Um das Gute und Böse in dem jetzigen Zustande der Menschen gehörig gegen einander zu berechnen, wollen wir zuvörderst auf die
körperlichen Veränderungen unsrer thierischen Natur sehen. Hier fället es sogleich in die Augen, daß der weit
grössere Theil der Menschen von ihrer Geburt an bis zu ihrem Tode un
|b24||c24|bestimbar mehr Stunden in angenehmen Empfindungen, als im
Gefühl lebhafter Schmerzen durchleben; und daß selbst
|a22| die meisten
Arten besonders langwieriger Krankheiten, den
|d21| Genuß vielerley sinnlichen Vergnügens annoch verstatten. Dieses wohlthätige Loos haben wir überhaupt mit den Thieren
gemein: aber die
grössere Manigfaltigkeit so wol unsrer Bedürfnisse, als der sich uns darbietenden Mittel sie zu befriedigen, giebt auch schon hierin dem Menschen
grosse Vorzüge vor den übrigen lebendigen Wesen. Empfänden wir nicht Hunger, nicht Durst, nicht Kälte, nicht Hitze, so würde die Körperwelt
ausser uns keine
Reize für uns haben, und der Aufenthalt auf der Erde uns
äusserst langweilig seyn. Aber jetzt ist uns alles interessant, weil es eine Beziehung auf unsre Bedürfnisse
hat; und eben dadurch, daß wir vieles bedürfen, werden wir zu
Nutzungsherren der Erde. Anstatt einfacher Nahrungsmittel von einerley Gattung, welche uns, wie die meisten Thierarten, zu ernähren hinlänglich wären, bietet die Natur dem Menschen unzählbare Gattungen der Speisen und Getränke dar, sich mit dem mannigfaltigsten
Wohlgeschmack zu sättigen. Mit eben so vieler Freygebigkeit ist für angenehme Empfindungen der übrigen Sinne gesorgt. Ja selbst der Schmerz ist ein wohlthätiges Erinnerungsmittel, den Zerstörungen unsres Körpers entgegen zu arbeiten; nur selten heftig, und dann von weniger Dauer; meistens erträglich, und wenn er
nachläßt, eine Quelle des Frohseyns und desto lebhafterer Vorstellung des Guten in der Gesundheit. So strömen also von allen Seiten sinnliche Freuden ohne Zahl gegen wenige und kurze Leiden auf den Menschen zu,
wenn wir auf die natürliche Einrichtung der Dinge sehen. Die meisten langwierigen und die schmerzhaftesten Krankheiten sind unnatürliche Uebel, die aus Zerrüttungen der Natur, welche die Menschen selbst |b25| |c25| verursachen, entstehen. Wenn die zur Stärkung des Körpers bestimten Weine von der Gewinsucht durch Bleyzucker vergiftet werden; wenn der Krieg die festesten Theile gesunder Menschen zerschmettert; wenn junge Leute ihre Ehre darin suchen, ihre Natur mit Verachtung aller Regeln der Gesundheitslehre und aller Warnungen der Vernunft zu bestürmen; wenn Habsucht und Geitz dem Leibe die nöthige Ruhe, Erquickung und Ge|d22|nesungsmittel versagt: wer ist dann schuld an der Menge der physischen Uebel, welche das Leben so vieler Menschen verbittern? Nicht die Natur, sondern die Empörungen gegen ihre leicht zu erkennende wohlthätige Ordnungsgesetze. Dem ohngeachtet aber
bleibt es trotz aller in der Welt herrschend gewordner unnatürlichen Uebel noch immer wahr, daß die allermehresten Menschen ungleich mehr Stunden ihres Lebens schmerzlos und im Genuß vieles sinnlichen Guten verbringen können, und d√ also ein Uebergewicht des dem Körper bestimten Guten über die physische Uebel noch im Ganzen vorhanden ist: folglich Gründe zu einer herrschenden Zufriedenheit und Vergnügtseyn für die mehresten. Die wenigen Beklagenswürdigen, welche mit einem siechen Körper geboren worden, oder in ihrem Beruf und durch nicht verschuldete Zufälle elend gemacht sind, so daß sie den grössern Theil ihrer Stunden unter Schmerzen verseufzen müssen, können freylich nicht, indem sie Schmerz befürchten, in dieser Beziehung Zufriedenheit empfinden; und noch weniger damit sich trösten, daß doch die meisten übrigen Menschen sich wohl befinden: allein es ist auch das körperliche und sinnliche Gute nicht dis einzige und größte Gut des Menschen, und wir werden im folgenden zeigen, daß dennoch ein Uebergewicht des Guten in andern Bestimmungen und in ihren Hofnungen vorgestellt werden kan, welches ihr Gemüth aufrichten, und getrost erhalten kan, so bald nur der etwas |b26| |c26| nachlassende Schmerz ihnen verstattet ihre Aufmerksamkeit auf andre Gegenstände zu heften.
Es ist Undankbarkeit gegen Gott,
dis Leben
überhaupt ein Jammerthal zu nennen. Die Leiden und das
Kreutz, wovon die
|a23| Schriftsteller des
N. T.
und Christus
selbst redeten, waren etwas
ausserordentliches, welches nur die ersten Verkündiger der Lehre Jesu
, in so fern sie eine neue den herrschenden Vorurtheilen entgegenstehende Religion verkündigten, zu ertragen hatten. Jetzt, da so gar mit dem Bekentniß des Christenthums in unsren Gegenden bürgerliche Vortheile verknüpft sind, befindet sich der Christ, in so fern er
a√ sich
äusserlich dazu bekennet, besser als jeder Unchrist. Daß aber die gewissenhaftere Ausübung der Vorschriften des Evangeliums auch schon hier mehr glücklich als un
|d23|glücklich mache, wird im folgenden ins helleste Licht
gesetzet werden. Hier ist also nur zu bemerken, daß es keine Lehre der Schrift sey, daß
dis Leben mehr Uebel als Gutes
enthielte, wenn wir
blos auf die
natürliche von
aussen in unserm Körper
veranlaßte Empfindungen sehen. Daher Davids
Aussprüche hieher gehören, die Erde ist voll der Güte des Vaters der Welt. Ps. 33, 5. 119, 64.
Gottes Güte breitet sich so weit aus als der Himmel, über Menschen und Vieh, denn Gott erbarmet sich aller seiner Werke.
Alle werden trunken von den reichen Gütern des göttlichen Magazins und mit Wollust als mit einem Strom
getränket. Ps. 36,
7. 9. Uebrigens kan in dieser kleinen Schrift nicht füglich auf einzelne und seltene Fälle Rücksicht genommen werden, da in derselben nur überhaupt die vorhandne Quellen der Glückseligkeit angezeigt werden sollen. Ist ein oder die andre einigen Menschen vertrocknet oder verschlossen, so muß er aus den übrigen desto angelegentlicher zu schöpfen suchen.