|a448| |b181| |c157| Dritter Abschnitt .
Systematische Theologie.
132.
Wenn wir einen Blick auf die Lehren werfen, die Jesus Christus
und seine Apostel ausbreiteten, und auf die Lehrart,
der sie sich
dabey bedienten: so zeigt sich bald, daß sie das, was sie zu sagen hatten, immer gelegentlich und nach den Bedürfnissen ihrer jedesmaligen Zuhörer oder Leser vortrugen. – An
Verständlichkeit konnte es diesem Vortrag damals nicht
fehlen. Denn sie richteten sich immer nach dem Sprachgebrauch derer, mit welchen sie redeten; sprachen mit dem Volke, als
Volke, in Sentenzen und Bildern, die diesem vor Augen, oder geläufig waren; mit den Gelehrteren, nach ihrer
Denk- Beweis- und Sprachart. Blieb ja noch etwas dunkel, oder mußten sie, wegen Neuheit der Sachen, gewissen Ausdrücken neue Bedeutungen unterlegen: so gab der Zusammenhang, in dem sie sprachen, es gaben die Umstände, unter denen, und in Beziehung auf die sie redeten, den Ausdrücken die nöthige Deutlichkeit; und was dieser ja abgehen
mochte, das konnte man
bey diesen Lehrern selbst, man konnte es
bey ihren Schü
|a449||b182|lern leicht erfragen. – Die
Gewißheit von dem, was sie als Gottes Gesandten vortrugen, gründete sich, für den Anfang, zum Theil auf die Wunder, wodurch sie sich als solche gezeigt hatten, zum Theil, und
bey allen, die sie einmal willig hören wollten,
|c158| auf die Beruhigung und Besserung, als die
ohnfehlbaren Wirkungen, wodurch sich die göttliche Wahrheit ihrer Lehren
bey jedem rechtfertigte, der diesen
Lehren folgte (Joh. 7,
17). Daher führten sie auch weiter keine Beweise für ihre Wahrheit, als da, wo gewisse Vorurtheile, Zweifel,
Laster oder Unachtsamkeit und Leichtsinn ihrer Zuhörer eine nähere Ueberzeugung nöthig machten;
alsdann bezogen sie sich entweder auf Sätze der gesunden Vernunft, oder auf Stellen der heiligen Schrift, je nachdem es die Fähigkeit der Zuhörer zuließ, oder das Bedürfniß derselben
erforderte. – Uebrigens suchten sie
nur richtige Kenntnisse in der Religion zu
gründen, und
eindrücklich zu machen. Die nähere
Anwendung auf die jedesmaligen Angelegenheiten der Zuhörer mußten sie diesen selbst
überlaßen, eben so wie das
Fortbauen auf diesen gelegten
Grund: denn daß sie dieses Fortbauen voraussetzten und verlangten, läßt sich schon sowohl aus der Bestimmung des Christenthums für
allerley Völker und für die künftigen Zeiten, als aus den Fähigkeiten des Menschen, immer
vollkommner zu werden,
schliessen, wenn sie auch nicht ausdrücklich darauf drängen (Matth. 13, 12.
Kap.
25, 14
flgg.
1 Kor. 3, 11
flgg.
Eph. 4, 12
f.
Ebr. 5, 11
f.
etc.
)
|a450| |b183| 133.
Was jene Stifter des Christenthums über die christlichen Lehren gesagt und geschrieben haben, ist auch für die folgenden Zeiten in den Büchern des neuen Testaments aufbehalten worden. In dieser spätern Zeit mußten sich, wie es die Sache mit sich bringt, nothwendig in der Erkenntniß der Christen große Veränderungen ereignen, man mag auf die Verständlichkeit jenes Unterrichts Christi und |c159| seiner Apostel, oder auf die Gewißheit von den in der heiligen Schrift enthaltnen Lehren, oder auf ihre Anwendung, oder auf die Erweiterung und Aufklärung dieser Erkenntniß sehen.
134.
Nach dem Tode der Apostel und ihrer nächsten
Schüler traten immer weniger
Juden zum Christenthum
über; die
meisten neuen Christen waren bisherige
Heiden, und des jüdischen und morgenländischen Sprachgebrauchs
unkundig. Die Kenntniß der Umstände, unter welchen jene Stifter geredet hatten, verlor sich;
und nachfragen konnte man
bey den ersten Lehrern nicht
mehr. Die griechische Sprache
litte, wie alle Sprachen, in Dingen, die ihrer Natur nach nicht nothwendig sind, viele
Abänderungen. Die Begierde, was man in der Religion für wahr hielt, auch in der heiligen Schrift zu finden, verursachte, daß man einen ganz fremden Sinn
hineintrug. Selbst die
|a451| Uebertragung der biblischen Ausdrücke und Be
|b184|griffe in
andere Sprachen, und, wenn man auch nicht auf ungeschickte oder flüchtige Uebersetzer zu rechnen hätte, die Unmöglichkeit, biblische Ausdrücke ohne Mißverstand in fremde Sprachen zu übersetzen,
machte, die heilige Schrift zu
verstehen, schwerer, und die Verschiedenheit in der Auslegung nothwendig. – Auch die Art des von den Stiftern des Christenthums zu ihrer Zeit so weislich gebrauchten
gelegentlichen und
populären Vortrags trug das Ihrige dazu
bey. Der
populäre Vortrag ist
fasslicher und
eindrücklicher, als der gelehrte, und
beydes zu
|c160| werden war die Absicht jener Stifter; aber was er an jenen Eigenschaften gewinnt, verliert er an Bestimmtheit, und ist daher eine reichere Quelle des Mißverstandes. Was man
gelegentlich sagt, das sagt man in Beziehung auf die Bedürfnisse der jedesmaligen
Zuhörer. Waren diese, oder die Absicht
bey ihrer Belehrung, verschieden, so
erklärten sich auch jene
erste christliche Lehrer über eben dieselbe Sache sehr verschieden; und so entstanden nothwendig scheinbare Widersprüche in der Bibel, die der Eine Leser so, der
Andre anders zu heben suchte,
wobey dem Einen diese, dem Andern jene Behauptung der heiligen Schrift deutlicher oder wichtiger
schien †) . So konnte es an einer
großen Verschiedenheit der Vorstellungen von dem
Sinn der heiligen Schrift nicht fehlen.
†) Man
vergleiche z. B.
Joh. 5,
23. mit
Kap.
14, 28. Röm. 3, 23
f.
mit
Kap.
2,
6 f.
Kap.
6. und Jak.
|a452| 1,
25. auch
Kap.
2. 1 Tim. 2,
4. mit Matth. 20, 16.
|b185| 135.
Die Gewißheit der christl. Erkenntniß war einer ähnlichen Revolution ausgesetzt. Es ist recht, und sogar Pflicht, nach der uns möglichsten Gewißheit zu streben, weil von der Festigkeit der Ueberzeugung auch der Eifer, nützliche Wahrheit weiter auszubreiten, und die Willigkeit, ihr zu folgen, abhängt. Nach dem Abschied Christi und seiner nächsten Schüler konnte man weder, wie zu ihrer Zeit, sie in der Verlegenheit befragen, noch Zeuge ihrer Wunder seyn. Man hatte freylich ihre Lehren und Thaten in der heiligen Schrift; aber, daß es ihre Schriften, daß diese durchaus in der Lehre unverfälscht wären, dies forderte, wenn es zuverläßig seyn sollte, Beweise, und das um so mehr, da es schon in den ältesten Zeiten Leute gab, die das |c161| Eine oder das Andere bezweifelten, oder selbst den Aposteln falsche Schriften unterschoben. War aber diese Aechtheit ihrer Aussprüche auch gewiß genug: so konnte man doch mit Recht immer mehr Ueberzeugung von ihrer Wahrheit suchen, immer mehr eigne und fremde Erfahrungen von ihren heilsamen Wirkungen, und somit von ihrem göttlichen Werthe, sammlen; alle weitere Fortschritte in der Kritik, in Sprachen, in der Philosophie, in der Geschichte und andern Wissenschaften zur stärkern Ueberzeugung benutzen; die christlichen Lehren mit andern Grundsätzen und Kenntnissen |a453| in eine immer nähere Uebereinstimmung bringen, um dadurch die sonst aufsteigenden oder von Andern |b186| erregte Zweifel zu entkräften. Und hätte man auch alles dieses nicht selbst bedurft: so wäre es um Andrer willen nöthig gewesen, wenn man diese heilsamen Lehren, und richtige Begriffe oder Ueberzeugung von ihrer Wahrheit, mittheilen, und sie gegen falsche Vorstellungen oder Zweifel verwahren wollte.
136.
Selbst
bey der
Anwendung der christlichen Lehren auf sich selbst oder
Andre mußte manche Verlegenheit, mußten sehr
verschiedne Meinungen eintreten. Ist dieses oder jenes (
z. B.
Matth. 19, 21. Apostelgesch. 15, 20
etc.
) auch uns, oder ist es nur den damaligen Schülern Christi
gesagt? und in jenem Fall, wie
ferne? Ist der mir vorkommende Fall eben der, auf den der oder jener biblische Ausspruch (
z. E.
Matth. 6, 25. 1 Kor. 3, 19.) geht? und wenn mehrere solche Aussprüche, die doch einander nicht wirklich widersprechen können, nicht zugleich können in
einerley Absicht wahr seyn (
s.
die
Anmerk.
zu §.
134 ), wie fern ist jeder wahr? wie
laßen sie sich mit einander ver
|c162|einigen? oder, wenn
zwey Gebote nicht zugleich können gehalten werden (
z. B.
Matth. 7, 6. und
Kap.
10,
27), welches geht vor? oder, wie weit
kan man
beydes beobachten? –
Erweiterten sich
nun vollends, mit fortgehender Zeit,
allerley Arten der mensch
|a454|lichen Kenntnisse und Wissenschaften, die entweder in eine Art von Widerspruch mit den biblischen Aussprüchen zu kommen, oder diese aufzuklären und zu bestätigen
|b187| schienen; fing man an mit eben dem Fleiß über diese Aussprüche, wie über die Sätze in andern Wissenschaften,
nachzudenken – und dies machte selbst der Widerspruch gegen manche,
nebst den verschiednen Vorstellungen von ihrem Sinn und ihrer Ausdehnung,
nothwendig, wenn diese Aussprüche
nicht schon
vor sich einer solchen weitern Aufklärung werth
gewesen wären, die man nicht anderwärts her, als aus dem fleißigen Studium des Sprachgebrauchs der Bibel und aus klaren Sätzen der Vernunft, nehmen
konnte –: so mußten sich
c√ auch die Kenntnisse vom Christenthum erweitern, noch mehr befestigen, und bestimmter und zusammenhängender werden. Wie endlich diese Masse von Kenntnissen immer mehr zunahm, eine Läuterung derselben zur Scheidung des Wahren und Falschen nöthig wurde, nach und nach Lehranstalten aufkamen, wo man,
zumahl angehenden Lehrern der Religion, eine allgemeinere Uebersicht des Ganzen geben, und diese mannichfaltigen Kenntnisse vom Christenthum durch ihren innern Zusammenhang, durch ausgesuchtere, bewährtere Beweise und die nöthigen Bestimmungen befestigen wollte: so entstand natürlich eine mehr
wissenschaftliche Form christlicher Kenntnisse.
|a455| |c163| 137.
Hier haben wir den Ursprung der
systematischen Theologie, oder der
Theologie, im Unterschiede von der
Religion (
Theil 1. §.
3 Anm.
2), im eigentlichsten und engsten Verstande (
Th.
2|b188| §.
1 ),
d. i.
des zusammenhängenden
Inbegrifs gelehrter Kenntnisse von der Religion. Man könnte, wenn Religion, wie hier, von der christlichen genommen wird, diese Theologie durch eine Wissenschaft (oder den
Inbegrif der Wissenschaften) erklären, worin die in der heiligen Schrift zerstreuten Lehren erklärt, in einen
ordentlichen Zusammenhang gebracht, durch einander bestimmt und eingeschränkt, bestätigt, und weiter aufgeklärt werden.
c√ Wenn mehrere Lehrsätze, die mit einander zusammenhängen,
d. i.
deren einer mit und durch
den andern
besteht, (oder mit dem andern zugleich und um seinetwillen wahr
ist,) zusammen genommen,
d. i.
zu Einem Zweck verbunden werden, so entsteht ein
System; und, sind
diese Lehrsätze der Religion, ein
Religions-System; folglich ist
systematische Theologie der Inbegriff aller Religionslehren, die in einem
solchen Zusammenhange erkannt oder vorgetragen werden.
Bey ihr kommt demnach
alles auf
drey Stücke an: 1) daß man die
einzelnen Lehrsätze verstehe oder erkläre, 2) sie mit einander verbinde, und zwar 3) so, daß einer mit und durch
dem andern bestehe.
138.
Man darf nur auf die bisher
beschriebne Art Acht geben, wie systematische Theologie ent
|a456|standen ist, und über die Natur derselben nachdenken, um sogleich überzeugt zu werden, wie nützlich es
sey, daß man die christlichen Lehren in ein solches
|b189| System gebracht habe. Wer sich einer christ
|c164|lichen Kenntniß, und noch mehr einer Ueberzeugung von ihrer Wahrheit rühmen, oder sie anwenden will, muß doch 1) wenigstens sie
verstehen. Dazu ist zwar die Kenntniß des biblischen Sprachgebrauchs unentbehrlich; aber, wenn dieser Gebrauch mehr als Einen Sinn
zuläßt; oder wenn ein Satz, den wir zu verstehen glauben, mit einem andern biblischen Satz nicht bestehen
kan: so muß ich den Satz, von dessen Sinn die Frage ist, mit dem Zusammenhang, in dem er in der Bibel vorkommt, mit der Absicht des Schriftstellers, mit seinen anderweitigen Erklärungen, vergleichen, um zu finden, welcher Sinn, allein oder am meisten, damit übereinstimme; oder, scheinen
zwey biblische Sätze einander zu widersprechen, wie fern und in welchem Sinn jeder wahr
sey, und mit dem andern bestehen könne.
†) Hier ist offenbar die versuchte Verbindung eines
zweydeutigen Satzes mit dem Zusammenhange, der Absicht des Schriftstellers und den Parallelstellen, oder mit andern eben so biblischen Sätzen, das Mittel, hinter dessen wahren Sinn zu kommen. Ja eben dieser Versuch, einen
Zusammenhang zu finden, leitet
mich oft auf die Entdeckung des wahren Sprachgebrauchs, indem er
mich aufmerksam macht, anderweitigen
Beyspielen von
dem Sprachgebrauch nachzuforschen,
bey dem
|a457| ich allein
den Satz
c√ denkbar
finde ††) . Oft finde
ich auch
bey dem Sinn eines biblischen Satzes gar kein Bedenken, und
kan daher einen wirklich falschen Sinn für wahr annehmen, bis
ich ihn
|b190| erst – wie eben in dem System geschieht – mit andern biblischen Sätzen
zusammenstelle, und dadurch von
meinem Irrthum in der Erklärung überzeugt, dadurch genöthigt werde,
mich nach
einen richtigern Sinn umzusehen. Schon
dies ist also ein
großer Vortheil, den
mir dieses Zusammenstellen und der Versuch,
|c165| die biblischen Sätze in ein System zu bringen, gewährt, daß
ich dadurch
den wahren Sinn dieser Sätze
entdecken kan, ohne welchen alle
meine Erkenntniß aus der Bibel keinen festen Grund haben würde.
†) So
kan es scheinen, als wenn die Stelle Röm. 5, 12
f.
die Lehre
enthalte: daß wir selbst zugleich mit unserm ersten Stammvater, und dadurch, daß er sündigte, gefallen wären; es kan diese Stelle wenigstens eine eigentliche Zurechnung seines Falls
bey seinen Nachkommen,
d. i.
den Satz zu enthalten scheinen, daß wir
um jenes Falls willen
bestraft a√, wohl gar mit dem
ewigen Tode bestraft würden. Es ist auch bekannt genug, daß sie so sey verstanden worden. Aber eben sowohl
kan ἁμαρτάνειν,
wie von solchen verstanden
werden, die nicht
gesündigt, sondern nur ein gleiches
Schicksal mit
andern Verbrechern haben;
θανατος kan den
leiblichen Tod bedeuten; und Paulus
kan eine ganz natürliche Veränderung, die auch ohne Verbrechen erfolgt seyn würde, nach einer
bey den
Hebräern gewöhnlichen Art zu reden, als eine
Strafe beschreiben, wenn sie gleich keine, sondern ihr nur (materialiter) ähnlich ist, wie 1 Mos. 3, 14. 16. 17–19.
Kap.
9, 12
f.
und in vielen Stellen, die aus dem alten Testament im neuen,
|b191| nicht nach ihrer eigentlichen Absicht, sondern
|a458| wegen einer Aehnlichkeit, angeführt werden. Vergleiche ich nun den biblischen Ausspruch Ezech. 18,
20, den sogar der gemeine Menschenverstand als recht billigt; erkenne ich die deutliche Anspielung der Worte des Apostels auf 1 Mos. 2,
17, verglichen mit
Kap.
3,
19; finde
ich daß
P.
im Zusammenhang nur bloß den
Tod erwähnt, und weder ihn
Strafe nennt, noch von einer andern Strafe
ausser dem Tode
redet; vornehmlich aber, daß er unser Schicksal nicht von
unsrer, von
vieler Menschen Sünde herleitet, sondern in allen Versen von
Eines Sünde
V.
15. 16. 17. 18.
19; und daß er endlich den Adam
und Christum
vergleicht,
mit oder
in wel
|c166|chem letztern wir ja nicht recht gehandelt haben, sondern nur
seinetwegen als Gerechte von Gott
behandelt werden: so
kan man vernünftiger Weise an der Richtigkeit der letztern Erklärung nicht zweifeln. – So scheint auch 1 Joh. 3,
6 und
9 mit
Kap.
1,
8 zu streiten, und man hat
allerley Arten, den Sinn jener Stelle zu mildern, versucht. Johannes
hebt doch selbst allen Mißverstand, da aus
Kap.
5,
18 augenscheinlich wird,
μὴ ἁμαρτάνειν sey so viel als
τηρεῖν ἑαυτὸν,
sich für Sünden zu hüten suchen.
††) Wie
bey gedachter Stelle 1 Joh. 3. und
bey solchen, wo es scheint, daß Gott für die Ursach des Bösen ausgegeben werde; welcher in die Augen fallende Mißverstand gänzlich gehoben wird, wenn
ich aus ähnlichen Redensarten Apostelgesch. 13,
29 und
Kap.
1,
18 gelernt
habe, daß die Ebräer von jeder entfernten, selbst mit Mißfallen verknüpften
|b192| Veranlassung einer Handlung,
als wie von einer
Ursach derselben reden.
c√
|a459| 139.
Zur Ueberzeugung von der
Wahrheit der biblischen
Sätze müssen uns zwar schon die Aussprüche der heiligen Schrift selbst zureichend seyn; aber die Gewißheit davon wächst doch noch mehr 2) dadurch, wenn wir sie mit andern Sätzen, die uns gewiß sind, in Verbindung bringen; es mögen diese andern Sätze biblische, oder anderwärtsher gewisse seyn. Denn, so wie diese Gewißheit der Sätze leidet, wenn wir sie nicht mit solchen andern zu reimen wissen: so wird sie befestigt, wenn sie aus diesen
fließen,
|c167| oder diese ohne jene nicht bestehen
können †) . Indem
ich sie ferner mit andern Sätzen
zusammenhalte, so
sehe ich 3) wie einer den andern bestimmt und einschränkt,
füge also im System diese Einschränkungen hinzu, und
verhüte dadurch theils die Mißdeutung dieser Sätze, theils Zweifel und Vorwürfe gegen sie; wodurch Irrthümer abgeschnitten werden, und der richtige Verstand derselben sowohl wieder befördert, als die Gewißheit der Sätze aufs neue verstärkt
wird ††) .
c√ Dies ists, was vornehmlich der deutlichen und gelehrten Kenntniß vor der undeutlichen und gemeinen, dem Vortrag der erstern Art vor dem populären, den Sätzen im System vor den abgerissenen Sätzen, einen so
großen Vorzug giebt.
Bey Köpfen, die zum Nachdenken aufgelegt und an deutliche Begriffe
|b193| gewöhnt sind, ist systematische Kenntniß der Religion unentbehrlich, und dahin, in seinem Maaß, zu trachten, Pflicht eines jeden Christen,
zumal Lehrers,
|a460| zumal in aufgeklärtern Zeiten. Siehe den sehr lesenswürdigen
tellerischen Excursus III. hinter
Th. Burneti lib.
de fide et offic.
Christianorum p.
290
sqq.
†) So wird die
Lehre von Unentbehrlichkeit der Gnade Gottes zu allem Guten und von seiner schonenden Erbarmung, gewiß in dem Grade überzeugender
erkannt als die Ueberzeugung von unserer Ohnmacht und unserm Verderben auf einer, und von dem, was wir wohl könnten, wenn wir wollten, auf der andern Seite, stark ist; und die wahre Lehre der
heil. Schrift von der
Versöhnung durch Christum
ist
bey einer richtigen Vorstellung von der Gerechtigkeit Gottes weit weniger Zweifeln ausgesetzt, als ohne diese.
††) Beyspiele giebt hier die Vergleichung der
biblischen Lehre, daß der Glaube ein Geschenk
Gottes sey, mit anderen Stellen, die doch den Mangel des Glaubens dem
Men|c168|schen selbst Schuld geben; der
Lehre, die den Glauben an Jesum Christum
als nothwendig zur Seligkeit fordert, mit der Lehre Röm. 2, 11–15. 26.
27; der Lehre, die Gott als den vorstellt, der allen Menschen wolle geholfen wissen, und
der durch sein Wort oder Lehre die Menschen selig mache, mit dem Erfahrungssatz, daß doch die wenigsten Menschen Gelegenheit
gehabt haben, die christliche Lehre, selbst viele nicht einmal Fähigkeit
c√, eine natürliche Reli
|b194|gion
kennen zu lernen; der Lehre von Vergebung der Sünden, und hingegen der Erfahrung, daß natürliche Strafen nach unsern Vergehungen nicht ausbleiben.
|a461| 140.
Eben diese richtige und bedächtige Vergleichung der Lehren unter einander und die Bestimmung der einen durch die
andre, zeigt auch 4) den verhältnißmäßigen Werth oder
dergleichen Entbehrlichkeit einer Lehre. Diese Würdigung
kan sehr viel
beytragen zur Bestimmung, ob gewisse Lehren oder Vorstellungen
auch in den gemeinen Unterricht,
oder nur für
Gelehrtere gehören;
c√ zur Beruhigung
unsrer selbst, wenn wir uns von gewissen Lehren nicht überzeugen, sie nicht so sehr, als wir es wünschten, uns aufklären, nicht alle Zweifel dagegen heben können;
c√ zur billigern Beurtheilung derer, die über gewisse
Lehren anders denken als wir;
c√ zur Absonderung unnützer oder entbehrlicherer Untersuchungen.
†) Und wie viele neue Aufschlüsse gewährt 5) eine solche Vergleichung und
Zusammenstellung? die so viele Vorurtheile, Irrthümer und Zweifel verdrängen
können. Denn wodurch anders gelangen wir zu solchen erweiterten und mehr geläuterten Einsichten, als durch Vergleichung mehrerer Sätze, und ihrer Bestandtheile, mit einander?
††)
|c169| †) Man denke hier an den so
äusserst zweydeutigen
Streit über
Grund- und Nebenartikel des christlichen Glaubens (articulos fundamentales primi und secundi ordinis und non fundamentales), und an den unverständigen höchst schädlichen Eifer, der menschliche Vorstellungen von christlichen Lehren mit
|b195| diesen selbst, der Wichtigkeit nach, in
eine Classe setzte, auf einer,
wie auf der andern Seite, an die Kälte und
|a462| Gleichgültigkeit gegen gewisse Lehren, sowohl als an den Unverstand, eine Lehre selbst zu verwerfen, wenn eine Vorstellungsart davon verwerflich ist. Die Lehren von dem göttlichen Ansehen der heiligen Schrift und ihrer
göttlichen Eingebung; von dem moralischen Verderben der Menschen, der Erbsünde und der Zurechnung des Falles Adams
, und so viele
andre, mit den
verschiednen Vorstellungen davon, die keinesweges zusammen stehen und fallen, können hier zum
Beyspiele dienen.
††) Gute und schlechte
Beyspiele dieser Aufklärung christlicher Lehren sind bekannt genug. Wie ärmlich und
willkührlich sieht die Lehre von der Eingebung der
heil. Schrift vor der letztern
Zeit des vorigen Jahrhunderts aus, gegen die Gestalt, die sie seitdem
, zumal in den neuesten Zeiten,
als in
Töllners Buch von der göttlichen Eingebung, gewonnen hat? Wie ganz anders erscheinen uns jetzt die Lehren von der wahrhaftigen Göttlichkeit des Christenthums, von der
Deutlichkeit der
heil. Schrift, von der göttlichen Vorhersehung der
freyen Handlungen der Menschen, von der göttlichen
Vorsehung, von den göttlichen Strafen, von der Versöhnung Christi
und seinem thätigen und leidenden Gehorsam, von der wahren Besserung des Menschen, und dem, was
dabey Gottes und des Menschen ist, von dem Glauben und der möglichen Seligkeit derer, die keine Gelegenheit gehabt
haben das Christenthum kennen zu lernen,
|b196| von der steten Fortdauer der Strafen nach dem Tode, und mehrere
andre? die alle so laut für den Nutzen der systematischen Untersuchungen sprechen.
|a463| |c170| 141.
Alle diese Vortheile
kan die systematische Theologie, zur bessern Erkenntniß des Christenthums, leisten. Sie erleichtert aber auch das gründliche Studium der Religion, besonders angehenden Theologen.
Denn 6)
schon für den langsamen Kopf, und eben so sehr für jeden, der noch zu wenig Bekanntschaft mit der heiligen Schrift und deren rechtem Verstande, mit Philosophie, mit Geschichte der Lehre und den so vielfältigen Versuchen gelehrter Theologen, das Christenthum aufzuklären, noch zu wenig feste Grundsätze und Uebung im Denken, und
in reifer, nüchterner Prüfung, hat, ist es ein
großer Vortheil, wenn ihm
Andre darin mit Sammlung dessen, was am bewährtesten
erfunden worden, mit
eigner Untersuchung, vorarbeiten, ihm durch ihr eigenes
Beyspiel die rechte Art zeigen, wie er, aufs sicherste und überzeugendste, Untersuchungen über die Religion und das Christenthum anstellen müsse, ihn dadurch
für Dünkel und zu rascher Entscheidung einerseits, und
andererseits für Trägheit
bey dem einmal Gelernten, verwahren. 7) Er bekommt dadurch eine allgemeinere und geschwindere Uebersicht des Ganzen, an die er hernach viel leichter seine übrigen erlangten Kenntnisse und Untersuchungen knüpfen und ordnen
kan. 8) Er wird durch ein wohleingerichtetes
|b197| System von dem Leichtern zum Schwerern fortgeführt, oder doch,
bey der zusammenhängenden Stellung der Lehren, durch das Vorhergehende
|a464| zu dem Nachfolgenden zubereitet
. Er gewöhnt sich, durch einen solchen erläuternden und mit Beweisen unterstützten Commentar über die biblischen Lehren, gleich anfangs zu deutlichen und bestimmten Begriffen, die ihn gegen seichte Erkenntniß, Ausschweifungen der Phantasie, halbwahre Zweifel, und
|c171| mehrere dergleichen Uebel, sichern. 9) Der stete Zusammenhang, verbunden mit solchen deutlichen Begriffen, gewährt einem Selbstdenkenden und nach gründlicher Kenntniß Durstenden ein
großes Vergnügen, macht ihm das Studium der Religion selbst interessanter, und befördert dadurch zugleich seinen Fleiß. Auch drückt sich 10) das, was man so
im Zusammenhang gebracht hat, viel tiefer ein, und setzt uns in den Stand, das leichter zu behalten, und sich
dessen eher wieder zu erinnern, als was man nur einzeln und stückweise gelernt hat.
