|a732| |b158| |c142| Erster Abschnitt.
c√ Fähigkeiten eines künftigen Lehrers der Religion.
94.
Wir nehmen hier diese Fähigkeiten in weiterm Verstande, und rechnen dahin: – die natürlichen Kräfte zu diesem Beruf – die zu dessen würdiger Führung nöthigen Kenntnisse – und die Gemüthsfassung, welche erfordert wird, die dahin gehörige Beschäftigungen gern und mit gewissenhaftem Fleisse zu treiben. Von dem zweyten Stück ist schon bisher geredet worden; von den beyden übrigen also hier das Weitere.
c√ Man könnte noch hieher auch äusserliche Umstände rechnen, auf die allerdings bey der Wahl einer Lebensart mit sollte gesehen werden, weil sie nicht nur auf das äussere Fortkommen und die mehrere Möglichkeit, mit seinen Kräften und Kenntnissen recht nutzbar zu werden, sondern auch selbst auf die Entwickelung unsrer Fähigkeiten, einen großen Einfluß haben. Indessen sollten sie nur dann eine Regel seyn, wonach wir eine Lebensart wählten, und eine andre, wozu wir vorzüglich Fähigkeit und Neigung haben, fahren ließen, wenn es uns entweder durch die Umstände ganz unmög|b159|lich wird, diese letztre Lebensart zu ergrei|c143|fen, oder wenn diese |a733| Umstände die Uebernehmung der letztern oder die Zubereitung dazu gar zu sehr erschweren, und wir überzeugt sind, daß wir zu einer andern Lebensart eben so gut aufgelegt seyn, und nicht weniger Nutzen stiften können, als bey derjenigen, die wir sonst würden, nach sorgfältiger Prüfung unsrer selbst, c√ vorgezogen haben. Ausser diesen zwey Fällen würde man sein Gewissen und seinen innerlichen Beruf einem zeitlichen Verlust oder Gewinn aufopfern. Selbst die größeste Armuth sollte niemand abschrecken, denjenigen Beruf zu wählen, wozu er sich am fähigsten, und, nach vernünftigen Gründen, am geneigtesten erkennt. Sie erschwert freylich dem, der sich den Wissenschaften weihen will, seinem Beruf auf mehr als Eine Art. Aber sie giebt auch, wie alles Gefühl des Bedürfnisses, dem, der mit Verstand und redlichem Herzen gewählt hat, mehr Ermunterung zum angestrengten Fleiß; und es ist Unglaube und Verleugnung der Vorsehung Gottes, sich nur dadurch abschrecken zu laßen. Wer auch mit sehr mittelmäßigen Umständen zufrieden ist, sich gehörig einzuschränken versteht, und sich durch Tugenden Freunde zu machen weiß, wird, wenn er wahren innern Beruf zum Studieren hat, gewiß nicht verlaßen werden.
95.
Die natürlichen Kräfte, welche hier in Anschlag kommen, sind: – Kräfte der Seele – |b160| (oder, wie es einige nennen, der gute Kopf, oder das Genie, im Gegensatz gegen Fleiß) – Kräfte des Körpers – und, weil es hier auf Bildung eines Lehrers ankommt – die Kraft oder Gabe sich wohl auszudrucken.
|a734| c√ Ueber die Geisteskräfte und deren Prüfung, siehe den
treflichen
Versuch über die Prüfung der Fähigkeiten in der
Sammlung einiger Abhandlungen von
Christian Garve Leipzig 1779
, in Octav, S.
8
flgg.
|c144| Es versteht sich von selbst, daß – da der Umkreis von Beschäftigungen, der einem Lehrer der Religion in seinem besondern Beruf angewiesen ist, größer und kleiner, einfacher und zusammengesetzter seyn kan, zu so verschiednen Aemtern nicht immer ausserordentliche Menschen erfordert werden, und selbst große Fähigkeiten in einem kleinen und einfachen Kreise das Interesse an gewissen Beschäftigungen schwächen, und leicht verleiten, über das Ziel hinauszulaufen – daß, sag' ich, theils diese Fähigkeiten nicht bey allen im hohen Grade brauchen vorhanden zu seyn, theils ein jeder sich, nach der besondern Art von Fähigkeit wozu, derjenigen besondern Art von Beschäftigungen widmen müsse, die jenen am angemessensten sind, und hinwiederum nach seinem vorzüglichen Geschmack an gewissen Beschäftigungen des Lehramts sich prüfen, ob und wie weit er dazu die ihnen entsprechende Fähigkeiten habe, oder erlangen könne.
|b161| 96.
Wir
empfinden, innerlich oder
äusserlich, was wir uns als gegenwärtig vorstellen, oder was einen Eindruck auf uns macht, dessen wir uns bewußt sind; es
sey, daß wir es selbst wahrnehmen, oder daß es uns von Andern mitgetheilt werde, in so fern wir es bloß auffassen, und zu
unsrer eignen Vorstellung machen. Das Vermögen zu
empfinden verschafft uns alle Vorstellun
|a735|gen, die hernach erst die Seele vergleichen, bearbeiten und anwenden
kan, und seine gute Beschaffenheit hat also einen Einfluß auf die Vollkommenheit desjenigen, was
unsre übrigen Seelenkräfte hervorbringen. – Die Vollkommenheit
dieser Kraft läßt sich
daraus abnehmen: – wenn jemand viel Wißbegierde hat; wenn ihm also alle Gelegenheit willkommen ist, wo er etwas lernen, und je
|c145|der Vorfall, Umgang, jedes Buch
u. d. gl.
