§. 91.
Ich habe bereits
§. 80. erwähnet, daß im neuen Testament nicht blos ein Weg, sondern mehrere verschiedene Wege zu höherer Glückseligkeit abgezeichnet sind, nemlich so
vielerley, als es zu den Zeiten Christi
besondre Gemüthslagen oder Standorte nach Verschiedenheit der Vorerkent
|d243|nisse gab, von wo aus jeder Zuhörer und Leser von den Aposteln zu
den gemeinschaftlichen
Ziel der überwiegenden Liebe zu Gott und einer allgemeinen Rechtschaffenheit und Menschenliebe geführet werden mußte. Dieses will ich in der Absicht deutlicher
aus einandersetzen, damit es augenscheinlicher werde, daß die
abweichende Kirchensysteme in der Christenheit sämtlich einen biblischen Grund haben, und mehr nützlich als schädlich sind, sofern sie nur keinen Religionshaß erregen, und
|z37| den göttlichen Geist der Liebe nicht in seinen Wirkungen stören.
Christus
selbst konte während seines Lehramtes
das jüdische Volk nur wenig aufklären, und mußte sie nur durch Gleichnißreden,
die ihnen künftig verständlicher werden
solten, vorbereiten, einen weitern Unterricht anzunehmen; und selbst seine Jünger
konten nur wenig mehr fassen, als das übrige Volk; daher er ausdrücklich
sagte: ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnet es jetzt nicht tragen, Joh. 16,
12 folg.
Das meiste von Christi
Unterricht ward den Aposteln erst bey
weiterm Nachdenken und aus der Erfahrung in ihrem Amte nach
|b269| und nach verständlich,
Apg. 10, 34.
K.
11, 16–18. Hieraus erhellet nun schon unwidersprechlich, daß nicht
|c269| allen Christen ein gleiches Maaß der Erkentniß nöthig und nützlich
ist; daß es Wahrheiten giebt,
die nicht alle fassen können, und daß demnach die christliche Lehre in jedem Zeitalter und in jeder Gegend, nach
Maaßgabe der
vorhandnen Grade der Fähigkeiten und Vorerkentnisse, eine ganz
verschiedne Ausdehnung in Absicht der Zahl der Wahrheiten haben müsse, und bald mit mehr sinnlicher Einkleidung, bald ohne solche, reiner und deutlicher werde erkant werden können. Ein System der Glaubenswahrheiten, oder auch eine
besondre Vortragsart
cd√, kan zu einer gewissen Zeit in einer bestimten Gegend vorzüglich gut gewesen seyn, und zu einer andern Zeit oder in einer andern Gegend verwerflich werden: ja es muß nothwendig mit jeder
mehrern Fertigkeit im
Gebrauch der obern Geisteskräfte, auch der
Lehrbegrif |d244| von der Religion einen
höhern Grad der Reinigkeit und Vollkommenheit erhalten.
⌇⌇c ⌇⌇d Die Schriften des neuen Testaments sind theils für palästinische, theils für hellenistische, theils für gemischte aus Juden und Heiden gesamlete Gemeinen aufgesetzt.
⌇⌇c
⌇⌇d Diese waren in ihren Principien und bisherigen Religionsbegriffen sehr von einander verschieden, und
|z38| die Apostel mußten daher nothwendig für jede Klasse derselben eine
eigne Lehrart erwählen. Paulus
versichert es selbst, daß er allen allerley geworden sey, den Juden als ein Jude, den Griechen als ein Grieche, um viele zu gewinnen, 1 Cor. 9, 19–22. Wir haben in der Samlung der heiligen Bücher keine Schrift, welche
blos für Heiden aufgesetzt worden wäre; weil die Apostel an allen Orten zuerst die Juden zu gewinnen suchten, und diese daher überall den ersten Stamm der Gemeinen ausmachten, zu welchen sich
cd√ nach und nach
auch Leute aus
andern Nationen geselleten. Evangelien und Briefe sind daher vornemlich für Juden geschrieben. Allein
|b270| aus einem
Auszug einer Rede Pauli
an die heidnischen Athenienser, welcher uns Apg. 17, 22
f.