142.
Freylich führt dieser systematische Vortrag des Christenthums auch manches Unbequeme mit sich, und veranlaßt oft genug Uebel, die der rechten Erkenntniß desselben nachtheilig werden. – Die Bequemlichkeit, die er verschafft, und das Vertrauen auf Andrer Vorarbeit, verleitet sehr leicht zur Trägheit, hemmt den Trieb zu eigner Untersuchung, und zieht blinde Anhänglichkeit an |b198| dem System nach sich. – Nur zu oft wird darüber das Schöpfen aus der Quelle, das Studium der heiligen Schrift, vernachläßigt; man be|a465|gnügt sich mit Beweisen aus der Natur der Sache und aus dem Zusammenhang der Lehren, und, anstatt das System nach der heiligen Schrift zu bilden, trägt man aus jenem den Sinn in diese hinein; wenigstens hindert die stete Rücksicht auf das System, wogegen man nicht verstoßen will, das recht unbefangne Forschen in der Bibel. – Und da man in dem System, nebst den christlichen Lehren, auch menschliche Vorstellungen davon vorträgt: so wird man gar leicht verführt, einerley Gewißheit und Wichtigkeit diesen wie jenen beyzulegen, und dies verursacht wieder den Schaden, daß die oft gerechten Zweifel gegen solche |c172| menschliche Begriffe, zur Bestreitung der christlichen Lehren selbst gebraucht werden. – Endlich scheint dabey die Fruchtbarkeit und das eigentlich Praktische der Religion, nebst der Anwendung des Christenthums auf unsre Besserung und Beruhigung, zu leiden. Denn je mehr Fleiß auf die Speculation verwendet wird, je mehr wird gemeiniglich die Anwendung, und, über dem Streben nach Deutlichkeit und Gewißheit, die Beförderung des Eindrucks, den die Lehren machen sollten, vergessen. Und, weil die Untersuchungen in dem System durch Streitigkeiten über einzelne Lehren und durch die Umstände der Zeit, wo sie für nothwendig befunden wurden, veranlaßt worden sind: so sind viele, zum Theil wichtigere, Untersuchungen ganz versäumt, viel Un|b199|nützes, wenigstens für uns Entbehrliches, in das System getragen, auf Vieles ein Gewicht gelegt worden, was ihm nur die Zeitumstände |a466| und Leidenschaften der Menschen gaben, und das Christenthum ist durch die Ideen gewisser Schulen, Völker und Zeiten so verstellt, der Vortrag so dürre, und durch den Gebrauch der Schulausdrücke so unverständlich worden, daß man oft Mühe hat, die einfältige Lehre Christi darin wieder zu finden.
143.
Alles dieses ist
wahr; ob es gleich von den Feinden der systematischen Lehrart und eines besondern Systems selbst, sehr übertrieben, und zu gar zu einseitiger Beurtheilung derselben angewendet wird. – Billig fordern solche Gegner, daß sie gehört, daß die Fehler gebessert werden, die dieser Lehrart und einem besondern System ankleben. Aber eben so gerecht ist die Forderung, die
großen Vortheile dieser Lehrart nicht zu
verleugnen, die vorhin dargestellt wurden, und das nicht zu verkennen, was selbst die syste
|c173|matische Behandlung der christlichen Lehren zur Beförderung desjenigen
beytragen kan, wovon man sich einbildet, daß es durch diese Behandlung verhindert
werde †) . Ja diese Forderung ist
bey einzelnen Systemen um so gerechter, je mehr man wahrnimmt, daß die Meisten, welche sie so schnell verurtheilen, sich nicht einmal die Mühe gegeben haben, den wahren Sinn gewisser Vorstellungen und die Einschränkungen zu
studieren, mit
|b200| welchen man sie in dem System
behauptet ††) ; als wozu eine viel ausgebreitetere Belesenheit,
|a467| eine weit
größere Biegsamkeit der Seele, um sich in
Andrer Vorstellungen hineinzudenken, mehr bedachtsame Prüfung und weit mehr historische, philologische und philosophische Kenntnisse gehören, als diese zu raschen Richter verrathen.
†††)
†) So vermindert
z. B.
die systematische Behandlung des Christenthums nicht nothwendig den Fleiß, den man auf das Studium der Bibel wendet. Vielmehr, wenn man aus dem System sieht, wie getheilt die Christen über gewisse Stellen und Lehren der Bibel gewesen sind: so wird man nicht nur auf manchen Sinn geführt, der uns vorher gar nicht
einfiel; man wird auch ermuntert, recht genau die Bibel zu studieren, um unter so
verschiednen Vorstellungen zu entscheiden, und eine recht feste, auf allen Seiten wohl verwahrte, Ueberzeugung von dem richtigen Sinn und dessen Gründen zu erhalten. Und wenn man
bey dem System findet, wie sehr
Ein Satz
dem Andern einschränke, und auf wie grobe Irrthümer oder unauflösliche Zweifel man gerathen würde, wenn man die biblischen Sätze so gerade nähme, wie sie sich uns zuerst darstellen: so wird man ja viel vorsichtiger,
nicht geradezu einen gutscheinenden Sinn
c√ zu billigen, und keine Ideen an gewisse Sätze der Bibel zu hängen, die hernach diese Sätze mit andern in Widerspruch bringen. Was
kan uns von dem so verführerischen Vorurtheil:
man müsse sich einfältig an den Buch
|c174|staben der
heil. Schrift halten,
|b201| und einfältig
glauben, was
kan uns davon abbringen, als eben die Bemerkung, die das System so augenscheinlich macht, zu was für
Irrthümern und Widersprüchen uns die Befolgung dieses Grundsatzes verleite?
|a468| ††) Zum
Beyspiel kan hier die Lehre der evangelischen Kirchen von der Versöhnung der Menschen mit Gott durch Jesum Christum
, und von der
Rechtfertigung allein durch den Glauben, dienen, gegen welche viele noch immer den Vorwurf erneuern, daß sie die Sicherheit der Menschen
befördre, und der Nothwendigkeit der Heiligung Eintrag thue; desgleichen die Fragen: von
Nothwendigkeit der guten Werke (der Tugend) zur Seligkeit, und des
Glaubens an Jesum Christum
zu jeder guten
That, von der
Seligkeit derer, die das Christenthum nie gekannt haben, und
der Satz, daß ihre Tugenden splendida vitia wären
(Fehler oder Mängel, die besser zu seyn scheinen, als sie sind). – In diesem Fehler liegt der Grund zu aller Verketzerung
, der sich übereilte und halbgelehrte Reformatoren eben so leicht schuldig machen, als im Gegentheil Andere, die steif an den gewohnten Vorstellungen von gewissen Lehren hängen.
†††) Denn, was man System
überhaupt nennt –
und die obigen Einwürfe sind ja gegen
alles gerichtet, was so heißt – ist nicht
einerley mit dem
besondern System einer gewissen Kirche oder eines besondern Lehrers. Wer also
einzelne Lehren, wie sie philosophisch und im Zusammenhange mit andern vorgestellt worden sind, beurtheilen will, muß nicht
|b202| bloß Eine oder
Eine und die
Andre Vorstellung, sondern eigentlich alle Versuche kennen, die man zur Aufklärung einer Lehre gemacht
hat; und dazu gehört keine geringe Belesenheit, Scharfsinn, Fähigkeit, sich in
Andrer Gedanken zu versetzen
u. d. gl.
Welch eine ganz andere schrift- und vernunftmäßige Gestalt haben gewisse Lehren unter den Händen gelehrter und scharfsinniger Lehrer bekommen,
zumal je nachdem durch Streitigkeiten nähere
Veranlaßung, darüber weitere Unteruchungen anzustellen, entstanden war!
|c175| Wie groß erscheint
z. B.
Leibnitz auch in den Erklärungen, die er über gewisse hergebrachte und angefochtene
|a469| Vorstellungen
in der Theologie, gelegentlich in seinen Schriften eingestreuet hat!
144.
Freylich sind alle menschliche Werke unvollkommen, und die besten Unternehmungen dem Mißbrauch ausgesetzt: soll man aber deswegen lieber nichts versuchen, weil es doch immer nur
Stückwerk seyn wird?
Oder haben die Gegner der systematischen Theologie nicht auch schon einmal ihre
Partey genommen, ohne die Sachen
aufs Neue nach der heiligen Schrift zu untersuchen?
Haben sie nicht auch
Ihr System, das sie oft in die heilige Schrift hineintragen?
Und, wenn die Natur eines Systems zu gewissen besondern Fehlern leicht
verführt, giebts nicht wieder
andre gleich schädliche Fehler, in die man um so eher verfällt, je weniger man gewisse Sätze im System versteht?
verworrne Begriffe
z. B.
|b203| und daher entstehende
Zweydeutigkeit, falsche damit einschleichende Nebenvorstellungen, Widersprüche, welchen man die Lehren aussetzt
u. d. gl.
–
Und jenen Fehlern des Systems, nebst dessen zufälligem Mißbrauch läßt sich doch abhelfen, wenn man
folgende Regeln nicht aus den Augen
läßt:
⌇⌇c Die zugleich dienen können, theils den Werth besondrer Systeme, und der Verfahrungsart bey Aufklärung einzelner Lehren zu bestimmen; theils Vorsichtigkeit zu befördern, wenn man sich selbst sein System macht, eine Pflicht, die jeder auf sich hat, wer eine gewissenhafte Erkenntniß der Religion, und wer überall eigne Ueberzeugung sucht; theils gerechter und billiger von denen zu urtheilen, die über gewisse Lehren oder deren Erweislichkeit anders c√ denken wie wir.
|c176| 145.
Zuerst müßte man überall bey einem christlichen System
c√ die heilige Schrift zum Grunde
c√ legen. Es kommt aber
dabey so viel auf die Art an,
wie dieses geschieht, und es werden
dabey so manche unerkannte Fehler begangen, so manche Sätze und Beweise für biblisch ausgegeben, die nichts weniger als biblisch sind, daß es sehr der Mühe werth ist, diesen
rechten Gebrauch der heiligen
Schrift, zu
dieser Absicht etwas bestimmter anzugeben.
Hier müßte 1) zuvörderst
ausgemacht seyn, ob das zur heiligen Schrift, wie sie
hier gebraucht werden soll, gehöre, was man dahin rechnet. Denn es versteht sich a) von selbst, wenn eine Leseart
unsrer gedruckten Bi
|b204|beln falsch oder unsicher, und eine Stelle
unächt ist, daß man darauf auch im System nichts bauen
dürfe †) (§.
24 ). b) Eben so viel aber, und noch weit mehr, kommt darauf an, daß man überzeugt
sey, was in der heiligen Schrift als
Quelle der Belehrung für Christen angesehen werden müsse. Denn wenn man
erwegt: – daß Gott seine in der heiligen Schrift
enthaltnen nähern Offenbarungen nach und nach und immer
stufenweise deutlicher bekannt gemacht habe;
– daß Jesus
und seine
|a471| Apostel
selbst theils von den Offenbarungen im alten
Testament als von einem noch
unvollkommnen Untericht sprechen, theils ganz
andre Gesinungen von Christen fordern, als sich zu den Zeiten des alten Testaments fanden (Luc. 9, 54–56. Joh. 1, 17. Gal. 3, 23–25.
K.
4, 9
f.
Ebr. 8, 6. 12, 18–24); – daß das alte Testament doch eigentlich für Israeliten, als ein
besondres Volk Gottes, bestimmt war, und augenscheinlich nach israelitischen Nationalumständen und Bedürfnissen eingerichtet
ist ††) ; – daß hingegen die eigentliche Belehrung für
Christi Schü
|c177|ler in dem Unterricht ihres Stifters und Herrn und seiner unmittelbaren Schüler gesucht werden müsse, und diese Reden in den Schriften des neuen Testamentes vorkommen: so
kan der
große Unterschied zwischen den Büchern
a√ neuen und alten Testamentes, als einer
Quelle und als eines für Christen unmittelbar verbindlichen Unterrichts, nicht
geleugnet werden.
|b205| †) Z. B.
Röm. 8,
11. διὰ τοῦ ἐνοικοῦντος
πνεύματος ἐν ὑμῖν statt der bessern
διὰ τὸ ἐνοικοῦν πνεῦμα
ἐ. ὑ. Matth. 5,
22 εἰκῆ. Joh. 5,
4 u. a.
††) S.
Die Schriften des A. T. nach ihrem Inhalt und Zweck bearbeitet - - von W. F. Hufnagel , Erstes Bändchen, Erlangen 1784.
8.
146.
Nur aus den Zeugnissen der ältern jüdischen und christlichen Kirche
c√ wissen
wir allein,
|a472| welche Bücher von solchen Männern herrühren, die, als göttliche
Gesandten, die Lehren der göttlichen Offenbarung im alten und neuen Testament zuerst bekannt gemacht
haben; und in dieser zwiefachen Kirche hat es
unleugbar verschiedne Meinungen über das göttliche Ansehen
einzelner Bücher gegeben, aus welchen man die erste Kenntniß jener
Lehre schöpfen könne, ohne daß man jemanden, der darüber anders als
Andre dachte, des Namens eines Juden oder Christen unwürdig gehalten hätte, –
zumahl da nie ein
göttliches Zeugniß diese Frage entschieden hat. So gewiß es auch ist, daß einige Bücher der heiligen Schrift (als die Bücher Mosis
, die Evangelien, und manche Briefe des neuen Testaments) in der Absicht geschrieben worden sind, die Lehren der den Juden und Christen mitgetheilten göttlichen Offenbarung zuerst schriftlich bekannt zu
machen, und für die Nachwelt zu erhalten: so wenig läßt
sichs doch von andern,
zumahl
historischen, bewei
|c178|sen, die aber deswegen immer glaubwürdig sind, auch in
|b206| einzelnen Stellen solche Lehren enthalten, und, wenn sie auch nicht eigentlich in jener Absicht geschrieben
sind, doch von Gott als ein Mittel gebraucht werden konnten, die Aufschlüsse, die er den Menschen über die Religion geben wollte, auszubreiten und fortzupflanzen. Da aber viele dieser
Bücher oder die darin erzählten Reden der göttlichen Gesandten, an gewisse
besondre Arten von Lesern oder Zuhörern gerichtet, und nach deren besondern Fähigkeiten,
|a473| Kenntnissen und Bedürfnissen vorgetragen, folglich, nur
den Inhalt nach, auch für
andre Arten von Lesern, hingegen, der
Einkleidung nach, oft nur für die damaligen Leser oder Zuhörer bestimmt sind: so läßt sich hieraus, so wie aus dem Uebrigen vorher Gesagten,
schließen, daß weder alle
Bücher der heiligen Schrift, noch alle
Stellen derselben, noch
vielweniger alle
Worte, geradezu als ein Grund angesehen werden können, worauf sich die ungezweifelte Erkenntniß des Christenthums bauen läßt.
c√ c√
c√ Was hier nur ganz im Allgemeinen gesagt ist, soll die Vorsichtigkeit in der Wahl des Beweises der göttlichen Lehren empfehlen, und die Zweydeutigkeit des Begriffs von dem, was biblisch ist, begreiflich machen; welcher Begriff eben sowohl nur von dem gebraucht wird, was in der Bibel steht, als von dem, was uns Gott darin über seinen Willen geoffenbart hat. Die Gränzen näher zu bestimmen, wo sich beydes scheidet, verdiente gar sehr eine |c179| recht genaue und vorsichtige Bestimmung, wozu hier der Ort nicht ist.
|b207| 147.
Wenn ausgemacht ist, daß etwas in dem §.
145 angegebnen Sinn zur heiligen Schrift gehöre: so tritt die
2te Hauptfrage (§.
145 ) ein: wie nun die Kenntniß der Lehren aus der heiligen Schrift zu schöpfen
sey? Dies gründet sich auf die richtige
Erklärung der heiligen Schrift, und diese lediglich auf ihren erweislichen Sprachgebrauch. Man
kan daher das früh
|a474|zeitige Studium der Bibel und ihres Sprachgebrauchs nicht genug empfehlen, um so mehr, als sonst auch das unbefangenste Gemüth durch einen bereits empfangenen systematischen Unterricht gar zu leicht verstimmt und verleitet werden
kan, gewisse Lehren in der Bibel zu
suchen, anstatt sie, ohne Rücksicht auf ein vorgefaßtes System, so aus der Bibel
anzunehmen, wie man sie darin
findet. Was über das Auffinden des wahren biblischen Sprachgebrauchs zu sagen wäre, ist überhaupt schon oben
bey der exegetischen Theologie angegeben. Hier nur einige Anmerkungen über die Auffindung
des christlichen Lehrbegriffs in der Bibel, und einige
dabey gar zu oft übersehene Fehler.
c√ Hier ist noch viel zu leisten übrig, und die Sache ist für den christlichen Lehrbegriff von
äusserster Wichtigkeit, wenn man nicht
auf Gerathewohl handeln, oder der Bibel seine
eigene Begriffe unterschieben, und wenn man das viele
willkührliche Gerede über
reinbiblische Theologie gehörig sichten will. Nie können die wichtigsten Streitigkeiten
|b208| über biblische Lehren aus dem Grunde gehoben
werden, nie werden harte Urtheile über Dissentirende
aufhören, ehe man diese Begriffe nicht vorsichtig und nach festen Regeln aus der Bibel auffindet und klar macht, wie weit,
|c180| und warum man nicht weiter in Bestimmung der biblischen Begriffe gehen dürfe. Noch enthält unsre
Hermenevtik keine solche hinlängliche
Regeln, aber man hat einige sehr gute Versuche über
einzelne biblische Begriffe. Ich muß mich sehr irren, oder ältere christliche Theologen haben hierin gar nichts
geleistet; unsre ältere sprachkundige protestantische Theo
|a475|logen etwas weniges mehr, aber nur wenig,
z. B.
über den
Begriff der
δικαιωσεως; viel mehr einige Theologen
unsrer Zeit.
Ernesti hat in seiner
vortreflichen Institutione interpretis N. T. und
seiner theologischen Bibliothek zuerst die Bahn
geöfnet; weiter sind nur wenige, meistens einige seiner würdigen Schüler, gegangen, besonders
W. A. Teller , (zum Theil auch einige,
die gegen sein Wörterbuch geschrieben
haben,)
Morus (selbst in Absicht auf
Regeln) und
Tittmann , in
einzelnen kleinen
Schriften. Ich gebe hier einen schwachen Versuch, der jedem bessern und vollständigern gern Platz machen will.
148.
Da sich die heilige Schrift so oft über unsichtbare und geistige Sachen sinnlich
ausdruckt, so
wäre I) vor allen Dingen zu untersuchen, ob die
Wörter und
Redensarten, worauf man bauen will, eigentlich oder uneigentlich zu nehmen
wären. |b209| Denn wäre das
Letztre, so würde man, wenn man sie eigentlich nähme, Sätze der heiligen Schrift
beylegen, die gar nicht darin behauptet wären,
und wäre das Erstere, Sätze übersehen, die sie wirklich hätte lehren wollen. Sehr oft läßt sich
dies gleich unterscheiden, wenn entweder die Natur der Sache die eigentliche Bedeutung nicht
zuläßt †) , oder durch
beystehende Anzeigen
††) oder Anspielungen
†††) zu
|c181| erkennen gegeben wird, ob es eigentlich oder uneigentlich gemeint
sey. Giebt aber
beyderley Bedeutung einen denkbaren
Sinn: so muß der Vorzug des einen vor dem andern entschieden
|a476| werden, nach der
eignen Erklärung der heiligen Schrift in der Stelle selbst und in ihrem
Zusammenhang *) , oder in offenbar ähnlichen
Stellen **) , oder nach dem Zweck eines
Ausspruchs ***) , oder nach dem Sinn des Wortes in ähnlichen Verbindungen, und dem
bey den letztern üblichen eigenthümlichen Sprachgebrauch der heiligen Schriftsteller.
****)
†) Z. B.
zur rechten Hand Gottes sitzen; theilhaftig werden der göttlichen Natur 2 Petr. 1,
4. desgl.
Ephes. 5, 27 und 30.
††) Ephes. 2, 22. 4, 14.
Kap.
3,
17,
vergl.
mit 2 Tim. 1,
15, und Koloss. 3, 16. Röm. 12,
1, und Ebr. 13, 15. Kol. 2, 11.
†††) So θάνατος eigentlich Röm. 5, 12 wegen Anspielung auf 1 Mos. 2, 17. 3, 19; hingegen Joh. 8, 44 ἀνθρωποκτόνος, und Ebr. 2, 14 τὸ κράτος ἔχων τοῦ θανάτου uneigentlich, wegen der Anspielung auf 1 Mos. 3.
|b210| *) So ist 1 Petr. 5,
8 uneigentlich zu nehmen, weil es Petrus
v.
9. durch
παθήματα erklärt; hingegen Joh. 5, 21
f.
die Auferweckung der Todten eigentlich, wegen der Verbindung mit dem Gericht
v.
22 und den
v.
28 erwähnten Gräbern. Röm. 6,
8 ist so wenig als
Kap.
8,
10 und 11, oder
Eph. 2, 5
f.
von Hoffnung
unsrer künftigen Auferstehung gesagt, sondern von der geistlichen Auferstehung und dem Leben zur Ehre Gottes, weil es der ganze Zusammenhang giebt. So zeigt auch die ausdrückliche Erklärung Pauli
2 Kor. 4,
6 warum Christus
v.
4 εἰκὼν τοῦ Θεοῦ heisse, und daß es da im uneigentlichen Sinn zu nehmen
sey,
vergl.
v.
3 und 4.
|a477| **) Röm. 6,
6 zum
Beyspiel,
desgl.
v.
12 und
13, und K. 7,
24 kan man unmöglich
leugnen, daß
da, nicht vom sterblichen Körper, sondern von den Tod bringenden
|c182| (ins Verderben stürzenden) Lüsten die Rede
sey, wenn man nicht nur den ganzen Zusammenhang vergleicht, sondern auch findet, daß Paulus
Kol. 3,
5 τὰ μέλη durch
πορνείαν u. s. w.
erklärt, und damit Matth. 5, 29 und
30 zusammenhält.
***) So würde, wenn es nicht schon das so eben Gesagte lehrte, Matth. 5,
29 und
30 nicht anders als uneigentlich können genommen werden, weil, wenn man es eigentlich nehmen wollte, der Zweck, wozu dieses Mittel vorgeschlagen wird, dem Zweck
dieser Regel Jesu nicht
entspräche, verglichen mit Christi
eignen Worten
v.
28 am Ende.
****) Die Juden sprachen
z. B.
von allem Unglück und Sünden so, vermuthlich wegen 1 Mos. 3,
|b211| als wenn der Teufel dieses alles in die Welt gebracht hätte, so wie sie alles Gute und alles Glück Gott
beylegten. Diese Art zu reden behält die
heil. Schrift,
z. B.
von Gott, 2 Kor. 8, 1 und 16.
Kap.
14; vom Teufel Ebr. 2, 14. Joh. 13, 2.
Apostelgesch. 5, 3. 2 Kor. 12, 7
etc.
legt
ihr aber ohne Zweifel einen uneigentlichen Sinn unter, wie
z. B.
bey dem Tode, als einer natürlichen Veränderung des Menschen,
bey den Sünden der Menschen, die sonst nicht ihnen könnten zugerechnet werden, und aus 1 Petr. 5,
8 verglichen mit
V.
9 offenbar ist. Wegen dieses beständig uneigentlichen Sprachgebrauchs in solchen Redensarten, würde man sie in andern Redensarten eben derselben Art eben so
uneigentlich erklären müssen, wie man im Gegentheil die Versöhnung der Menschen mit Gott durch Christum
immer von seinen Leiden und
Tode, nicht von seiner Lehre, also
eigentlich, erklären muß, weil die
heil. Schrift so beständig
|a478| diese Versöhnung dem Tode und Blute Christi
, niemals
seiner Lehre, zuschreibt. Nach eben dieser Bemerkung würde ich
Apostelgesch. 5,
4 ἐψεύσω τῷ Θεῶ nicht eigentlich von Gott, sondern uneigentlich von den Aposteln, als Gottes Gesandten, erklären müssen, weil es in ähnlichen Redensarten so geschehen
|c183| muß, z. E.
Apostelgesch. 7,
51 ἀντιπίπτειν τῷ Πνεύματι welches durch
διώκειν τοὺς προφήτας v.
52 erklärt wird.
c√
149.
Und nun
den Sinn solcher uneigentlichen
Ausdrücke. Dieser ist oft schon mitgefunden,
|b212| wenn man den Grund gefunden hat, warum ein Ausdruck uneigentlich zu nehmen
sey, wenigstens in den Fällen, wo man dieses
Letztre aus den
eignen Erklärungen der heiligen Schriftsteller, aus dem Zusammenhang oder der Absicht eines Satzes, oder aus dem uns bekannten jüdischen Gebrauch, erkannt hat. Ueberhaupt aber darf man nur immer
auf die
eignen Erklärungen der heiligen
Schriftsteller †) , und, wo die nicht gleich
dabey, oder im Zusammenhang sich finden, auf ähnliche
Stellen ††) Acht haben. Schwerlich wird sich irgend ein tropischer Ausdruck finden, der die christliche Lehre angeht, welchen man nicht auf diese Art aus der Bibel selbst könnte verstehen lernen. Indessen haben manche
solche uneigentliche Ausdrücke
verschiedne Bedeutungen, aus welchen man das herausziehen muß, was sie mit einander gemein haben.
†††) Hat man einmal einen Tropen verstehen
gelernt: so
kan man da
|a479|nach
ähnliche *) , und eben so die mit ihm in einer Stelle verbundenen, erklären.
†) So ist der
innre Mensch Röm. 7,
22 gewiß anders nichts, als
v.
23 ὁ νοῦς,
der Verstand, so fern er Gottes Gesetze erkennt;
Friede mit Gott haben Römer 5,
1 eben so viel, als
keine Strafen von ihm fürchten dürfen v.
9; und aus eben diesem Zusam
|c184|menhang, oder vielmehr
aus Pauli
Erklärungen, läßt sich der wahre Begriff von
Versöhnung der Menschen mit Gott durch Christum abnehmen. Denn
v.
10 heissen καταλλαγέντες eben die, welche
v.
9. δικαιωθέντες heissen, oder solche, die nicht mehr als Strafwürdige von Gott behandelt werden, so wie sie vor Christi
Tod
|b213| v.
8. und
10 ἁμαρτωλοὶ (Strafwürdige) und
ἐχθροὶ (Feinde)
heissen. Aus diesem Letztern ist zu ersehen, warum Paulus
das Wort
Versöhnen brauche,
nemlich weil man dieses von denen sagt, die vorher als Feinde angesehen
wurden, und demnach liegt in diesem uneigentlichen Ausdruck der
Versöhnung weiter kein
andres Bild
und Aehnlichkeit, als
dies, daß Gott uns, wegen des Todes Christi
, nicht als
Strafwürdige oder Feinde behandeln
wolle.
††) Der so eben angegebene Begriff von
Versöhnung z. B.
wird durch ähnliche Stellen augenscheinlich
bestätiget. Denn 2 Kor. 5.
heissen die
Versöhnten v.
19, Gerechtigkeit
Gottes, (Gerechte vor
Gott,) v.
21, und
Gott versöhnte die Welt durch Christum mit sich v.
19 erklärt Paulus
gleich durch: er rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu. Röm. 11,
15 wird
καταλλαγὴ Κόσμου durch
ζωὴν ἐκ νεκρῶν erklärt (
d. i.
vermöge dieses Gegensatzes, die Heiden waren
Todeswürdige, und ihnen ist nun das
Leben zugesprochen); hingegen
heis|a480|sen v.
