|a695| |b120| |c107| Zweyter Abschnitt.
Pastoraltheologie und Kirchenrecht.
68.
Die Absicht, wozu man unter uns besondre Religionslehrer bestellt, ist keinesweges, daß sie bloß in der Religion unterrichten, und öffentlich lehren sollen. Man weiset denen, die nicht solche Lehrer selbst bilden oder regieren, oder die sich nicht nur auf Unterricht und Erziehung der Jugend einschränken sollen, also den eigentlichen sogenannten Geistlichen und Pastoren, besondre Gemeinen an, die sie, in Absicht auf alles, was zum Gottesdienst und zu dem nach den Vorschriften der Religion einzurichtenden Verhalten, gehört, regieren, also dahin arbeiten sollen, daß sie denenjenigen, welche ihnen in dieser Absicht anvertraut sind, nicht nur die Religion bekannt machen, und dringend empfehlen, sondern ihnen auch bey allen solchen Angelegenheiten zu Hülfe kommen, und die Ausübung jener Vorschriften befördern. Sie sollen keine bloße Prädicanten, sie sollen auch, wenn man sie so nennen darf, Vormünder, Erzieher, Rath|a696|geber und Aufseher ihrer Anvertrauten in allen solchen geistlichen Angelegenheiten seyn.
|b121| |c108| 69.
Ohne dieses würde auch der Zweck, den man bey Einführung eines besondern Standes, zur Aufrechterhaltung und Beförderung der Religion gehabt hat, nicht hinlänglich, es würde selbst nicht einmal der Zweck des Predigens, erreicht werden. – Der Mensch vergißt nur gar zu leicht, seine gute Erkenntniß anzuwenden, und dann ist sie für ihn unnütz; sie ist sogar alsdann, je ausgebreiteter sie ist, auch um so schädlicher, weil, was der Mensch nicht geflissentlich zum Guten anwendet, unvermerkt ein Werkzeug wird, seinen Eigennutz und c√ Leidenschaften noch mehr zu befriedigen, wenigstens sich zu gewöhnen, gleichgültig auch bey der besten Erkenntniß zu bleiben, und unempfindlich gegen ihre Eindrücke zu werden. Und wenn er sie auch anwenden will, so macht doch die Verlegenheit, in der er sich über die Art befindet, wie er sie bey vorkommenden Fällen anwenden soll, oder die Collision zwischen seinen verschiednen Pflichten und der Kampf zwischen seinen guten Grundsätzen und seinen Leidenschaften, daß er sie nicht wirklich anwendet, weil er sie nach Beschaffenheit der vorliegenden Umstände nicht zu wählen oder anzuwenden versteht. Wenn sich nun die wenigsten Menschen in geistigen Angelegenheiten recht gut zu benehmen wissen, zumal wenn sie durch ihre Le|a697|bensart und Beschäftigungen gewöhnt sind, weniger an unsichtbare als sichtbare Dinge zu denken, und sich mehr durch äussere Vortheile als durch Grundsätze des Gewissens |b122| leiten zu laßen; wenn sie c√ an ihre Pflicht und an die Lehren der Religion, die sie über andre Beschäftigungen oder Zerstreuungen vergessen, oft wieder müssen erinnert werden; und wenn sie bey zweifelhaften Gewissensfällen sich weder selbst helfen können, noch von ihres gleichen berathen werden: so bedürfen sie nur gar zu sehr eines besondern Füh|c109|rers, der sie gewissenhaft und mit Klugheit leite, oder zu dem sie, als zu einem, der in solchen Angelegenheiten erfahrner und gewandter ist, ihre Zuflucht nehmen können.
70.
Hiezu, und um selbst die eigentlichen Predigten ganz nach den Kenntnissen und Bedürfnissen der besondern Zuhörer einzurichten, ist
ja dem Lehrer ein näherer Umgang mit diesen nöthig, ohne welche er jene nicht
zuverläßig kan kennen lernen.
Da erst
lernt er
ihre Vorurtheile, ihre Mißverständnisse, ihre Gesinnung gegen das Gute,
ihre Leidenschaften,
die ihnen
eignen Hindernisse des Guten,
die besondern Quellen der
Unordnungen, überhaupt woran es ihnen fehle, wie ihnen am besten
beyzukommen sey, und wie er sie nach ihren besondern Umständen behandeln müsse. Er
kan auch da am besten ihre Entschuldigungen oder Gegenvorstellungen hören,
|a698| mehr mit ihnen im Ton einer freundschaftlichen Unterredung als in dem auf der
Canzel üblichen
Lehrton reden, mehr sich auf das
Besondre einlaßen, die Gemüther besser gewinnen, und sie selbst zu öffentlichen heilsamen Anstalten und Ver
|b123|besserungen
zubereiten, und williger machen.
Bey dem
größesten Theil der Menschen wirkt Ansehen und Vertrauen, das jemand
bey ihnen hat, wirken gute
Beyspiele mehr, als die bündigsten Vorstellungen und Gründe.
– Wie soll sich der Prediger jenes erwerben, wenn sein ganzes Betragen nicht eben so für ihn
spricht als seine Geschicklichkeit im Vortrage; wenn er seine Bemühungen um das Beste seiner Zuhörer auf die wenigen
Stücken einschränkt, die zum eigentlichen öffentlichen Gottesdienste bestimmt sind, und nicht eben den geflissentlichen Eifer für
|c110| ihr Wohl überall, wie auf der
Canzel, zeigt; wenn sie ihn nur als einen Mann kennen lernen, der in
feyerlichen Fällen sein Amt verrichtet, aber nicht
im nähern vertraulichen Umgange sich ihrer eben so, und noch eigentlicher,
annimmt, der
mehr der Mann der
Gemeine als aller
einzelnen Glieder ist, der nur
erbeten sie besucht, nicht um selbst nach ihren Angelegenheiten zu sehen, der durch sein
eignes Beyspiel das leidige Vorurtheil bestätigt, daß das Christenthum nur in die
Kirche und nicht ins
ganze Leben gehöre? Was
kan die beste Predigt fruchten, wenn er selbst nicht mit
freyem Gewissen reden
kan; selbst das Vorurtheil gegen sich erregt hat, daß er das nicht glaube, oder ernstlich meine, was er öffentlich sagt; wenn er durch einen
|a699| schlechten oder unvorsichtigen Wandel gute Eindrücke des Vortrags wieder zerstört, im Umgange gar nicht, oder mit Gleichgültigkeit, von Religions- und Gewissenssachen spricht, oder durch Unbesonnenheit und Mangel der Klugheit
|b124| das Vertrauen wieder verscherzt, was er sich durch Eifer für die Religion erworben hatte? Wie mächtig hingegen wird er auf seine Anvertrauten wirken, wenn durchaus sein ganzes Betragen, seine Uneigennützigkeit, sein Fleiß, seine Gutthätigkeit und
Behäglichkeit, seine Gewissenhaftigkeit, seine Klugheit, seine Ordnung, sein, auch unter dem Druck und Leiden, immer guter Muth
u. d. gl.
beweiset, daß er der Mann
ist, der er seyn
soll oder
scheinen will, der durch sen
Beyspiel zeigt, was die Kraft der Religion vermag, wenn man sich ihr von ganzem Herzen
weyht, und der eben diese Tugenden so durch sein ganzes
Beyspiel empfiehlt?
|c111| 71.