aufbehalten
|c270| worden ist, können wir uns doch von Pauli
Lehrart unter den Griechen, und wie er ihnen selbst als ein Grieche zu erscheinen suchte, einen ziemlich vollständigen Begrif machen. Ich
setze voraus, was alle christliche Theologen zugestehen werden, daß
Lukas uns das Wesentlichste und Hauptsächlichste, was Paulus
den Heiden als Christusreligion vorzutragen
pflegte und die Methode, deren er sich gewöhnlich dabey bediente, vorlegen wollen. Nun
erwähnt der Apostel in dieser Rede weder Mosis
noch der Propheten, sondern beruft sich gegen die Athenienser auf ihre Philosophen und Dichter; er nennet Christum
weder Sohn Gottes, noch Herr, noch
Hoherpriester; er
gedenkt keiner von ihm zum Beweise der Göttlichkeit seiner Lehre verrichteten Wunder; keines Versöhnopfers für die Menschen, keiner Erlösung vom
Zorn, Fluch, Todesengel oder Teufel; denn
dis alles waren blos jüdische Vorstellungsarten. Der ganze Inhalt seiner Christenthumspredigt ge
|d245|het dahin: daß nur ein einiger Gott sey, der Weltschöpfer, der keines
Wohnorts, keiner Verpflegung oder Beschenkung von den Menschen
bedürfte, sondern der all
|z39|gegenwärtige Mittheiler aller Kräfte und alles Guten sey, was wir besitzen: daß dieser gütige Gott alle Begebenheiten der Menschen regiere, und sie durch seine Wohlthaten zu erwecken gesucht habe, sich von ihm, als dem Geber des Guten würdige Begriffe zu machen: daß er
indes allen die grobe Unwissenheit, darin sie sich in Absicht auf ihn bisher befunden hatten, nebst den daraus hergeflossenen Folgen in ihrem Verhalten, übersehen wolle; nun aber verlange, daß alle bessere Begriffe von ihm fassen, und ihre moralische Gesinnungen verändern
solten: indem er beschlossen habe, die Schicksale der Menschen dereinst nach ihrer Aufführung in diesem
|b271| Leben zu
bestimmen und zwar (nicht durch den
Minos
und Radamanthus sondern) durch einen Mann, den er
|c271| vom Tode erweckt, und dadurch zugleich als einen glaubwürdigen Lehrer über die Zukunft legitimiret habe. – Sehet da den Weg, welchen Paulus
die Heiden zur Gemüthsruhe, zur
Rechtschaffenheit und zu freudigen Hofnungen, als dem
Ziel aller Religion, geführet hat!
Ganz
andre Wege wurden für die Juden nach ihrer Gemüthslage eröfnet. Diese mußten vor allen Dingen von der
Anhängigkeit an ihr väterliches Gesetz losgemacht werden; und daher mußten sie Christum
als einen weit höheren Gesandten Gottes, als Mose
und die übrigen Propheten gewesen waren, erkennen und verehren lernen. Nun erwarteten die Juden zur damaligen Zeit bereits einen noch
grössern Propheten, als Mose
gewesen war, und erklärten viele Stellen des alten
Testaments für Vorherverkündigungen der Glückseligkeit,
die sich bey seiner Ankunft über die Nation verbreiten
würde. Sie nanten diesen erwarteten Propheten, den
Messias, oder Christus
, den
Gesalbten und in sofern er ihr König seyn, und sie an Gottes Statt regieren
solte, den Sohn Gottes und ihren Herrn, Ps. 89,
|z40| 7. Ps. 2, 7.
Joh[.] 10, 34. 36. Ebr. 1. Als dieser erwartete
grosse Prophet, Messias oder Christus
,
|d246| Gottes Sohn und Herr, ward nun Jesus
den Juden vorgestellet, Luc. 1, 32. 33. 76. Kap. 2, 11.
Ebr. 3, 1–6.
Apg. 2, 36.
K.
3, 22–26. Allein die Juden in und
ausserhalb Palästina hatten nicht einerley Begriffe von der Person des Messias, den sie erwarteten: und da die Apostel sich auch hierin nach ihren Vorerkentnissen richten mußten, so finden wir daher auch mehrere verschiedene Theorien hierüber in den Schriften des neuen Testaments. Insonderheit lassen sich deren drey sehr deutlich unterscheiden.
|b272| Die erste Theorie von Christi
Person findet sich in den Schriften,
die für
ungelehrte Juden aus den gemeinen syrischen Schulen aufgesetzt worden
cd√, namentlich in den Evangelien
des Matthäus
, Markus
,
Lu|c272|kas , den Briefen Petri
, Jakobi
und Judä, und in den Reden an gemeine Juden,
die in der Apostelgeschichte aufbehalten sind. In allen diesen Schriften ist keine Spur von einer
Präexistens der Seele oder einer
höhern Natur Christi
, oder einer Herabkunft desselben vom Himmel zu finden, sondern Jesus
wird als ein
wunderthätig empfangener Mensch,
den Gott mit Geist und Kraft zum Wunderthun ausgerüstet habe, beschrieben, Matth. 1, 18.
20. 23.
K.
3, 16. Luc. 1, 30. 35. 76–80.
K.
2, 40. 52.
K.
3, 22.
K.