28 die
Juden, Feinde, (gerade wie Röm. 5,
10) im Gegensatz gegen
Beliebte (denen Gott wohl will);
c√ also können
Feinde nicht seyn die Gott hassen, und Versöhnung
kann nicht
Besserung bedeuten, sondern
Feinde sind, an welchen Gott keinen Wohlgefallen haben
kann. – So sind Ephes. 2,
1 und
5 Todte nicht: ganz Unfähige zu allem Guten, sondern Strafwürdige, nicht nur, weil sie
v.
3 τέκνα ὀργῆς heissen, sondern auch, weil Kol. 2,
13 Lebendigmachen durch
Sünde vergeben erklärt wird.
|c185| †††) Ein
Beyspiel ist der Name
Kinder Gottes (
S.
mein Programm de nomine filiorum Dei, in
den Opusculis
Fascicul. II. No.
13.). Dieser bedeutet
|b214| bald den, der Gott gleich gesinnt
ist Matth. 5, 45. 1 Joh. 2,
29,
bald den, der das für wahr annimmt, was göttliche Wahrheit
ist 1 Joh. 4,
6,
bald den, der eben so selig ist wie
er 1 Joh. 3, 1. Röm.
8, 17; also überhaupt, wer ihm
ähnlich ist.
*) Nach der vorstehenden Anmerkung wäre also klar, was das
sey:
der göttlichen Natur theilhaftig werden 2 Petr. 1,
4, welches selbst die
beygefügte Erklärung
lehrt; von oben her geboren werden Joh. 3,
3;
das Reich Gottes als ein Kind annehmen Marc. 10, 15. – Weiß man einmal, Joh. 14,
23 heisse Gott wohnt bey uns, so viel, als: er unterrichtet, belehrt
uns, (wie aus
v.
22 und
26,
vergl.
mit
v.
16 und
17, desgleichen aus
Kap.
15, 7. Kol. 3,
16 und Ephes. 3,
17–19 offenbar ist): so weiß man auch, daß
μένειν ἐν Θεῷ oder
Χριστῶ Joh. 15, 3.
7 und anderwärts, nichts anders
heisse, als: sich an diese Belehrung
halten, und danach ist die ganze Allegorie Joh. 15, 1
f.
zu verste
|a481|hen;
s.
das
Programm über diese Stelle in
den Opusc.
Fasc. II. N.
2.
150.
Hiernächst (§.
148. )
müßten wir uns
II) sowohl
bey diesen uneigentlichen als überhaupt
bey allen Begriffen und Sätzen der heiligen
Schrift dies zur allgemeinen Regel machen, niemals einen Begriff unterzulegen, er
sey an sich so wahr, oder
unserm, gemeinen oder gelehrten, Sprachgebrauch so gemäß, als er wolle; wenn wir nicht beweisen können, dieser Begriff
sey wirklich in der Bibel an ein gewisses Wort oder
c√ Redensart
|b215| geknüpft, und zwar in der Stelle, wo derjenige Ausdruck vorkommt, worauf wir bauen. Denn es
kan etwas wahr, und doch von
jemand nicht ge
|c186|meint; es
kan eine Bedeutung in der Bibel üblich seyn, und doch ist sie in einer gewissen Stelle nicht gebraucht; es
kan etwas nach
unsrer Sprachart gewöhnlich seyn, und ists doch in der Sprache der Apostel nicht; es
kan ein Begriff sogar allen Sprachen gemein seyn, und doch
kan er von einem besondern Schriftsteller eine nähere Einschränkung oder Erweiterung bekommen haben. Wenn wir von der heiligen Schrift
lernen sollen: so müssen wir auch nur
sie hören, und nicht das unterschieben, was sich zu
unsrer Art zu reden und zu
unsern Urtheilen am meisten reimt. Wo diese Regel aufhört, da hört auch das
Biblische auf, da fangen
unsre Zusätze an. So ungereimt es
|a482| ist, so gewöhnlich ists doch,
dies Beydes zu verwechseln: dieses
steht in der Bibel, und es
steht in dem Sinn darin, wie wirs nehmen; man begnügt sich nur zu oft mit dem Erstern, und vergißt das
Letztere, worauf es doch hier allein ankommt.
c√ Zu den Vergehungen gegen diese Regel gehört:
- 1. wenn man den biblischen Wörtern Bedeutungen giebt, die sie überall in der Bibel nicht haben; als, daß χάρις von übernatürlichen Wirkungen Gottes in den Menschen (von gratia inhaesiva) im Gegensatz gegen natürliche Kräfte des Menschen, gebraucht werde, da doch χάρις stets in der Bibel entweder von Gottes freyer Güte, Ephes. |b216| 2, 5 verglichen mit V.
4, oder von seinen Wohlthaten überhaupt gebraucht wird; desgl. daß διαθήκη einen eigentlichen Vertrag bedeute, worauf man die ganze Föderaltheologie, die Lehre von Zurechnung des Falls Adams , von Adam als einen Repräsentanten des menschlichen Geschlechts, u. d. gl.
gebaut hat; daß 1 Kor. 2, 14 πνευματικοὶ und ψυχικοὶ, Wiedergeborne und Unwiedergeborne sind etc.
- |c187| 2. Wenn man Bedeutungen in eine Stelle trägt, die sie in der Stelle nicht haben, woraus man etwas beweisen will; als in die Stelle Röm. 5, 12 f.
den gewöhnlichsten Begriff der Zurechnung, worauf hernach die Lehre von einer mit und in Adam begangnen Sünde, von schon daher rührender Strafwürdigkeit der Menschen etc.
gegründet wird; oder in das Wort αἰώνιος Matth. 25, 46 den Begriff von nicht immer, sondern nur lange dauernden Strafen, weil man dieses besser mit Gottes unendlicher Güte, oder vielmehr die gewöhnlichen falschen Begriffe|a483| von eigentlicher Ewigkeit der Strafen, nicht mit dieser Güte zu reimen weiß, so sehr auch für die erstre Bedeutung der Gegensatz in der Stelle selbst (ζωὴ ἀιώνιος) und die Stelle Marc. 9, 46 spricht.
- 3. Wenn man einen Unterschied zwischen biblischen Ausdrücken erdichtet, den sie, wenigstens in den Stellen, wo man diesen Unterschied anbringt, nicht haben; als zwischen ἐκπορεύεσθαι und ἐξέρχεσθαι bey Joh. 15, 26 die doch Kap.
16, 28 gleichgültige Ausdrücke sind; desgleichen zwischen den Wörtern Matth. 22, 37. Gal. 5, 19 f.
u. d. gl.
- |b217| 4. Wenn man gewöhnliche und, der Sache selbst nach, richtige Abtheilungen in Stellen trägt, wo gar nicht zu beweisen ist, daß die heil. Schriftsteller diese Verschiedenheit im Sinn gehabt haben; als die Abtheilung in das rituelle und moralische Gesetz bey Röm. 3, 20 f.
, den Unterschied zwischen Gott- und Menschheit Christi etc.
den Unterschied zwischen Wieder- und Unwiedergebornen Röm. 7, 14 f.
etc.
- 5. Wenn man an die Wörter Nebenbegriffe hängt, wovon keine Spur im Wort oder dem Texte liegt; als Joh. 6, 44 von unmittelbaren oder übernatürlichen Wirkungen, Röm. 5. von unserm Tode als Strafe u. d. gl.
|c188| 151.
Doch hier ist nicht sowohl die Frage, wie man
hinter den Sprachgebrauch der heiligen Schrift überhaupt
komme, (davon ist schon oben geredet worden), sondern wie
ich den
bestimmten Sprachgebrauch,
vornemlich in Rücksicht auf
|a484| Lehrbegriffe,
d. i.
wie
ich finde, welche Erweiterung oder Einschränkung die heiligen Schriftsteller ihren Ausdrücken gegeben haben, um weder zu wenig noch zu viel aus ihren Ausdrücken zu nehmen? Nun ist doch offenbar, daß sie dieselben nicht überall nach
einerley Umfang nehmen (
z. B.
πίστις,
μετάνοια,
βασιλεία τοῦ Θεοῦ,
τοῦ Χριστοῦ,
τῶν οὐρανῶν), daß sie bisweilen nur Einen Theil, Eine Eigenschaft einer Sache, Einen
Gesichtspunct erwähnen, woraus man sie ansehen
kan,
|b218| daß sie bisweilen genauer, bisweilen unbestimmter davon reden
u. s. f.
Daher müssen diese Ausdrücke
erst in
einzelnen Stellen untersucht,
hernach diese
einzelne Stellen verglichen, und mit einander verbunden werden, um den ganzen Umfang desjenigen zu erkennen, was sie von den Lehren durch ihre Ausdrücke anzeigen wollen. In
beyden Fällen würde man sowohl auf die
einzelnen Wörter und Redensarten, als auf die Sätze sehen
müßen, worin sie einen Begriff mit einem andern verbinden.
152.
Worauf hätte man also
III) (§.
150. ) zu sehen, um zu finden, in welchem Umfang die mit biblischen Ausdrücken
verbundne Begriffe in
einzelnen Stellen genommen werden? Hier
müßen wir 1) untersuchen, welche Bestimmung oder Umfang haben die von den heiligen Schriftstellern gebrauchten Ausdrücke schon in der Sprache,
|c189| der sie sich bedienten, besonders in der
ebräischgriechischen †) ? 2) Bekommen sie in
einzelnen Stellen von Christo
oder den heiligen Schriftstellern eine nähere Bestimmung, oder nicht? und, wenn jenes ist, welche? Denn oft
brauchen sie, wie es in dem populären Vortrag gewöhnlich ist, die Ausdrücke nicht nach der strengen
Bedeutung ††) ; sie legen ihnen gereinigtere Begriffe
unter †††) ; sie verengen oder erweitern die mit den Ausdrücken
verbundene Begriffe *) ; sie geben nicht nur die Sachen an, sie erklären sie auch
näher **) . Wie dieses alles in
eine Stelle
sey, das
müßen die
|b219| schon oft genannten Hülfsmittel, die ausdrückliche Erklärung, der Zusammenhang, der Zweck der Rede und die eigentlichen Parallelstellen lehren.
†) So brauchen die griechischen Uebersetzer, Symmachus
z. B.
Hiob 36,
10 und Jes. 30,
15 μετανοεῖν und
μετάνοια statt des hebräischen שׁוב אל יהוה oder שׁובה, und dieses
Letztre, welches sie
ἐπιστρέφειν πρὸς τὸν Θεὸν übersetzen, wird 5 Mos. 30,
10 offenbar erklärt durch: der Stimme des Herrn gehorchen, und seine Gebote befolgen; daher heißt
μετάνοια nach dem hebräischen Sprachgebrauch gewiß die gänzliche Besserung des
Menschen; und
Buße (μετανοια) und
Bekehrung (
ἐπιστροφὴ) ist gewiß
einerley.
Φόβος
κ. τρόμος Phil. 2, 12. ist nicht
Furcht und Zittern, sondern
Achtung, Scheu, Bescheidenheit, wie 1 Petr. 3,
15 2 Petr. 2,
10 1 Kor. 2,
2 verglichen 2 Kor. 10,
10, fordert also keine Aengstlichkeit
bey der Besserung, die ohnehin, nach Röm. 8,
15, dem Geiste des Christenthums zuwider ist.
|a486| ††) Wie in den Redensarten, die Gott
scheinen zum Urheber des Bösen zu
machen, (§.
138. Anm.
††); in
πεπραμένος ὑπὸ τὴν ἁμαρτίαν Röm. 7,
14 verglichen mit
Kap.
8,
12; in
ἀδύνατον, was sehr schwer, nicht, was unmög
|c190|lich ist, Ebr. 6,
4. verglichen mit
κατάρας ἐγγὺς V.
8 und Matth. 19,
26. verglichen mit
V.
23.
†††) Z. B.
der
βασιλείᾳ τοῦ Χριστοῦ Joh. 18,
36 und Marc. 1,
15, wenn sie es auch nicht immer ausdrücklich sagen, wie
Christus Apostelgesch. 1,
|b220| 7
f.
in seiner Antwort; den jüdischen Redensarten vom Satan oder Teufel, womit sie offenbar in vielen Stellen alle Hindernisse des Guten bezeichnen, es mögen Irrthümer oder Laster, oder
Unglück, oder feindselige Menschen seyn, wie Joh. 14,
30 verglichen mit 16,
33 Luc. 10, 18.
19 Röm. 16,
20 verglichen mit
V.
17.
*) D. i.
sie geben ihnen entweder einen Nachdruck oder Nebenbegriff, den die Ausdrücke an sich nicht haben, wie dem
Auferwecken, nämlich zur Seligkeit Joh. 6,
39 verglichen mit
V.
37, der
γνῶσει τοῦ Θεου 1 Joh. 2,
3 verglichen mit
Kap.
4,
6, dem
μεριμνᾶν Matth. 6,
25;
oder nehmen die mit den Worten gewöhnlich
verbundnen Begriffe bald weiter, bald enger,
z. B.
πίστις,
νόμος u. dgl.
**) So erklärt Jesus
Luc. 15, 11
f.
was zur
μετανοίᾳ V.
10 gehöre, Joh. 3,
14 was er
V.
15 und
16 für einen
Glauben an sich verstehe, und Joh. 6,
44–46 daß er von keiner gewaltsamen Besserung rede, sondern von
einer die durch Unterricht, und zwar durch mittelbaren Unterricht, geschieht.
|a487| 153.
Eben darauf muß man 3)
bey ganzen Sätzen Acht geben, und ihre Ausdehnung darnach bestimmen. Von
wem reden sie
allein in einer Stelle?
†) wie weit legen sie ihnen etwas
bey, oder fordern es von ihnen?
††) 4) Haben sie
|b221| aber einen Sinn oder die Beschaffenheit und Ausdehnung eines Begriffs oder Satzes nicht näher
angegeben: so muß es nach dem verstanden werden, was sie
bey ihren Zuhörern oder Lesern, nach ihren Umständen, aus der ihnen
|c191| bekannten Natur der Sache, oder dem sonst bekannten Sprachgebrauch, oder Gewohnheiten, oder anderweitigen Unterricht derselben, voraussetzen
konnten *) . Indessen müßte man sich
dabey bescheiden, daß, wenn dieses, was Jesus
und seine Apostel
bey denen, mit welchen sie sprachen, voraussetzen konnten, uns nicht ganz gewiß bekannt ist, daß
alsdann, was wir
dabey denken müssen, nur wahrscheinlich
sey, und weder den Grad von Gewißheit noch Verbindlichkeit haben könne, als das, was sie selbst deutlich irgendwo erklärt haben.
†) So wird Matth. 18,
6 ganz falsch auf den Glauben der kleinen Kinder, Röm.
9 auf die Seligkeit der Menschen (
s.
die
1ste und 6ste Abhandlung in den Opusculis
Tom.
I.), Phil. 2,
12 auf die Sorge für
unsre Seligkeit gezogen. So reden viele Stellen offenbar nur von den Aposteln, als Joh.
14–16 Joh. 20, 22.
23 und 2 Kor. 3,
5, die man fälschlich auch auf
Andre gezogen hat, wenigstens nicht, ohne
|a488| weitere Untersuchung, gleich hätte auf
Andre ziehen sollen.
††) So erlaubt doch die
Veranlaßung der Rede
Christi Matth. 18,
3 nur an die Pflicht der Demuth zu
denken; und daß Matth. 5, 3
f.
von leiblicher Armuth und Traurigkeit zu
verstehn sey,
|b222| und die Prädicate nur von denen
a√, die um des Christenthums willen in Dürftigkeit und traurige Umstände gerathen, zeigt die Stelle Luc. 6,
20–26 und Matth. 19, 23 und
29; so wie nach dem Matth. 19,
22 erwähnten Umstand, Christi
Worte daselbst
v.
21 keine allgemeine Pflicht enthalten.
*) Wie fern Paulus
die
heil. Schrift (
A.
Test.
) 2 Tim.
3, 16 θεόπνευστον nenne, erklärt er weiter nicht; ists also bloß
einerley mit
ἱερὰ γράμματα v.
15? oder, wenn es mehr ist, geht es auf alle Bücher? (denn
πᾶσα γραφὴ, nicht
π. ἡ γραφὴ, heißt doch nur
eine jede Schrift, die
θεοπν. ist), und wenn auch
dies, wie weit dehnt
P.
dabey die Eingebung aus? – Schließt Matth. 28,
19 auch Kindertaufe mit in sich?
V.
20 entscheidet nichts dagegen, denn sie konnten hinterdrein unterrichtet werden über Christi
Gebote, wie mehrere damalige Erwachsene, Apostelgesch. 2, 37.
38 verglichen
v.
42. Schwerlich aber konnten die Apostel diese Worte anders als auf die Kindertaufe auch mit
ziehn, weil sie hörten, durch die Taufe sollte jemand ein Schüler Christi
werden, und wußten, daß die Beschneidung, wodurch jemand unter das Volk Gottes aufgenommen wurde, auch
bey Kindern befohlen war.
|a489| 154.
Weil es nun aber
IV) zur Entdeckung des wahren christlichen Lehrbegriffs nöthig ist, mehrere oder eigentlich alle Stellen zu Rathe zu
ziehn,
|b223| die darüber einiges Licht geben können (§.
152 ): so müßte man 1) alle Stellen
sammlen, wo entweder eben dieselben oder gleichbedeutende Ausdrücke gebraucht
werden, wo von eben den Sachen, wenn gleich mit andern Umständen, geredet, oder das Verhalten Jesu
und seiner Apostel erzählt wird, welches man als einen praktischen Commentar über ihre Lehren ansehen
kan †) . 2) Fände sich überall derselbe bestimmte Begriff mit einem Ausdruck
verknüpft: so müßte man auch
den durchaus daran
binden ††) . Wären aber 3) diese Begriffe in
verschiednen Stellen verschieden
angegeben: so müßte diese Verschiedenheit bemerkt, und der
Gesichtspunct aufgenommen werden, unter welchen der Begriff bald
die, bald eine
andre Bestimmung
bekommt †††) ; doch müßte man 4) das aufsuchen, was diese
verschiedne Begriffe mit einander gemein haben, und dadurch einen allgemeinen Begriff bilden, unter den sie sich alle bringen
ließen *) ; und 5) nach diesen gefundenen bestimmten
Begriffen, das, was von ihnen gesagt wird, erklären und
bestimmen **) ; 6) nirgends
|c193| aber, weder die von Jesu
und seinen Aposteln erst stufenweise
gegebne Aufklärung und genauere Bestimmung, noch den Unterschied dererjenigen aus den Augen
laßen, mit
|a490| welchen und nach deren Bedürfnissen sie
reden ***) [.]
†) Z. B.
Christi
und Pauli
Beyspiele Joh. 18,
23 Apostelgesch. 16,
37 Phil. 3, 4
f.
um zu zeigen, wie weit Erduldung des Unrechts gehen, und man auf Ehre halten dürfe; wodurch selbst der Miß
|b224|verstand allgemeiner Lehrsätze, als Matth. 5, 39
f.
gehoben wird. Doch dieser (gehörig eingeschränkte) Gebrauch der
Beyspiele fällt von selbst in die Augen;
weniger, der Nutzen für Bestimmung dogmatischer Sätze. Indessen läßt sich, was
z. B.
zur wahren Besserung der Menschen gehört, eben so, und fast noch besser, aus dem Verhalten Jesu
und seiner Apostel in Bearbeitung derselben, abnehmen, als aus eigentlichen
Lehrstellen. (
s.
allgemeine deutsche
Bibliothek
Band
12 St.
2.
S.
142
f.
[)]; und wer gegründete Begriffe von der Eingebung der
heil. Schrift sucht,
kann sie allein aus Wahrnehmung des Verfahrens der
heil. Schriftsteller in ihren Schriften sicher erkennen, und sich
z. B.
dadurch überzeugen, wie ungegründet die Hypothesen sind, daß Gott ihnen
alles dictirt habe, und sie sich
dabey bloß leidentlich verhalten, daß sie stets die allerbeste Ordnung und Ausdrücke gewählt haben
u. d. gl.
Eben so
bey der Lehre von der Deutlichkeit der
heil. Schrift.
††) So redet die Bibel stets von der
Versöhnung als durch Christi
Tod, niemals als durch Christi
Lehre, geschehen. So versteht sie unter den
ἀπίστοις, denen sie die Seligkeit abspricht, niemals die, so keine Gelegenheit zur Erkenntniß der christlichen Lehre gehabt, noch sich von deren Wahrheit überzeugen
gekonnt, sondern welche jene Gelegenheit und die Mittel zur Ueberzeugung nicht
brauchen wollen,
z. B.
|a491| Marc. 16,
16 vergl.
mit
v.
11. Joh. 3,
18 vergl.
v.
19.
20, 27 Apostelgesch. 19,
9 etc.
|b225| †††) So der sehr
verschiedne Begriff von
Christo als einem König und von seinem Reich.
S.
meine Abhandlung de
|c194| Christo
homine regnante im 2ten Bande der Opuscul. ad interpret. SS.
Script[.] N.
14.
*) Ganz anders
z. B.
wird der Gegenstand des in der
heil. Schrift
empfohlnen Glaubens Ebr. 11,
1, anders Marc. 1,
15 und
Kap.
16 vergl.
mit Matth. 28,
20, anders Matth. 21,
21, anders Matth. 8, 5
f.
, anders Joh. 3,
16 vergl.
mit
V.
14, und Röm. 3,
25 angegeben. Eben so ist Ebr.
11 in einigen
Beyspielen,
z. B.
Abrahams
, gewiß der
Glaube, Vertrauen, in andern nur
Beyfall, oder
Für wahr halten; so wie Röm. 14, 2. 22.
23 Ueberzeugung von
dem, was recht, was zu thun oder zu
laßen ist. Alle diese Bedeutungen geben den allgemeinsten Begriff: Glauben
sey etwas für wahr oder recht halten, der
dann in
einzelnen Stellen eine nähere Bestimmung bekommt, entweder in Absicht des Gegenstandes, als Gottes, Christi
, des Todes Christi
für uns, solcher Dinge, die ihrer Natur nach nicht gewiß sind
u. d. gl.
, oder in Absicht der Art, die immer nach den Umständen jeder Stelle zu nehmen ist, ohne den einen,
zumal häufigern Begriff, überall hinzutragen. So ist
z. B.
Matth. 15,
25–28 und Joh. 9,
35–38 vergl.
mit
V.
16 gewiß
die Art des Glaubens sehr von der gewöhnlichen, in der
heil. Schrift
empfohlnen, verschieden, und
kan viel Licht auf die Lehre vom Glauben werfen, die gemeiniglich zu sehr verengt wird.
|b226| **) Z. B.
was die sogenannte Unterwerfung Christi
unter Gott 1 Kor. 15,
28 sagen wolle, oder
|a492| die
dunkle oft durch Mystik verunstaltete Stelle 2 Kor. 3, 18.
S.
die
schon
erwähnte Abhandlung de Christo
regnante, und eine
andre über 2 Kor. 4,
6 in dem 2ten Bande der Opusculorum ad interpr. SS. Script.
N.
7.
***) Denn vieles ist doch theils erst durch später aufgetretne Propheten, durch Jesum , und, da selbst Jesus noch viel unbestimmt ließ, Joh. 16, 12, durch seine Apostel aufgeklärt und bestimmt worden, theils erforderten a√ die Umstände der Zuhörer und Leser, sonderlich der Juden, manche Bestimmung, die nur für sie nöthig, oder wider|c195|riethen manche nähere Bestimmung, die ihnen nicht zuträglich war. Wer also die heilige Schrift, zur Aushebung des christlichen Lehrbegriffs daraus, mit weiser Vorsichtigkeit studieren will, wird sich auf der einen Seite hüten, keine solche Bestimmung in Schriftstellen sogleich für allgemeine christliche Lehre anzunehmen, wenn sie sich nirgends als in gewissen Arten von heiligen Büchern, oder in besondern Reden an eine gewisse Art von Lesern und Zuhörern findet, und auf der andern Seite, sie von dieser Lehre für alle Christen bloß darum auszuschließen, weil sie nur in einigen Stellen oder Büchern vorkommt.
155.
Wenn man nun von dem ganzen Lehrvortrage der heiligen Schrift, nach dem bisher Ge
|b227|sagten, 1) alles das absondert, was entweder
bloßes Bild †) , oder aus
Herablaßung zu den besondern Lesern oder Zuhörern, und nach den ihnen geläufigen Vorstellungen und Ausdrücken, gesagt ist
††) – denn dieses
beydes gehört doch
|a493| offenbar nur zur Einkleidung der
Lehre –; wenn man 2) das
bey Seite, oder zur gelehrtern Untersuchung aussetzt, was die heilige Schrift selbst nicht näher angegeben und bestimmt
hat †††) ; und wenn man 3) gefunden hat, daß viele Ausdrücke in der That nur
einerley Begriff und Sache, und welche
sie? bezeichnen *) : so gelangen wir
theils zu gewissen
Hauptbegriffen **) , theils zu gewissen
Hauptsätzen, die aus solchen Begriffen
bestehn ***) welche das ganze in der heiligen Schrift
angegebne Verhältniß zwischen Gott und uns,
d. i.
unser
Elend und Verderben,
c√ die Anstalten Gottes zu unserm Besten,
unsre daraus
entstehende Pflichten und Erwartungen, im Ganzen vorlegen.
c√ Diese Begriffe und Sätze sind das eigentliche Christenthum, als Lehre
genommen, und wer diese für wahr annimmt, der ist (seiner
|c196| Erkenntniß oder der Lehre nach) ein Christ, so sehr seine Vorstellungen von dem Uebrigen auch von den Meinungen
Andrer abgehen
mögen ****) ; und diese Hauptbegriffe und Sätze sind es auch, nach welchen alles
Andre beurtheilt, und auf eine ihnen angemessene Art erklärt werden
muß *****) .
c√ S.
Sam. Friedr[.] Nath. Morus trefliche Disp. de notionibus
universis in Theologia,
und, von dem
großen Nutzen dieser Begriffe, dessen Programm de utilitate notionum
universarum in Theo
|b228|logia,
beyde Lips.
1772, 4. Sie sind wieder aufgelegt in s.
Dissertatt. theolog. et philologicis, Lips. 1787
in 8.
†) Z. B.
Feuer und die danach gebildeten Redensarten,
brennen, nicht verlöschen u. d. gl.
von
|a494| künftigen Strafen; Menschen sind
Feinde Gottes, liegen unter seinem Zorn, sind mit ihm
ausgesöhnt, von dem hergestellten guten Vernehmen mit Gott und von
unsrer Seligkeit, als ein
Kind ins Reich Gottes
gehn, ein
neuer Mensch,
wieder- oder
von oben her geboren werden, von Besserung des Menschen
u. s. f.
So auch die Ausdrücke: Gott giebt die Menschen
c√ in einen verkehrten
Sinn, giebt ihnen Augen, daß sie nicht
sehen, bestimmt sie zum ewigen Leben
u. d. gl.
von
bloßer Zulaßung oder Anstalten, die zu einem gewissen Verhalten der Menschen Gelegenheit geben.
††) Wie augenscheinlich Matth. 12, 43–45. verglichen mit Tob. 8, 3 und Jes. 13, 21. 22; Matth. 8, 11. 11, 14. 18, 10; Joh. 7, 37. 38. 14, 30. 2 Petr. 2, 4, im Brief an die Hebräer, Gal. 4. und in unzählichen andern Stellen.
†††) Z. B.
den Begriff von
θεόπνευστος, die Beschaffenheit und Umstände der künftigen Auferstehung, das Allgemeine
ausgenommen daß wir einen wirklich bessern, als den
irdischen, Körper haben werden
u. d. gl.
*) Z. B.
