe, die neueste Literatur betreffend, Berlin 1761–65
in 24 Theilen in 8, die
Bibliothek der schönen Wissenschaften und freyen Künste, Leipz. 1757–65
in 12 Bänden, nebst 2 Anlagen und einem Hauptregister, und die Neue Bibliothek der schönen Wissenschaften etc.
Leipz. 1766–91
bisher in 43 Bänden in gr.
8. vorzügliche Muster sind: – je mehr wird man selbst zu einer solchen Kritik gebildet werden.
Uebrigens bedarf es kaum der Erinnerung, daß bey diesen eignen Uebungen die obigen Anmerkungen §. 278 und 283. nie sollten vergessen werden a√. c√
Abkürzungsauflösung von "Anm.": Anmerkung