Noch sind
zwey ganz einander entgegenstehende Dinge, die jedes in seiner Art den
großen Nutzen verhindern, den ein
rechtschaffner Geistlicher für die Religion stiften könnte. –
Verachtung – und
Achtung, die auf
Anderer falschen Begriffen von Religion und von
seinem Amte beruht. – Wer überzeugt ist, daß die Religion mit keiner magischen Kraft, sondern durch
Vorstellungen, wirkt, und daß jede vermeinte Besserung oder Beruhigung, die nicht auf diese Art entsteht,
bloße Täuschung und Selbstbetrug ist:
|a700| dem muß es wehe thun, wenn auch Menschen, die keine Verächter der Religion sind, ihm in Religionssachen
blind glauben, oder seinen, besonders gottesdienstlichen, Handlungen, Gebet, Absolution, Segensprechen
u. d. gl.
oder von ihm
|b125| geweyheten Sachen, eine Kraft
beylegen, die ihnen
alles, was auf ihrer Seite nöthig wäre, erspart, oder höchstens eine sinnliche Andacht für den Augenblick erfordert; weil diese Art zu denken, falsche Religionsbegriffe, Sicherheit und
Trägheit, nährt, wahre Besserung verhindert, und, statt Gewissenhaftigkeit, Gewissenlosigkeit verursacht.
Bloßes Predigen dagegen wird wenig helfen, weil solche Einbildungen dem Menschen gar zu bequem sind, und sich
bey der
größesten unaufgeklärten
Classe der Menschen durch gewisse dunkle oder undeutliche Vorstellungen von dem
Göttlichern und
Wundervolleren, das in unmittelbaren (ohne ihre Mitwirkung erfolgenden) Wirkungen Gottes liege, empfehlen und erhalten. Aber fleißiger, erbaulicher Umgang des Predigers
kan desto mehr
thun; weil er da mehr die oft sonderbaren Ursachen ihrer Einbildungen erfahren, und diesen entgegen ar
|c112|beiten
kan; weil sie ihn da als einen Menschen gleich wie sich kennen lernen, der
keine mehrere Kraft, Menschen selig zu machen, und Unglück von ihnen abzuwenden hat, als sie, in ihrer Art, wenn sie wollen, auch erlangen können; und
vornemlich, weil er sie da immer mehr gewöhnen
kan, nur in Gottes Wort,
d. i.
nur in Betrachtung der göttlichen Wahrheit und deren Anwendung aufs gan
|a701|ze Leben, Trost zu suchen, und dieses als das alleinige und unentbehrliche Mittel zu ihrer immer
mehrern Besserung überall zu gebrauchen.
|b126| 72.
Doch zu unserer Zeit mag
Verachtung den Stand eines Geistlichen wohl mehr drücken, und das Gute, was er stiften könnte, erschweren.
Gewissermassen liegt die Ursache in der immer wachsenden, und sich weiter ausbreitenden Aufklärung und Verfeinerung der Sitten.
– Jene verursacht: daß
bloßes Ansehen der Person oder des Standes weniger wirkt
als ehedem, und man mit Recht Klarheit der Sache und Gründe verlangt, wo Ueberzeugung und Folgsamkeit entstehen soll; daß der Lehrer der Religion, wenn er
vorzüglich gehört seyn, und
Andre leiten will, auch
vorzügliche Kenntnisse, wenigstens in der Religion, und, wenn man ihm auch diese erläßt, wenigstens
vorzügliche Geschicklichkeit und Fertigkeit haben muß, Religionskenntnisse in
einzelnen Fällen nützlich zu machen; daß
man, bey der Vervielfältigung der wissenswürdigen Gegenstände, von ihm Kenntnisse und Geschicklichkeit auch in vielen andern Sachen, als bloß in der Religion, fordert.
– Die
Verfeinerung der Sitten
will selbst jetzt mehr, daß er umgänglich, gesellig, unterhaltend, ein Mann
|c113| von gutem Ton seyn soll, als sonst, wo man
c√ mit Schlecht und Recht zufrieden war, auch wohl dem Mangel guter oder feiner Lebensart nachsahe, wenn er durch
|a702| exemplarisches Betragen ersetzt wurde. Mag diese Forderung übertrieben, mag wenigstens die
allgemeine Forderung nicht bloß
anständiger, sondern auch
feiner Lebensart, ungerecht seyn: so
|b127| gehört doch Bequemung nach Sitten, die auf bloß
willkührlichen Begriffen vom Wohlstand beruhen mögen, wenn sie
nichts Sündliches fordern, und Erwerbung solcher Kenntnisse und Geschicklichkeiten, die nicht zu unserm eigentlichen Beruf gehören – falls wir
beydes, ohne Versäumung näherer und höherer Pflichten erlangen
können, – zu der
großen Pflicht,
Allen Alles zu werden, ohne die man Viele nicht für die Religion gewinnen
kan. Die andern erwähnten Folgen der Aufklärung aber sind so wünschenswürdig, und die darauf gegründeten Forderungen so gerecht, daß
jene allen Geistlichen, die mehr Christi
Ehre als ihre
eigne suchen, lieb,
diese aber, kräftige Ermunterung zu mehrerm
Fleisse, seyn, und sie wie Paulus denken
sollten Phil. 1, 18. und
Kor. 13, 7.
†)
†) „Möchte doch Gott, nach meinem Wunsch, verhüten, daß ihr nie unrecht handeltet. Mags immer geschehen, daß unser Ansehn falle! wenn ihr nur immer recht handelt, und wir dann unser Ansehen nicht brauchen geltend zu machen.“ Dies ist wenigstens der Sinn dieser Stelle.
73.