Θεὸς ἐμφανίζει ἑαυτὸν ἡμῖν,
ἔρχεται πρὸς ἡμᾶς,
μονὴν ποιεῖ παρ' ἡμῖν,
μένει,
περιπατεῖ,
ἐν ἡμῖν
und
|c197| von
den Menschen: μένειν ἐν Θεῷ,
ῥήματα|b229| αὐτοῦ ἐν
ἡμ.
μένουσι,
θεοδίδακτοι,
κοινωνίαν ἔχειν μετ' αὐτοῦ,
ἄγεσθαι πνεύματι Θεοῦ;
ὁ κόσμος,
οἱ ἄπιστοι,
τὸ σκότος,
ἔχθροι, ἀντικείμενοι,
ἐκ τοῦ πονηροῦ ὄντες,
οὗτος ὁ αἰών;
μετανοεῖν,
ἐπιστρέφεσθαι,
ἀνανεοῦσθαι und viele
andre.
**) Als
σωτὴρ und
μεσίτης; ἁμαρτία und
ἐπιθυμία; χάρις,
σωτηρία,
δικαιοσύνη, ἐπίγνωσις τοῦ Θεοῦ,
πίστις,
μετάνοια; ζωὴ und
θάνατος,
a√ u. a.
|a495| ***) Als Joh. 3,
16 Ephes. 2,
5 Röm. 3, 23.
24 Koloss. 1, 12.
13 1 Joh. 1,
5–7 etc.
****) Daher auch die
heil. Schriftsteller in den Stellen, wo sie den Inhalt des Christenthums zusammen nehmen, mehr nicht angeben,
z. B.
1 Thess. 1, 9.
10 Tit. 2, 11.
12 Kap.
3, 4.
7, und noch kürzer 1 Kor. 3,
11 und 1 Joh. 5,
1 verglichen mit Matth. 28, 20.
*****) Dies sind die wahren
notiones directrices des ganzen
Christenthums, und in der Uebereinstimmung damit besteht die wahre Analogia fidei oder doctrinae.
156.
Nun erst, wenn der Grund der christlichen Lehre aus der heiligen Schrift gelegt ist,
kan man
hernach (§.
145 ) darauf bauen, oder über diese christlichen Lehren
philosophiren *) . Und wer sich an dieses Wort oder an die Sache selbst stößt, weil er besorgt, dadurch werde das Christenthum nach Philosophie geformt und umgeändert, und der ganze Wust menschlicher Einfälle in das Chri
|b230|stenthum
gebracht: der hat zwar
Beyspiele genug
für sich, die seine Besorgniß bestätigen, wie es
bey keiner einzigen Sache in der Welt an Mißbräuchen
fehlt; aber er ist entweder zu kurzsichtig, oder nicht gerecht genug. Denn
– nothwendig ist dieser verkehrte Gebrauch der Philosophie nicht. – Philosophie
kan entweder in so fern gebraucht werden, als sie die Regeln alles
|c198| vernünftigen Denkens, oder
so fern sie unwidersprechliche Vernunftsätze
|a496| enthält. Jene muß man überall, muß man ja selbst
bey Erklärung und Anwendung der heiligen Schrift, und
bey dem Beweis ihres göttlichen Ansehens, befolgen; diese, wenn sie wirklich unwidersprechlich sind, sind die Grundlage aller richtigen Erkenntniß, und, wenn gleich nicht überall
zureichend zur Entdeckung der Wahrheit, doch in so fern der
Prüfstein aller
Wahrheit, als nichts wahr seyn
kan, was sich nicht mit ihnen
verträgt. Wer
beyde nicht
c√ für das
will gelten
laßen, was uns
bey aller Untersuchung leiten muß, und sich auf die Schwäche und Trüglichkeit der menschlichen Erkenntniß beruft, der überlegt nicht, daß man sich ja auch trügen
könne, wenn man etwas für göttliche Offenbarung hält, daß man sich auch in ihrer Erklärung irren
könne, daß man also entweder eine allgemeine Ungewißheit aller menschlichen Erkenntniß annehmen, oder zugeben
müsse, es müssen
Grundsätze überall vorausgehen, die
mir zeigen,
wie und
wonach ich Wahrheit, auch
bey Prüfung einer angeblich göttlichen Offenbarung
a√ ihres Sinnes,
finde.
|b231| c√ *)
Töllners theologische Untersuchungen, Band 1.
St.
2.
S.
264
f.
157.
Haben wir nun eine Menge
theils von Begriffen und Sätzen, die wirklich, nach richtigen Regeln der Auslegung, aus der heiligen Schrift
c√ geschöpft
sind,
theils von vernünftigen Regeln und Sä
|a497|tzen, die unwidersprechlich sind: so können jene mit diesen letztern, oder unter einander, zu streiten scheinen; und daher ist das
erste bey Bildung eines theologischen Systems, die Vereinigung derselben unter einander, daß sie mit einander bestehen können. Wirk
|c199|lich unwidersprechliche Sätze der Vernunft und wirklich geoffenbarte Sätze können einander nicht wirklich widersprechen; wenn sich also ein Widerspruch
zeigt: so muß
entweder ein Satz der Vernunft, den man für unwidersprechlich hält, nicht unwidersprechlich
wahr †) , oder der biblische Satz muß unrecht
verstanden ††) , oder unrecht bestimmt seyn,
d. i.
man muß etwas hineingeschoben haben, was nicht darin liegt, oder etwas in demselben übersehen
haben †††) . Nur durch Entdeckung eines oder mehrerer dieser Fehler
kan man den Widerspruch heben, und bewirken, daß die Sätze mit einander bestehen.
†) Wenn
z. B.
die
heil. Schrift die Anstalt Gottes, die er mit Christo
und durch ihn zum Besten der Menschen gemacht hat, überall von Gottes
Liebe zu uns herleitet, Joh. 3,
16, und sogar ihm
|b232| diese Liebe
vor der Versöhnung der Menschen durch Christum
beylegt Röm. 5,
8; was aber aus
Liebe und
Gnade geschieht, nicht seiner Natur nach geschehen
muß Röm. 4,
4: so
kan es kein unwidersprechlicher Satz der Vernunft seyn, daß Gott habe die Menschen, oder einen von ihnen an ihrer
Statt, strafen
müssen, so wie alle angebliche Demonstrationen dieses Satzes auf
willkührlichen und undenkbaren Voraussetzungen beruhen, und mit allem
ihren Gott und das Christenthum
entehrendem Gefolge von
|a498| einem erzürnten und
erst durch Christum
befriedigten Gott
u. d. gl.
wegfallen. Gegen wie viele Hypothesen und vermeintliche Demonstrationen a priori hätte
c√ das
bloße fleißige Studium der
heil. Schrift sichern können! Wenn man
z. B.
zusammengenommen hätte, daß die heiligen Schriftsteller so klar in ihren
Schriften z. B.
Philem. 9. 1 Kor. 2, 1
f.
von sich selbst und von Gott, als einem
dritten,
reden; Gebete an Gott
richten; erzählen, woher sie ihre Nachrichten genommen haben, Luc. 1,
2 Joh. 19,
35; einander scheinbar
widersprechen; zusammengehörige Begebenheiten
|c200| verschiedentlich stellen
, z. B.
Matth. 4. und Luc.
4; einerley Reden Christi
mit ganz
verschiednen Worten
ausdrucken: wie hätte man darauf fallen können, die heiligen Schriftsteller hätten sich
bey Abfassung ihrer Schriften ganz leidentlich verhalten, nicht sie, sondern Gott
c√ durch sie
alles geschrieben
u. d. gl.
?
††) So scheint der Satz Röm. 3,
24 nicht nur gegen Jak. 2, 14
f.
sondern auch gegen das stete Dringen der
heil. Schrift auf Heiligkeit und
Tu|b233|gend Röm. 2,
7 Ephes. 2,
10 zu streiten.
Letztre Stellen leiden keinen
verschiednen Sinn, also liegt Mißverstand im ersten Satz, und
ἔργα oder
ἔργα νόμου sind entweder nur
äusserliche Beobachtungen des mosaischen Gesetzes durch Gebräuche, Opfer
etc.
oder, mir wahrscheinlicher, was wir nach Gottes Gesetz thun
sollten, aber nicht thun, verglichen
Kap.
2,
13 Röm. 8,
3 Kap.
7, 14
f.
; denn
dies heißts doch
Kap.
2,
15, wie
ἔργον
τ. Θεοῦ Joh. 6,
29; und im ganzen Zusammenhang wird
νόμος niemals vom Gesetz der Gebräuche (Ephes. 2,
15), sondern stets von der nähern göttlichen Offenbarung gebraucht,
z. B.
Vers 19 und 31.
|a499| †††) Wenn man es
z. B.
unverträglich mit Gottes allgemeiner und
unparteyischer Liebe findet,
alle, die keine Gelegenheit, das Christenthum kennen zu lernen, gehabt haben, oder
alle, die nicht getauft sind, zu verdammen, wegen Apostelgesch. 4,
12 1 Joh. 5,
12 Joh. 3, 5
u. d. gl.
oder es wenigstens für bescheidner hält, nichts darüber zu
entscheiden, (also es auch
a√ dahin gestellt seyn
läßt, ob Gottes Liebe allgemein und
unparteyisch sey?) so
kan ja schon 1) der gemeine Menschenverstand lehren, daß alle allgemein klingende Sätze den Fall voraussetzen, daß man etwas
könne oder
wisse, wie 2 Thess. 3,
10 2 Joh. 1
etc.
2)
daß die
heil. Schrift nur die
ἀπίστους verdamme, und nur die so nenne, die etwas wissen und wovon überzeugt werden
konnten (§. 154. Anm.
††); und 3) daß sie sogar wahren Glauben denen
beylege, die keine Versicherung, vielmehr das Gegen
|b234|theil, vor sich hatten, wie Matth. 15,
28 ver
|c201|glichen
V.
24; keine nähere Kenntniß von ihm
besaßen, Joh. 9,
16 verglichen mit
V.
35–38; und weder getauft waren, noch sich
äusserlich zu den Christen
hielten Marc. 9, 38–42. Und so würde man jene zuerst angeführten Stellen nicht auf bloß des Christenthums Unkundige
ausdehnen , man würde einen allgemeinern und
unentwickelten Glauben von einen
ausdrücklichen oder bestimmten unterscheiden, nicht von eben demselben Glauben im alten, wie im neuen Testament, und dessen Nothwenigkeit,
reden, u. s. f.
– Hingegen ist ein
Beyspiel von
falschen, Widerspruch veranlassenden,
Bestimmungen, wenn, wider alle klare
Schriftstellen 1 Tim. 3,
4 Kap.
4,
10 1 Joh. 2, 2
u. a.
, in allen Sätzen von Gottes Bereitwilligkeit,
alle Menschen selig zu machen,
alle nur
alle Auserwählte heissen sollen. Und
bey dem Anstößigen, das die wirkliche Lehre der heiligen Schrift von
ewigen Strafen nach dem Tode giebt, hängt sicherlich das Anstößige da
|a500|von ab, daß man sich zum Begriff der
Verdammniß, die gänzliche Unmöglichkeit der Besserung, und zu
ewig fortgehenden (protensive ewigen) Strafen, ins
unendliche zunehmende (intensive ewige)
hinzudenkt.
158.
Ausser dem [(]§. 157 ) bleibt noch übrig, die Begriffe durch
Erklärungen oder
Beschreibungen deutlicher und bestimmter zu machen, um allen Mißverstand und falsche Nebenvorstellungen
|b235| zum voraus abzuschneiden, und dadurch die Quelle fast aller Streitigkeiten zu verstopfen – die Lehren selbst immer mehr, durch Vergleichung unter einander, und mit andern richtigen Kenntnissen, aufzuklären, und ihnen noch mehr Licht, Stärke und Anwendbarkeit zu geben – zuletzt sie so zusammen zu stellen, wie eine zur Kenntniß und Ueberzeugung von der andern vorbereiten
kan. – Wie weit man hierin gehen müsse,
dies müssen die
|c202| Absicht solcher Untersuchungen, das
Maaß unsrer Kräfte und Kenntnisse, und
unsre eignen oder dererjenigen
Bedürfnisse zeigen, für die wir dergleichen Untersuchungen anstellen.
159.
Denn die Absicht dabey kan entweder Verbesserung der Erkenntniß, oder des Willens seyn, so wie das Christenthum Erkenntniß der Wahrheit zur Gottseligkeit ist. Der Hauptzweck aller solcher |a501| Untersuchungen muß also stets seyn, den Menschen glücklich zu machen, seine Besserung und Beruhigung zu befördern, und was überall dazu nicht beyträgt, ist keiner Untersuchung werth; es ist sogar schädlich, und veranlaßt, seine Kräfte unnütz zu verschwenden, die man zu etwas Besserm brauchen könnte. Aber ohne überzeugende Kenntniß desjenigen, was uns bessern und beruhigen kan, ist keines von beyden möglich. Kenntniß der göttlichen Wahrheiten und Eindruck aufs Herz ist also gleich nöthig; man schadet dem Einen, wenn man es auf Kosten des Andern erhebt oder treibt.
|b236| 160.
Indessen kan nicht jeder alles oder beydes gleich gut leisten; das Maaß der Gaben und der Kenntnisse ist sehr verschieden ausgetheilt; und der Beruf, in den Gott jeden gesetzt hat, erfordert die Anwendung der Kräfte zu gewissen Zwecken, wobey man nicht mit eben der Anstrengung das andre eben so Nützliche treiben kan. Ein jeder muß sich daher mit der Art von Untersuchung und Uebung am meisten beschäftigen, wozu er die meiste Fähigkeit, Kenntnisse, und äusserlichen Beruf hat, und das Uebrige zwar nie vernachläßigen, aber doch vorzügliche Beschäftigungen damit denen überlaßen, die dazu geschickter sind, und mehr |c203| durch die Umstände, unter welchen sie leben, dazu aufgefordert werden.
|a502| Sehr viel hängt hier von den Zeitumständen ab, unter welchen gewisse Wissenschaften mehr
wie sonst
aufgeklärt; und von unsern besondern Umständen, wodurch wir glücklicher Weise auf Entdeckungen geführt werden, an die
Andre nicht dachten.
Dies sind Winke der göttlichen
Vorsehung, denen wir mehr als andern folgen müssen, denn sie weisen jedem, der dazu Fähigkeit hat, gerade dasjenige an, was er bearbeiten soll.
Vergleiche Theil 1. §.
37.
161.
Vornemlich ist das Gefühl desjenigen, was wir selbst, oder was die
bedürfen, die wir belehren, bessern und beruhigen sollen, immer das,
|b237| was uns anweiset und ermuntert, etwas vor andern aufzusuchen, und mit vorzüglicher Aufmerksamkeit zu treiben. Mag es seyn, daß der Genuß besser ist, als das Aufsuchen desjenigen, was
ich geniessen will, daß jenes Zweck, dieses nur Mittel
ist, daß also Anwendung
meiner Erkenntniß
zu meinem oder Anderer Besten wichtiger ist, als die Erkenntniß selbst: so ist doch jenes ohne dieses nicht möglich, und
ich kan entweder gar nicht, oder nicht ohne
größern Schaden,
genießen oder anwenden, wenn
ich das, was
ich brauchen will, noch nicht erlangt
habe, oder es erst sichern und erhalten, oder erst wissen muß, ob
mir es gut ist, ob
ich nicht über dem Genuß das
mir, dermalen wenigstens, Nützlichere verliere. Darum
kan hier, wenn die Frage von dem ist, was
ich jedesmal
|a503| vorzüglich suchen müsse, nicht das entscheiden, was
überhaupt das
Nützlichste, sondern was das
Dringendste ist (Matth. 26,
11); und wenn
meine Besserung und Beruhigung
auf der Aufklärung gewisser Sätze, auf Ueber
|c204|zeugung von ihrer Wahrheit, auf Wegräumung gewisser Zweifel beruht: so wird die Untersuchung auch dessen, was sehr geringfügig scheint,
mir, unter diesen Umständen, wichtiger seyn müssen, als was überhaupt wichtiger
c√ seyn mag.
162.
Dieses
mein größres Bedürfniß
c√, und auch das Bedürfniß derer, für die wir, in Absicht auf Religion, arbeiten müssen, wird offenbar durch
|b238| die
Zeitumstände bestimmt. So wie jede Zeit
ihr Gutes und
ihre Mängel hat, jede in einem besondern Verhältniß gegen das Ganze und gegen Gottes Absichten steht, jedes Glied des großen Körpers in seinem Maaß und seiner Lage zum Besten des Ganzen arbeiten muß: so müssen wir für
die Zeit leben und arbeiten, in die uns Gott gesetzt hat (1 Kor. 12, 14
f.
). Was diesen Zeitumständen gemäß ist,
interessirt uns auch mehr, und setzt
unsre Kräfte mehr in Thätigkeit, erleichtert den Gebrauch
unsrer Kräfte, ist für das Ganze von einem wirksamern Erfolg. Selbst unser Herr und seine Gesandten arbeiteten recht eigentlich und am meisten für
ihre Zeit und deren Bedürfnisse. (§.
132 f.
) – Jede Zeit hat ihre
eigne Angelegen
|a504|heiten, die am meisten zur Untersuchung
anziehn, und so allgemein
bey allen, denen Religion theuer ist, der Hauptzweck, Besserung und Beruhigung der Menschen bleibt: so verschieden
sind zu
verschiednen Zeiten die Beschäftigungen mit den
einzelnen Sachen, die
dazu als
Mittel etwas
beytragen können. Was Eine Zeit erfindet, das gährt in der
Andern, in der folgenden setzt sichs, und das Klare scheidet sich von den Hefen. So arbeitet, nach der
göttlichen allezeit weisen
Vorsehung, jede Zeit für die folgende, und diese
letztere|c205| sollte nicht das Vorbereitete
benützen, und
c√ für die
wieder folgende arbeiten?
163.
Selbst die glücklichen und mißlichen Zeitumstände sind eine Aufforderung Gottes, Gutes zu |b239| stiften. – Wenn die weitere Aufklärung und Ausbreitung der Wissenschaften, namentlich derer, die mit der Religion in der nächsten Verbindung stehen, auf einer Seite Untersuchungen in der Religion rege macht, und auf der andern sie befördert; wenn die Wißbegierde, auch in der Religion, allgemeiner wird, und selbst das Volk nach Aufklärung dürstet; wenn die Freyheit der Untersuchung nicht durch Einschränkung gelähmt, sondern vielmehr ermuntert wird; wenn alte heftige Streitigkeiten verraucht, und die Gemüther zur kühlblütigern Untersuchung derselben gestimmt sind; wenn der öffentliche Geschmack mehr zur Liebe des Praktischen, auch in der Re|a505|ligion, gebildet ist; wenn selbst die größere Gefahr für die Religion, die aus Zweifeln entsteht, diejenigen, die überall den wichtigen Einfluß der Religion zu schätzen wissen, bereitwilliger macht, auch das Neuentdeckte, das ihnen sonst bedenklich war, darum anzunehmen, weil es die Zweifel löset, und die Ehre der Religion befestigt; wenn man also auch geneigter ist, Mißverstand beyzulegen, und, so weit es ohne Nachtheil der Wahrheit geschehen kan, sich zum Frieden die Hände zu bieten: – alsdann ist es Dankbarkeit gegen Gott, Pflicht gegen Wahrheit und Frieden, diese Umstände zur nähern Untersuchung zu brauchen, und das von uns oder Andern Gefundne mit Weisheit auszubreiten.
|c206| 164.
Und wenn eben diese günstigen Umstände, durch eine anderwärtshin genommne Wendung, |b240| Gelegenheit zu mancherley Angriffen auf die Religion, wenigstens zu mehrern Zweifeln, zur Beeinträchtigung der Wahrheit und zur Verminderung ihres Werthes und Einflusses auf die Menschen, geben; wenn sich gerechtscheinende Klagen der Besorgniß eines immer weiter um sich greifenden Schadens erheben; wenn diese die weitere Untersuchung, zu der selbst die anscheinende Gefahr auffordern sollte, hemmen, und durch Verdächtigung ihren Nutzen vernichten oder einschränken, den edlern Theil der |a506| nach Wahrheit und gegründeter Ruhe durstenden des Mittels seiner Befriedigung berauben, und den Feinden der Religion, die nicht durch Klagen, sondern nur durch Untersuchung entkräftet werden können, die Freude über ihren vermeinten Sieg in die Hände spielen: – alsdann wäre es unchristliche Muthlosigkeit, Unglaube gegen Gott, oder Versuchung desselben, Verrätherey gegen die göttliche Wahrheit, offenbare Gleichgültigkeit gegen die Ruhe, die der Mensch mit so großem Rechte in der Religion sucht, nicht immer weiter untersuchen, die Ueberzeugung der Menschen von ihr nicht auf einen immer festern Grund setzen, ihren unaussprechlichen Werth nicht immer einleuchtender und dringender darlegen zu wollen.
c√ Es ist eines verständigen Christen ganz unwürdig, über solche Untersuchungen, und das, was dadurch entdeckt wird, als über
Neuerungen zu klagen, auf seine Meinungen, weil sie alt sind, stolz zu
|b241| thun, und alles Neue mit
bloßer Verunglimpfung von der Hand zu weisen. –
Freylich fassen alte Schläuche den neuen Wein nicht (Luc. 5, 37
f.
); aber es ist doch Undank gegen Gott, Einschläferung
unsrer Kräfte, mit denen wir zum
|c207| Guten, wenigstens durch Sichtung, mitwirken könnten, Versündigung gegen den, der Hülfe bedarf, und gegen den, der ihm helfen will, nicht nur selbst nichts zu thun, und nichts zu
brauchen, was
Andre statt
unsrer thun, sondern auch selbst
Andre davon abzuhalten, und ununtersucht den guten Keim, den Gott aufgehen läßt, wie
Unkraut zu zertreten. – Rotte das Unkraut aus, weil
|a507| es
Unkraut, nicht weil es
neu ist; du möchtest eine sehr heilsame Pflanze vertilgen, von der du nur vorher noch nichts gehört
hattest. Doch vergiß auch
bey dem Ausjäten des Unkrautes das nicht, was unser Herr sagt
Matth. 13,
39. – Allerdings giebts nur Einen Grund, auf den wir bauen müssen, der, daß Jesus
der Christ
sey (1 Kor. 3,
11). Auf den hat man hölzerne und steinerne Häuser
gebaut (V.
12). Sind alle alte dieser, und alle neue jener Art? Die Zeit wirds klar machen, sagt der Apostel
(V.
13); aber wie
kan sie
dir das, wenn alles Neue, was die Zeit lehrt, schon
darum das Zeichen der
Verwerfung trägt, weil es neu ist? – Die Wahrheit ist ewig, aber sie wird oft erst spät erkannt. Wer das bisher Unerkannte ans Licht bringt, der sagt
freylich etwas Neues; aber verdient er die schnöde Verachtung, er, den Gott vielleicht zum Werkzeug
brauchen will, dich zu erleuchten? – Ephes. 4, 11–15. 1 Kor.
|b242| 13, 9
f.
Ebr. 5, 12–14. 1 Kor. 3, 21
f.
– Es ist wohl kaum nöthig zu sagen, daß wer darum nicht das Neue will weggeworfen wissen, weil es neu ist, damit keinesweges
alles Neue billigt, eben
weil es neu ist. Ob etwas neu oder alt
ist? muß gar nicht, ob es wahr
sey? muß allein in Anschlag kommen.
165.
Auf die beschriebene Art sollte sich ein jeder selbstdenkender Christ, der alle dazu erforderliche Fähigkeit und Muße hätte, wenigstens jeder Lehrer, sein christliches System bilden; und alsdann wäre es Zeit, auch Ande|c208|rer Vorstellungen zu hören. Denn – der bloße Selbstfor|a508|scher urtheilt gar zu leicht einseitig, und läßt sich von geheimen Vorurtheilen, aufgefaßten Gesichtspuncten, wohin er alles allein zieht, und selbst Leidenschaften, beschleichen. – Da uns über dies so viele, denen gewiß Aufspürung des wahren Christenthums Herzensangelegenheit war, und denen es nicht an den nöthigen Fähigkeiten und Kenntnissen fehlte, vorgearbeitet haben: warum sollten wir ihre Vorarbeit nicht benutzen, ihnen wenigstens nicht danken, daß sie unsre Aufmerksamkeit auf Vieles lenken, was ihr entwischt ist, und uns zeigen, was und wo es noch weiterer Untersuchung bedürfe? – Wollen wir c√ vollends als Lehrer Anderer auftreten: so erfordert die gesellschaftliche Ordnung, uns zu einer gewissen kirchlichen Gesellschaft zu halten, deswegen die |b243| Vorstellungen in der Religion, die sie von ihren Mitgliedern erwartet, kennen zu lernen, und zu prüfen, ob wir sie mit Ueberzeugung fortpflanzen, wenigstens öffentlich unbestritten laßen können. Es erforderts auch die Weisheit und Gerechtigkeit gegen Andre, unsre Kenntnisse vom Christenthum möglichst ihren Vorstellungen, wenn sie nicht schädliche Irrthümer sind, anzuschmiegen; ihres, wenn gleich oft irrenden, Gewissens zu schonen; und nicht durch Unvorsichtigkeit oder Allgenügsamkeit ein Mißtrauen oder c√ Abneigung zu erregen, das einen Lehrer der Religion so sehr hindert, bey Andern Gutes zu stiften. Alles dieses führt die Pflicht mit sich, uns um Andrer Vorstellungen zu bekümmern, und auf diese, wenigstens eine prüfende, Rücksicht zu nehmen.
c√
|a509| 166.
Diese Vorstellungen
Andrer sind entweder solche, welche in einer besondern Kirche eine Art von
gesetzmäßigem Ansehen erlangt
haben,
oder c√ Privatgedanken und Resultate solcher Untersuchungen, die von
einzelnen gelehrten Männern angestellt sind. Die
erstern verdienen
unsre Kenntniß und Prüfung, nicht nur weil sie
das Vorurtheil vor sich haben, daß sie nach
öftrer Untersuchung vieler redlichen, verständigen und gelehrten Christen bewährt befunden worden, sondern noch
vielmehr wegen der so eben (§.
165 ) erwähnten Gründe für einen öffentlichen
Lehrer. Die
letztern hingegegen scheinen noch mehr wichtige Aufschlüsse
|b244| über Religion und Christenthum zu versprechen,
zumahl wenn sie den
Beyfall der
gelehrtesten und untersuchendsten Männer
für sich haben. Denn
bey solchen besondern Untersuchungen
einzelner Lehrsätze
kan man mehr eigentlichen Fleiß und neue Aufklärung erwarten; man
kan erwarten, daß dergleichen Männer weniger durch die Fesseln eines Kirchensystems oder eingeschränkter
Lehrfreyheit zurückgehalten worden,
freye Untersuchungen anzustellen; der
|c210| Beyfall, mit dem man ihre Untersuchungen aufgenommen, hat weniger den Verdacht wider sich, daß er durch kirchliches Ansehen oder Schonung des Hergebrachten gestimmt
sey; und, wenn solche Untersuchungen von
Männern herrühren, denen man, neben wahrer Bescheidenheit, vorzügliche Bekanntschaft mit den Hülfsmitteln zur Aufklärung
|a510| der Theologie, wenigstens in den Theilen, woran sie gearbeitet haben, und vorzügliche Uebung in solchen Untersuchungen
nicht absprechen
kan: so
kann man sicherlich mehr von ihnen lernen, als von denen, die nur der gebahnten
Heerstraße folgen.
167.