14, 61. 62. K. 22, 42.
43. 44.
Apg. 2, 22–36.
K.
3, 12–26.
K.
4, 27. 31.
K.
5, 30–32.
K.
10, 38. K. 13, 23.
33. 1 Petr. 1, 19. 20.
Die zweite Theorie ist nach dem
Lehrsystem der
gelehrten Juden, welche die
pythagorisch-platonische Philosophie mit der Lehre ihrer Propheten verknüpften,
eingerichtet. Man findet sie in den Schriften Johannis
,
der viele Jahre
sich zu Ephesus aufgehalten hatte; auch etwas davon im Briefe an die Ebräer. Nach dem
System der platonisirenden Juden hatte Gott vor Schöpfung
der Welt den Logos (das Wort) hervorgebracht. Wenn
Moses erzählt, Gott
sprach, so lehret er, daß der Logos aus Gott hervorgegangen, und durch diesen, der eine
besondre für sich bestehende Person geworden,
ist nachher alles gebildet und
ausgeschmückt worden. Ausser
|d247| dem Logos sind nachher noch andre Ausgeburten aus Gott hervorgegangen, als die Wahrheit, das Licht, das Leben
u. s. w.
Nun
glaubten diese philosophirende Juden, der Logos sey ihr Bundesengel, der schon ehedem dem Abraham
und andern erschienen sey, und als ihr Messias sichtbar werden würde.
Indes waren ihre Theorien nicht übereinstimmig, und andere erwarteten den Monogenes oder Eingebornen.
|b273| In Hinsicht auf diese Vorerkentnisse lehret nun Johannes
, daß Jesus
der Logos, der Eingeborne, das Licht, das Leben, die Wahrheit und alles das vereint gewesen sey, was man sich nach der Philosophie der
d√ Platoniker
grosses und
|c273| herrliches unter
diesem Namen dachte: also derjenige, durch welchen
alle höhere Segnungen Gottes den Menschen
zugetheilt würden. Dasselbe Wort, wodurch Gott ehemals alles erschaffen, habe Fleisch angenommen und seine Hütte unter uns aufgeschlagen, Joh. 1, 1–18. und sey von den Jüngern leibhaftig gesehen, gehört und
gefühlt worden, 1 Joh. 1, 1–3. Daher wird von Christo
in Johannis
Erzählungen wiederholentlich gesagt, er sey vom Himmel gekommen, Joh. 13, 13.
24. und ehe
gewesen denn Abraham
, Joh. 8,
58; er habe eine Herrlichkeit vor Schaffung der Welt gehabt, zu welcher er in den Himmel zurückkehre, Joh. 17, 5. er wirke von jeher mit seinem Vater, und der Vater wirke durch ihn, und zeige ihm immer mehrere Werke, Joh. 5, 19
f.
u. s. w.
Auf gleiche Weise
redet Paulus Ebr. 1, 2. 3.
K.
2, 7–10. 14. 16. 17.
K.
3, 6.
K.
5, 8.
K.
7, 26–28.
Die
dritte Theorie trift man in Pauli
Lehrart an, welcher die
vorhandne verschiedenen Begriffe durchs Allegorisiren einander näher zu bringen
sucht, und inson
|z42|derheit in den Briefen an die Epheser und Colosser Christum
zwar als den Erstgebornen unter allen Geschöpfen vorstellet, durch welchen alles erschaffen sey; aber dabey diese Schöpfung mehr aufs Moralische bey Errichtung einer neuen Kirche deutet, indem er
lehrt, daß aus Juden und Heiden eine neue dritte Gattung der Menschen erschaffen wor
|d248|den sey, und jeder Christ als eine neue Kreatur angesehen werden müsse: daher sich Christen nicht mehr nach ihrer ersten Geburt als Juden und Heiden, Freigeborne und Sklaven
u. s. w.
unterscheiden solten, Eph. 1,
10–23. K.
2, 5. 6. 10. 14. Col. 1, 15–22.
K.
2, 9. 10. 2 Cor. 5, 17. Gal. 6, 15. In allen übri
|b274|gen paulinischen Briefen findet sich keine nähere bestimte Erklärung über die Person
Christi, wenn man nicht Ph. 2, 5–11. dahin rechnen
will, und 1 Cor. 15, 23–28.
wird Christo
ein Reich zugeeignet
cd√, was mit Aufhebung der Sterblichkeit zugleich aufhören
wird, weil dann keine historische vermittelnde Begriffe zu reinern Erkentnissen von Gott ferner nöthig seyn werden.