um so weniger für ihn anziehend, je weniger er daraus etwas
Neues oder das Bisherige besser lernen
kan; – wenn ihm die Art der Sache, und ob sie gut oder schlecht, brauchbar oder nicht
sey, nicht gleichgültig ist, sondern seine Wißbegierde desto mehr erregt und unterhalten wird, je mehr er den Werth einer solchen Sache wahrnimmt; welches beweiset, daß ihn nicht Eitelkeit oder nur Liebe zu Veränderungen, sondern vernünftige Wißbegierde
leite; – wenn er nicht unter
vielerley Dingen herumirrt, und
alles ergreift, was sich ihm darstellt, sondern
bey besondern Eindrücken gern stehen bleibt, die Auf
|b162|merksamkeit fest daran heftet, sie genau aufzufassen sucht; weil dieses ein Zeichen der Thätigkeit und des Interesse für eine Sache
ist; – wenn er weniger Vergnügen an übersinnlichen als an sinnlichen Vorstellungen hat,
bey den ersten wenigstens immer geschäftig ist, sie sich durch Bilder und
Beyspiele zu versinnlichen; ein Beweis, wie thätig die Empfindungskraft
sey, und wie wenig sich die Seele selbst Genüge thue, wenn sie nicht empfinden
kan; – eben deswe
|a736|gen
, wenn jemand sich nicht mit Worten begnügt, ohne
dabey etwas Bestimmtes zu denken, und wenigstens die Einbildungskraft arbeitet, um den Abgang der Empfindung oder deutliche Begriffe zu
ersetzen; – wenn man sich desjenigen, was man ehedem empfunden hat, leicht genau wieder erinnern
kan; ein Zeichen, daß man die Sache gut aufgefaßt
habe; – wenn die Begierden, die aus gewissen Empfindungen entspringen, lebhaft, und noch mehr, wenn sie dauerhaft sind, und durch die Erinnerung des Empfundenen die Leidenschaft leicht wieder erregt wird; jenes, ein Zeichen von einer lebhaften,
dies ein Zeichen
von einer tiefen Empfindung; – endlich,
c√ wenn
|c146| es uns leicht wird, uns in Anderer Lage zu versetzen, die uns gewisse Vorstellungen mittheilen, oder deren Ereignisse oder Handlungen uns erzählt
werden; obgleich dabey auch andere Seelenkräfte, so wie gute Kenntniß der Sprache,
worinn uns etwas vorgestellt wird,
mit wirken; denn es
beweiset, die
Fähigkeit leicht mit zu empfinden.
|b163| c√ Wie sehr uns diese glückliche Empfindung, in Absicht auf Theologie, insbesondere bey allen Gegenständen der Erfahrung, wie sehr sie bey Auslegung der heiligen Schrift, bey dem Studium der Geschichte, wenn wir uns andrer Vorstellungen und Meinungen bekannt zu machen haben, und sie gerecht beurtheilen wollen, bey dem Gefühl der Bedürfnisse unsrer Zuhörer, bey Theilnehmung an ihren Umständen, bey einer anziehenden und lebhaften Darstellung für sie, zu Statten komme, bedarf kaum einer Erinnerung. Es läßt sich auch leicht absehen, zu welchen Theilen der Theologie ein |a737| Mensch von guter Empfindungskraft, wenn sonst alles gleich ist, am meisten aufgelegt sey, und welche man vorzüglich studieren müsse, wenn man dieses Vermögen üben und verbessern wolle.
97.
Das Gedächtniß, oder die Kraft der Seele, wodurch das Wahrgenommene erhalten wird, und wodurch wir uns der Vorstellungen eben so, wie ehedem, wieder bewußt werden, stellt entweder die Sachen wieder dar, ohne daß wir uns anzustrengen oder zu besinnen brauchen, oder es erfordert Anstrengung, um durch eine erweckte Vorstellung andere damit verbundene zu erwecken. Jenes könnte man das mechanische, dieses das intellectuelle nennen. – Ob man jenes habe, kan man daraus wissen, wenn wir leicht, selbst wörtlich, etwas auswendig lernen können, selbst das, wobey wir wenig oder nichts |b164| denken, oder was wenig |c147| oder nicht zusammenhängt, wenigstens mit dem, dessen wir uns zugleich erinnern, in keinem natürlichen Zusammenhange steht; auch zum Theil, wenn wir uns überhaupt aufgelegter und geneigter zum Lernen, als zum Nachdenken, finden. – Das Letztere aber, wenn es uns leicht wird, natürlich zusammenhängende Dinge zu behalten, und durch diesen Zusammenhang Vorstellungen wieder zu erwecken. – Da eigentlich das Gedächtniß die sonst gehabten Vorstellungen, wenigstens für die Erkenntniß, dauerhaft, und sie für die Zu|a738|kunft brauchbar macht; da kein Fortschritt und Wachsthum in der Erkenntniß möglich ist, ohne wenn das in unsrer Erkenntniß bleibt, was wir schon wissen, und wo wir etwas hinzu lernen; da die Schnelligkeit und zum Theil die Zuverläßigkeit im Denken davon abhängt, daß uns das Gedächtniß alles, was und wenn wir es brauchen, wiedergiebt: so sieht man die Unentbehrlichkeit des guten Gedächtnisses.
Anm.
1. Es ist also
thöricht: zu
schließen, daß dem, der ein gutes Gedächtniß habe, ein desto kleineres Maaß vom Verstande müsse zu Theil
worden seyn; sich um so mehr vielen Verstand einzubilden, je schwächer unser Gedächtniß ist; zu glauben, daß Verstand den Abgang des Gedächtnisses hinlänglich ersetze; oder gleichgültig gegen die Erhaltung und Uebung des Gedächtnisses zu seyn. Jene Irrthümer oder Einbildungen rühren von Verwechselung der
beyden angegebenen Arten des Gedächtnisses
her.
|b165| Anm.
2. Da Erinnerung gleichsam nur perennirende Empfindung ist, oder das Gedächtniß nur gemachte Wahrnehmungen
aufbehält und wiedergiebt: so gilt, in Absicht auf
besondre Theile der Theologie, hier eben das, was in der Anmerkung zum vorigen
§en von dem Vermögen zu empfinden gesagt wurde. Für den, dem es an
mechanischen Gedächtniß fehlt, wird das Studium der angeblichen Gedächtnißwissenschaften doch sehr erleichtert, wenn ihre Theile nicht als abgerissene Stücke, sondern im Zusammenhange studiert werden, wenn die Geschichte bündig und pragmatisch, und eine Sprache nach allgemeinen Regeln und philosophisch studiert wird. Je gründlicher
|a739| man eine jede Disciplin, und je mehr man sie im Zusammenhange studiert, desto leichter läßt sie sich auch behalten, und das Gelernte wieder erinnern.
c√
98.