Wollte Gott, es gäbe keine
andre Ursachen dieser
Verachtung! Freylich ist ein sehr
großer|a703| Theil der Geistlichen
selbst durch ihr Verhalten, in Absicht
auf Lehre, Methode und Sitten, eben sowohl Schuld daran, als durch
|c114| ihr Eindringen in einen Stand, wozu
sie keinen innern Beruf
|b128| haben, oder sich doch nicht dessen durch gewissenhaften Fleiß und redliche unermüdete Treue immer würdiger
machen; ein Vorwurf, der eben so wahr, als
bey der Anwendung gegen
den Stand selbst höchst ungerecht ist, und, wenn er so oft geflissentlich hervorgezogen, und so unbestimmt gebraucht wird,
bey aller Protestation gegen
gehäßige Absichten, ganz
andre Ursachen verräth, als
bloßen Unmuth über
viele unwürdige Mitglieder dieses Standes. Falsche und unedle Würdigung dieses Standes nach dem geringern Verhältniß, in dem er gegen Beförderung
sichtbarer und
unmittelbarer Vortheile der bürgerlichen Gesellschaft und des Nahrungsstandes steht; Mißgunst gegen billige Entschädigung des Verlustes der Zeit, der Kräfte, und anderweitiger Arten der Erwerbungsmittel, die gehöriger Fleiß, auf Geistesbeschäftigungen gewendet, nicht erlaubt; Mißvergnügen über einen Stand, der, selbst durch Erhaltung und Empfehlung der Religion, Tugend und Gewissenhaftigkeit, der Zügellosigkeit im Denken und in den Sitten entgegen, einem gewissenlosen zeitlichen Interesse im Wege steht, und Ausbrüche des letztern, wo nicht verhindert, doch erschwert, auf diese aufmerksam, und sie verabscheuungswürdig macht; und – worauf
aller dieser Haß zuletzt
beruht, – Gleichgültigkeit oder gar Verachtung gegen Religion
|a704| und Tugend selbst, – sind unstreitig die vornehmsten Ursachen dieser
bezeigten Verachtung eines Standes, den seine Absicht und sein
unleugbar möglicher Einfluß auf die menschliche
|b129| Wohlfahrt verehrungswürdig machen sollten. Jenen Haß durch ein würdiges Verhalten, durch vorzüglichen Fleiß, Treue, Klugheit, Unsträflichkeit, Gemeinnützigkeit, selbst durch
Herablaßung zu menschlichen
|c115| Schwachheiten, und vorsichtige Bequemung zu unschuldigen Gewohnheiten, zu
entwaffnen, auch
dies machts, daß die
rechtschaffne Führung des geistlichen Amts weit mehr erfordert, als Geschicklichkeit im Vortrage, wenn man die
ganze Absicht desselben erfüllen, und den so weit reichenden Nutzen stiften will, den es wirklich stiften
kan.
c√ Alle diese wichtigen Eigenschaften sich zu erwerben, und vorbereiteter, als leider! von den meisten geschieht, dieses Amt anzutreten, wäre sehr zu wünschen, daß die Einrichtung gemacht würde, Keinem ein solches Amt anzuvertrauen, der sich nicht mehrere Jahre im Unterricht und c√ Erziehung der Kinder, so wie, unter der Aufsicht erfahrner und verständiger Führer, in den künftig nöthigen Stücken der Seelsorge, es sey in Schulen, oder allenfalls Conditionen, oder bey einer Predigerstelle, wo er bloß auf der Probe wäre, geübt hätte, und dann, nach mehr oder weniger bewährt gefundener Fähigkeit, Geschicklichkeit, Fleiß und exemplarischen Betragen, zu wichtigern oder geringern Stellen selbst befördert würde. – Es wäre auch Pflicht der Vorgesetzten, bey Prüfung junger Geistlichen, keineswegs bloß nach ihren Kenntnissen, vornemlich practischen, sondern |a705| eben so sehr danach zu forschen, ob sie Klugheit, Bedachtsam|b130|keit, Eifer sich vollkommner zu machen, wenigstens Anlage und Neigung dazu, besäßen? ob ihr bisheriges Betragen exemplarisch gewesen? ob sie Interesse für Religion gezeigt hätten? So lange diese Einrichtungen nicht gemacht sind, ist es wenigstens Pflicht jedes rechtschaffnen jungen Mannes, selbst sich darüber zu prüfen, und erst jene Gelegenheiten zu suchen, ehe er ein Predigtamt begehret. – Eben so nothwendig wäre es, fleißige Revision der wirklich schon angestellten Prediger zu halten, und, – wenn es zu hart seyn möchte, unfleißige, bloß mechanisch ihr Amt treibende, ihrem Amte, nach ihrem besten Vermögen, keine Ehre machende Geistliche, davon zu entfernen, oder in weniger erfordernde Stellen zu versetzen, –|c116| doch die Bessern verhältnißmäßig zu belohnen. So lange dies nicht geschieht, sollte sich jeder rechtschaffne Mann selbst treiben. Denn Vorgesetzte sehen selten auf sie; und die gewöhnlichen Kirchenvisitationen, wo man oft allein darauf sieht, daß die Rechnungen ordentlich gehalten sind, daß keine Klagen, die sich allenfalls wohl abwenden oder entkräften laßen, einlaufen, oder Weitläuftigkeit machen, und daß die Schul- oder Pfarrkinder gut antworten können, helfen sehr wenig zu diesem Zwecke, zumal wenn der Prediger die Zeit vorher sehen kann, wenn sie sollen gehalten werden.
74.
Etwas Näheres nun über die ganze Art zu sagen, wie sich der Prediger, als wirklicher
|b131| Seelsorger,
bey allen Theilen seines Berufs zu benehmen habe, würde hier am unrechten Orte
|a706| stehen. Das Allgemeinere, was hier Platz finden könnte, ist schon bisher
bey Gelegenheit des Vortrags und dessen Einrichtung erwähnt, und das Uebrige §.
3 und
11. – Wie erlangt man aber die Kenntnisse, die zur gewissenhaften und klugen Führung dieses Amtes nöthig sind?
75.