Indessen ist eigne Untersuchung doch immer das Nöthigste. Was ist wahr? was ist Christenthum? dies ist doch eigentlich die Hauptsache, davon muß man wollen im System unterrichtet seyn c√; was der oder jener, diese oder jene Kirche, geglaubt hat, dies zu wissen, ist, wenn es nicht Gelegenheit giebt, Wahrheit zu finden, fast von |b245| gar keinem Werth. Sammlungen von Meinungen, wenn sie nicht geprüft, sondern der Wahl eines jeden überlaßen werden, verwirren nur, und stimmen die Seele zum ewigen Schwanken zwischen menschlichen Einfällen. Und wie? wenn unter allem, was bisher worüber gesagt ist, gerade die rechte Vorstellung noch fehlte? c√ – Was übrigens zur Bildung eines immer vollkommnern Systems geschehen müsse, ist schon oben gesagt. Hier nur noch etwas über den bessern Vortrag desjenigen, was man, nach oben erwähntem Verfahren von dem Christenthum gefunden hat, oder besser, gefunden zu haben glaubt.
c√
|a511| 168.
Allerdings bleibt Wahrheit immer Wahrheit, und es ist übel gesprochen, wenn man sagt, daß c√ Wahrheit leiden, c√ Religion in Gefahr kommen könne, obgleich die Ueberzeugung der Menschen davon, und die Achtung und Liebe zu ihr leiden kan. Auch nutzt sich die Wahrheit nie ab, daß man auf Erfindung einer andern denken müßte. Da auch die christliche Theologie sich auf die heilige Schrift gründet, diese aber einen bestimmten Umfang hat: so laßen sich eigentlich neue Entdeckungen über christliche Lehren selbst nicht machen, wenn man nicht bessere Erklärung einzelner Stellen, die mehrere Entwickelung desjenigen, was in der heiligen Schrift liegt, die weitern Aussichten, die aus Vergleichung der christlichen Lehren unter einander, und mit natür|b246|lich bekannten Sätzen, entstehen, und die Wegräumung falscher Vorstellungen, dahin rechnen will. Aber man kan die Ueberzeugung der Menschen von der Wahrheit und von dem Christenthum, oder der rechten Vorstellung davon, durch neue Gründe, und den bessern Eindruck derselben, durch neue Anwendung befördern.
169.
So wie sich alle Wissenschaften durch neue Entdeckungen oder gründlichere Einsicht des bereits Bekannten erweitern, namentlich Sprachkunde und Philosophie: so ist kein Zweifel, daß da
|a512|durch auch für die Religion und das Christenthum neue Bestätigung möglich wird, und daß, wenn
|c212| die Aufklärung der Wissenschaften immer fortgeht, und Geschmack und Denkungsart mehr gebildet wird, allerdings auch auf neue oder neu geschärfte und einleuchtender gemachte
Beweise der Lehren gedacht werden müsse. – Noch mehr findet dieses
bey der
Anwendung der Lehren statt. Die Willigkeit, sich an die christlichen Lehren, zur Beförderung
unsrer Gemüthsruhe, zu halten, und dieselben treulich zu befolgen, hängt offenbar von dem Werth ab, den man auf diese Lehren legt,
d. i.
auf den deutlich und lebhaft erkannten Einfluß derselben auf
unsre Glückseligkeit. Diesen
Einfluß müßte man
vornemlich klar machen, und diesen recht
darstellen, das ists, wie mich dünkt, eigentlich, was man
praktischen Vortrag nennen sollte.
|b247| c√ Es ist ein sehr gewöhnlicher Mißverstand, das Praktische mit dem Moralischen zu verwechseln, und die Folge davon ist nur zu oft Verachtung oder Gleichgültigkeit gegen alles, was nicht unmittelbar das Thun und Laßen der Menschen betrift. Praktisch ist doch alles, was auf die menschliche Glückseligkeit anwendbar ist. Nun beruht diese Glückseligkeit 1) keinesweges bloß auf unserm Thun und Laßen, oder der Beobachtung unsrer Pflichten, sondern auch auf Gemüthsruhe, die zwar auch von dem guten Gewissen abhängt, aber eben so sehr von der Ueberzeugung, daß alles, was uns begegnet, wirklich für uns gut ist, und daß wir uns zu Gott und dessen Regierung immer des Besten versehen können. Diese letztre Ueberzeugung |a513| ist zu unsrer Glückseligkeit unumgänglich nothwendig, in Absicht auf solche Veränderungen, die nicht in unsrer Gewalt stehen, wohin auch diejenigen gehören, die wir nicht können ungeschehen machen, namentlich unsre vielfältigen Vergehungen, und die daher entstehenden Folgen. 2) Kan der Einfluß eines Satzes auf unsre Glückseligkeit eben sowohl mittelbar als |c213| unmittelbar seyn, und wir urtheilen wie Kinder, wenn wir das Nutzbare, auch in der Religion, bloß auf das Letztere (auf das materialiter oder unmittelbar Praktische) einschränken, ohnerachtet uns die ganze Einrichtung der physischen und moralischen Welt so deutlich an den auch sehr entfernten Einfluß gewisser Ursachen auf unser Wohl und Weh erinnert. Daher ist jeder noch so speculative Satz, praktisch, wenn er 1) die zu unsrer Gemüthsruhe unent|b248|behrliche Ueberzeugung von Gottes allezeit weisen und gütigen Anstalten und Fügungen zu unserm Besten überhaupt und in einzelnen Fällen, auf eine nähere oder entferntere Art, befördern, irgend einen Beweis dafür geben, irgend einem Zweifel dagegen zuvorkommen, oder ihn heben kan. 2) Wenn er c√ irgend einen Grund zu einer Pflicht enthalten, irgend eine Ermunterung dazu, irgend eine Erleichterung derselben in der Ausübung, geben kan. Und einen Satz praktisch machen ist c√ nichts anders, als zeigen, welchen Einfluß derselbe auf unser Bestes haben könne, es sey auf die eine oder die andre so eben angegebene Art; welches auch dadurch geschehen kan, wenn wir ihn so erklären, so bestimmen, in eine solche Verbindung mit andern stellen, daß andre diesen Einfluß leicht einsehen, und die Anwendung desselben auf ihre Gemüthsruhe oder Besserung leicht machen können. c√
|a514| 170.
Zu
diesem guten Vortrage der systematischen Theologie gehört auch der weise Gebrauch
gewisser dem System
eigenthümlichen Ausdrücke, welche man gemeiniglich mit dem Namen der
Schulsprache c√ belegt, und welche viele aus dem Vortrag der Religion wollen entfernt, an ihrer Statt aber
biblische, zum Theil
auch mystische, oder Ausdrücke aus der Sprache des gemeinen Le
|c214|bens, eingeführt
wissen †) . Wahr ist es, Ausdrücke sind gleichgültig, wenn sie nur die Sachen verständlich und ohne Irrthümer bezeichnen, wenn sie also nur, falls sie dunkel oder
zweydeutig|b249| sind, erklärt werden, daß man dadurch wirklich die Sachen verstehen
lernt, und gegen falsche Vorstellungen gesichert wird; wahr ist es auch, daß, wo man
bey einem Vortrag nicht sowohl deutliche und genaue Einsicht, als vielmehr Eindrücke der Religion, selbst
bey undeutlicher Erkenntniß derselben, befördern will, die
c√ Schulsprache völlig entbehrt, und der Gebrauch unbestimmter und sinnlicher Ausdrücke selbst nützlicher werden
kan, weil sie durch Nebenbegriffe den Eindruck befördern; wahr ist es, daß man die Absicht der Schulsprache oft ohne sie erreichen
kan †† ; wahr
ists endlich, daß die gelehrte Sprache in der Theologie manche Unbequemlichkeit mit sich führt. Denn durch sie wird die Erlernung der Theologie erschwert; der Vortrag wird trocken, und, weil sie die Sachen bloß dem Verstande, nicht der Einbildungskraft,
darstellet, so wird
|a515| die Anwendung der Sachen auf sich selbst und auf das
Herz weniger einleuchtend oder nahe gelegt; sie ist dem größten Theil der Zuhörer entweder unverständlich, oder erweckt eben sowohl falsche
Nebenbegriffe wie
andre Arten der
Sprache *) , und, was
beynahe das Schlimmste ist, sie verbindet gewisse menschliche, zum Theil irrige, Vorstellungen so
inniglich mit den
c√ Lehren des Christenthums, daß jene eben das Ansehn wie diese erhalten, und so lange nicht ausgerottet werden können, als man an dieser Schulsprache hängt.
**)
†) S.
c√
Gründe für die gänzliche Abschaffung der Schulsprache des theologischen Systems, Berlin 1772.
8.
|b250| |c215| ††) Entweder wenn man uneigentliche, sinnliche, und überhaupt unbestimmte
Ausdrücke mit gemeinbekannten eigentlichen vertauscht,
z. B.
statt
Vergebung der Sünden, Verschonung mit Strafen, statt
Wiedergeburt, gänzliche oder
Herzenbesserung, setzt;
oder sich durch wohlgewählte Umschreibungen, Beschreibungen und
Beyspiele erklärt, wie Jesus
in seinen Parabeln, als Luc. 15, 11
f.
18, 10
f.
etc.
; oder wohlerklärte, und durch
weitre Erläuterungen sonst schon den Zuhörern bekannte Hauptbegriffe und Hauptsätze (§.
155 ) beybehält.
*) Z. B.
Person in der
Gottheit; an welches Wort die
meisten gar nicht den metaphysischen Sinn knüpfen, worin es
unsre Theologen wollen genommen wissen, und daher entweder gar nichts
dabey, oder grobe Begriffe von Theilbarkeit, menschlicher Gestalt, oder, wie
einige in der
|a516| ältern Kirche
bey dem Wort
πρόσωπον,
bloße Verhältnisse
hinzu denken.
**) Als eben
bey dem Wort
Person; bey dem Ausdruck
Entäusserung Christi , dem man den falschen Begriff von einem unterlaßnen Gebrauch göttlicher
Eigenschaften untergelegt hat;
Genugthuung wenn es nicht in gut lateinischem Verstande genommen
wird;
Caput
morale von Adam
gebraucht
u. d. gl.
171.
Dieses alles beweiset aber nur: daß dergleichen gelehrtere Sprache nicht überall nöthig, oft, und in den gemeinen Vortrag insbesondre, |b251| unschicklich sey; daß man sich also hüten müsse, allein darin zu denken und vorzutragen; daß sie noch, besonders die eingeführte Kirchensprache, mancher Verbesserung bedürftig sey; lauter Vorwürfe, die man den andern Arten der Sprache, welche man statt dieser gebraucht wünscht, und die man jeder eigenthümlichen Sprache in irgend einer Wissenschaft und Kunst, mit eben dem Recht und Unrecht machen kan, wie dieser c√. Hingegen beweiset |c216| alles dieses nicht, daß sie gar nicht, daß sie auch selbst nicht in dem systematischen Vortrag, daß nicht nur ihr Gebrauch nicht, sondern auch nicht einmal ihre Kenntniß nöthig sey. Vielmehr hat sie und ihre Kenntniß allerdings, in der systematischen Theologie, wenn sie nur gehörig erklärt, und mit Weisheit gebraucht wird, sehr große Vortheile, die ganz verlohren gehen würden, wenn man sie abschaffen wollte. Sie ist 1) einmal da, und nicht nur in vielen, ja |a517| gerade in den gründlichsten, theologischen Schriften, sondern auch selbst in öffentlichen Bekenntniß- und Lehrbüchern eingeführt, die man also ohne die Kenntniß dieser Sprache nicht verstehen, vielweniger beurtheilen kan. Und wenn man sich über seine Unbekanntschaft mit ihr damit trösten will, daß solche Schriften nicht brauchten gelesen zu werden, und bald nur noch zur Geschichte der Lehre nöthig seyn würden: so überlegt man nicht, daß doch symbolische Schriften nicht so nach eignem Gutbefinden können bey Seite gelegt werden, oder dem Lehrer, der sich zu einer gewissen Kirche bekennt, unbekannt oder unverständlich bleiben |b252| dürfen; daß mit Wegschaffung der in der Schulsprache geschriebnen Schriften ein großer Schatz von Kenntnissen und Bestimmungen c√ würde verlohren gehen; daß die Kenntniß der Schulsprache doch immer unentbehrlich bleibe, wenigstens c√ theologische Streitigkeiten und Irrthümer ganzer Kirchen zu verstehen und zu beurtheilen.
172.
Indessen mag dieses der kleinste Vortheil seyn, den wenigstens die
historische Kenntniß der theologischen Schulsprache mit sich führt; aber selbst der
Gebrauch dieser Sprache ist sehr nützlich. Denn
2) lassen sich
c√ manche
|c217| Begriffe gar nicht, oder doch nicht so kurz
ausdrucken, als durch Hülfe dieser
Sprache †) ; und die reichhaltige Kürze kommt doch nicht nur dem Gedächt
|a518|niß zu Hülfe, und befördert die leichtere Uebersicht der
großen Menge von Sachen, sondern sie befördert auch die Schnelligkeit im Denken, und führt auf neue Begriffe. 3) Hauptsächlich ist sie zu der so unschätzbaren Bestimmtheit der
Begriffe, wenigstens da unentbehrlich, wo Bestimmtheit mit Kürze vereinigt werden soll. Sie hebt die
Zweydeutigkeit der Begriffe und Sätze, die der Grund des Mißverstandes und der daher entstehenden Streitigkeiten
ist; und wenn alles
dies durch die gelehrte Sprache sogar zum voraus
kan verhütet werden
c√, wie viele unnütze Untersuchungen und Zweifel erspart sie uns?
aus wie
vielerley Verwirrung hilft sie, welche die
|b253| Quelle aller Ungewißheit ist?
*) 4) Sie befördert selbst die Einsicht des Zusammenhangs der Lehren, und giebt ihnen ein gewisses Licht und eine Stärke, die sie ohne diese Sprache würde entbehren müssen.
**)
†) Bey den so schwierigen Fragen,
z. B.
von Mitwirkung Gottes
bey sündlichen
Handlungen; von den Absichten, die Gott hat, und nicht
erreicht; von der Seligkeit derer, die keine Gelegenheit zur
Erkenntniß des Christenthums gehabt
haben; welche Fragen mit Gottes Heiligkeit und Weisheit, und mit der Nothwendigkeit des Glaubens an Christum
, worauf die heilige Schrift dringt, so sehr in Widerspruch zu stehen scheinen, giebt der Unterschied zwischen dem Materiellen und Formellen der
freyen Handlungen,
dem
voluntate absoluta und inabsoluta Dei, dem ausdrücklichen und unentwickelten
Glauben, sehr kurze und bestimmte Entscheidung.
|a519| *) Man weiß, welche Unbestimmtheit und
Zweydeutigkeit in der gemeinen Sprache liegt, und wie oft an den Ausdrücken derselben Nebenbegriffe hängen, die mit derselben in
|c218| die Erkenntniß der Religion übergehen, und Irrthümer verursachen (
Theil 1 §.
61 ), oder doch von dem festen
Gesichtspunct bey einer Untersuchung ableiten, und auf Nebensachen führen, welchem Fehler man
alsdann nur durch eine bestimmtere Sprache zuvorkommen
kan. –
Freylich mag diese Sprache bisweilen zarten Ohren widrig klingen, und
dann stehts
bey jedem, sie durch besser gewählte Ausdrücke harmonischer zu
|b254| machen. Sonst aber ist nicht abzusehen, warum man die
Ausdrücke von fide quae und fide qua, von der Rechtfertigung durch den Glauben
correlatiue ad Christum
,
von der Rechtfertigung im medicinischen und juristischen Verstande, mißbilligen will, wenn man die dadurch
ausgedruckte Sache versteht, und sie selbst nicht mißbilligt. – Selbst durch bestimmte Ausdrücke und Erklärungen der biblischen
Begriffe wird die Abhandlung der Sachen ungemein
abgekürzt, und unnöthige Untersuchung verhütet; wie man aus Vergleichung
dererjenigen Lehrbücher sehen
kan, die aus der
Lehre von den sogenannten
drey Aemtern Christi
, von Erleuchtung, Bekehrung,
Buße, Wiedergeburt, Heiligung, mystischer Vereinigung
u. d. gl.
besondre Artikel machen, wenn man sie mit andern vergleicht, wo sie zusammengenommen sind, weil man fand, daß ein und dieselbe Sache nur durch
verschiedne Tropen
ausgedruckt war, die alle durch Einen bestimmten Ausdruck vereinigt werden.
**) So wird man schwerlich den Zusammenhang zwischen Gottes höchster Seligkeit, Gütigkeit, Heiligkeit und Gerechtigkeit, wenigstens schwerlich ohne Weitläufigkeit, populär zeigen können. |a520| Aber man nehme die vorher wohl erklärte Terminologie vom bono physico und morali zu Hülfe, und denke sich die Sache so: Gott will allezeit was bonum (oder vielmehr optimum) ist, bey sich und bey Andern, das bonum aber ist entweder physicum oder morale; folglich will Gott aufs höchste 1) das bonum physicum bey sich, 2) das bonum mo|b255|rale bey sich, 3) das bonum physicum bey Andern, und 4) das bonum morale bey Andern (es versteht sich, die dessen fähig sind). Was ist das erste anders, als die höchste Seligkeit, das zweyte|c219| die höchste Heiligkeit, das dritte die höchste Gütigkeit, das vierte die höchste Gerechtigkeit? So fällt der Unterschied dieser Eigenschaften, der nothwendige Zusammenhang unter ihnen, und zugleich der wichtige Umstand in die Augen, daß Gottes Gerechtigkeit nichts anders als seine höchste Gütigkeit sey, so fern sie das bonum morale bey freyen Geschöpfen als Mittel zu deren bono physico will. Wenn auch nichts als dieser allein würdige Begriff von Gottes Gerechtigkeit durch diese Terminologie gewonnen würde: zu wie viel herrlichen Folgen würde diese führen, sowohl uns über a√ unser Schicksal zu beruhigen, als uns Gottes Gesetze werth, und uns zu ihrer Befolgung willig zu machen? welches bey dem gewöhnlichern Begriff von Gottes Gerechtigkeit, die man als abgesondert von der Liebe, oder a√ als ihr entgegengesetzt denkt, gar nicht zu erhalten ist.
173.
Die Beschwerden, welche man schon längst gegen den Gebrauch der gelehrteren Sprache in der Theologie, wie gegen den gelehrteren Vortrag des Christenthums überhaupt, erhoben hat, |a521| rührten freylich wohl am meisten von der Besorgniß her, daß dadurch das Christenthum zu sehr eine Sache des Verstandes, und zu wenig Sache des Herzens werden möchte; ob man gleich|b256| von der Billigkeit dieser Gegner erwarten kan, daß sie würden milder geurtheilt haben c√, wenn sie mehr Bekanntschaft mit der Gelehrsamkeit, sonderlich der Philosophie, und ihrem Werth, gehabt, mehr diese gelehrte Sprache und die dadurch bezeichneten Sachen verstanden, mehr, aus eigner Uebung im Nachdenken über die Lehren des Christenthums und ihre Verbin|c220|dung unter einander, die großen Vortheile der philosophischen Behandlung dieser Lehren, auch in Absicht auf den Ausdruck, gekannt hätten. Diese letzteren Ursachen, nebst dem Gefühl der Unschicklichkeit des Gebrauchs dieser Sprache und Lehrart in jeder Art des Vortrags, auch vor den Ungelehrten, mögen wohl bey Andern die Beschwerden darüber veranlaßt haben, und diese Klagen mußten nothwendig mehr Eindruck machen, nachdem man hauptsächlich zu unsrer Zeit angefangen hatte, die Nothwendigkeit einer Absonderung des gelehrten und gemeinen Vortrags bey dem Christenthum einzusehen.
c√ Die Vernachläßigung des Volksunterrichts überhaupt; die bald unter den Christen eingerissene Gewohnheit, das Volk mehr durch Ansehn der Kirche, als durch verständliche Lehren und durch Ueberzeugung, zu regieren; und der größre Werth, den man, auch sehr frühzeitig unter Christen, auf Beobachtung äusserlicher Disciplin, mehr als auf wirkliche Erkenntniß des Christen|a522|thums, gelegt, mögen wohl am längsten, die Nothwendigkeit dieses Unterschieds einzusehen, verhindert haben. Da nun |b257| vollends das Ansehn der Kirche eine gewisse gelehrte Sprache im Christenthum geweyht, und auf die Nothwendigkeit, diese geweyheten Ausdrücke beyzubehalten, eben so sehr, als auf den rechten Glauben selbst, gedrungen hatte: wie schwer mußte es da werden, diese Sprache, selbst wenn sie unbequem, wenn sie am unrechten Ort, bey dem Volk, gebräuchlich war, mit einer schicklichern zu vertauschen?
174.
Diese eingesehene Nothwendigkeit hat den Unterschied zwischen der sogenannten
scholastischen,
akroamatischen oder
gelehrten, und zwischen der
populären oder
katechetischen Theologie hervorgebracht, wel
|c221|cher auf der Verschiedenheit des Vortrags der Religion beruht.
– Jene ist für den
Gelehrtern bestimmt. Sie braucht also alle Hülfsmittel der Gelehrsamkeit, die Lehren der heiligen Schrift, als solche, vorzulegen, und sie in
einen Zusammenhang zu stellen, in welchem eine der andern noch mehr Licht und Stärke ertheilt. Sie arbeitet ganz eigentlich für den Verstand und für Deutlichkeit und Gründlichkeit der Erkenntniß, um durch eine solche Art der Ueberzeugung aufs Herz zu wirken. Sie erfordert deswegen auch eine strengere Lehrart, eine bestimmtere Sprache, und Untersuchungen, die zur weitern Aufklärung der Religion für den scharfsinnigern Denker gehören.
– Diese hingegen,
|a523| weil sie für den
Ungelehrtern bestimmt ist, übergeht
alles, was ohne gelehrte Kenntniß nicht be
|b258|greiflich gemacht werden
kan; schränkt sich bloß darauf ein, aus den deutlichen Stellen der heiligen Schrift die Lehren
vorzustellen, sie mehr aus der Erfahrung und aus Sätzen, die der gemeine Menschenverstand begreifen
kan, als durch scharfsinnige Beweise und Erläuterungen einleuchtend zu machen, und, wo sie etwas nicht ohne alle Gelehrsamkeit deutlich machen
kan, legt sie mehr das Resultat gelehrter Untersuchungen vor, als daß sie dergleichen selbst vor denen, die sie unterrichtet, anstellen sollte. Ihr Hauptzweck ist
Fasslichkeit, und
kan sie deutliche Vorstellungen der Lehren nicht
fasslich machen: so begnügt sie sich, für die Einbildungskraft und den gemeinen Menschenverstand zu arbeiten, und dadurch den Lehren Eindruck aufs Herz zu geben. Sie enthält sich daher eben sowohl der
gelehrtern Sprache, als aller Untersuchungen, die nicht nothwendig sind, um die Wahrheit und den Einfluß der Lehren auf die menschliche Glückseligkeit, auf die gedachte Art einleuchtend zu machen, und
|c222| Zweifeln zuvor zu kommen, oder sie zu heben, auf die auch der nachdenkende Ungelehrte leicht gerathen
kan. Kurz,
beyde Arten der Theologie sind nach ihrem
Zweck verschieden, und nach der darnach sich richtenden
Wahl der Sachen und der Art sie vorzutragen.
Anm.
1. So, scheint es, könnte man die Gränzen am richtigsten
bestimmen; ob sie gleich gemeiniglich nicht ganz, weder im mündlichen noch
|a524| schriftlichen Vortrage beobachtet werden, auch es nicht immer
|b259| können, weil man
bey beyderley Vortrag sehr oft Leser und Zuhörer von überaus
verschiednen Fähigkeiten und Kenntnissen in Absicht auf Gelehrsamkeit hat. Doch noch eher
kan man sich in
Schriften eine gewisse
Classe von Lesern denken, für die man arbeiten will, und, da man unter den sehr weit ausgedehnten Namen der
Ungelehrten eben sowohl Leser von ganz gemeinen Fähigkeiten, als solche begreifen
kan, die höhere Fähigkeiten, und die sie, wo nicht durch
hieher gehörige
Lectüre, doch durch Nachdenken und Uebung in scharfsinnigen Untersuchungen, gebildet haben: so ist es sehr gut, für
beyderley Arten von sogenannten Ungelehrten durch
besondre, nach ihren
verschiednen Bedürfnissen eingerichtete, Schriften zu sorgen. Man findet die
besten in der
Anweisung zur Kenntniß der besten theologischen Bücher §.
228–230. erwähnt. Zu der letztern Art
gehören vorzüglich:
das Handbuch der Religion von Joh. Aug. Hermes , zweyte vermehrte Ausgabe, Berlin 1780
in zwey Bänden in gr.
8.; und
Johann Christoph Döderleins christlicher Religionsunterricht nach den Bedürfnissen
unsrer Zeit, wovon zu Nürnberg
1785–1791
zeither erst fünf Theile in 8. erschienen sind; so wie
a√ Joh. Jak. Griesbachs Anleitung zum Studium der populären Dogmatik,
zweyte Ausgabe Jena
1786
in gr.
8., zwar die rechte Wahl zwischen gelehrter und populärer Theologie lehren soll, zugleich aber wirkliche Darstellung der populären Dogmatik ist.
|c223| Anm.
2. Der Name der
scholastischen Theologie ist daher entstanden, daß die Scholastiker der mit
|b260|lern Zeit vorzüglich diese Vortragsart in Vorstellung der Theologie gebraucht haben; und der Name der
akroamatischen (eigentlich akroatischen) ist aus der Schule des Aristoteles
entlehnt;
s.
Gellii
noctes Att.
XX, 5.
Katechetische Theologie c√ ist nicht mit der
Katechetik, oder der Anweisung zu
dergleichen Vortrage, zu verwechseln.
|a525| 175.
Es ist ganz unnütz, über den Vorzug der einen Art vor der andern streiten zu wollen, welches Niemand in den Sinn kommen kan, der den wahren Zweck beyder Arten kennt, und nicht aus Unwissenheit, aus Verwechslung zufälliger und nothwendiger Fehler, oder aus Vorliebe zu Einer Art, die seinen Fähigkeiten und Umständen angemessener ist, gegen die Vortheile der andern ungerecht wird. Die populäre Theologie ist unstreitig gemeinnütziger, und für die allermeisten zuträglicher; es ist auch nichts weniger als leicht, sich selbst zu den gemeinsten Fähigkeiten herabzulaßen; es muß dem noch schwerer werden, der sich bey Treibung der Wissenschaften an die gelehrtere Art gewöhnt hat. Daher bleibt es eine sehr wichtige Pflicht für den künftigen Lehrer des Volks, sich ja mit dem ersinnlichsten Fleiß zu üben, um diese wirklich seltne Fertigkeit zu erlangen, sich die Lehren der Religion so zu denken, und sie so vorzutragen, wie es der Zweck der populären Theologie erfordert.
|b261| 176.
Auf der andern Seite ist die
scholastische, so wie sie vorhin beschrieben wurde (§.
174 ), in ihrer Art eben so
nothwendig, erstlich, weil es eben sowohl scharfsinnige
|c224| Köpfe giebt, die anders als durch eigentlich deutliche Gründe nicht können befriedigt, und gegen Zweifel be
|a526|waffnet, oder davon
befreyet werden, die auch nicht auf menschliches Ansehen und
bloße Versicherung glauben, so lange die Natur der Sache erlaubt, deutliche Gründe für solche Versicherungen anzugeben;
hernach, weil eine recht überzeugende Kenntniß vom Christenthum doch nicht ohne alle gelehrte Kenntnisse möglich ist.