Was man empfunden und was das Gedächtniß aufbehalten hat, das verarbeitet unsere Seele auf mehr als Eine Art. Zuvörderst durch
Zusammenstellung solcher Dinge, die sie ehedem einzeln empfunden hat, oder deren Eindrücke, ohne daß sie sichs selbst bewußt ist, so
zusammenfließen, daß sie dadurch neue Vorstellungen von vorher noch nicht erkannten Dingen bekommt, die Empfindungen zu seyn scheinen, weil und
so ferne sie sich die Art nicht angeben
kan, wie sie dieselben zusammengesetzt hat. Man nennt diese Kraft der Seele,
Einbildungskraft (Imagination). Sie
|b166| ist also eine Kraft,
theils Empfindungen zu erneuern, und dadurch tritt sie in die Stelle des Vermögens zu empfinden,
theils sich neue Empfindungen zu verschaffen, die nicht, wie
bey der Empfindungskraft, durch
bloße einzelne Eindrücke, sondern durch deren Zusammenhang entstehen. Je richtiger sie jene wiedergiebt, und je
|c149| richtiger,
d. i.
je mit einander verträglicher, sie die ehemals empfundenen Sachen zusammenstellt,
desto
zuverläßiger ist
sie. Je mehr sie solche Verbindungen machen, oder je mehr sie Aehnlichkeiten und mit einander
beysammen mögliche Dinge wahrnehmen
kan, desto
fruchtbarer ist
sie. Je mehr sich den wiederholten Empfindungen
beson|a740|dre Umstände
derselben oder Wahrnehmungen des Nutzens von dem Empfundenen,
beymischen, desto
lebhafter ist sie.
99.
Sie ist nicht nur eine sehr ergiebige und unerschöpfliche Quelle neuer Entdeckungen, sondern sie verstärkt auch die ehemaligen Empfindungen selbst; sie ist daher ein unschätzbares Mittel, die menschliche Erkenntniß vollkommner zu machen, und ihren Einfluß auf das Herz zu befördern. Sie bildet in allen Wissenschaften die Erfinder, sie bildet den klugen Mann und den Redner, oder jeden, der im Umgang oder durch seinen Vortrag auf Andre wirken soll. Wenn man diese Kraft oder deren größre Vollkommenheit glaubte in der Theologie entbehren zu können, weil man wähnte, daß die Natur der (geoffenbarten, oder |b167| durch kirchlichen Willkühr einmal festgesetzten) Theologie keine neuen Aussichten erlaubte: so sollte man doch ihre Nothwendigkeit bey dem erbaulichen oder wirklich eindrücklichen Vortrage und der ganzen Amtsführung eines Geistlichen anerkennen. Selbst die so leichten, ungeheuren, und für die ganze Religion gefährlichen Ausschweifungen der Einbildungskraft, machen es zur großen Pflicht, an der steten Verbesserung dieser unter allen Seelenkräften am meisten zu Ausschweifungen geneigten Kraft zu arbeiten.
|a741| |c150| 100.
Kennzeichen, daß es
jemanden an
Einbildungskraft nicht fehle, sind schon zum Theil die Eigenschaften, welche oben (§.
96 ) bey dem Vermögen zu empfinden angegeben sind, weil und so fern die Einbildungskraft
ehemaliger Empfindungen wieder erneuert;
z. B.
Abgeneigtheit von
trocknen, übersinnlichen, und Streben nach bildlichen Vorstellungen. So fern sich aber diese Kraft im
Zusammenhang zeigt, dient Folgendes, diese Fähigkeit
bey sich zu
entdecken. – Schon der starke Reitz, den das Neue für uns hat, wenn
nemlich dieses Neue nicht in bisher uns ganz unbekannten Dingen, sondern in der Gestalt und
Darstellung auch des sonst
Bekannten, (nicht in der Materie, sondern in der
Form,) liegt. – Vergnügen an Aufsätzen, die sich durch schöne Darstellung und durch das Unterhaltende des Vortrags
empfehlen. – Theilnehmung an
allem, was Leidenschaften erregt und unterhält, und über
|b168|haupt an dem, was auf das Herz
wirkt. – Oeftre Wahrnehmung solcher Gemüthsbewegungen
bey sich, die sich aus unsern gegenwärtigen Empfindungen nicht erklären
laßen. – Die Gabe, Andern wahre oder erdichtete Begebenheiten gut und darstellend zu erzählen, oder Personen auf diese Art zu
charakterisiren. – Die Hinlänglichkeit eines
bloßen Winks, oder einer
bloßen Andeutung und
Veranlaßung, um auf eine detaillirte Vorstellung einer Sache und ihres Ganges gebracht zu
werden, und die an uns gemachte Bemerkung der Gabe, in
|a[742]| den Wissenschaften bisweilen durch glückliche Sprünge auf Entdeckungen zu kommen, oder auch sonst aus einer Menge von erkannten Umständen augenblicklich den Erfolg abzunehmen, ohne sich in
beyden Fällen
|c151| seines Schlusses bewußt zu seyn; überhaupt die Gabe, eine ganze Reihe von Vorstellungen mit
einem Blick zu übersehen.
101.
Die Richtigkeit oder Regelmäßigkeit unsrer Einbildungskraft können wir c√ danach erproben: – wenn wir bey dem in einzelnen Fällen von ihr genommenen Gange das Wahrscheinliche von dem Unwahrscheinlichen, das Schickliche von dem Unschicklichen, das mit einander Verträgliche von dem Unzusammenhängenden wohl und schnell zu unterscheiden wissen; – wenn wir c√ etwas mit seinen Umständen so gut zu erzählen verstehen, daß Andere es, auf diese Art erzählt, wahrscheinlich und begreiflich finden, oder wenn Andere durch |b169| unsere gemachte Beschreibung von gewissen Personen oder Handlungen beyde völlig als dieselben wieder erkennen; – wenn c√ das, was wir nach gewissen vorausgesetzten Umständen vorhersehen, genau eintrift, oder wir doch, bey genauerer Prüfung, einsehen, daß es so würde eingetroffen seyn, wenn nicht manche veränderte besondere Umstände dem Lauf der Sache eine andere Richtung gegeben hätten; und überhaupt, – wenn das, was ein Werk unserer Imagination ist, in deutliche Begriffe aufgelöset, denkbar erscheinet, und dessen |a743| Theile, mit einander verglichen, wohl zusammenhängend gefunden werden.
102.
Diese Beurtheilung ist ein Werk des
Verstandes, oder des Vermögens zu deutlichen Vorstellungen, dem also die
Scheidung der empfundenen Dinge und ihrer Theile zukommt, so wie der Einbildungskraft ihre Zusammensetzung;
|c152| der auch, indem er verschiedene Dinge vergleicht, das Aehnliche und Verschiedene derselben entdeckt, und das, was sie mit einander gemein haben, von dem, wodurch sie sich von einander unterscheiden, absondern, und dieses Gemeinschaftliche in einen allgemeinen Begriff vereinigen
kan, wobey also ganz von den
Dingen selbst abgesehen wird, und nur die ihnen gemeinsamen
Eigenschaften als Eins betrachtet werden.