Manches ist zwar jeden Ortes durch Kirchenordnungen bestimmt, und es ist vor sich klar, daß, wer in einem besondern Amte angestellt ist, sie sich eben so, wie jeder gute Bürger die Landesgesetze, bekannt machen müsse. Allein sie betreffen doch eigentlich nur die Polizey der Kirche, das Aeusserliche, das man ohne Verantwortung und Ahndung der Obrigkeit nicht unterlaßen darf, nur erzwingliche Pflicht; aber nicht die viel wichtigere Pflicht, sich gerade so zu betragen, daß der heil|c117|same Zweck des Amtes, die geistige Wohlfahrt der uns Anvertrauten, aufs beste erreicht werde, und nichts geschehe, was auf irgend einige Art den Nutzen hindern könne, den der Prediger stiften kan. – Eigene nach und nach erlangte Erfahrung thut freylich auch viel, und ohne sie würde sich der Geistliche nicht selbst bilden; zumal, da er nicht alles, was er zu seinem rechtmäßigen Betragen wissen muß, durch allgemeinern Unterricht lernen kan; da die kluge Anwendung des Allgemeinern auf besondere Fäl|b132|le eigene Geschicklichkeit erfordert; da die besondern Umstände, in die er kommt, vieles erst |a707| lehren, und ihm zeigen müssen, wie er sich eben hier, nach den besondern Bedürfnissen derer, mit welchen er zu thun hat, zu verhalten habe; und da es überhaupt sehr mißlich ist, bey eignen Erfahrungen, erst durch Schaden klug zu werden, der oft sich nicht ganz wieder gut machen läßt, oder unangenehme Folgen mit sich führt, deren Eindrücke sich nicht immer ganz wieder auslöschen laßen. – Nützlicher, wenigstens nicht so Gefahrvoll, sind zwar die Belehrungen, die man von andern erfahrnern und verständigern Geistlichen einziehen kan. Allein es giebt dieser Geistlichen nicht viel, die diese Eigenschaften wirklich besitzen, und deren Erfahrungen oder Pastoralkenntnisse sich weiter, als über das Herkommen oder über das Gewöhnliche, erstrecken. Sie können uns wohl zeigen, was sie gethan haben; aber nicht, ob sie, selbst wenn es glückte, recht und wohl daran thaten? ob es im Grunde nicht mehr geschadet als genutzt habe? und, wenn auch alles dies nicht wäre, ob wir es in unsern Umständen nachahmen dürfen? Der geringste Umstand kan die Sache und die Pflicht verändern. Und wer hat in dringenden Fällen, wo man sich auf der Stelle entschließen muß, den |c118| Mann immer bey der Hand, der ihn an das Nöthige erinnerte?
76.
Indessen ist der Umgang mit solchen, die
einerley Geschäfte mit uns treiben, allerdings die
|b133| beste Schule, wo wir
dies lernen können, wenn
|a708| die Männer darnach sind, und wenn wir ihre Belehrung zu benutzen verstehen. Denn wie
kan sich der praktische Verstand und Beobachtungsgeist besser, als in den
Geschäften selbst, bilden, und, wenn man noch wenig eigene Gelegenheit dazu gehabt hat, oder sich
für Uebereilung oder Unentschlossenheit fürchtet, wie besser, als durch den Umgang mit solchen, deren Grundsätze, Erfahrungen und
Beyspiele musterhaft sind, in dem besondern Kreise
vornemlich, worinn wir auch zu handeln haben? Aber es müßten Männer seyn, die,
bey wahrer
Gewissenhaftigkeit und
thätigem Eifer für ihren Beruf,
praktischen Beobachtungsgeist und
praktische Beurtheilungskraft
besäßen, und
willig genug wären, den
Unerfahrneren auf das rechte Betragen in einzelnen vorkommenden Fällen aufmerksam und selbstthätig zu machen.
77.
Unstreitig muß der, dem man Klugheit ablernen soll, selbst die nothwendigen Eigenschaften wahrer Klugheit besitzen. Er muß 1) die Welt und das menschliche Herz wohl kennen, also fähig zu genauen Beobachtungen dieser Art, und aufmerksam darauf seyn, wie verschieden die Menschen in ihrer Denkungsart und
c√ Charakter sind, in wie
mancherley Lagen sie kommen können, welchen Eindruck die Umstände auf sie, nach ihrer besondern Gemüthsbeschaffenheit
, machen, wie sich dadurch ihre Vorstellungen und
|a709| |b134| Neigungen verändern
laßen, oder eine
andre Richtung bekommen, was für Hindernisse und was für Beförderungsmittel in diesem allen liegen, wenn man auf ihr Gemüth wirken will.
Dies giebt den Stoff zur Klugheit, der in
einzelnen Erfahrungen besteht. Aber er muß auch 2) diese
einzelnen Beobachtungen wohl benutzen, und daraus das Allgemeine, wenigstens das, was gewöhnlich geschieht oder zu erwarten ist, abziehen, um
sichre Regeln zu haben, die ihn in ähnlichen Fällen leiten können, wenn er die Menschen und die Umstände richtig beurtheilen, oder gewisse Veränderungen in ihnen hervorbringen will. Wer einen solchen Schatz von allgemeinen praktischen Regeln oder Maximen besitzt, die er aus
einzelnen Beobachtungen abgezogen, und sich dadurch von ihrer Wahrheit und Brauchbarkeit überzeugt hat, nur der verdient den Namen eines
erfahrnen Mannes. Einen Verstand, der dieses vermöchte, könnte man den
praktischen Verstand nennen. –
Beyde Stücke, ich meine: viele Beobachtungen und der praktische Verstand, müssen
bey wahrer Klugheit
zum Grunde liegen, und man wird so viel
fähiger zur
Klugheit, je mehr Gelegenheit man hat, Beobachtungen dieser Art anzustellen, je stärker
unsre Aufmerksamkeit darauf ist, und je mehr Geistesfähigkeiten man besitzt, zu vergleichen, und daraus bestimmte allgemeine praktische Regeln zu ziehen. – Kommt nun dazu die fleißige Uebung in Anwendung dieser erlangten Erfahrungen auf vorkommende Fälle, wo man selbst
handeln, und auf
|a710| |b135| Andre wirken
soll: so bildet sich nach und nach die Fertigkeit,
theils die Umstände, unter welchen man handeln, und die Menschen, die man leiten soll, so weit wenigstens,
durchzuschauen, als
|c120| man es zu seiner Absicht braucht,
theils gleich
hienach das Rathsamste und
Thulichste in
einzelnen Vorfällen zu erkennen. Jenes ist der
praktische Beobachtungsgeist, dieses die
praktische Beurtheilungskraft
(Th.
1. §. …), welche eigentlich die
Bestandtheile der Klugheit ausmachen.
Anm.
1. Klugheit ist eine so nothwendige Eigenschaft eines würdigen Geistlichen, als alle übrige Eigenschaften der Erkenntniß und des Herzens immer seyn
mögen; weil seine ganze Bestimmung es mit sich bringt, stets auf
andre Menschen zu wirken, ihnen in geistlichen Angelegenheiten zu rathen, und sie bloß durch das Mittel der Ueberzeugung zu Gesinnungen und Handlungen zu bringen, zu welchen sie gemeiniglich nur zu wenig Neigung haben; und weil auch ein Mensch vom besten Verstand und Herzen durch Unklugheit seine
eigne Absicht vereitelt, und der Beförderung des Guten oft unüberwindliche Hindernisse in den Weg legt. Man sollte daher
bey Besetzung der geistlichen Stellen eine eben so sorgfältige Prüfung der
Candidaten in Absicht auf ihre Klugheit anstellen, und nicht damit zufrieden seyn, daß sie das Ihrige gelernt hätten, und redliche oder
unbescholtne Menschen wären.
Anm.