†)
†) Schon zur
eignen Ueberzeugung, daß 1) etwas der heiligen Schrift gemäß
sey, gehört Kenntniß ihres Sinnes; und Ueberzeugung von dessen Richtigkeit erfordert Sprach- und andere gelehrte Kenntnisse. 2) Eben so
kan ohne alle Kenntniß von Geschichte und Philosophie nicht die Glaubwürdigkeit und Göttlichkeit der heiligen Schrift oder ihres Inhalts überzeugend und zur Wegräumung aller Zweifel dagegen eingesehen werden. Und ist jemand 3) in solchen Umständen, wo er Religionsvorstellungen
verschiedner Menschen oder
Parteyen vergleichen muß,
z. B.
wenn er Religionsschriften von verschieden Denkenden gelesen hat, oder unter Leuten lebt, die ihn durch scheinbare Gründe zu ihrer
Partey zu bringen suchen: so
kan er wenigstens ohne alle historische Kenntnisse schwerlich, was das Beste
sey, beurtheilen. – Wahr ists, wer
|b262| sich geradezu an die wesentlichen Lehren des Christenthums hält, und sie durch die Erfahrung zu seiner Besserung und Gemüthsruhe
bewähret findet,
kan immer sicher genug seyn, daß er in der Hauptsache nicht
fehlen werde; und was er ja von gelehrten Kenntnissen braucht,
kan er
bey Gelehrtern erfragen, wo
alsdann der
nothwendige Glaube an ihre Einsicht die Stelle des Beweises und der
eignen Ueberzeugung vertritt. Allein
erstlich ist es doch ganz etwas anders, wenn
ich wovon überzeugt,
d. i.
aus
eigner Kenntniß und Unter
|a527|suchung davon gewiß
bin, und wenn
ich etwas auf
Glauben an dasjenige
annehme, was
|c225| andre Menschen wissen, oder zu wissen
meinen; und es
kan Fälle geben, wo
mir ein Satz so wichtig ist, und
c√ Zweifel dagegen so stark sind, daß
ich mich damit nicht begnügen
kan, auf
bloßen Credit anderer Menschen zu bauen,
zumahl wenn diese ganz
verschiedne Einsichten
äussern, und ihr
Ansehn in solchen Sachen
bey mir gleich
ist. Hernach ist zwar jener Weg der Erfahrung vollkommen sicher (Joh. 7,
17) in solchen Sachen, welche durch die Erfahrung können erkannt und dadurch bestätigt werden, auch hinlänglich, wenn man bloß auf die Hauptsache des Christenthums sieht. Aber wie, wenn die Frage von Dingen ist, wo
Erfahrung nichts entscheiden
kan,
z. B.
über die Glaubwürdigkeit der Evangelisten, und die
Aechtheit der biblischen Bücher? oder, wo
mir zu meiner besondern Ueberzeugung, und sonderlich
bey sehr scheinbaren Zweifeln,
daran viel liegt, auch von gewissen Lehren überzeugt zu werden, die eigentlich zur Hauptsache des Christenthums nicht gehören?
|b263| 177.
Für solche zu schärferem Nachdenken aufgelegte, daher auch mehr dem Zweifeln ausgesetzte, zumahl durch gelehrte Lectüre gebildete, oder in Verlegenheit gesetzte Christen, ist gelehrte Kenntniß des Christenthums, und desjenigen, was dazu gehört, sehr nützlich, ja unter gewissen (am Ende der Anmerkung zum vorigen §. gemeldeten) Umständen sogar eigentliches Bedürfniß. Ein Lehrer der Religion aber bedarf dieser gelehrte|a528|ren Kenntniß eben so sehr, und überhaupt noch mehr, als andre Christen. Denn wenn er, nach seinem Beruf, für andre denken, und untersuchen, und denen, die ihm anvertrauet sind, in aller Verlegenheit, welche die Religion angeht, zu Hülfe kommen soll: so kan er, in Absicht auf nachdenkende und untersuchende Christen, solche Kenntnisse schlechterdings nicht entbehren, und, wenn sie nicht durch blinden Glauben geleitet werden sollen oder |c226| können, so muß er ihnen deutliche Rechenschaft geben, oder, wo er diese ihnen nicht geben kan, weil es ihnen an Fähigkeiten oder gelehrten Vorerkenntnissen mangelt, so muß er wenigstens sich alles nöthige Vertrauen auf seine vollkommnere Einsichten erwerben, damit dieses Vertrauen bey ihnen den Abgang der Ueberzeugung ersetzen könne; wie kan er sich aber dieses bey Verständigern erwerben, wenn er nur eine gemeine Erkenntniß der Religion hat? – Bedürft' er aber auch dazu der gelehrten Kenntniß nicht: so hätte er sie zu seiner eignen Ueberzeu|b264|gung nöthig, wozu er viel mehreres und es viel gründlicher wissen muß, als er es zum bloßen Vortrag vor Andern nöthig hat. Es ist daher die Pflicht eines jeden gewissenhaften Lehrers der Religion, der sich selbst und Andern ein Genüge thun will, sich mit der gelehrtern Theologie bekannt zu machen, und sich durch alle ihm mögliche Hülfsmittel auch auf eine gelehrte Art von der Religion zu überzeugen; er müßte denn so wenig natürliche Fähigkeiten dazu haben, daß er sich dergleichen Kenntnisse nicht erwerben könnte, |a529| oder gewiß seyn, er würde bloß mit Zuhörern von ganz gemeinen Fähigkeiten zu thun haben, c√ daß er sie nicht zu erwerben brauchte. Dieses ist nicht zu erwarten, und jenes nicht zu wünschen; auch würde es ihm keinen Beruf geben, einen Lehrer vorstellen zu wollen, ausser bey bloß einfältigen und alles mit blinden Glauben annehmenden Zuhörern, und nur dann, wo keine geschicktere Lehrer, als er selbst, vorhanden wären.
Anm.
Nach dem, was hier gesagt ist, bedarf es keiner Widerlegung der Ausflucht: daß der Lehrer nur
Volkslehrer seyn dürfe, nur
Religion und nicht
Theologie vorzutragen, und überall keine Gelehrsamkeit auf
|c227| die
Kanzel zu bringen habe; zumal wenn man das vergleicht, was darüber schon anderwärts, sonderlich
Theil 1. §.
33 –
40. Theil 2. §. 8 f.
und
138 f.
gesagt worden ist. – Uebrigens versteht sichs von selbst, wenn man den
angegebnen Zweck
erwegt, warum man sich mit
dieser gelehrten Theologie bekannt machen müsse,
|b265| daß man sie nicht in ihrem weitesten
Umfang zu lernen
brauche, der ohnehin ins Unendliche geht, weil immer neue Fragen
können aufgeworfen
c√, und darüber immer
vielerley Meinungen
seyn, und
vielerley Erläuterungen Statt finden werden. Es ist genug, so viel von dieser gelehrten Theologie zu wissen, als zur gründlichen Ueberzeugung seiner selbst und
Andrer in solchen Sachen dient, die das praktische Christenthum (§.
169 Anm.
) betreffen, und mit diesem näher zusammenhängen. In Absicht auf Kenntnisse, die erst durch besondere Umstände und individuelle Bedürfnisse nothwendig werden,
kan der eigene Fleiß noch immer viel nachholen, wenn man nur erst die nothwendigsten ge
|a530|lehrten Kenntnisse hat, und eine hinlängliche Bücherkenntniß besitzt, um zu wissen, woraus man, bedürfenden Falls, seine Kenntnisse erweitern könne.
178.
Die von
einigen immer wieder erneuerten Vorwürfe gegen die gelehrtere
Theologie sind überhaupt schon durch das weggeräumt, was bisher für den Nutzen und die Nothwendigkeit der systematischen Theologie und der sogenannten Schulsprache gesagt worden ist (§.
142 f.
und §.
171 f.
), ob sie gleich noch die ehemaligen und zum Theil manche jetzige Systeme treffen. Wer sie aber gegen gelehrte Theologie überhaupt
brauchen, deswegen das Studium derselben widerrathen, und bloß populäre Theologie zu treiben empfehlen wollte, der würde entweder verra
|b266|then, daß er die jetzige sich immer mehr ausbreitende
Art sie zu
behandeln|c228| nicht
erkennte oder nicht kennen wollte, oder sich, in seinen Beschuldigungen und Forderungen, der Ungerechtigkeit schuldig machen. Denn alle angebliche Fehler der gelehrten Theologie sind
entweder bloß zufällig,
oder es sind keine Fehler.
– Man hat jene in
unsrer Zeit schon längst zu bessern angefangen, unnütze Untersuchungen
weggelaßen, und wichtigere, nach unsern Zeitbedürfnissen,
aufgenommen. Man hat durch
bessere Auslegung der heiligen Schrift und durch bestimmtere Erklärungen der
Sachen, eine
große Menge von Zweifeln und Streitigkeiten
abgeschnitten. Man erinnert
bey dem, was zur hi
|a531|storischen Kenntniß
verschiedner Vorstellungen gesagt werden muß, daß es nur zu
diesen Zweck gesagt werde, und wie weit es höchstens noch gekannt zu werden
verdiene. Man bestimmt
bey dem, was allerdings gelehrte Untersuchungen erfordert, wie fern es nöthig, und warum es nicht in den Unterricht des Volks zu bringen, sondern zu seiner
eignen Ueberzeugung und
zur Befriedigung nachdenkender Christen mit Weisheit zu brauchen
sey. Man bedienet sich einer gelehrten Sprache, aber einer verbesserten, und nicht allein der gelehrten Sprache, und nur da, wo sie, nach den oben
erwähnten Umständen (§.
172 ) nützlich oder gar nothwendig
ist; man hat sogar angefangen, auf Universitäten eine populäre Theologie,
ausser der gelehrtern, vorzutragen. Wenn von allem
diesen noch nicht genug, noch nicht überall geschehen ist, so ist zu hoffen, daß die Nachwelt
|b267| noch mehr thun
werde. Was bereits geschehen ist, beweiset doch wenigstens, daß viele, und daß die am meisten
auffallende, Fehler nicht von der gelehrten Theologie unzertrennlich sind.
|c229| 179.
Aber die Gegner der gelehrtern Theologie übertreiben auch oft ihre Forderungen. – Universitäten sind nicht für Schulmeister angelegt, sondern zur Bildung künftiger Gelehrten, und wenn nicht da für Letztre, auch in der Religion, gearbeitet werden soll, wo sollen sie dann gebildet, oder soll gar nur in der Religion c√ für den |a532| großen Haufen, nicht eben so sehr für denkendere Christen, gearbeitet werden? – Soll man den Hauptzweck der Wissenschaften, ausgebreitetere Kenntnisse und gründliche Ueberzeugung, bey Seite setzen, um nur für das Volk, das ohnehin nur einen sehr eingeschränkten Unterricht braucht, zu sorgen? bey der Physik nichts vortragen, als was der Kinderlehrer auch den Kindern, der Landprediger dem Landmann sagen kan? bey Erklärung der heiligen Schrift nur auf gemeine Erbauung, nicht auf überzeugende Darstellung ihres Sinnes sehen? den Wißbegierigen, der Unterhaltung für den Verstand sucht, mit den gemeinsten Kenntnissen ermüden? oder den künftigen Lehrer gar die Form und Einkleidung der Sachen vorsagen, daß er nur nachschreiben und nachsprechen dürfe? – Wer so wenig Fähigkeiten hat, und nicht einmal so viel eignen|b268| Fleiß anwendet, daß er den von Andern empfangenen Unterricht nach seiner eignen Art zu denken umändern, vor seine eigne Ueberzeugung bringen, in seine eigne Sprache verwandeln, Andern nach ihren Bedürfnissen mittheilen, und was für Einen, nicht für den Andern gehört, unterscheiden kan, der ist zum Lehrer Andrer verdorben, und wird alles, was man ihm auch vorgesagt hat, niemals mit Weisheit und nach den besondern Bedürfnissen seinen Zuhörern vorzutragen wissen. Hat jemand aber diese Fähigkeit und diese Lust, sich selbst zum Lehrer zu bilden: |c230| so gewöhne er sich nur, alles, was er über die Religion hört, immer mit Rücksicht auf seine und Andrer Beru|a533|higung und Besserung, zu betrachten; alsdann wird er bald selbst finden, was dazu etwas beytrage oder nicht, und worauf er sehen müsse, um dem Gelernten Eindruck für Verstand und Herz zu verschaffen; er nutze den Unterricht, den er in der Homiletik und Katechetik haben kan; er lese fleißig wahrhaftig populäre Schriften über die Religion, und lerne ihnen die Art des Vortrags ab; er übe sich in populären Aufsätzen und Vortrag, und laße sie von Verständigern und Geübtern streng beurtheilen. Alsdann hat er gar nicht nöthig, sich die Sachen, von denen er zum Volk reden, oder gar die Einkleidung, vorsagen zu laßen, in der er sie vortragen soll.
180.
Man hat die
gelehrte oder vielmehr
scholastische Theologie auch noch durch eine andere
|b269| Vergleichung um ihr Ansehen zu bringen gesucht, indem man ihr eine sogenannte
biblische entgegen gestellt hat. So schwankend die Begriffe von einer solchen
biblischen Theologie zu seyn
scheinen: so kommen doch die, welche sie jener entgegensetzen
, darin überein, daß sie die Theologie lediglich
wollen aus der Bibel hergeleitet wissen
c√, und es mißbilligen, wenn man in die Theologie Sätze aufnimmt, die nicht in der heiligen Schrift stehen, oder nicht unmittelbar daraus, oder nicht aus
bloßer Vergleichung der biblischen Sätze unter einander,
fließen. Sie scheinen also unter
scholastischer Theologie (oder, wie sie
|a534| es bisweilen nennen, unter dem
System) einen zusammenhängenden Inbegriff der (wahren oder vermeintlichen) Religionskenntnisse zu verstehen,
so fern er nicht bloß auf die
heilige Schrift, sondern auch auf natürlich be
|c231|kannte Sätze gegründet wird. Die Abneigung von derselben scheint darauf zu beruhen, daß doch die
heilige Schrift allein uns sichere Kenntniß von dem Christenthum
gebe; daß die Lehren desselben über der Untersuchung natürlich bekannter Wahrheiten, oder daß die biblischen Beweise über den Beweisen aus der Vernunft zu sehr
vernachläßigt; daß jene Lehren selbst durch Zusätze oder Erklärungen, über welche die
heilige Schrift nichts entscheidet, sehr verstellt, oft wohl gar verdrängt worden; wiewohl auch ein Vorurtheil gegen
alles, was Gelehrsamkeit und besonders Philosophie heißt, und die Abneigung von dem System einer besondern Kirche, viel zu dieser Abneigung mit mag
beygetragen haben.
|b270| 181.
Es wird also
bey Beurtheilung des Streites über den Vorzug der
biblischen vor der
scholastischen Theologie auf
zwey Fragen ankommen: 1) ob es nothwendig schädlich, wenigstens unnöthig
sey, in der Religion, wenigstens
bey dem Christenthum, etwas auf natürlich bekannte Wahrheiten zu bauen? und 2) ob und wie fern die so eben
erwähnte biblische Theologie jener vorzuziehen
sey? Die
erste Frage ist für die Unschuld,
|a535| den Nutzen, und in gewisser Weise Nothwendigkeit der sogenannten scholastischen und überhaupt gelehrten Theologie durch
dasjenige hinlänglich entschieden, was darüber
§. 138 –144. 176 und 177 gesagt worden ist, wo immer mit auf den Gebrauch natürlich bekannter Sätze Rücksicht genommen wurde; und
dies kan zugleich die Einschränkungen lehren, unter welchen dieser Gebrauch gewiß nicht bloß unschädlich, sondern auch nothwendig
ist[.] Die
zweyte Frage läßt sich wohl am besten beantworten, wenn man die
verschiednen Vorschläge hört, wie eine
|c232| solche biblische Theologie beschaffen seyn oder ausgeführt werden soll.
182.
Alle diese Vorschläge scheinen auf zwey hinaus zu laufen. Man empfiehlt entweder eine bloße Sammlung von Stellen der Bibel, die unter gewisse Hauptmaterien gebracht werden möchten, ohne alle Erklärung und nähere Bestimmung ihres Sinnes, so daß es jedem frey bleibe, sich |b271| das dabey zu denken, was ihm das Richtigste zu seyn scheine. Oder man schlägt vor: bey jeder Lehre die davon handelnden Stellen der heiligen Schrift zum Grunde zu legen, sie sorgfältig zu erklären, bloß daraus unmittelbare Folgerungen zu ziehn, diese biblischen Aussprüche mit ihren nothwendigen Folgen unter einander zu vergleichen, und sie durch einander aufzuklären, weiter nicht, als so weit diese Sätze selbst oder deren unmittelbare Folgen leiten, hingegen alle Sä|a536|tze für problematisch zu halten, die entweder auf Stellen, deren Sinn nicht ganz klar gemacht werden kan, oder auf Folgen beruhen, die nicht nothwendig aus den biblischen Sätzen fließen.
183.
Der
erstere Vorschlag mag
bey Friedensformeln gut seyn, wo man Personen oder
Parteyen, die über die Lehren des Christenthums sehr verschieden denken, doch in den nothwendigsten und unstreitigen Lehren vereinigen will; und dieses scheinen diejenigen zu bezwecken, die auf ein sogenanntes Universal- oder Urchristenthum dringen.
Aber, ausser dem daß eine solche Sammlung ein
bloßes Spruchbuch, und kein Lehrbuch seyn würde, so
kan 1) ein jeder eben sowohl ganz falsche als wahre Vorstellungen damit verbinden, wie man aus dem
|c233|
Catechismus der Quäcker, einigen Aufsätzen der
Socinianer
u. a.
weiß; und, wenn es nicht gleichgültig für das Christenthum ist, falsche Vorstellungen davon zu verhüten: so
kan|b272| es auch nicht gleichgültig seyn, jedem bloß dergleichen Text in die Hände zu geben.
Ueber dieses kan man 2) durch eine solche
bloße Sammlung sogar den Lesern Irrthümer in die Hände spielen, wenn man den Text so wählt, daß man das übergeht, was man nicht will zum Christenthum gerechnet haben, und wenn man die Stellen so stellt und verbindet, daß eine auf die
andre ein falsches Licht, eben vermittelst des gemachten Zusammenhangs, wirft; nicht zu
gedenken, daß 3)
|a537| wenn nicht vorher ausgemacht ist, ob und welche Sätze der Bibel bloß auf gewisse Leser,
z. B.
der damaligen Zeit, gehen, oder gar nur Vorstellungen enthalten, die Jesus
und seine Apostel mehr stehen
ließen als billigten, oder wohl gar aus einem gewissen Sprachgebrauch
beybehielten, ohne damit eben dieselben irrigen Begriffe zu verbinden, welche die damaligen Zuhörer damit
verbanden, daß
alsdann sogar Sätze für biblisch gehalten werden, die zwar in der Bibel
stehn, aber keineswegs in dem Sinn, wie sie die Stifter der christlichen Religion nahmen. Es ist daher ein solch
reinbiblisches Christenthum, das
viele vorgeben, eine sehr
zweydeutige Sache; und wie oft durch das Vorgeben, sich
allein an die Bibel und an die
ganze Bibel zu halten,
andern Staub in die Augen gestreuet worden
sey, ist so bekannt, daß es keiner besondern
Beyspiele bedarf.
184.
Die
zweyte Art, biblische Theologie abzuhandeln, kommt mit der oben (§.
145 f.
) be
|b273|schriebenen besten Einrichtung der systematischen, wovon die gelehrte oder scholastische nur
|c234| eine
besondre Art ist, darin überein, daß sie die Lehren auf Erklärung der Schriftstellen und Vergleichung ihres Inhalts unter einander gründet; nur darin geht sie, wenn man sie der scholastischen
entgegensetzt, von ihr ab, daß sie nicht auch bloß natürlich bekannte Sätze mit
den aus der Bi
|a538|bel
gezognen verbindet.
*) 1) In jener Rücksicht beruht der Unterschied bloß auf der Methode, so daß die
biblische von den Quellen zu den Lehren geht, die daraus
fließen; die
scholastische aber – wenn sie nach den obigen Regeln eingerichtet ist – gleich die Resultate, und
alsdann erst die Beweise aus der
Bibel; ob man gleich in der Untersuchung selbst zu jenen durch diese gelangt
war. Bey beyderley Methode hat man die Lehren auf
einerley Art
gefunden, sie werden nur
denen Lesern oder Zuhörern in
verschiedner Ordnung
vorgelegt.
Beyderley Methoden haben ihre
Vorzüge. Die sogenannte
biblische, nicht sowohl darin, daß man
dabey viel mehr
auf die heilige Schrift sieht, aus ihr
lernt, anstatt schon vorgefaßte Meinungen darin erst zu
suchen –
(denn man
kan ja auch schon
bey Erklärung der heiligen Schrift auf die Sätze
schielen, die man für christliche Lehren hält, und danach, oft unvermerkt, jene
erklären –), als vielmehr darin, daß sie den Zuhörern oder Lesern die rechte Art zeigt, wie sie selbst lernen sollen, aus der heiligen Schrift die christlichen Lehren herzuleiten. Aber sie hat die Unbequemlichkeit, a) daß die
|b274| Lehren nur aus
einzelnen Hauptstellen hergeleitet werden. Diese aber enthalten oft bloß einen meist ohnehin schon bekannten Satz, ohne den geringsten weitern Aufschluß darüber zu geben, sonderlich in moralischen oder solchen Stellen, die keine näher geoffenbarten Lehren
vortragen, und, indem man sich an solche
einzelne Stellen hält,
vergisst man die Aufschlüsse, die uns
|c235| die Bibel nicht
|a539| sowohl durch Wörter und ausdrückliche Sätze, als vielmehr durch erzählte Thaten, Einrichtungen des Vortrags, und unangezeigte Voraussetzungen giebt (
s.
§.
154. Anm.
†, und §.
153. Anm.
*) Auch führt diese Methode b) zu gar zu
großer Weitläuftigkeit. Denn die meiste Zeit wird auf exegetische Untersuchungen verwendet, die man dem Ausleger
überlaßen könnte †) , und dadurch wird der Zuhörer, der Resultate sucht, zerstreut; aus mehrern Stellen werden die
nehmlichen Sätze
wiederholt; und, da
bey einzelnen Stellen die darin liegenden Sätze angegeben werden, so wird die allgemeine Uebersicht aller von Einer Sache redenden Stellen erschwert, oder man muß nachher wieder das vorlegen, was sie alle gemein haben, oder was nur einigen eigen ist.
*) S.
die in der
Anweisung zur theologischen Bücherkenntniß §.
232 angeführten
Schriftsteller. Doch haben diese oft nicht Umgang nehmen können,
a√ natürlich bekannte Sätze mit zu
brauchen.
†) Wer als
bloßer Ausleger handelt, also
nur die Absicht hat, den Sinn der Schriftstellen zu finden,
|b275| der wird sie im Zusammenhange, wo er sie lieset und
erkläret, viel deutlicher
verstehen, und den Verstand derselben darstellen können, als wer eine
Schriftstelle zum dogmatischen Behuf aushebt, und den Zusammenhang nicht so ganz deutlich machen
kan, wie er ihm war, wenn er sie in Verbindung des Ganzen las. Auch hat
|a540| der
bloße Ausleger gar kein dogmatisches Interesse, sieht also, was wirklich in
der Stelle liegt, viel reiner und bestimmter, als wer sie in der Absicht
lieset, sich daraus über ein Dogma zu unterrichten.
c√
185.
Warum sollen nun aber 2) von der christlichen Theologie alle Sätze und alle Beweise ausgeschlossen werden, die nicht in heiliger Schrift liegen, sondern
auch ohne sie bekannt sind? – Vieles, was doch wirklich zur Religion gehört, sonderlich von moralischen Grundsätzen, ist in der Bibel gar nicht eigentlich
erwähnt, oder nur berührt, nicht
ausgeführt; weil Jesus
und seine Apostel es entweder als bekannte Lehre und Pflicht voraussetzten, oder sie sich in
ihrem Vortrag nach den vornehmsten Bedürfnissen ihrer Zeit und Zuhörer, mit Uebergehung
andrer eben so
wichtigen Sachen, richteten, oder weil sie von vernünftigen Zuhörern und Lesern erwarteten, daß sie die ihnen mitgetheilten Kenntnisse (die über
|c237|haupt ihren bisherigen Kenntnissen
vielmehr eine bessere und heilsamere Richtung geben, als sie mit neuen bereichern sollten), mit denen, welche ihnen vorhin
|b276| bekannt waren, oder
ohne besondern Unterricht von Jesu den Seinen bekannt werden konnten, vergleichen, und so durch immer neue Anwendung auch auf neue Aufschlüsse kommen würden. Warum soll also dieses Mittel, das Gott
jedem vernünftigen Menschen gegeben hat, nicht gebraucht werden, um die mehrere Entwickelung der christlichen Lehre zu befördern?
– |a541| warum nicht, um sie noch einleuchtender und anschaulicher zu machen, ihre Gewißheit zu verstärken, Zweifel dagegen zu benehmen, ihre vielfältige mögliche Anwendung zu zeigen, und dadurch ihren Werth noch mehr zu empfehlen? – Und wie ist die so wichtige
praktische Darstellung des Christenthums möglich, wenn man bloß
biblische Sätze
sammlet und
verbindet, ohne ihren Einfluß auf unsre Glückseligkeit klar zu
machen? – Hat Jesus
selbst es nicht für unnöthig gehalten, seinen Zuhörern, was ihnen schon aus dem alten Testament bekannt war, vollständiger vorzulegen, und mehr zu entwickeln (Matth. 5,
17); hat er
dabey offenbar die Natur und Bestätigungen daraus zu Hülfe genommen (Matth. 6, 24
f.
und anderwärts); haben
dies seine Apostel mit dem
christl. Unterricht ebenfalls gethan: warum sollen wir sie darin nicht nachahmen?
– Haben diese vollends Manches
nur für ihre Zuhörer gesagt, und manche allgemeine Pflichten, wegen ihrer besondern Bedürfnisse, nur
eingeschränkt (wie Matth. 19,
21): wie können wir
bloß aus der heiligen Schrift wissen, ob und wie weit sie
für uns gehören? ob eingeschränkt
ausgedruckte|b277| Pflichten, und wie
c√ sie für uns
allgemeine werden können, ohne hier natürlich bekannte Sätze und Betrachtun
|c238|gen über die Natur der Pflichten und der Menschen zu Hülfe zu nehmen.
S.
Prüfung der philosophischen Predigten, (von
Felix Heß ,) 1767.
in 8.
|a542| 186.
Eine andre Eintheilung der systematischen Theologie, nach der man diese sogar in besondre Wissenschaften zerfället hat, ist nach den verschiednen Arten der Lehren gemacht, die darin sollen abgehandelt werden. Sie betreffen entweder das, was das Christenthum für wahr, oder was es für recht erkennt, was es geglaubt, oder was es gethan wissen will. Den zusammenhängenden Inbegriff jener Lehren nennt man die dogmatische, speculative, auch theoretische, und einen solchen Inbegriff dieser, die Moral- oder praktische Theologie, auch theologische Moral. Und weil man bey beyden die Lehren entweder selbst darstellen, beweisen und erläutern, oder falsche Vorstellungen davon und deren Gründe widerlegen kan: so nennt man die Wissenschaft, worin jenes geschieht, auch die dogmatische, die thetische, auch wohl die positive oder didaktische; worin aber dieses geschieht, die antithetische, elenchtische, oder polemische Theologie.
Anm.
1. Diese in der systematischen Theologie gemachte Absonderung ist, wie die Namen selbst,
|b278| ein Werk der neuern Zeit. Ehe
Abelard in einer Art von System Gebrauch von der Dialektik machte, waren alle Abhandlungen der Theologie überhaupt, anders nichts als
Rhapsodien, oder ein Inbegriff von Rubriken, unter die man Sätze über christliche Lehren geschichtet, und sie meistens nur durch kirchliches, zum Theil auch biblisches Ansehn unterstützt hatte.