Freylich nimmt auch die Einbildungskraft, welche einzelne Empfindungen zusammensetzt, dieses Aehnliche und Verschiedene
einzelner Dinge wahr, aber nur undeutlich,
|b170| und so,
das sie das Aehnliche oder das Gemeinschaftliche anders nicht, als mit den Dingen zugleich und in denselben, vorstellt. Daher hat man dieses Vermögen der Seele, sich dieses Gemeinschaftliche undeutlich und unabgesondert von den Dingen vorzustellen, den
praktischen Verstand genennet (§. 77 ), in so fern sie eben das,
nemlich die
Wahrnehmungen dessen, was mehrere Dinge gemein haben, durch die Einbildungskraft, in Absicht auf undeutliche Vorstellungen,
|a744| verrichtet
, was sie durch den Verstand, vermittelst deutlicher Vorstellungen, vermag; hingegen hat man das Vermögen der Seele, sich dieses deutlich vorzustellen, mit
den Namen des
theoretischen oder
speculativen Verstandes belegt.
c√ Praktisch nennt man jenen Verstand, weil in Geschäften (Praxi) des Lebens undeutliche Wahrnehmung des Aehnlichen und Unähnlichen der Dinge zureicht; und, obgleich derselbe mit der Einbildungskraft einerley ist, so fern diese auf die Bemerkung des Aehnlichen oder Unähnlichen bey einzelnen Dingen angewendet wird, so hat doch dieselbe uneigentlich den Namen des Verstandes wohl deswegen erhalten, weil der Verstand sich mit deutlichen Begriffen beschäftigt, also das Unterschiedne in den einzel|c153|nen Dingen von einander, mithin auch die Eigenschaften der Dinge von den Dingen selbst, trennt.
103.
Wenn die Seele nicht bloß einzelne Dinge, sondern ihre Uebereinstimmung oder das Gegen|b171|theil, kurz, ihre Verhältnisse, folglich auch nicht bloß das Einzelne, sondern auch das Gemeinschaftliche und Allgemeinere, wahrnehmen kan: so könnte man dieses Vermögen Verstand nennen; er möchte es deutlich oder undeutlich wahrnehmen, abgesondert von den Dingen selbst, oder mit ihnen, und so ist, wie gesagt, abzusehen, warum man diese Wahrnehmung, die, so fern sie undeutlich ist, der Einbildungskraft zukommt, praktischen Verstand genannt hat. – Ein Kennzeichen des |a745| Verstandes überhaupt – im Unterschiede von dem Vermögen zu empfinden, oder wieder zu empfinden, oder bloß zusammen zu setzen, ohne auf das Allgemeine zu merken, – ist es: wenn man bey sich Trieb und Fähigkeit findet, nicht bloß Kenntnisse zu empfangen, oder Andern nachzuempfinden, nachzuglauben und nachzusprechen, sondern zu prüfen, ob sie wahr und gut sind, und warum sie es sind; selbst zu untersuchen, und ausfündig zu machen; sich nicht mit Kenntnissen einzelner Dinge zu begnügen, sondern sie im Zusammenhang zu betrachten, und darein zu bringen; nicht bey dem Einzelnen stehen zu bleiben, sondern das Allgemeine abzuziehen, und wieder in ähnlichen Fällen anzuwenden. Wer nur Wißbegierde, und nicht auch Wahrheitsliebe besitzt; wer leicht glaubt, und eigne Untersuchung scheut; wer in Sprachen, in der Geschichte, in den schönen, und überhaupt in Wissenschaften, mit historischen Kenntnissen zufrieden ist, oder sich mit dem Mechanischen |c154| begnügt, ohne Alles ins Allgemeine zu führen, sich Grundsätze, Regeln oder |b172| Maximen aus den Beobachtungen abzuziehen, und ihre Anwendung in ähnlichen Fällen zu denken: der kan auf Verstand gewiß wenig oder gar keinen Anspruch machen.
104.
Da der
praktische Verstand eigentlich eine Art der Einbildungskraft ist (§.
102 ): so sind die Merkmahle, woraus man diese abnehmen
|a746| kan (§.
100 ), auch Merkmahle von jenem, doch nur alsdann, wenn zugleich die Merkmahle des Verstandes überhaupt (§.
103 ) damit verbunden sind. Man
kan ihn am besten in Geschäften, wo es auf das Schickliche, auf Wahrscheinlichkeit, Klugheit, Wohlstand und Unterhaltung ankommt, wo auf
besondre Umstände Rücksicht zu nehmen ist, wo es einer schnellen Uebersicht vieler, auch kleinen Umstände, und einer schnellen
Entschließung bedarf, und in solchen Wissenschaften, bemerken, die dergleichen nicht im strengsten Verstande
a√ sind, und mehr
besondre als allgemeine Dinge zum
Gegenstande haben, –
da kan man ihn eigentlich kennen lernen, und auch da ist er am unentbehrlichsten.
105.
Hingegen zeigt sich der eigentliche oder
theoretische Verstand
(§. 102 ), der
vornemlich bey Wissenschaften nothwendig ist,
– an dem Trieb und Bestreben,
alles sich zu verdeutlichen; nicht nach dem
Ob? nicht sowohl nach dem
Wie? als nach dem
Warum? zu fragen; die Gedan
|b173|ken nicht nach einer oder mehrern Seiten zu betrachten, sondern alle Seiten aufzusuchen und zu
erwegen; die Gründe
|c155| für Alles bedächtig und langsam abzuwägen; überall gemessene Ordnung, Methode zu beobachten und zu
classificiren; an der Liebe, mehr zur bestimmten und gründlichen, als lebhaften Erkenntniß; und an der Fähigkeit, allgemei
|a747|ne Dinge und Sätze als abgesonderte Gegenstände der Betrachtung, oder sie ohne Bilder und
Beyspiele, zu denken und zu behandeln.
c√ Es wäre
überflüßig, die vorzügliche Nothwendigkeit des Verstandes
bey dem Studium und der Anwendung der Theologie darzuthun, oder
diejenige Theile derselben, wo er besonders sich zeigen muß, anzugeben. – Es scheint eben so
überflüßig, von dem
Witz, Scharfsinn, Geschmack und
Genie, oder der Nothwendigkeit dieser Fähigkeiten, besonders zu reden. Denn
Witz (im weitern Verstande) oder das Vermögen, die
Aehnlichkeit, und
Scharfsinn, oder das Vermögen, die
Verschiedenheit der Dinge, sinnlich oder
deutlich, zu erkennen, erfordert eben sowohl Einbildungskraft als
Verstand, der Witz mehr jene, der Scharfsinn mehr diese.