2. Freylich kan man
bey der
großen Anzahl der Geistlichen, folglich auch ihrer so
großen Ver
|b136|schiedenheit, so wenig wie in andern Ständen, erwarten, daß die Anzahl wahrhaftig kluger Männer beträchtlich
sey;
|a711| zumal da
die Klugheit nicht vor den Jahren kommt, und nicht ohne lange Uebung entsteht, auch die ganze Beschäftigung eines Studierenden mit unsichtbaren Dingen und allgemeinen Sätzen, eben ihrer Natur nach, ihn von Aufmerksamkeit auf gegenwärtige und concrete Dinge abzieht. – Es giebt eine
allgemeine und eine
besondre Klugheit
in Absicht auf gewisse Arten von Beschäftigungen. Die letztere, die man
Amtsklugheit nennen könnte,
kan einem sehr fehlen, der sonst überhaupt gar nicht unklug ist, und sie ists
vornemlich, diese Achtsamkeit auf seinen
besondern Beruf und
|c121| auf die
Art sich
dabey gehörig zu benehmen, die von dem Geistlichen erfordert wird, ob sie gleich der nie erlangen wird, dem es an jener sehr fehlt, welche dem Geistlichen eben so nothwendig als die
Amtsklugheit ist, da er nicht bloß mit seinem
Amt zu thun, sondern auch viele
andre Pflichten auf sich hat.
78.
Diese Eigenschaften sind zur Bildung des klugen Mannes unentbehrlich; aber unzureichend, den klugen Seelsorger, und durch diesen Andere, zu eben demselben Beruf zu bilden, wenn nicht noch zwey andere Eigenschaften hinzukommen. Die erste, daß er gewissenhaft und voll thätigen Eifers für seinen Beruf sey; nicht zufrieden, sein Amt ohngefähr und im Aeussern zu thun; |b137| nicht gleichgültig gegen kleinscheinende Mängel, Fehler oder Versäumnisse; überhaupt, nicht gleichgültig gegen immer weitere Fortschritte in der Erkenntniß, in eigner Besserung, im Wohlwollen gegen Andere; sondern seinem Beruf ganz gewidmet; gleich aufmerksam und sorgfältig |a712| in Absicht auf alle Theile desselben; überall bedacht auf dessen Zweck, auf die Besserung der Menschen in ihrem ganzen Umfange; durchaus eifrig, alle Mittel zu finden, und mit Weisheit zu gebrauchen, die sie befördern können. Die zweyte, daß er willig sey, sich Andern, die er zu gleichem Zweck bilden könnte, mitzutheilen, sie auf alle in Anschlag kommende Umstände und auf das diesen angemessenste Betragen aufmerksam zu machen, sie zur Selbstthätigkeit zu ermuntern.
c√ Wenn
Candidaten frühzeitig zu
verständigen und in ihrem Beruf
eifrigen Geistlichen oder in besondere Pflanzschulen gethan würden, wo sie sich, unter gehöriger Aufsicht, in der Seelsorge üben lernten; und wenn von
|c122| Zeit zu Zeit in jeder Diöces eine Art von Synoden
zu diesem Zweck gehalten würden, wo jeder die ihm vorgekommenen Vorfälle und Angelegenheiten dieser Art vortragen, und jeder freundschaftlich seine Gedanken von dem besten Verhalten
dabey mittheilen könnte: so lernte nicht nur jeder diejenigen in seinem Bezirk kennen, welchen sich diese Klugheit am besten ablernen
ließe, sondern er würde auch auf
Vieles aufmerksam gemacht, woran er sonst schwerlich gedacht hätte, und lernte immer mehr durch An
|b138|derer Klugheit sich selbst dazu bilden. Wo keine solche Anstalten sind, oder wo man wenig Geistliche findet, die dafür Interesse oder dazu Fähigkeit haben, ist die öftere Zusammenkunft gleichgesinnter Prediger
zu diesem Zweck, das Mittel, welches niemand versäumen sollte.
⌇⌇c S.
Ueber praktische Vorbereitungsanstalten zum Predigtamt, von
Heinrich Phil. Sextroh ,
Göttingen, 1783.
8.
|a713| 79.
Kan man einen solchen lehrreichen Umgang mit bewährten Geistlichen nicht
haben: so bleibt,
ausser den andern oben (
§. 75 ) erwähnten Hülfsmitteln, nichts übrig, als das fleißige Studieren der besten Schriften, die einen Geistlichen über den ganzen Umfang seiner Pflichten und über
besondre bey seinem
Amt vorkommende Fälle, so wie von dem gewissenhaften und klugen Betragen
dabey, unterrichten; und welche auch
bey dem Gebrauch der übrigen Mittel
nothwendig sind,
theils, um sich wenigstens vorläufig mit den nothwendigsten Eigenschaften und Vorfällen
bey seinem Beruf bekannt zu machen,
theils, um das Ganze mehr übersehen zu lernen, und selbst in Absicht auf
seltenere und schwerere Fälle vorbereitet zu seyn.
Ausser den oben §.
57 Anm.
und in
der
Anweisung zur Kenntniß der besten theol. Bücher, §. 568
f.
angeführten Schriften, verdienen
|c123|
der patriotische Landprediger (von
Joh. Heinr. Reß ),
Leipzig, 1779–84.
in|b139| 4
Stücken in gr.
8;
⌇c
Ueber Predigerbeschäftigungen, und Predigerbetragen von J. L. Ewald ,
Lemgo 1783–89.
bisher in 6 Heften in gr.
8; die ⌇c
Briefe zur Bildung eines Landpredigers,
Hof 1785–90.
in 3 Bänden in 8; und
das ⌇c Repertorium über Pastoraltheologie und Casuistik für angehende Prediger, von
Christ. Wilh. Oemler ,
Jena 1786–89.
in 4 Theilen in gr.
8, in welchen man auch die besten neuesten Schriften über einzelne Be|a714|schäftigungen angezeigt findet, ⌇c vorzüglich verglichen zu werden.
c√
80.
Zur Erhaltung des einem Geistlichen so nöthigen Ansehens gehört auch die Erhaltung seiner Rechte, und, da er in seinem Beruf keines Andern Rechte, besonders in geistlichen und kirchlichen Dingen – die hier eigentlich nur in Anschlag kommen – kränken, zugleich auch die Rechte seines Standes, seines Amtes, seiner Kirche und seiner Gemeine insbesondere, aufrecht erhalten muß: so kan er eine Kenntniß dieser Rechte, ihrer Gränzen, wie weit ihre Erhaltung ihm anvertraut sey, und wie er sie handhaben und erhalten solle, nicht entbehren.
81.