Robert Pulleyn , und noch weit mehr
Peter|a543| der Lombarde , die der alten Lehrart, durch Autorität zu beweisen, aufhelfen wollten, veran
|c239|laßten durch ihre
Sentenzen den Gebrauch der Philosophie noch mehr, und wenn die folgenden Systematiker den Titel der
Sentenzen oder
Summen brauchten, so war doch Philosophie das eigentlich zur Aufklärung der Theologie gebrauchte Mittel, und die Theologie
scholastisch, so wie die nach jener alten Methode abgehandelte Theologie den Namen der
positiven erhielt. Auch
noch die protestantischen Theologen
c√ bis gegen das jetzige Jahrhundert
brauchten die allgemeinen Namen Loci theologici, Institutiones religionis Christianae oder Theologiae, Systema oder Corpus, Epitome, Compendium oder Breviarium
Theol. Seit
Bellarmins Dispp. de
controversiis Chr. fidei ward es in der römischen Kirche üblich, die Streitigkeiten mehr von der
dogmatischen Behandlung abzusondern, und in der
zweyten Hälfte des 17ten Jahrhunderts betraten protestantische Theologen eben den Weg.
In dieser Zeit fing man auch unter
ihnen an, die Moraltheologie besonders abzuhandeln, welches die in der römischen Kirche schon seit dem Anfang des 17ten Jahrhunderts gethan hatten.
|b279| Anm.
2. Warum diese Scheidung nicht eher geschehen
sey, davon liegt der Grund wohl darin, daß überall die
christl.
Moral zu sehr
vernachläßigt,
und anfänglich bloß Sammlung von
asketischen oder Mönchsmaximen war, bis
Thomas von Aquino in seiner Summe anfing, ihr einen besondern Theil zu widmen; so wie die
ersten protestantischen Systematiker keine
andre Abhandlung als nach den 10 Geboten kannten, das Wenige ausgenommen, wozu besondere Streitigkeiten mit der römischen Kirche oder Schwärmern Gelegenheit gegeben hatten. Und
|a544| da die weitere Cultur der systematischen Theologie durch Streitigkeiten veranlaßt wurde, so war es natürlich, diese anfänglich nicht von der dogmatischen Abhandlung zu trennen.
Anm.
3. Nützlicher ist es allerdings, die
dogmatische Theologie von der
moralischen zu scheiden, weil diese nur selten
|c240| Folge von jener ist, und auf einer ganz andern Art von Gründen beruht, zumal nachdem man seit der Mitte des 17ten Jahrhunderts mehr die
ersten Grundsätze der Sittenlehre entwickelt, und die Moral überhaupt mehr auf die Natur
gebauet hat. – Streitiger
kan hingegen der Nutzen von Absonderung der dogmatischen und elenchtischen Theologie seyn, und es scheint
überhaupt besser, sie
beysammen zu
laßen, weil sie doch
einerley Gegenstand betreffen, und die
Beweise mit den Gegenbeweisen einleuchtender werden, wenn man sie sogleich einander entgegen stellt.
|b280| 187.
Nach dem, was bisher von dem Nutzen der systematischen Theologie, in Absicht auf diese Art die Theologie abzuhandeln, und von ihrer rechten Einrichtung, um diesen Nutzen zu befördern, gesagt worden ist, bedarf es über diese verschiedene Theile derselben keiner Weitläuftigkeit; und die folgenden Anmerkungen über diese einzelnen Wissenschaften sollen sich bloß auf ihren zweckmäßigen Inhalt, den Nutzen, der aus ihrem Inhalt zu ziehen ist, und die wahre Art einschränken, sie mit Vortheil zu studieren.
|a545| 188.
Wenn also die
dogmatische Theologie oder
christliche Glaubenslehre †) noch von den gedachten
beyden andern Wissenschaften unterschieden
wird: so
müßte sie,
sollte sie ihrem Zweck (§.
186 ) und dem Zweck der systematischen Theologie entsprechen, 1)
alles enthalten, was wir als Christen, abgesehen von den uns aufgelegten
Pflichten, in Absicht auf Gott und dessen Verhältniß gegen uns, für wahr zu erkennen haben, es mag zu
unsrer Belehrung oder Ermunterung oder Trost dienen,
c√ aus der heiligen Schrift oder aus
unleugbaren Sätzen der Vernunft
|c241| erkennbar seyn;
c√ 2) die
verschiednen, wenigstens wichtigern, Vorstellungen, die man sich von diesen Lehren unter Christen gemacht hat, mit Beurtheilung derselben. Diese Wichtigkeit
müßte nach einer doppelten Rücksicht
bestimmt werden:
erstlich nach
|b281| ihrem Einfluß auf die Befestigung der christlichen Erkenntniß, folglich auch danach, ob dadurch Zweifel und Widersprüche am besten abgeschnitten werden, und nach ihrem Einfluß auf die Besserung und Beruhigung der
Menschen ††) ; sodann auch danach, ob eine solche Vorstellung vielen
Beyfall gefunden hat,
zumahl wenn sie Unterscheidungslehre ganzer
Kirchenparteyen worden ist. Und weil eine Beurtheilung derselben nöthig ist – denn wozu sollte bloß historische Kenntniß dienen, da
bey der christlichen Erkenntniß
alles auf Ueberzeugung und Untersuchung des Wahren und Falschen ankommt? – so
|a546| müßte auch 3) die Unrichtigkeit des Irrthums eben sowohl als die Wahrheit einer christlichen Lehre und der richtigsten Vorstellung davon, gezeigt
werden *) .
†) Ein nicht ganz angemessener Ausdruck! denn diese Wissenschaft begreift auch Vieles, was wir wissen können, und nicht bloß auf ein Zeugniß der heil. Schrift glauben, und sie enthält nicht bloß die christlichen Lehren, sondern auch die richtigen Vorstellungen davon.
††) Wenn auf die §.
152 f.
angezeigte Art der bestimmte Begriff klar genug wird, den die
heilige Schrift mit einer gewissen Lehre
verbindet; und eben so, wenn durch die Vergleichung der biblischen Sätze unter einander und mit unwidersprechlichen Vernunftwahrheiten, der Begriff von einer Lehre genau bestimmt wird: so fallen viele auf Mißverstand beruhende Vorstellungen von selbst weg, und brauchen nicht einmal erzählt zu werden, wenn sie
|b282| nicht durch den erlangten
Beyfall wichtig
worden sind.
|c242| *) Wenn Wahrheit und Irrthum untersucht werden soll: so können 1) Beweise für die Wahrheit, und 2) gegen den Irrthum vorgelegt; so wie 3) Gründe oder Zweifel gegen die Wahrheit, und 4) Gründe für den Irrthum beantwortet werden. Ehe man die Dogmatik von der Polemik trennte, geschahe alles dieses zusammen, mit Vortheil; weil nicht getrennt wurde, was zur Vollständigkeit der Untersuchung gehörte. Jetzt hat man die zwey ersten Arten zu untersuchen in die Dogmatik, und die zwey letztern in die Polemik verwiesen; und dies mit Recht; denn Beweise für die Wahrheit sind zugleich Beweise gegen den Irrthum, und um die Wahrheit zu vertheidigen ist sowohl nö|a547|thig die Gründe gegen die Wahrheit, als die Gründe fürs Gegentheil zu entkräften.
189.
Hiernach läßt sich der Nutzen dieser dogmatischen Theologie bestimmen, der oft übertrieben, oder zu sehr heruntergesetzt wird, und den man genau kennen sollte, um zu wissen, worauf man
bey Beschäftigung mit derselben eigentlich zu sehen
hätte. Sie giebt uns 1) richtige Begriffe von dem Verhältniß zwischen Gott und uns,
d. i.
von seiner und
unsrer Natur, seiner Gesinnung gegen uns, seinen zu unserm Besten gemachten moralischen Anstalten,
unsrer erforderlichen
Gemüthsbeschaffenheit wenn seine Absichten mit uns
|b283| erreicht werden sollen,
unsren daher entstehenden sichern Erwartungen, oder den im Gegentheil gewiß zu befürchtenden Folgen. Sie enthält somit 2) Grundsätze zu den übrigen theologischen Wissenschaften, – besonders zur
Polemik, indem sie uns zeigt, was wir zu vertheidigen brauchen oder nicht, und wie? denn aller Widerspruch gegen Wahrheit beruht doch zuletzt auf Mißverstand, dem eben schon in der Dogmatik vorgebeugt werden
|c243| muß, – zur
Moral, denn
unsre Pflichten beruhen ja auf dem gedachten Verhältniß, und dieses giebt uns auch Bewegungsgründe und Ermunterung zu Ausübung der Pflichten – und zur weisen
Führung des Lehramtes, damit man lerne, was für Begriffe und Ueberzeugungen man
bey Andern befördern, oder
|a548| welchen man entgegenarbeiten solle. Sie eröffnet uns 3) die Quellen der wahren Beruhigung, die zu
unsrer Glückseligkeit so unentbehrlich ist, als die Beobachtung
unsrer Pflichten. 4) Sie unterrichtet uns von dem richtigsten Lehrbegriff, und zeigt dadurch, wenn wir uns, wie es mehrere Gründe erfordern, zu einer
vorhandnen äusserlichen Kirche zu schlagen haben, welcher wir nach der richtigsten Ueberzeugung
beytreten müssen? und 5) setzt sie uns in den Stand, die
verschiednen Vorstellungen von göttlichen Lehren und ihren Werth richtig zu beurtheilen, welches sehr
großen Nutzen hat.
c√ Der Nutzen dieses Letzten zeigt sich 1) in Absicht auf die Zweifel, welche die Ueberzeugung von gewissen Lehren hindern. Denn nur zu oft verwechselt man |b284| die Vorstellungen von gewissen Lehren mit den Lehren selbst, und verwirft entweder diese, weil man jene falsch befindet, oder bestehet eben so eigensinnig auf gewissen Vorstellungen, weil man gewohnt ist, die Lehren anders nicht, als nach diesen für wahr zu halten. 2) Ueberhaupt wird man von Vorurtheilen in der Religion darum nicht frey, weil man sich die Lehren auf keine andere, als auf Eine, Art denken kan; man kan also davon anders nicht zurückkommen, als durch Bekanntschaft mit mehrern Vorstellungen davon, und ihren Gründen, die uns auch oft zeigen, wie fälschlich man etwas für Vorurtheil halte, was dergleichen nicht ist. Und eben diese Kenntniß befördert 3) die Billigkeit gegen die, welche nicht unsrer Meinung sind, wenn wir einsehen, daß entweder ihre Meinung die nicht sey, die wir ihnen beygemessen, oder, daß sie aus den Gesichtspunct betrachtet, woraus sie die Sache |a549| ansehen, ihren guten Grund, oder, wenn sie auch irrig ist, den schädlichen oder nothwendigen Einfluß nicht habe, den wir uns dabey einbildeten.
190.
Bey dem Gebrauch guter Vorlesungen oder Lehrbücher über die dogmatische Theologie
würde es hauptsächlich darauf
ankommen, daß man sich 1)
daraus sowohl die
Lehren als die
Vorstellungen davon, mit ihren genauen Bestimmungen, wohl
bemerkte; 2) genau auf die Beweise
Acht gäbe, womit
beyde unterstützt werden, und
|b285| wie diese Beweise geführt sind; 3) die Lehren selbst, wie sie in der
heil. Schrift liegen, oder in der Vernunft unwidersprechlich gegründet sind, von den Vorstellungen darüber, und wo jene aufhören und diese anfangen, recht unterscheiden
lernte; 4) die Beweise für
beyde sorgfältig
prüfte, ohne, aus Begierde einen Satz zu unterstützen, mit jedem Beweise zufrieden zu seyn, oder, um eines schlechten Beweises willen, die Sätze selbst zu verwerfen; 5) den wahren Werth jeder Lehre und Vorstellung davon,
d. i.
ihren Einfluß auf
andre Lehrsätze sowohl, als auf die menschliche Glückseligkeit, recht schätzen
zu lernen, und besonders 6) die ganze erlangte Erkenntniß sich recht praktisch zu machen
suchte (§.
169. Anm.
). Je vorsichtiger man hier
bey jedem Schritt ist;
je mit unbefangnerm Gemüthe man
alles prüft, bereit, die Wahrheit, sie
sey alt oder neu, geachtet oder verachtet, anzunehmen, wo sie sich
|a550| findet; je mehr man sich
für Gleichgültigkeit auf einer, und
für Vorwitz,
d. i.
Neugier nach Entdeckungen, wozu uns Kräfte oder Hülfsmittel versagt sind, auf der andern Seite, hütet; und je mehr es
uns um wahre Besserung und Beruhigung
|c245| durch erkannte göttliche Wahrheit zu thun ist:
je sichrer, glücklicher und heilsamer wird diese Beschäftigung seyn.
c√ Die
hieher gehörigen
allgemeinern Bücher
s.
in der
Anweisung etc.
§. 233
flg.
und von der Beurtheilung ihres Werthes ebendaselbst §. 225 und 227.
Für diejenigen Leser, denen zunächst das gegen|b286|wärtige Buch bestimmt ist, d. i.
für solche, die, bey vorausgesetzten übrigen nothwendigen Vorerkenntnissen, nach einer gründlichern und gelehrtern Kenntniß dieser Wissenschaft trachten, und sie vor sich selbst studieren wollen, würde ich unter den ältern Lehrbüchern Jo. Franc. Buddei Institutiones Theologiae Dogmaticae, Lips. 1723
in 4.; doch noch mehr, theils an sich, theils nach den Bedürfnissen unsrer Zeit,
Jo. Christoph. Döderlein Institutio Theologi Christiani, Edit.
2. Norimb. 1782
in 2 Bänden in gr.
8.; und die
Epitome Theologiae Christianae von S. F. N. Morus , Lips. 1789
in 8., vor allen Büchern dieser Art empfehlen. c√
191.
Diese dogmatische Theologie verdient billig eher als die
Polemik und
Moral getrieben zu werden, weil diese sich auf die Dogmatik gründen (§.
189 ). Mit ihr könnte das, was man der
Polemik angewiesen hat, am besten gleich verbunden werden (§.
186 Anm.
3); so wie diese auch ei
|c246|gentlich gar keine besondere Wissenschaft ist, weil sie keine Lehren im
Zusammenhang vorträgt, sondern nur eine Vertheidigung des Inhalts der Dogmatik.
†) Womit sie sich eigentlich beschäftige, ist schon §.
186 gesagt. Es müßte darin 1) jede Frage, worüber man
verschiedner Meinung ist, genau und bestimmt vorgetragen werden, so daß man angäbe, worin die, so darüber uneins sind, gleichwohl in Rücksicht auf
unternommene Untersuchung, übereinstim
|a551||b287|men, und alles das absonderte, was in die Untersuchung gemischt worden, ohne dazu zu gehören, mithin den eigentlichen
Gesichtspunct anzeigte, woraus die Dissentirenden die Frage angesehen, und ob sie
einerley Gesichtspunct genommen hätten oder nicht. Ist das
Letztere, – und das ist gemeiniglich der Fall, – so fällt der ganze Streit von selbst weg; und schon in
so fern ist diese Bestimmung der Streitfrage gerade das Wichtigste
bey solchen Untersuchungen; sie ists aber auch deswegen, weil ohne sie der Streit nie aufs Reine kommen
kan. 2) Müßte man diejenigen und ihre Schriften angeben, welche einen von uns behaupteten Satz mit der meisten Kenntniß der Sache, oder doch am scheinbarsten, bestritten haben, und, wenn der Streit mit einer ganzen
Partey ist, die Schriften, wozu sie sich öffentlich bekannt
hat; damit der Leser oder Zuhörer nachsehen könne, ob man die richtige Meinung der Gegner
gefasst und angegeben habe; 3) das wahre Verhältniß zeigen, worin die Frage gegen
andre Lehrsätze steht, die damit stehen oder fallen, oder wenigstens an Stärke oder Werth verlieren; und sich hüten, die Folgen aus einer Meinung zu übertreiben, auch anzeigen, ob die Gegner diese Folgen anerkennten oder nicht; und
alsdann 4) die Gründe der Gegner wider
unsre und für ihre Meinung in völliger Deutlichkeit und Stärke vor
|c247|legen, und zeigen, daß sie entweder
unsre Meinung nicht treffen, oder daß sie unrichtig oder doch unbewiesen sind.
|a552| |b288| †) Auf diese
dogmatischen Sätze schränkt man sich in der Polemik ein, obgleich mit eben so vielem Recht auch Streitigkeiten über Sätze der christlichen Moral könnten und sollten hineingezogen, oder den Einwürfen dagegen eine
besondre Untersuchung gewidmet werden. Daß man dieses nie in der Polemik gethan hat, rührt wohl daher, weil man sich ehedem überhaupt weit weniger um genauere Untersuchung der Moral als der Dogmatik bekümmerte, weil darüber selten Streitigkeiten mit ganzen
Parteyen entstanden, und weil man ehedem solche streitige Sätze der Moral, da diese von der Dogmatik noch nicht abgesondert war, mit in die Dogmatik aufnahm, daher auch nur diese wenigen Streitigkeiten über moralische Sätze
, z. B.
über die Rechtmäßigkeit des Eydes, in die heutige Polemik mit übergegangen sind.
192.
Wenn man diese Absicht und Einrichtung der sogenannten polemischen Theologie wohl und ohne Vorurtheile überlegt; so läßt sich der große Nutzen, den sie haben kan, nicht verkennen. Schon dies wäre 1) viel werth, daß man daraus die verschiednen Vorstellungen von Lehren der Religion, mit ihren Bestimmungen und Gründen kennen lernte. Dadurch würden einseitige Vorstellungen verhindert, und man lernte einsehen, daß unsre eigne Vorstellung gar nicht die einzige mögliche sey, mit der die Lehre selbst stünde oder fiele, und daß, wenn wir unauflösliche Zweifel gegen unsre|b289| Vorstellung bekommen, diese uns noch keinesweges nöthige, die Lehre selbst aufzugeben a√. |a553| Man lernte, das Vieles, was verschrieen ist, so gefährlich nicht sey, daß wir uns dafür entsetzen, und wohl selbst die Untersuchung scheuen müssten. |c248| Man stieße selbst auf manche nicht bekannte oder verkannte und sehr nützliche Wahrheit. Man würde wenigstens zur neuen Untersuchung veranlaßt, an die man vorhin nicht gedacht hatte; und die Geschichte lehrt ja offenbar, daß nie die Kenntniß der Religion erweitert und bestimmter worden, als durch solche Untersuchung, die fast immer erst durch Streitigkeiten erweckt worden ist. Man würde den wahren Werth einer Lehre und Vorstellung kennen lernen, und dadurch einer Seits für Gleichgültigkeit gegen Wahrheit, auf der andern aber für Unbilligkeit gegen anders Denkende verwahrt werden.
193.
Selbst 2) unsre Ueberzeugung von der Wahrheit, und die Standhaftigkeit bey ihr, würde dadurch gewinnen. Denn kennen wir, bey jener Ueberzeugung, zugleich auch die Gegenmeinungen mit ihren Gründen, so setzen sie uns nicht so sehr in Verlegenheit, als wenn wir hernach sie unerwartet erfahren. Wir gerathen alsdann nicht hinterher auf den Verdacht, daß man sie uns verheimlicht habe, aus Furcht, sie nicht widerlegen zu können; welcher Verdacht immer ein schädlich Vorurtheil gegen das bisher Geglaubte, |b290| und für das Neue giebt, welches die ruhige unparteyische Untersuchung hindert. Wir lernen |a554| durch diese Kenntniß einsehen, daß entweder diese Gegenmeinung mit unsrer bestehen könne, und so leidet unsre Ueberzeugung von der Wahrheit nicht; oder wir sehen ein, daß sie falsch ist, und werden dadurch in unsrer Ueberzeugung befestigt; oder daß sie wahr sey, und so befreyt sie uns von einem Irrthum.
194.
In so fern wir aber 3) aus der Polemik das Verhältniß eines Irrthums gegen andre lernen, die durch diesen |c249| Irrthum unterstützt werden, oder zu dessen Unterstützung dienen: so sehen wir ein, wie man auf einen solchen Irrthum sey geleitet worden, und lernen also, welchen Sätzen man vorbauen, oder welche man mitentkräften müsse, wenn ein Irrthum verhütet, oder er widerlegt werden solle. Und wenn 4) Zweifel unsre Ueberzeugung von der Wahrheit zerstören, wenigstens vermindern, oder uns in Zweifelsucht stürzen, worunter oft genug unsre Gemüthsruhe leidet, und die Wahl zwischen Gutem und Bösem, wenigstens die Ausführung des Guten, gehindert oder aufgehalten wird: so erfordert es die Liebe zur Wahrheit, das Streben nach gewisser Erkenntniß, die Liebe zu uns selbst und zu Andern, diese Zweifel aus dem Grunde zu heben. Da aber die Wenigsten Kenntniß genug von Irrthümern in der Religion und ihren bloß scheinbaren Gründen, so wenig wie von alle dem haben, was |b291| zur gründlichen Beurtheilung |a555| derselben erfordert wird; da die Wenigsten Scharfsinn oder Fähigkeit besitzen, das Wahre und Scheinbare zu unterscheiden, und eben so wenig Geduld und Uebung, verwirrte Untersuchungen aus einander zu wickeln: so kan die Polemik große Dienste dem leisten, der selbst noch nicht die nöthige Fähigkeit, Kenntniß und Uebung in solchen Untersuchungen hat, ja sie kan selbst für ihn eine vortrefliche Schule zu solchen Uebungen werden.
195.
Und eben in dieser Uebung besteht 5) einer der größesten Vortheile, den die Polemik stiften kan. Wenn man sieht, wie die streitige Frage mit gehöriger Genauigkeit bestimmt, und bey der Beantwortung der Gegengründe bestimmt angegeben wird, wie weit und warum man sie einräumen kan oder nicht: so gewöhnt man sich an Verdeutlichung der |c250| Begriffe; man gewöhnt sich, eine Frage nicht gleich abzuurtheilen, sondern sie erst auf mehrern Seiten zu betrachten; verwirrte Untersuchungen aus einander zu wickeln; vorsichtig zu werden, und was man behauptet, auf allen Seiten zu befestigen, um weder Blößen zu geben, noch Zweifel und Streitigkeiten zu veranlaßen; discret zu werden, um nicht mit dem verworfnen Irrthum die Wahrheit zugleich zu verwerfen, oder mit dem, was man zugeben kan, auch das Falsche zu billigen, und dem Gegner Gelegenheit zu geben, in jenem Fall die verworfne|b292| Wahrheit in Schutz zu nehmen, und den |a556| Streit von der wahren Frage abzulenken, und in diesem Fall den zugelaßnen Irrthum gegen uns zu brauchen. Kurz, es giebt keine Art von Uebungen, wobey man so sehr könnte den Verstand schärfen, sich zur Präcision in Gedanken und Ausdrücken gewöhnen, recht nüchterne und geläuterte Untersuchungen anstellen lernen, als die Polemik, wenn sie recht eingerichtet wird.
Anm.
1. Dieser Vortheil, den man aus ihr schöpfen
kan, scheint der allerbeträchtlichste zu seyn, so wie schon oben gesagt ist, daß die Hauptsache
bey dem Studieren darin bestehe, nicht sowohl immer mehr Kenntnisse zu erlangen, als vielmehr guten Lehrern und Schriftstellern die rechte Art abzulernen, wie man sie behandeln soll. Denn alle uns je vorkommende streitige Fragen in der Religion, und alle Einwürfe dagegen, können doch nicht darin abgehandelt werden, da die Möglichkeit der Entdeckungen ins Unendliche geht; also wird keine Polemik je für alle Zweifel
zureichen, aber wenn sie unsern Verstand bildet, macht sie uns zu allen Religionsuntersuchungen geschickt.
Anm.
2. Schon um dieses
angegebnen Nutzens
willen sollte sie für einen Studierenden unschätzbar
seyn, und in der Versäumung dieser Uebungen scheint eine
Hauptursach zu liegen, warum seichte Kenntnisse,
dreuste und oberflächige Urtheile über streitige Wahrheiten so gewöhnlich sind, Festigkeit der
|c251| Ueberzeugung hingegen so selten ist, und die Seele sich von jedem scheinbaren Geschwätz so leicht
|b293| hinreissen läßt. – Auch wird man finden, daß viele Untersuchungen und Bestimmungen in der Dogmatik eher nicht recht verstanden, noch weniger geschätzt werden, bis man erst in der Po
|a557|lemik sieht, warum etwas behauptet oder so bestimmt
wurde. – Da es auch viel leichter ist,
Andrer vorgefundne Gedanken zu beurtheilen, als selbst zu erfinden, so wie Fehler zu entdecken leichter, als es selbst besser zu machen: so würde
bey eignen Uebungen viel rathsamer seyn, wenn wir nur erst die nothwendigsten Kenntnisse von einer Sache erlangt haben, und ein Geschickterer uns die Streitfrage recht bestimmt vorlegte, sich in Prüfung der Einwürfe dagegen zu üben, als selbst dogmatische Ausarbeitungen vorzunehmen.
196.
Bey so großen Vortheilen, die dieses Studium gewährt, müßte es beynahe unbegreiflich seyn, wie Viele so verächtlich davon urtheilen oder es widerrathen könnten. Daß seichte und flüchtige Köpfe, welche Anstrengung, Mühe und bedächtige Untersuchungen scheuen, daß Leute, die gegen Wahrheit sehr gleichgültig sind, oder mehr überreden als überzeugen wollen, oder bey Ueberraschung Andrer mit scheinbaren Gedanken ihre Rechnung finden, daß diese also dagegen eingenommen sind, ist nicht zu verwundern. Aber bey Verständigern und Gewissenhaftern rührten diese verächtlichen Urtheile ohne Zweifel von der Wahrnehmung her, daß gewöhnlich die Polemik voll |b294| unnützer und über die Gebühr wichtig gemachter Untersuchungen, und daß sie von jeher ein Schauplatz der bösartigsten Zänkereyen und Leidenschaften gewesen sey. Je lebhafter man |a558| sich die Verletzung der Billigkeit und des Friedens, den Verfolgungsgeist, die Verabsäumung des praktischen Christenthums und andre Uebel denkt; je mehr Aufklärung sich ausbreitet, dadurch Mißverstand gehoben, und |c252| der Werth eines Lehrsatzes richtiger gewürdigt; je mehr das äusserliche Interesse verändert wird, welches gewissen Untersuchungen eine Wichtigkeit gab, die sie ihrer Natur nach nicht hatten; je gemeiner Liebe zur Duldung der anders Denkenden, zum Theil auch Gleichgültigkeit gegen das nicht unmittelbar Nützliche, wird: je natürlicher ist diese Abneigung. Je mehr ist hinwieder auch zu besorgen, daß man sich durch den Geschmack seiner Zeit, und durch das zu lebhafte Gefühl gewisser Uebel, zu sehr in seinem Urtheil leiten laße, und nicht genug auf seiner Hut sey gegen die Versuchung, ungerecht zu werden.
197.
Denn alle diese Uebel beweisen doch nur, daß die Polemik, gleich der
verdorbnen Justizpflege, müsse gebessert, nicht daß sie müsse ganz weggeworfen werden. Untersuchungen müssen doch seyn, und dazu gehört, daß man eine
Partey wie die
andre höre, und mit aller Weisheit, Vorsichtigkeit und Billigkeit richte. Wenn dieses Verhör auf die Art geschieht, wie §.
191 , 159 f.
und
|b295| 169 Anm.
angegeben wurde, und wenn man in der Polemik wie in der Dogmatik untersucht, um Wahrheit, nicht um Nahrung der Leidenschaft, zu finden: so
|a559| fallen alle jene Uebel weg, welche die Polemik mit Recht in einen üblen Ruf
brachten, und sie wird
alsdann ein sehr heilsames Mittel, wahren
Frieden, ohne Nachtheil der
Wahrheit, zu befördern.
198.