Hienach und durch Vergleichung dessen, was bisher von den Kennzeichen der Einbildungskraft und des Verstandes gesagt worden,
kan man bald von selbst finden, ob und wie weit uns gedachte Fähigkeiten zu Theil
worden sind. – Eben
dies gilt in seiner Art von dem
Geschmack und dem
Genie im engern Verstande (
Theil 1. §.). Das
Letztere bildet den eigentlichen Er
|b174|finder. Weil aber unter mehrern Fähigkeiten doch
bey jedem, der sie besitzt, eine am meisten hervorsticht, und diese von den übrigen nur unterstützt wird, auch jeder, unter den
verschiednen Gegenständen der Wissenschaften, zu Einem mehr aufgelegt und geneigt
ist, sich damit zu beschäftigen, als mit einem
Andern: so entstehen daher
verschiedne Arten des
Genie's, ein
exegetisches z. B.
ein historisches, ein speculatives, praktisches
u. d. gl.
, die ein jeder, wer Genie hat, bald an sich erkennen, und sehen wird,
welche Arten von Wissenschaften
|a748| er vorzüglich trei
|c156|ben sollte. –
S.
mit mehrern den
Versuch über den Geschmack,
von Alexander Gerard , (übersetzt) Breslau 1766.
in 8., und
Ebendesselben
Versuch über das Genie, (übers.) Leipz. 1766.
in 8.
c√
106.
Es ist schon oben gesagt (§.
95 Anm.
): daß von denen, die sich der Theologie widmen, nicht gleich
Vieles könne gefordert werden; der besondere Beruf, den man
hiebey wählen oder ergreifen will, muß es entscheiden, was vorzüglich von solchen Fähigkeiten nöthig
sey, und ob der
innre Beruf, auf den es am meisten ankommt, dem
äussern entspreche. – Ist jemand zum
bloßen Volkslehrer bestimmt: so
ist –
ausser den hernach anzugebenden Eigenschaften des Charakters – genug, wenn er mittelmäßige Fähigkeiten besitzt, falls er nur zugleich das Gefühl einer ihm unerreichbaren Vollkommenheit hat, um nicht mit
verschnittnen Flügeln nach der Sonne fliegen zu
|b175| wollen, und sich aus dem Kreise zu entfernen, den ihm die Natur und sein
äusserlicher Beruf vorgezeichnet hat. Es ist genug, wenn er guten schlichten Menschenverstand
a√ hat, der das Schickliche von dem Ungereimten zu unterscheiden weiß; wenn er leicht in den Sinn desjenigen, was er hört,
liest und sieht, eindringen
kan; wenn er ein treues oder durch die Uebung leicht zu schärfendes Gedächtniß besitzt; wenn es
|c157| ihm an der Gabe des populären Vortrags, und an Klugheit nicht fehlt, um seine Kenntnisse nach
|a749| den wirklichen Bedürfnissen
Andrer wohl anzuwenden. Mag es ihm an eigentlicher
Gelehrsamkeit fehlen; wenn er nur das eigentlich Praktische in der Religion versteht, und die zu seiner
eignen Ueberzeugung und gewissenhaften Führung seines Berufs nothwendigen Kenntnisse derselben und der menschlichen Angelegenheiten hat, besonders der Angelegenheiten seiner Zeit, der Bedürfnisse derer, die ihm empfohlen sind, und desjenigen, was
ihn, diese zu beurtheilen und ihnen gewachsen zu seyn, in
den Stand setzt; endlich die Kenntniß der nöthigen Hülfsmittel, wodurch er sich
bey vorkommenden
ausserordentlichen Fällen zu helfen weiß. Daß zu allen diesem noch eine fleißige Uebung kommen, und er nie glauben müsse, völlig genug gelernt zu haben, sondern sich zu seinem Beruf immer reifer machen, wird ohnehin vorausgesetzt.
c√ Hat er mehr Fähigkeiten oder Kenntnisse, als er c√ in seinem engern Kreise braucht: so nutze er sie so gut als er kan, nur nicht mit Vernachläßigung|b176| und zum Nachtheil der Pflichten seines besondern Berufs. Er vergesse insbesondre nie, sich mit den Hülfsmitteln und besonders Schriften bekannt zu machen, wodurch er, wenn er in einen weitumfassendern Kreis versetzt wird, das nachholen könne, was ihm, diesen würdig zu bestreiten, nöthig seyn möchte. c√
107.
Ist er hingegen zum Lehrer der Theologie oder der damit verbundenen Wissenschaften, |a750| überhaupt zu Bildung künftiger Lehrer, oder zur Regierung und Aufsicht der Volkslehrer, oder an einer Gemeine angestellt, die aus gelehrtern oder doch gebildetern Zuhörern besteht: so muß er freylich höhere Fähigkeiten haben, und in den für sein Fach bestimmten Wissenschaften ausgebreitetere, feinere und gründlichere Kenntnisse besitzen. Alsdann bedarf er auch weniger einer näheren Anweisung, und was er dann können und verstehen, wenigstens wornach er trachten müsse, dazu möchten die bisher in diesem Buche geschehenen Vorschläge nicht undienlich seyn, da es besonders auch in Rücksicht auf die Classe künftiger Religionslehrer abgefaßt ist.
108.
Daß
bey der
Ergreiffung des theologischen Studiums auch die Kräfte des
Körpers (§.
95 ) mit in Anschlag kommen müssen, bedarf kaum einer Erinnerung; da die natürliche Beschaffenheit und die Veränderungen
des Körpers einen so
|b177| großen Einfluß in die Beschaffenheit und den Gebrauch der Seelenkräfte haben; Anstrengung des Geistes,
|c159| eine sitzende Lebensart, und andere Umstände
bey Studierenden die Gesundheit merklich zerrütten; und
bey dem Lehrer
in äusserlichem Vortrage so viel von der Stimme, von der
freyen Brust, selbst vom körperlichen Ansehen und Bildung, so wie,
bey der ganzen Führung seines Amts, von einer dauerhaften Gesundheit, Abhärtung des
Körpers, und ähnlichen
Umständen, ab
|a751|hängt. Was uns hier möglich
sey oder abgehe, ist noch viel leichter, als die Beschaffenheit
unsrer Seelenkräfte, zu erkennen.
c√
Tissot von der Gesundheit der
Gelehrten (übersetzt), Zürich,
und in einer andern Uebersetzung,
Leipz.
1768.
in 8. und
auszugsweise in
Tissot's
medicinischen praktischen Handbuche,
Leipz. 1785.
in 8 (im ersten Theile); Ueber die Krankheiten der Gelehrten
- - von
J. C. G. Ackermann , Nürnb. 1777.
in gr.