Jeder Mensch hat, wie die Pflicht, so das Recht,
alles zu thun, was zu seinem Besten dient, also auch nach
|c124| Kenntniß alles dessen zu
|b140| trachten, was sein Verhältniß gegen Gott
betrift, dieser Erkenntniß gemäß zu handeln, und
alles zu thun, was jene Kenntniß und die Befolgung derselben, mit
einem Wort, was seine Religion befördern
kan. Wollte man den Inbegriff aller dieser Rechte in Absicht auf Religion des Menschen unter
Einem Namen zusammenfassen: so könnte man ihn das
geistliche oder
religiöse Recht nennen. Vereinigen sich mehrere Menschen in Eine Gesellschaft, um ihre durch die
|a715| Religion zu erhaltende,
d. i.
geistliche, Wohlfahrt besser zu
befördern: so entsteht eine
gottesdienstliche Gesellschaft, und, wie man gar wohl sagen könnte, eine
Kirche – obgleich dieser Name nur von und unter Christen gebräuchlich
ist – und tritt sie zusammen, um jene gemeinschaftliche Wohlfahrt durch die christliche Religion zu befördern, so entsteht der Begriff einer
christlichen Kirche. Die Gesetze und ihre Folgen,
d. i.
die Pflichten und Rechte einer Kirche, müßten sich auf die Natur der Sittlichkeit, der Religion, und einer Gesellschaft, die der christlichen Kirche aber, zugleich auf die Lehren des Christenthums, gründen; und niemand hätte das Recht, ihre Rechte und deren Ausübung einzuschränken, oder ihr Gesetze vorzuschreiben, als sie sich selbst. Sogar alsdann, wenn in ihr eine Verschiedenheit der Meinungen über den Umfang des Zwecks, wozu sie sich vereinigt hat, oder über das Verhältniß gewisser Mittel dazu, entsteht, behält jedes
einzelne Glied der Kirche das Recht, entweder sich mit den andern durch einen Vertrag zu
|b141| vergleichen, oder an gewissen Anstalten nicht Theil zu nehmen, oder sich von dieser Gesellschaft selbst zu trennen. Wenn sie nun einander durch irgend einen
Vortrag|c125| nachgäben, der alsdann die Kraft eines Gesetzes bekommt, oder ihre vermeinten Rechte kämen in Widerspruch mit den Rechten
andrer Personen oder Gesellschaften, deren Rechte, in Absicht auf den zweifelhaften
Punct, sie anerkenneten, oder diesen Widerspruch durch eine Uebereinkunft ausglichen: so entstünden mensch
|a716|liche Kirchengesetze und Rechte, die, sofern sie unter verglichenen Bedingungen gemeinschaftlich angenommen sind, eben so unverbrüchlich als die göttlichen Gesetze, und so lange zu halten wären, als diese Bedingungen durch die Umstände keine Veränderungen litten.
82.
Diejenigen, natürlichen oder positiven, göttlichen oder menschlichen, Gesetze, welche Religion und deren Ausübung betreffen, nebst den daraus entspringenden Rechten, so fern beyde aus Quellen fließen, die allgemein von allen Christen als Quellen anerkannt werden, machen das allgemeine (christliche) Kirchenrecht aus; die aber, welche in gedachter Rücksicht, nur ein Theil der Christen anerkennt, oder wenigstens genehm hält, das besondre Kirchenrecht, welches so verschieden ist, so viele besondre kirchliche Gesellschaften es giebt, die sich nach diesen Gesetzen als Eine gottesdienstliche Gesellschaft zusammenhalten. Eine Art dieses besondern Kirchenrechts ist das |b142| sogenannte kanonische Recht (im engern Verstande), welches auf kirchlichen Verordnungen (canonibus ecclesiasticis) beruht, die in der römischen Kirche und den mit ihr verbundenen für verbindlich gehalten werden, von welchem noch manche das päbstliche Recht (ius pontificium) unterscheiden, das nur von den Theilen der römischkatholischen Kirche anerkannt |c126| wird, die alle Verordnungen der römischen Päbste, um des an sich verbindlichen Ansehens der Päbste willen, als gesetzmäßig annehmen.
|a717| 83.
Das
deutsche protestantische Kirchenrecht ist eine
andre Art des besondern Kirchenrechts, und wird in ein
öffentliches und
Privat-Kirchenrecht getheilt. Jenes, das man auch das
deutsche Kirchen-Staatsrecht,
nemlich der Protestanten, nennt, ist allen deutschen evangelischen Kirchen gemein, und seine vornehmste Grundlage ist der
Augspurger Religionsfriede von
1555, und der
westphälische von 1648. Das
protestantische Privat-Kirchenrecht ist nach den verschiedenen evangelischen Landeskirchen sehr verschieden, und
beruhet auf den Kirchenordnungen, Recessen, Verordnungen der Landesobrigkeit, und der sogenannten wohl hergebrachten Observanz. Es setzt das öffentliche protestantische, und dieses wieder das allgemeine Kirchenrecht, als verbindlich voraus, wo es nicht durch
besondre Landesverordnungen oder Einrichtungen eine Einschränkung bekommen hat.
|b143| 84.
Warum, und wie
ferne ist das Studium dieser
Rechte, einem Lehrer der Religion
insbesondre nothwendig? – Schon deswegen, weil er seine eigenen Rechte in Absicht auf Religion, als Mensch und als Lehrer, kennen muß. Pflichten und Rechte hängen unzertrennlich zusammen. Jede Pflicht, von der
ich mich überzeugen oder die
ich ausüben soll, giebt
mir auch ein Recht,
|a718| die dazu nöthigen Mittel zu
brauchen; und wenn
ich mich gleich
meines|c127| Rechts nur bedienen
darf, nicht immer
muß: so
muß ich doch nach gewissen Gesetzen
bestimmen, ob
ich mich dessen bedienen soll oder
nicht, und nach diesen Gesetzen, die eben
meine Pflicht bestimmen,
kan ich pflichtmäßig oder pflichtwidrig handeln, wenn
ich von dem Rechte Gebrauch
mache oder nicht. Wir können also nicht einmal immer recht handeln, und
unsre Pflicht beobachten, wenn wir nicht
unsre Rechte kennen, und wissen, wo wir sie üben müssen, und wo es uns
frey steht, sie zu
veräussern, oder ihren Gebrauch zu
unterlaßen. Wie viele und
große Sünden entstehen
z. B.
aus der
unterlaßenen eignen Untersuchung in der Religion und Mittheilung
meiner mir richtiger und nützlicher scheinenden Entdeckungen darin an Andere, oder aus dem
schrankenlosen Gebrauch des Rechts zu
beyden?
85.