Wenn man das zusammennimmt, was bisher von der rechten Einrichtung dieser Art der Theologie, von dem Nutzen derselben, von den gewöhnlichen Fehlern bey Führung theologischer Streitigkeiten, und bey dem Vortrag derselben in einer besondern Wissenschaft, gesagt worden ist: so kan man |c253| von selbst leicht erkennen, wie sie müsse studieret, und worauf eigentlich Acht gegeben werden, um den versprochnen Nutzen daraus zu ziehn. – Uebrigens ist die Methode, die Polemik nach der Ordnung der Lehren vorzutragen, überhaupt weit nützlicher, als die Ordnung nach verschiednen Religionsparteyen. Der Hauptzweck müßte doch bey polemischen Untersuchungen 1) immer seyn, Wahrheit und Irrthum oder Schein unterscheiden, und sich überzeugen zu lernen, was für und wider jeden verschiednen Lehrsatz oder Vorstellung einer Lehre gesagt werden könne, und mit welchem Grunde. Dies kan aber am besten geschehen, wenn wir bey Untersuchung der Lehren in der Dogmatik gleich |b296| auch das Gegentheil mit, wenigstens gleich in der Polemik dasselbe in Beziehung auf jene Lehren untersuchen. 2) Man lernt auch nach die|a560|ser Methode bey jeder Lehre sogleich die verschiednen Meinungen darüber mit Einem Mahle, und braucht sie nicht erst zerstreut unter den verschiednen Parteyen aufzusuchen; und eben dadurch wird 3) verhütet, daß man nicht die nehmlichen Gründe, und meistens eben dieselben Antworten, bey Prüfung einer Partey zu wiederholen braucht, wenn man sie schon bey einer andern erwogen hat, welches unnöthige Weitläuftigkeiten erspart. Auch werden 4) bey Untersuchung der Meinungen einer Partey nur solche Puncte erörtert, die zwischen Parteyen streitig sind, und diese sind nicht gerade der Sache nach die wichtigsten, als welche letztre oft gar nicht einmal Unterscheidungslehren ganzer Parteyen ausmachen; sehr oft enthalten gewisse Privatmeinungen viel wichtigere Aufschlüsse, und Gründe einzelner gelehrten Theologen sind oft viel ausgesuchter und geschärfter, als die, so in öffentlichen Bekenntnißbüchern gebraucht sind. So nähret auch 5) die Abhandlung der Streitigkeiten nach Parteyen mehr den Sectenhaß, erschwert die |c254| unparteyischere Untersuchung, und nöthigt den Untersucher 6) viele ganz unnütze Untersuchungen beyzubehalten, an deren Statt viel erheblichere, und unsern Zeitbedürfnissen gemäßere, könnten aufgenommen werden.
Anm.
1. Zwar fällt
bey der Abhandlung nach den
Parteyen der Zusammenhang eines Irrthums mit
|b297| dem andern besser in die Augen; aber dieser kleine Vortheil ist für den Verlust der in dem §. angeführten Vortheile der andern Me
|a561|thode ein zu geringer Ersatz; und den Abgang dieses Vortheils
kan eine
a√ Geschichte der
Religionsparteyen hinlänglich ersetzen, wenn darin der
innre Zusammenhang
der Lehrsätze dieser
Partey wohl vorgelegt wird.
Anm.
2. Es
kan seinen guten Nutzen haben, wenn man auch die Lehrsätze einer besondern
Partey besonders untersucht, in dem Fall, wenn
äusserliche Verhältnisse,
z. B.
mit der römischen Kirche, oder die Zeitumstände, wo gewisse Arten von Irrthümern vornehmlich im
Gang sind, dergleichen
besondre Untersuchung
nöthig machen,
z. B.
die Streitigkeiten mit den
Deisten. – Vorzüglich nützlich würde es seyn, gerade diejenigen Streitigkeiten recht gründlich zu untersuchen, die
unsrer Zeit eigen sind, weil dieses
unsre Bedürfnisse
am meisten erfordern. Ein, wiewohl in
vielerley Absicht sehr
unvollkommner, Versuch davon, ist das
Lehrbuch für die neueste Polemik, Halle
1782
in gr.
8.
c√
199.
Die
christl. Moral, oder der zusammenhängende Unterricht, den uns das Christenthum über die Einrichtung unsers
freyen Verhaltens nach Gottes Willen, giebt,
kan nicht bloß auf dasjenige eingeschränkt werden, was die
heil. Schrift davon enthält, sondern muß auch
alles mit in sich fassen, was uns die Betrachtung der Natur darüber lehrt, zumal da die
heil. Schrift diesen Theil
|b298| des
|c255| Christenthums nicht so ausführlich vorgetragen hat, als theoretische
Lehren (
S.
§.
185 und
156. ) Ihr Unterschied von der
philosophischen Moral besteht daher nicht darin, daß diese, na
|a562|türlich bekannte, und die christliche, geoffenbarte Pflichten enthält – denn der letztern sind nur sehr wenige, die
nemlich, welche aus den dem Christenthum eingethümlichen Lehren
fließen – sondern darin, daß die christliche auch noch solche Gesinnungen und Pflichten empfiehlt, die nicht aus der
bloßen Natur erkennbar sind, und die natürlichen Pflichten durch neue, aus den eigentlichsten Christenthum
hergenommne, Bewegungsgründe unterstützt. Da es aber
bey der wahren Gottseligkeit, welche die christliche Moral lehren und empfehlen soll, nicht sowohl auf Handlungen als auf Gesinnungen ankommt, die sich nur durch gute Handlungen
äussern, und das Christenthum, als eine Religion betrachtet,
alles auf unser Verhältniß gegen Gott zurückführt: so muß die christliche Moral
theils sowohl und vorzüglich auf
Beförderung einer guten Gesinnung, als der Ausübung
einzelner Pflichten arbeiten,
theils beydes beständig
, wenigstens mit auf
Gott zurückführen.
Hienach schließt der Name einer
Sittenlehre der heil. Schrift weniger in sich, als der Name der
christlichen Sittenlehre. – Den Theil der
Letztern, der sich mit dem Unterricht zur Hervorbringung guter Gesinnungen beschäftigt, nennen einige die Ethicam, und den, der
einzelne Pflichten vorträgt, die Jurisprudentiam divinam. – Da das Christen
|b299|thum
die Natur des Menschen nicht aufhebt, sondern nur verbessert, so dürfen die ihm eigenthümlichen Gesinnungen und Pflichten nie von den natürlichen getrennt werden; welche Trennung Gelegenheit gegeben hat, gemeinnützige Tugenden und Pflichten über Handlungen der
bloßen Andacht zu ver
|a563|ges
|c256|sen, oder jene für
unwichtiger, als diese anzusehen, oder die wahre Frömmigkeit in
Schwärmerey zu verwandeln, wie unter andern das
Beyspiel der
Mönchs-Moral beweiset.
200.
Wenn die christliche Sittenlehre ihre Absicht erfüllen soll: so muß sie dreyerley leisten. Sie muß 1) alles, was zur wahren Gottseligkeit gehört, und den ganzen Umfang der Pflichten eines Christen vorstellen; sie muß wenigstens – da ihr Umfang ins Unendliche geht, und jede neu erlangte Kenntniß, jede neue Art von Umständen, in die wir kommen, uns neue Pflichten auflegt – so allgemeine und in vorkommenden Fällen anwendbare Grundsätze vorlegen, daß wir daraus, indem wir sie mit unsern Umständen vergleichen, unser rechtmäßiges Verhalten in einzelnen Fällen bestimmen können. Um diese Pflicht in ihrem ganzen Umfang vorzustellen, müssen nicht nur – die gesammten Pflichten selbst angegeben – es muß auch bestimmt werden, wie weit sie reichen, um sie nicht zu weit auszudehnen, und Pflichten zu fordern, die dergleichen nicht sind, oder sie zu sehr einzuschränken, und |b300| Pflichten auszuschließen, die darin mit begriffen seyn sollten; – es muß selbst die Collision der Pflichten nicht übersehen, und, durch Zusammenhaltung derselben, gezeigt werden, wie weit eine durch die andre eingeschränkt werde, oder die eine in vorkommenden Fällen der andern weichen |a564| müsse. Man sieht leicht ein, wie nöthig hier deutliche und bestimmte Begriffe sind, und wie wenig es zureiche, nur überhaupt zu wissen, was man zu thun oder zu laßen habe.
Die Lehre von der Demuth und Bescheidenheit, welche gleich weit von Niederträchtigkeit und Stolz entfernt bleiben soll; von dem Vertrauen
|c257| auf Gott, das nicht in Unthätigkeit oder Versuchung Gottes ausarten muß; vom Diebstahl, der auch das Verfertigen schlechter Arbeit, den Andern zugefügten aber
verschwiegnen Schaden, unüberlegtes Schuldenmachen und
unterlaßne Bezahlung derselben, und noch viele
andre wenig erkannte
Sünden, in sich schließt; die Lehre von der Aufrichtigkeit und Verschweigung seiner Kenntnisse, Ueberzeugungen und Gesinnungen; die Pflicht,
bessere Einsicht in der Religion auszubreiten, oder
vor sich zu behalten, und die
dabey nöthige, selbst auf Menschenliebe gegründete
Weisheit, u. a.
können hier zum Beyspiel dienen.
201.
Nächstdem
müßte die christliche Moral 2) überall
dazu eingerichtet seyn, uns würklich gottselig zu machen, d. i.
es müßte uns alles so
|b301| einleuchtend, so dringend, so überwiegend angenehm
gemacht werden, daß
bey uns – wahrhafte
Ueberzeugung: so müssen wir
c√ seyn und handeln
c√, wenn es uns wohl gehen
soll – wahrhafte Neigung, so zu werden und zu
verfahren – und zwar überwiegende Neigung dazu, entstehen
könnte, die in wirkliche That
überginge. Dieses
kan geschehen durch deutliche und lebhafte Dar
|a565|stellung –
zuerst der wahren
Tugend oder Gottseligkeit,
theils als einer Sache, ohne die man unmöglich glücklich seyn,
bey der man hingegen auf die seligsten Folgen rechnen könne,
theils als eines Ganzen,
d. i.
als einer durchgängigen Lust an
allem, was Gottes Willen gemäß ist, und eines durchgängigen Mißfallens am Gegentheil, verbunden mit einem beständigen, immer wieder erneuerten, Bestreben, durchaus nach Gottes Willen zu handeln;
hernach – aller
einzelnen Pflichten im Zusammenhang,
d. i.
als solcher, die Gott
ohnfehlbar von uns fordert, und die sowohl nothwendige Folgen von den anerkannten Pflichten, als neue
|c258| Quellen der seligsten Folgen sind, die aus ihrer Ausübung entspringen. Die Vorlegung der wohlthätigen Absichten, die Gott
bey allen seinen Gesetzen und Anstalten hat, können uns nicht nur willig machen zu Gesinnungen und Handlungen, die seinen Absichten entsprechen; sie können uns auch Aufschlüsse geben über die Verbindung einer Pflicht mit der andern, und über unsre rechte Wahl, wenn diese Pflichten mit einander in Collision kommen sollten.
|b302| c√ Hieraus erhellet, wie höchst nützlich es sey, das, was zur christlichen Moral gehört, ja im Zusammenhange zu studieren, und sich nicht mit guten Maximen und Sentenzen zu behelfen.
202.
Weil aber Ueberzeugung von einer Pflicht, Ueberzeugung von ihrer Möglichkeit voraussetzt, |a566| und weder Willigkeit, etwas zu werden oder zu thun, noch viel weniger That entstehen kan, wenn man nicht einsieht, wie man es anzugreifen habe, um so zu werden oder zu handeln: so muß sich die christliche Moral nicht bloß auf Vorlegung und Einschärfung guter Gesinnungen und Pflichten einschränken, sondern auch 3) die Art zeigen, wie wir jene erlangen, erhalten und verstärken, und diese ausüben, wodurch wir uns dieses erleichtern, und die Hindernisse desselben aus den Weg räumen, oder doch vermindern können.
203.
Ob dieses Studium der christlichen Moral nützlich sey? – dies sollte bey vernünftigen Menschen und Christen eigentlich gar nicht einmal bezweifelt werden, weil es eben so viel ist, als wenn jemand noch fragen wollte: ob der Mensch seine Pflicht thun, und immer recht handeln müsse, oder nicht? ob er nach Glückseligkeit streben müsse, oder nicht? |c259| ob er glücklich werden könne ohne die Mittel, die er dazu in Händen hat, und ohne seine Kräfte zu gebrauchen? ob die deutliche und leben|b303|dige Kenntniß und Ueberzeugung von seinen Pflichten und ihrer Quelle, einer guten Gesinnung, von den seligen Folgen derselben, und von der besten Art, sie zu erlangen oder auszuüben, diesen fleißigen Gebrauch jener Mittel befördre, oder hindre? Und doch haben viele, auch sehr verständige redliche Christen, wirklich dieses Studium nicht nur für entbehrlich, sondern selbst für schädlich gehalten, und sind c√ in ihren Vorurtheilen dagegen |a567| durch übertriebne Lobsprüche auf diese Wissenschaft verstärkt worden. Beyderley ausschweifende Vorurtheile rühren von unrichtigen, unvollständigen oder überspannten Begriffen her, die man sich von dem Umfang und von dem Zweck der Moral, von ihrem mehrern oder mindern Einfluß auf denselben, und von dem Werth andrer Mittel zur Glückseligkeit der Menschen macht, und diese Vorurtheile fallen weg, wenn man alle diese Begriffe berichtigt. Schon die ganze Absicht und Natur dieser Wissenschaft zeigt, daß es, nächst der christlichen Glaubenslehre, keine Wissenschaft gebe, deren Werth und unmittelbarer Einfluß in die Glückseligkeit des Menschen mit ihrem verglichen werden könne.
c√ Durch
meinen Versuch: Ueber den Werth der Moral, der Tugend und der späten Besserung,
zweyte Ausgabe, Halle
1782
in Octav, hoffe ich mir den weitern Commentar über diese Sache, wie über die nächst vorhergehenden §§. erspart zu haben.
c√
|b304| 204.
Wie diese edle Wissenschaft mit
wahren Nutzen
studieret werden könne, läßt sich aus dem leicht folgern, was bis
|c260|her §.
200 –202 über die Erfordernisse
bey dieser Wissenschaft, ausführlicher im gedachten Buche, auch oben §.
188 gesagt worden ist. Aber nirgends ist auch das für Annehmung alles Guten
offne und willige Herz so unentbehrlich als hier. – Um die rechte Behandlung der christlichen Moral nach der
|a568| heil.
Schrift und der Vernunft
zu lernen, möchten die obigen Anmerkungen §.
145 f.
und
156 f.
sehr dienlich seyn.
c√ Die besten allgemeinern Schriften, welche die christliche Moral enthalten, sind in der
Anweisung zur theologischen
Bücherkenntniß §. 272
f.
angezeigt. Seitdem man angefangen hat, mehr die Natur der menschlichen Seele zu studieren, und darauf sowohl, als auf die genauer untersuchte Natur der Sittlichkeit überhaupt, die Moral zu gründen, haben wir sehr schätzbare Versuche über die Moral überhaupt erhalten, die keinem,
wer die christliche Moral recht studieren will, gleichgültig seyn
müssen, unter welchen die
philosophischen Bemerkungen und Abhandlungen zu Cicero's Bücher von den Pflichten, von C. Garve , Breslau 1783,
in drey Bänden groß Octav, vorzüglich bemerkt zu werden verdienen.
c√
|c262| 205.
Noch könnte man als Theile der christlichen Moral das ansehen, was
manche unter dem Na
|b305|men der
Casuistik, Ascetik und
Mystik begreifen. – Unter dem Namen der
Casuistik, oder casuistischen Theologie,
könnte man
sich eine
Anweisung denken, wie die göttlichen Gesetze auf vorkommende
einzelne Fälle mit
Vorsichtigkeit müßten angewendet werden. Weil aber diese weise Anwendung stets in Rücksicht auf die ins Unendliche
verschiedne Umstände
bey einzelnen Fällen geschehen muß, so sind der dahin gehörigen allgemeinen Regeln nur so wenige, und sie sind so allgemein, daß sie
bey der wirklichen Anwendung
|a569| viel zu unzureichend sind. Und dieses
wenige,
z. B.
über die Collision der Pflichten,
kan ja in der Moral eben sowohl mit vorgetragen werden, ohne daß man nöthig hat, eine besondere Wissenschaft daraus zu machen. Der beste Unterricht in einer solchen vorsichtigen
Anwendung liegt in recht deutlichen und bestimmten Begriffen von unsern Pflichten, in genauer Aufsuchung der Absichten Gottes
bey besondern Gesetzen
c√, und in genau bestimmten Gründen, die uns
wozu verpflichten, wozu hernach eine reifliche
Erwegung der jedesmaligen Umstände kommen muß. Die fleißige Uebung in praktischer Beobachtung und Beurtheilung
a√ nach gedachten Begriffen, Absichten und Gründen; das Studium der moralischen Natur des Menschen und der Geschichte,
a√ und die sorgfältige Aufmerksamkeit auf
(freylich nicht häufige)
Beyspiele von weisen Entscheidungen solcher
einzelnen Fälle, helfen hier weit mehr, als das ängstliche Studium allgemeiner Regeln. Die meisten casuistischen Schriftsteller sprechen mehr
|b306| nach Herkommen, menschlichem Ansehen und Gutdünken, als nach ge
|c263|dachten richtigen Grundsätzen und
Beobachtungen, verlieren sich auch zum Theil so sehr in bloß
abstrakten Speculationen, daß ihre Versuche, der Moral und brauchbaren Entscheidung
einzelner Fälle danach, mehr schädlich als nützlich
worden sind.
206.
Ascetik c√, als ein Theil der Moral genommen, wird 1) bisweilen in weiterm Verstande
|a570| von der Anweisung verstanden,
tugendhaft zu werden, und sich so zu beweisen. So fern die Moral überhaupt auch von den Mitteln zur
Tugend handelt, und
bey den
einzelnen Pflichten die beste Art zeigt, wie sie ausgeübt werden müssen (§.
202 ), macht sie eine
besondre Wissenschaft dieser Art entbehrlich. Es ist auch nicht rathsam, sie von der Moral zu trennen, weil gegründete und nicht willkürliche Regeln oder Rathschläge auf deutlichen und bestimmten Begriffen von der wahren Gottseligkeit und unsern Pflichten beruhen müssen. Gründet man sie darauf nicht – und das scheinen die zu thun, welche Ascetik noch von Moral unterscheiden: – so können ascetische Schriften viel Gutes enthalten, das aber nicht immer allgemein wahr und nützlich
ist; sie legen auch gemeiniglich auf zufällige Dinge zu
großen Werth
a√, und
mischen so manches Willkürliche und Irrige mit
ein, daß man sich nicht sicher
auf sie verlaßen kan, ja oft,
bey der besten Meinung, zu Ausschweifungen ver
|b307|leitet wird. – Bisweilen aber unterscheidet man auch
moralische und
ascetische Schriften 2) nachdem sie mehr auf Erkenntniß der
Tugend und
unsrer Pflichten, oder mehr auf das Herz und zur Beförderung des Eindrucks jener Erkenntniß arbeiten. –
Beydes sollte nicht getrennt werden, obgleich das Eine zunächst mehr der Zweck des Un
|c264|terrichts seyn könnte, als das
Andre. – Manchmal nennt man auch
3) moralische
Schriften, die, welche mehr durch deutliche Begriffe und Bewegungsgründe, und ascetische, die mehr durch sinnliche Vorstellungen die
|a571| Gottseligkeit lehren und empfehlen sollen.
Beyderley Vortrag
kan nach Beschaffenheit der Umstände nützlich seyn (§.
175 –177 ), und müßte billig, so weit es möglich ist, verbunden werden; nur müßte man auch
bey jedem das nicht aus der Acht
laßen, was oben (§.
174 ) gesagt worden ist. – Wollte man
aber 4)
Ascetik eine Anweisung zu
einen Vortrag von der letztern Art
nennen: so würde Ascetik von der
Anweisung zum populären Vortrag nicht verschieden seyn.
207.
Bey den schwankenden Begriffen, die man mit dem Wort
Mystik oder
mystische Theologie verknüpft, scheint es doch, wenn man auf den Gebrauch Acht giebt, den man von diesem Namen macht, und nach diesem einen bestimmten
Begriff sucht, daß sich diese
verschiedne Begriffe auf
drey zurückführen
laßen. 1) Eine
Anwei|b308|sung, Gott ähnlich zu werden.
Alsdann ist sie, wenn es nur von einer sittlichen, nicht physischen, Aehnlichkeit verstanden wird, von der Moral eigentlich nicht verschieden,
ausser daß man in dieser letztern auch vieles, was recht ist, ohne Beziehung auf
Gott betrachten
kan, und daß gewisse Pflichten,
z. B.
Erhaltung unsers Lebens durch gesunde Nahrungsmittel und gute Lebensordnung, zwar immer Gottes Willen gemäß seyn müssen, aber in Gott nichts Aehnliches haben.
c√ 2) Anweisung zu Uebungen überhaupt, wo
|c265|durch man zu dieser Aehnlichkeit mit Gott gelangen
kan. Alsdenn wäre sie mit der Ascetik
|a572| im ersten Verstande (§.
206 ) einerley, und ein Theil der Moral. 3) Im eigentlichsten und engsten Verstande aber, eine Anweisung zu solchen Uebungen, wodurch man, vermittelst des unmittelbaren Einflusses Gottes, dem man sich ganz überläßt, ohne ihn durch den Gebrauch
eigner Kräfte oder
äusserlicher Hülfsmittel zu stören, zur höchst möglichsten Aehnlichkeit mit Gott, in Gesinnungen und in Seligkeit, gelangt.
Hiebey würde
dann unser Betragen zu diesem Zweck, nicht auf dem Gebrauch und Befolgung weder der Vernunft, noch der
heil.
Schrift
beruhen, wenigstens würde, was diese
beyde uns von Gottes Willen lehren, erst dem Ausspruch
unsrer innern Empfindungen unterworfen
werden; welches der nächste Weg zur
Schwärmerey ist. Da nun die Verwechselung unsrer
Phantasien mit unsern Empfindungen so leicht ist, und wir
ausser dem Gebrauch der Vernunft und der
heil.
Schrift schlechterdings kein Mittel haben,
|b309| Wahres vom Falschen, göttliche Weisheit von menschlicher Thorheit, zu unterscheiden: so mag immerhin die Mystik, oder was man durch ihre Anweisung lernt, viel Schätzbares enthalten, welches, nach der Vernunft und Schrift geprüft, und danach geläutert, uns wenigstens manches Gute eindrücklicher machen
kan, aber trüglich bleibt sie
vor sich immer, und verdient ohnehin, da sie nicht auf deutlichen Begriffen beruht,
c√ den Namen einer Wissenschaft
nicht.
c√ S.
noch die
Anweisung zur Kenntniß der theologischen
Bücher §. 280
f.
c√
|a573| |c266| 208.
Ehe man zur systematischen Theologie schreitet, ist es zur deutlichen Ueberzeugung nothwendig, vorher eine feste Ueberzeugung von den Sätzen zu haben, worauf das göttliche
Ansehn der heiligen Schrift und der darin
enthaltnen Lehre sowohl, als der Glaubwürdigkeit ihrer Geschichte beruht, ohne welche Ueberzeugung die aus der
heil.
Schrift
gezogne Sätze nicht
können als sicher angenommen und aufgeklärt werden
c√. Diese vorläufig nothwendigen Sätze müssen also nicht erst aus der
heil.
Schrift, sondern schon
anderwärtsher bekannt und erweislich
seyn; und dahin gehört 1)
alles, was uns von Gott, seinen Eigenschaften, und dem daraus
fließenden Verhältniß zwischen ihm und
uns aus der Natur bekannt seyn
kan. 2)
Alles was die Geschichte der Bibel selbst, und der darin
vorgetragnen Lehre angeht, deren gött
|b310|liches
Ansehn mit deutlicher Ueberzeugung erkannt werden soll; folglich sowohl die Geschichte der biblischen Bücher, wenigstens der ganzen Sammlung, die wir unter dem Namen der
heil.
Schrift für eine Quelle der göttlichen Wahrheit
ansehn, als auch die Geschichte der darin stufenweise bekannt gemachten göttlichen Offenbarungen. Und da diese
letztre meistens und allein recht
zuverläßig aus der Bibel selbst geschöpft, das göttliche
Ansehn dieser Nachrichten aber nicht schon vorausgesetzt werden
kan: so ist nicht nur eine Kenntniß der Regeln nöthig, wonach die Glaubwürdigkeit dieser Nachrichten
kan erwiesen werden, sondern wir bedürfen auch historischer Kenntnisse,
wonach sich darthun
laße, daß die in den biblischen Büchern
vorkommende Nachrichten von den göttlichen Lehren und ihrer Geschichte, alle Kennzeichen der Glaubwürdigkeit haben.
|a574| |c267| 209.
Jene natürlichen Kenntnisse von Gott sind zwar in der natürlichen Theologie
a√ enthalten, und die andern vorläufigen historischen Kenntnisse von der Bibel und von ihrer
Geschichte findet man in den Büchern, welche die Kritik der heiligen Schrift, oder eine Einleitung in das alte und neue Testament liefern (§.
25. 34 und
51 ); auch pflegt man die nothwendigsten
hieher gehörigen Kenntnisse vorläufig
bey Abhandlung der dogmatischen Theologie vorzutragen.
– Allein in der natürlichen Theologie nimmt man nicht immer Rücksicht
|b311| auf die Möglichkeit und die Kennzeichen einer nähern göttlichen Offenbarung; es
laßen sich auch von vorne her zwar wohl Merkmale angeben, woran eine fälschlich
vorgegebne Offenbarung erkannt werden
kan, aber keine
unleugbare Kennzeichen, woran eine wirklich wahre Offenbarung zu erkennen
wäre.
Ueberdies kan man diese,
jedem Menschen
nothwendige, Kenntnisse von
Gott nicht gemeinnützig und anschaulich genug machen, um lebhafte Eindrücke davon zu
befördern, und daher sind Betrachtungen über die sichtbare Natur, und die in ihr
unleugbar herrschende Ordnung und Absichten sehr nöthig
a√, die unmöglich so in der Kürze vorgelegt werden können, sondern vielmehr ein
besondres Studium erfordern.
– In den sogenannten Einleitungen in die
heil.
Schrift oder zur biblischen Kritik, sind entweder, nach ihrer eingeschränkten Absicht, nur die historischen Kenntnisse vorgetragen, ohne eine nähere Anwendung auf das göttliche Ansehen, oder auch nur
|a575| auf die Glaubwürdigkeit der biblischen Bücher zu machen, oder daraus den Beweis für dieselbe deutlich zu führen; oder dieser Beweis ist mit so weniger Genauigkeit und Discretion geführt, daß man darauf keine
sichere Ueberzeugung gründen
kan.
– Endlich, wenn man
|c268| auch den Beweis des göttlichen Ansehens dieser Bücher wohl entbehren
könnte: so ist es doch sehr nöthig, die Vorurtheile wegzuräumen, und die allgemeinen Zweifel zu heben, die man mit
großem Schein gegen die biblischen Bücher oder deren Inhalt machen
kan, als welche weit mehr die wahre Ueber
|b312|zeugung von ihrem
großen Werth hindern, als der Mangel eines Beweises von ihrem göttlichen Ursprung. Denn jene hindern selbst die Aufmerksamkeit auf diese Bücher und deren Gebrauch; ist man aber erst so weit gebracht, daß man sie nur mit
unbefangnem Gemüth lieset, betrachtet, und die Probe davon macht, was für selige Folgen aus der Beobachtung ihrer Lehren
entstehn: so rechtfertigt sich
nachher ihr göttlicher Werth von selbst.
– Aus allen diesen Ursachen sind
besondere Vorlesungen über die Wahrheit und den Werth der Religion und des Christenthums überhaupt, oder das Studium dahin abzielender Bücher sehr zu
empfehlen; zumahl wenn die Umstände der Zeit dergleichen Untersuchungen noch weit nothwendiger machen als
andre über
besondre angebliche Lehren des Christenthums.
c√ Die vornehmsten sind in der
Anweisung etc.
§. 178 bis
197 angeführt.
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