8; und
der Arzt der Gottesgelehrten (von
J. G. F. Franz ), zweyte Aufl.
Leipzig, 1770.
in 8. sind Bücher, deren Empfehlung hier gewiß nicht
überflüßig ist.
109.
Von der Nothwendigkeit der
Gabe sich wohl auszudrucken (§.
95 ), ist schon oben,
bey der Abhandlung von den Sprachen (
Theil 1. §.
59 flgg.
) und im
ersten Abschnitt des
dritten Theils geredet worden. Da die Sprache der Abdruck
unsrer Ideen ist, und jeder Verständige so gute Mittel
braucht, um sein Ziel zu erreichen,
|b178| als in seiner Gewalt
sind: so
kan man sicher
schließen: wie der natürliche Vortrag eines Menschen ist, so sind seine Begriffe und Ueberzeugung von den Sachen selbst.
Kan man sicher seyn, daß jemand nicht eitel
sey, um nur sich selbst gern zu hören oder zu lesen, oder Andern bloß zu gefallen,
|c160| und daß er nicht so arm an Verstande und Menschenkenntniß
sey, um zu glauben, wenn nur das gut
sey,
was er sagt, so
sey es gleichviel,
wie er es sage: so
kan man selbst
schließen: wie sorgfältig er in seinem
|a752| Vortrag ist, so viel hat er Interesse für die Sachen, die er vorträgt, und so viel Eifer, mit seinen Kenntnissen
bey Andern Gutes zu stiften. – Um sich über die Gabe des Vortrags zu prüfen, gebe man nur
acht, ob und warum uns
wohl geschriebene Schriften, oder warum uns Vorträge, die auch im Ausdruck vorzüglich sind, gefallen? ob uns
beyde um so mehr anziehen, je faßlicher, deutlicher, ordentlicher, zusammenhängender, bestimmter
u. s. f.
sie sind? oder ob uns alle, oder einige, und welche, Eigenschaften des Vortrags, uns gleichgültig sind? Man mache selbst Versuche, anfänglich eines Andern guten mündlichen oder schriftlichen Vortrag über eine Sache,
nachher was man überhaupt von Andern ausgeführt gelesen hat, im Zusammenhange
frey, nach seiner
eignen Art, zu wiederholen,
d. i.
fremde Gedanken in seine
eigne umzukleiden, und bemerke, wie weit es uns gelinge, unsern Mustern nachzukommen. Man mache zuletzt öfters Versuche, was man selbst gedacht und untersucht hat, über eine Sache or
|b179|dentlich aufzuschreiben, oder Andern mündlich, genau vorbereitet oder nicht, vorzutragen. Man
laße sich von Kennern beurtheilen, und genau nach der strengsten Kritik sagen,
worin unser Vortrag gut oder fehlerhaft
sey, und gewisse Vollkommenheiten uns, nach vielen Versuchen, erreichbar
seyn oder nicht? –
Alsdann wird man wohl finden, welche Art des Vortrags uns möglich, wenigstens durch fleißige anhaltende Uebung zu erlangen
sey.
|a753| |c161| 110.
Wenn alle bisher erwähnte Fähigkeiten wohl angewendet, selbst, wenn sie gehörig gebildet werden
sollen: so erfordern sie eine gewisse
Gemüthsfassung oder gewisse Eigenschaft des
Charakters (§.
94 ), über die man sich wohl prüfen sollte, ehe man sich zur Wahl des theologischen Studiums entschlösse. Auf folgende Tugenden möchte es hier
vornemlich ankommen. – Zuerst, auf
Liebe zur Wahrheit, wo man diese auch immer finden sollte. Veränderungen in der Seele eines Andern
kan man nur durch Vorstellungen hervorbringen, wenn diese der von ihnen erkannten Natur der
Sache oder andern schon für wahr erkannten Vorstellungen gemäß sind; und
dies setzt voraus, daß man sie selbst als wahr erkannt habe. Wem also Wahrheit gleichgültig ist, dem liegt entweder nichts daran, Andere zu belehren und zu bewegen, oder er
kan nicht sicher darauf rechnen, daß er seinen Zweck erreichen werde; vielweniger wird er sich selbst bemühen, hinter die rechte Wahr
|b180|heit zu kommen. Je inniger
bey jemanden die Liebe zur genauesten Wahrheit ist, um so mehr wird er selbst die Wahrheit finden können, so weit sie ihm erreichbar ist; um so mehr wird er dafür und für ihren Werth eingenommen seyn; um so mehr auf
Andre wohlthätig wirken, wenigstens mehr sich darum bemühen, und es mit mehr Hoffnung eines glücklichern Erfolgs unternehmen.
– Der allgemeine Prüfstein dieser
unparteyischen Wahrheitsliebe ist: wenn wir es uns bewußt sind, oder es
bey der strengsten Prüfung finden, daß
unsre Neigungen
|a754| und Abneigungen keinen Einfluß in die Annehmung oder
Prüfung einer Sache haben.
Wäre dir eine Sache auch noch so theuer, schiene sie
dir unzertrennlich von
deinem Wohl, und
entbehrtest du sie höchst ungern, läge sie
dir selbst, als
deine Erfindung, sehr am Herzen:
würdest du gleichwohl, auch
bey dem geringsten Anlaß zum Zweifel,
dich nicht scheuen, sie aufs neue zu prüfen, sie dennoch aufopfern, wenn
du sie
bey der Prüfung ungegründet
fändest? Bist du geneigter, die Wahrheit nach den
dir schädlich oder nützlich scheinenden Folgen derselben, oder unabhängig von dieser Rücksicht, zu beurtheilen? Kommt
bey dir, wenn
du für oder wider
einer Sache entscheidest, dies in Anschlag, ob die, so
du liebest oder
achtest, oder die, so
du hassest und
verachtest, eben das behaupten?
Kanst du Widerspruch vertragen, wenn er mit Gründen geschieht,
siehst du ihn selbst gern, und
forderst Andere dazu auf, als ein Mittel,
dich zum weitern Nachdenken zu bringen?
Wenn du auch die
|b181|sen Widerspruch für ungegründet
erkennst, benutzest du gleichwohl alsdann doch auch das wenige Wahre, was
darinn liegt,
deine Erkenntniß immer mehr zu berichtigen, und durch
kleine Bestimmungen zu mehrerer Genauigkeit zu bringen? Ist
dir's gleichgültig, auch unbekannt zu bleiben, wenn nur das, was
du gesagt, oder gar erfunden
hast, für wahr erkannt wird?