Eben so wenig darf ich Anderer Rechte beeinträchtigen. Dies würde ich thun, wenn ich|b144| ihnen ihre Rechte, in Absicht auf Religion, Gottesdienst, und was zu dessen Beförderung dient, absprechen, oder einschränken, oder durch den Gebrauch der meinigen sie an der Ausübung der ihrigen hindern, oder sie auch nur bereden wollte, diese, ohne ihre, selbst oft wider ihre, Ueberzeugung, zu veräusseren, und mir nachzugeben, oder sie hindern, ihre veräusserten, aber ihrer Natur nach unveräusserlichen, Rechte wieder an |a719| sich zu bringen. Noch mehr, wenn ich die Rechte Anderer, deren Untersuchung, Erhaltung und Ausübung mir anvertraut ist, vernachläßigte oder veruntreuete. – Nun sind viele solche dem Lehrer der Religion anvertrauet, vornemlich so fern er einer besondern kirchlichen Gesellschaft vorge|c128|setzt ist; und, wenn er sie auch allein weder bestimmen noch handhaben darf: so hat er doch das Recht und die Pflicht, Acht zu geben, wo sie vernachläßigt oder beeinträchtigt werden, um den Obern davon Anzeige zu thun, und Vorstellungen zu machen. Daher muß er in aller Absicht diese Rechte, wenn er nicht seine Pflichten, zum großen Schaden Anderer, vernachläßigen, oder überhaupt Anderer Rechten zu nahe treten will, sorgfältig suchen kennen zu lernen.
Beyspiele zu dem Gesagten sind: wenn der Lehrer, so fern er als ein an eine
besondre kirchliche Gesellschaft
gebundner Lehrer handelt, derselben gewisse Lehren wider ihren Willen und wider den Zweck vorträgt, wozu sie in eine besondere Gesellschaft zusammengetreten sind; wenn er eigen
|b145|mächtig, und da, wo ihm die
Gemeine, oder die,
bey welchen die Regierung derselben steht, nicht, wenigstens stillschweigend, bevollmächtigt haben, Veränderungen in der Liturgie vornimmt, oder dergleichen hindert; wenn er durch Aufopferung seiner Rechte den Rechten seiner Mitbrüder etwas vergiebt
u. d. gl.
Sehr recht und edel handelten hingegen die deutschen Fürsten
bey der Reformation im 16ten Jahrhundert, wenn sie, auf Anhalten ihrer evangelischen Unterthanen, die
unveräusserlichen Gewissensrechte derselben wieder herstellten.
|a720| 86.
Zu diesen Rechten gehören nicht nur die, welche aus der Natur des Menschen, der Gesellschaft, der Religion und des Gottesdienstes nothwendig
fließen, sondern auch die, so auf einer
willkührlichen Uebereinkunft, oder auf den Verordnungen und Veranstaltungen
dererjenigen beruhen, die das Recht hatten, das, was aus jenen Quellen nicht nothwendig floß, oder dadurch unbestimmt war, um der guten Ordnung willen, zu bestimmen,
welches hiedurch also von ih
|c129|nen, die in solchen Sachen eine gesetzgebende Befugniß hatten, auch eine gesetzmäßige, oder, durch das
unwidersprochne Herkommen, eine ähnliche
Kraft bekam. Da solche Verfügungen, die sich auf bloß menschliches Ansehen gründen, in
verschiednen gottesdienstlichen Gesellschaften sehr verschieden sind (§.
82 u. 83 ): so ist es Pflicht eines in einer solchen besondern Gesellschaft angestellten
|b146| Lehrers
, sich auch diese positiven kirchlichen Gesetze und Anstalten, und die daraus
fließenden Rechte und Pflichten bekannt zu machen, um keine zu
vernachläßigen, zu verletzen, oder sich dadurch Verantwortung zuzuziehen, um dieselben aufrecht zu erhalten, und
andern, die darüber belehrt seyn wollen, Unterricht und Rath zu
ertheilen; welches ja,
so fern solche
äussere Anstalten auch eine innerliche Verbindlichkeit, sie zu beobachten, mit sich führen, einen Theil der ihm anvertrauten Seelsorge ausmacht. Man sieht von selbst, daß, in dieser
Rücksicht, ein protestantischer Lehrer verbunden
|a721| sey, vorzüglich
sich das
protestantische allgemeinere, und, als ein Glied und Vorsteher einer besondern protestantischen Landeskirche, auch das ihn und seine gottesdienstliche Gesellschaft angehende
besondre Kirchenrecht zu studieren.
c√ Je mehrere Eingriffe in solche Rechte öfters
selbst von denen geschehen, die
Diener der Gerechtigkeit seyn sollen; je öfter diese den Grundsatz haben, daß Rechte nur für die geschrieben sind, welche darüber wachen; und je
unwiederbringlicher, einmal
verlorne oder eine Zeitlang ungebraucht
gelaßene Rechte, dahin, wenigstens schwer wieder geltend zu machen sind: desto unverantwortlicher ist es für einen Geistlichen, der sie erhalten sollte, sie aus Unwissenheit oder Unachtsamkeit zu
vernachläßigen.
– Je häufiger es
überdies geschieht, daß allgemeine und natür
|c130|liche geistliche und Kirchenrechte durch positive menschliche Verordnungen verdrängt oder eingeschränkt werden, und
|b147| je gewöhnlicher es unter Rechtsgelehrten ist, diese eher als jene zu hören, mehr nach diesen als jenen zu sprechen: desto dringlicher wird für Geistliche die Pflicht, das
allgemeine, geistliche, und Kirchenrecht gründlich zu studieren.
87.
Minder nothwendig könnte einem protestantischen Geistlichen das Studium des kanonischen Rechtes scheinen, und ist es auch für die meisten. Aber, – nicht zu gedenken, daß es zu besserer Einsicht der Kirchengeschichte dienen kan, und manche Veränderungen der Kirche ohne die Kenntniß der in ihr angenommnen Gesetze und |a722| Rechte nicht recht verständlich oder begreiflich sind; – so enthält das protestantische Kirchenrecht zum Theil noch viele Ueberbleibsel aus dem kanonischen; und die Protestanten in Deutschland haben selbst durch Verträge sich zur Beybehaltung mancher auf das kanonische Recht gegründeten Einrichtungen verstanden. Um diese zu verstehen, ist die Kenntniß des kanonischen nicht zu entbehren. – Ueber dies leben viele protestantische Geistliche an solchen Orten, wo die Römischkatholischen entweder die herrschende Kirche ausmachen, oder neben den Protestanten leben; wo sie also auf einer Seite nie die Rechte derselben kränken, noch zu Gegeneingriffen Gelegenheit geben, auf der andern aber wachen müssen, daß ihre eignen Rechte nicht durch die Ansprüche jener beeinträchtigt werden, und daß, wenn man diese letztern oder die daher entstehende Bedrückungen |b148| auf gewisse Rechte gründet, alsdann die gute Sache der Protestanten nach den von den Gegnern selbst durch Friedensschlüsse und Verträge zu|c131|gestandenen protestantischen, oder selbst nach kanonischen, Rechten vertheidigt werde. – Ueberhaupt aber ist schon die Kenntniß des kanonischen Rechts sehr nützlich zu besserer Einsicht und Beurtheilung der zwischen unsrer und der römischkatholischen Kirche obwaltenden Streitigkeiten, die größtentheils ihren Grund in dem kanonischen Rechte haben; so wie dieses manches Zeugniß der Wahrheit gegen jene Kirche enthält, und die Unschuld oder Nothwendigkeit des Abgangs der Protestanten von jener Kirche rechtfertigt. – Endlich |a723| wird die Kenntniß dieses Rechts protestantische Lehrer vorsichtig machen, aus falschen Begriffen von Toleranz oder aus Unkunde desjenigen, was die in der römischkatholischen Kirche für Recht halten, keine Schritte zu thun, wodurch man ihnen Blößen giebt, oder etwas einräumt, wonach sie glauben können, in den Besitz gewisser Rechte gesetzt zu seyn, und sich nicht eine mögliche Vereinigung mit dieser Kirche zu erträumen, die allezeit auf Kosten der Protestanten gehen würde.