Siehst du es gern, wenn
Andre auf
dein Ansehen oder
dir zu Gefallen, etwas für wahr
annehmen, legst du es wohl gar darauf an, bloß durch
dein Ansehen
|a755| zu
wirken? Dies sind die Merkmahle, woran
du sehen kanst, ob
du wirklich Liebe zur
Wahrheit hast, oder nicht.
c√
111.
Eine
andre Tugend ist die
Bescheidenheit. – Je weniger man selbst weiß, oder es recht und mit Ueberzeugung versteht; je weniger man den
großen Umfang desjenigen kennt, was zur rechten Wissenschaft einer Sache und zur wahren Ueberzeugung gehört; je weniger man die Schwierigkeiten
bey einer jeden Untersuchung, die Schranken der menschlichen Erkenntniß überhaupt, und die
großen Lücken seiner eigenen Erkenntniß, nebst dem eingeschränkten Maaß seiner Fähigkeiten,
insbesondre, wahrnimmt: desto eingenommener ist man von sich selbst, und desto mehr verachtet man
Andre. Dieser Dünkel hält uns selbst von Einsicht dieser Fehler, und von weitern Fortschritten in der Erkenntniß und der wahren Besserung überhaupt zurück; macht uns
|b182| ungeschickt, von Andern zu lernen; erstickt den
eignen Fleiß, der von dem mehrern oder mindern Gefühl dieses Bedürfnisses abhängt, und macht uns abgeneigt, die Wahrheit überall, wo wir sie finden, anzunehmen. – Demnach sind alle Kennzeichen der Wahrheitsliebe (§.
110 ) auch Kennzeichen der Bescheidenheit.
Wenn du lieber schlecht als vortheilhaft von Andern
denkst, und
Andrer Erklärungen oder Entschuldigungen nicht gern
hörst, oder gelten
läßest; wenn du nicht von Andern Erinnerungen über
dich an|a756|nimmst; wenn du dich schämst, gegen Andere unrecht zu haben;
wenn du, ohne anhaltende bedächtige Prüfung, gleich zu entscheiden geneigt
bist; wenn du, anstatt Andern Gründe vorzulegen,
dir Machtsprüche, oder
Spöttereyen, oder
Hohn, erlaubst; wenn du schon Sachen zu
verstehen, und durchzuschauen
glaubst, und
Andre zu belehren
suchst, ehe
du noch im Stande
bist, sie Andern deutlich und mit Gründen vorzutragen;
wenn du nicht noch lieber
lernest als
lehrest; und wenn
du von einem
lehrreichen, zumal mit gründlichen Untersuchungen
beschäftigtem, Umgange, oder von
dergleichen Buche, zurückkommst, ohne
dich an
deine Brust zu schlagen, und das Bekenntniß tief zu fühlen: O wie viel ists, was
ich noch nicht
weiß: – so bist du von
der Bescheidenheit noch weit entfernt.
112.
Fleiß ist eine dritte Tugend, und besteht in einer angestrengten Wirksamkeit, die verschiedent
|b183|lich betrachtet werden
kan, daher auch die
verschiedenen Bedeutungen des Wortes entstanden sind, die selbst durch
besondre Namen bezeichnet werden. Wird diese Wirksamkeit mehr in Rücksicht auf die Menge der Beschäftigungen,
– oder auf
dabey beobachtete Genauigkeit und Sorgfalt,
– oder auf die anhaltende, selbst durch die Schwierigkeiten oder den langsamen Fortgang nicht
ermüdete, Anstrengung genommen: so ist der Fleiß im ersten Fall
Arbeitsamkeit;
– im
|a757| zweyten
,
Fleiß im engern Verstande, (man sagt
z. B.
ein Kunstwerk
sey mit Fleiß
gemacht,) oder
genauer Fleiß oder
Indüstrie (wiewohl dieses
letztre gemeiniglich anders, als das lateinische Industria, für Betriebsamkeit oder immer auf Erweiterung einer Kunst gerichtete Beschäftigung genommen wird);
– im dritten Falle aber
Unverdrossenheit. Oder kürzer, die
erste scheint mehr extensive, die
zweyte mehr intensive, die
dritte mehr protensive Geschäftigkeit zu seyn.
|c167| 113.
Es ist ein sehr leidiges Vorurtheil, daß sich Fleiß mit Genie nicht vertrage. Wahr ist es, Leute von Genie, und, noch mehr, Leute, die sich Genie zu haben einbilden, sind selten eigentlich fleißig, weil sie sich zu sehr auf ihre Kräfte verlaßen, und zu ungeduldig sind, lange bey einer Sache zu beharren. Wahr ists auch, daß dem Genie alles leichter wird, und daß ohne dasselbe durch bloßen Fleiß keine Werke von vorzüglicher Vollkommenheit entstehen. Aber, Fleiß kan doch |b184| den Abgang des Genies einigermaßen ersetzen, so wie die Kunst, die immer Fleiß erfordert, der Natur nachhelfen, und sie verbessern kan. Alle Fähigkeiten des Geistes bleiben unbrauchbar, oder werden nicht in dem Grade nützlich, als sie es könnten, wenn nicht theils mannichfaltige und genaue Kenntnisse hinzukommen, ohne welche das Genie nichts hat, was es verarbeiten kan, theils viele, genaue und anhaltende Uebungen in einer |a758| Sache angestellt werden, wodurch erst Fertigkeiten entstehen. Und so sehr auch dem bloßen Genie oft ein vollkommenes Werk gelingt: so können doch weder Ausschweifungen desselben verhütet, noch dessen Erfindungen gehörig geprüft, berichtigt, und in dem Grade vollkommen werden, als wenn noch anhaltender und bedächtiger Fleiß dazu kommt. – Es ist beynahe unnöthig, Kennzeichen des Fleißes anzugeben. Man darf sich nur aufrichtig prüfen, ob uns nichts gleichgültig sey, was uns irgend der Vollkommenheit näher bringen kan, – ob es uns genug sey, daß etwas gemacht werde, unbekümmert wie es geschehe; – ob wir sehr die Veränderungen lieben, und uns durch Schwierigkeiten abschrecken laßen: so werden wir bald davon urtheilen können.
|c168| 114.
Zu diesem Fleiß muß sich Liebe zur Ordnung gesellen. – Unordnung in dem Gange unsrer Gedanken und Geschäfte verräth und erzeugt Verwirrungen, und Mangel des Zusam|b185|menhangs in Begriffen; erschwert auch das Denken, die Untersuchung und die Ausführung der Sachen. – Wenn man bey sich bemerkt, – daß man leicht von Einem auf das Andere falle, wenn Beschwerlichkeiten uns von einem angefangenen Werk leicht abschrecken, und erwartete Vergnügungen oder Erleichterungen uns leicht zu andern Unternehmungen hinziehen; – wenn man |a759| ungewohnt ist, sich bey dem, was man nach einander vornimmt, Grund anzugeben, warum man so und nicht anders handle, das Eine früher und das Andre später thue; – und wenn man Sachen zu unternehmen pflegt, ohne sich vorher um das zu bekümmern, was dabey muß vorausgesetzt werden c√: so kann man mit Recht fürchten, daß es uns an dieser Liebe zur Ordnung fehle.
115.
Wer an einer gewissen Art von Beschäftigung keinen solchen Geschmack findet, daß ihm diese mehr Vergnügen macht, und ihn mehr anzieht als
a√ andre Arten von Beschäftigungen: der wird es weder
darinn jemals zu einer rechten Vollkommenheit bringen, noch auch nur den schuldigen Fleiß darauf wenden, wenn er sich ihr vorzüglich zu widmen beschlossen hat; er wird noch weniger sich Mühe geben, Andern damit aufs möglichste nutzbar zu werden. Man
kan daher von dem, der das Studium und die Empfehlung der Religion zu
seinen eigenthümlichen Beruf machen will, mit Recht fordern, daß er sich wohl
|b186| prüfe, ob
|c169| bey ihm der
Geschmack an dieser Wissenschaft und den damit verbundenen Beschäftigungen über alles
Andre gehe; um so mehr, da diese überwiegende Neigung ein sicheres Kennzeichen ist, daß er dazu die meiste natürliche verhältnißmäßige Fähigkeit
habe, (
d. i.
die meiste Fähigkeit wenigstens zu
den Theilen der Beschäftigung, die ihn eigentlich
interessiren). – Die
|a760|sen vorzüglichen Geschmack
kan man sich leicht abmerken. Beschäftige ich
mich wirklich am liebsten damit? Ist mir
alles interssant, was dahin einschlägt? Beziehe ich
alles, was ich
ausser dieser Wissenschaft lese, oder sonst vorfinde, darauf, um es zur Verbesserung meiner Erkenntniß, zur Nahrung meiner Gesinnung, in Absicht auf die Religion, zu benutzen? Ist mir kein Schicksal der Religion, und überhaupt nichts gleichgültig, was sie und ihren Eindruck
bey Andern fördern oder hindern
kan? Würd' ich auch bereit seyn, wenn es nicht anders seyn könnte, ansehnlichere Einkünfte,
größeres Ansehen, und andere
äusserliche Vortheile zu entbehren, oder aufzuopfern, wenn ich, falls ich diese erhalten wollte, mich weniger mit der Religion und dem zu ihrer Anwendung
bey Andern nöthigen
Geschäfte abgeben müßte? Finde ich einen unüberwindlichen Trieb
bey mir, Andern meine verbesserten Einsichten in der Religion und meine darüber gemachten Bemerkungen mitzutheilen, ihnen ihre Zweifel
darinn zu benehmen,
c√ ihnen
die Religion werth zu machen, sie
bey allen Angelegenheiten Anderer aufs weiseste und nützlichste anzuwenden?
Dies wären
|b187| ohngefähr die sichersten Kennzeichen eines solchen überwiegenden Geschmacks daran.
|c170| 116.
Endlich ist Liebe zur Tugend überhaupt und wahre Frömmigkeit eine nothwendige Eigenschaft desjenigen, der sich ganz und vorzüglich |a761| zum Lehrer der Religion bilden will. – Die Religion ist durchaus praktisch, und hat ja eben ganz unmittelbar die Absicht, die Menschen durch Tugend glücklich zu machen, sie ganz an Gott zu binden, durch die Vorstellung Gottes und seines Willens Tugend und wahre Beruhigung zu befördern. Wie könnte uns die Beschäftigung damit, die uns immer an unsre Pflichten, an unsre Fehler und Vergehungen, und an deren unausbleibliche Folgen erinnert, wie könnte die uns wahrhaftig werth seyn, wenn es uns gleichgültig wäre, dahin zu streben, daß wir ihr immer gleichgesinnter würden und gleichförmiger lebten? Wie, könnten wir sie zu unsrer vornehmsten Beschäftigung machen, ohne uns selbst, wegen unsrer Unredlichkeit, Vorwürfe zu erregen, oder uns auf eine unnatürliche Art dagegen zu betäuben? Wie könnten wir, wenn wir dieses unentbehrliche Mittel zu unserm eignen Besten nicht anwendeten, geneigt seyn, für Andere dadurch zu sorgen? Wie sie Andern mit angestrengtem Fleiß, Wärme und eigner Freudigkeit empfehlen, wenn sie uns selbst nicht an Herzen läge? Wie, so gar nicht fürchten, durch unsern Wandel das wieder zu zerstören, was wir mit Mühe durch Unterricht gebauet hät|b188|ten, oder, wie sie mit Ernst empfehlen, ohne es zugleich durch das noch viel stärker, als alle bloße Vorstellungen, wirkende eigne gute Beyspiel, und durch die auf uns selbst so wirksame Kraft der Religion zu thun? Wie, nicht der so starken Versuchung un|c171|terliegen, selbst die Religion zum Mittel sträflicher Absichten und Leidenschaften zu mißbrau|a762|chen? – Auch hängen alle zur treuen und gewissenhaften Führung unsers Amts nöthigen Tugenden so sehr von dem Einfluß der Frömmigkeit und von dem Gedanken ab: Es ist Gottes Sache, die wir bey den Menschen befördern sollen; wir sind Schuld, daß Seine Ehre unter ihnen leidet, wenn wir Ihn nicht auch durch unsre ganze Gesinnung und Wandel ehren; unsre Rechenschaft ist desto schwerer, je Mehreres und je etwas Wichtigeres uns anvertrauet ist – von diesen uns stets vorschwebenden Gedanken hängen alle andere Tugenden so sehr ab, und werden dadurch so sehr ermuntert und verstärkt, daß wir ohne wahre Frömmigkeit uns nie eines solchen Berufs würdig betragen können. – Es ist nicht schwer zu erkennen, ob wir wahrhaftig diese Liebe zur Tugend und Frömmigkeit haben, wenn wir nur wissen, was diese ist, und die im vorigen §en angegebenen Kennzeichen auch hier, in ihrer Art, anwenden. Je früher wir nach dieser wahren Frömmigkeit getrachtet haben, desto leichter und unverdächtiger wird uns diese Beurtheilung werden.
c√