88.
Aus dem bisher Gesagten erhellet schon, daß das Studium der geistlichen Rechte nicht jedem gleich nothwendig, wem es am unentbehrlichsten, und welche Arten derselben für einen Geistlichen unsrer Kirche die nothwendigsten seyen; und da zugleich oben angegeben ist, worauf sich diese |b149| verschiedene Arten gründen: so sind – eben damit auch die Quellen angezeigt, woraus jede dieser Wissenschaften zu schöpfen ist. Vernunft und die heil. Schrift, so weit sie uns auf christliche Kirchenrechte führt, sind jedem zugängliche Quellen; und je fleißiger und unbefangner man beyde, mit den gehörigen Kenntnissen und Hülfsmitteln ver|c132|sehen, studiert: je mehr werden alte Vorurtheile in der geistlichen Rechtsgelehrsamkeit verschwinden, und neue Aufschlüsse, wenigstens eine gründliche Ueberzeugung von den wahren geistlichen Rechten, entstehen. Noch ist hier nach jenen zwey Quellen, und zumal der ersteren, |a724| Vieles aufzuräumen; es fehlt auch wirklich noch an einem recht geläuterten und gründlichen allgemeinen Kirchenrecht. – Zur Kenntniß dessen, was in dem geistlichen Rechte positiv ist, und auf einer von Menschen beliebten Ordnung beruht, ist genauere Kenntniß der christlichen Kirchengeschichte und Bekanntschaft mit solchen Sammlungen nöthig, welche die Gesetze und gesetzmäßige Einverständnisse enthalten.
89.
Wem es, diese zu brauchen, oder zu verstehn, an Fähigkeit, Gelegenheit oder Muße fehlt, oder wer doch gern das Vornehmste dieser Rechtswissenschaft mehr im Ganzen übersehen will, dem möchten vorzüglich folgende Bücher zu empfehlen seyn, die selbst in Rücksicht auf Geistliche unter den Protestanten und auf mehrere Verständlichkeit für sie die brauchbarsten zu seyn scheinen:
|b150| c√ Für den
Anfang, in Absicht auf das
protestantische deutsche und das damit verbundene allgemeine Kirchenrecht
c√:
-
Just Carl Wiesenhavers Grundsätze des allgemeinen und besondern Kirchen-Staatsrechts der Protestanten in Deutschland. Neue Aufl.
Frankf. und Leipz. 1764.
in 8.
-
⌇a
Johann Lorenz von Mosheim allgemeines Kirchenrecht der Protestanten, c√ Helmstädt 1760.
in gr.
8. und
-
⌇a |c133| Deutsches geist|a725|liches Staatsrecht, von Johann Christian Majer , Lemgo 1773.
in 2 Theilen in 8. c√
Zur
ausführlichern Kenntniß aber:
-
Justi Henningii Böhmeri Jus Ecclesiasticum Protestantium, Edit.
3. Halae 1730.
in 5 Tomis in 4. und dessen Jus parochiale, Edit.
4. Halae 1730.
in 4.
-
⌇a Christoph Matthäi Pfaffen akademische Reden über das sowohl allgemeine als auch deutsche protestantische Kirchenrecht, Frankf. 1747.
in 4. und:
-
⌇a
Das geistliche Recht der evangelisch-lutherischen Landesherren und ihrer Unterthanen in Deutschland, praktisch entworfen von Heinrich Arnold Lang , Culmbach 1786.
in 2 Theilen in gr.
8.
|b151| Das
gedachte böhmerische Kirchenrecht dient zugleich zur Kenntniß des
kanonischen, so fern man es
will mit dem protestantischen
c√ vergleichen
lernen.
– Zur nähern Erkenntniß des kanonischen wäre rathsam, erstlich sich die Geschichte derselben aus
Spitlers und Pertschens Geschichte (s.
Anweis. zur Kenntniß theol. Bücher, §. 424.) ⌇c bekannt zu
machen, alsdann ein gutes Handbuch, etwa
⌇c
Paulli Josephi a Riegger Institutio
Jurisprudentiae Ecclesiasticae,
Edit. nov.
Vindob.
1774.
in 4
Theilen in 8.
zum Grunde zu legen, und dann das
⌇c
Corpus
Juris canonici selbst, nach der
böhmerschen Ausgabe,
Halae 1747.
gr.
4.
⌇c zu
studieren.
|a726| 90.
Die
Kenntniß des
deutschen protestantischen Privat-Kirchenrechts, das in verschiedenen Kirchen so verschieden ist, muß jeder aus der Kirchenordnung seines Landes und den dazu nach und nach
gekommnen Landesverordnungen
schöpfen. Mehrere
solche Kirchenordnungen
verschiedner Provinzien enthält
c√ ⌇c
Joh. Jac. Mosers Corpus iuris
Euangelicorum ecclesiastici,
Züllichau 1737.
in zwey Quartbänden; kürzer und besser geordnet
kan man
c√ das Wichtigste aus solchen Kirchenordnungen in der
⌇c
Pastoraltheologie
- - von
Volkmar Dan. Spörl ,
Nürnberg 1764.
in 8.
⌇c übersehen.
|c135| ⌇⌇c Für
die preußischen Kirchen findet man das Wesentlichste der Kirchenverordnungen
beysammen in
⌇c
Wilh. Heinr. Beckhers Kirchenregistratur
- - des Königreichs
Preus|b152|sen, der
zweyten vermehrten Auflage,
Königsberg 1769.
in 4. mit der
Fortsetzung, 1773.
und
c√ ⌇c
Ludw. Ernst Borowski neuem preußischen Kirchenstaat,
ebendaselbst 1788.
4. ⌇c
Sal. Deylingii Institutiones iurisprudentiae pastoralis,
Ed.
3. auctior per
Chr. Wilh. Küstnerum , Lips. 1768.
8.
⌇c enthalten
auch viel
Besonderes, vornemlich in Rücksicht auf die
sächsischen Kirchen. c√