Ueberall wird
indes, wo von Christo
als einem uns vorgesetzten Herrn und
Haupt geredet wird, Gott als ein höherer von ihm unterschieden, von
dem Christus
alle Kräfte, Kentnisse, Hoheit und Gewalt bekommen
hat, und welcher
Christum, als eine Mittelsperson, seine Segnungen auszutheilen brauche. Hierin stimmen alle Apostel überein, 1 Cor. 8, 5. 6.
cd√ 1 Tim. 2, 5. Matth. 28, 18. Joh. 14, 28.
K.
5, 18. 19. 20. 26. 27.
K.
17, 3.
Apg. 2, 32–36. Ph. 2, 5–11.
§. 92.
Da über die Lehre von der Person Christi die ersten, mehresten und allgemeinsten Streitigkeiten in der Kirche entstanden sind, und noch in unsern Tagen fortwähren, so kan ich bey derselben am deutlichsten und vollständigsten zeigen, wie man sich aus dem Labyrinth der Zweifel, welche durch solche kirchliche Uneinigkeiten über den wah|z43|ren Unterricht der heiligen Schrift veranlasset worden, herausfinden, und seinen Glauben, seine Gemüthsruhe und seine Hofnungen zugleich dabey aufs stärkste bevestigen könne. Zuvörderst muß man also das gemeine Vorurtheil fahren lassen, als ob in der heiligen Schrift eine gewisse Anzahl von Lehrwahrheiten überall auf einerley Art vorgetragen wären, und jeder cd√ alle diese Sätze mit einerley Bestim|d249|mungen, um selig zu werden, erkennen müsse. Wir haben bisher gesehen, wie vielerley verschiedene Vorstellungen von der Person Christi in den Lehrvorträgen der Apostel herrschen, und diese Verschiedenheit der Begriffe muß also zum Seligwerden unschädlich seyn. Chri|b275|stus preiset Matth. 5. bereits seine damalige Zuhörer, die doch äusserst fehlerhafte und grobe Begriffe nicht nur von |c275| ihm, sondern auch selbst von Gott hatten, selig, wenn sie nur gutmüthig gesinnet wären, und Gott vertrauten. Es komt also gar nicht darauf an, was und wie viel jemand erkennet und glaubt, sondern nur darauf, ob das, was er glaubt, in Verbindung mit seinen übrigen Einsichten, dahin zusammen stimt, ihn christlichgesinnt zu machen; das ist, ihn mit Liebe und Zuversicht zu Gott, und mit Wohlwollen gegen seine Mitmenschen zu erfüllen: denn alsdenn hat er den Geist Christi , und ist in Gott und Gott ist in ihm, 1 Joh. 4, 6. 7. 8. 13. 16. 17. Es fragt sich demnach, was ist das Allgemeine und Wesentliche, was alle, die durch Christum zu Gott kommen oder durch ihn zu göttlichen Gesinnungen und daraus fliessender höhern Seligkeit gelangen wollen, von Christi Person zu erkennen und zu glauben haben? Unleugbar nichts von dem, worin die apostolischen Lehrvorträge von einander abweichen, sondern nur das allein, worin sie sämtlich übereinstimmen; und wovon sie Heiden, palästinische Juden, Hellenisten, Gelehrte und Einfältige gleich durch zu überzeugen suchen; der Punkt, auf welchen alle verschiedene Wege, die sie nach den verschiede|z44|nen Vorerkentnissen ihrer Leser gebähnet haben, zusammentreffen. Und welches ist dieser Punkt? Ohnstreitig blos der Satz: Jesus ist ein göttlicher Lehrer gewesen, dessen Unterricht, als Wahrheit von Gott, anzunehmen und zu befolgen ist, wenn man glückseliger werden will. Dieses ist offenbar hinlänglich, um durch ihn den Vater in seiner ganzen Liebenswürdigkeit anbeten zu lernen, die erfreulichsten Hofnungen zu fassen, und solche Gesinnungen anzunehmen, wie er gegen Gott und Menschen gezeiget hat.
|d250| Die
weitern Fragen: wie ist Christus
ein göttlicher Lehrer? Hat Gott ihn bey seiner Geburt oder bey sei
|b276|ner Taufe mit ausserordentlichen Geistesgaben ausgerüstet? Oder hat Gott nach und nach immerfort in ihm jede
|c276| Vorstellung
gewirkt? Oder ist seine Seele ein Geist einer höheren Ordnung gewesen? Ist dieser Geist der höchste nach Gott, und das erste seiner Geschöpfe? Oder ist er nur ein untergeordneter Geist, der etwa der Schutzgeist der Erde, oder gar nur der Schutzgeist und Bundesengel der jüdischen Nation
gewesen ist? Oder ist er der einzige Geist seiner Art, der Eingeborne? Ist er aus Gott geboren oder erschaffen, und was ist dazwischen für ein Unterschied? In wiefern nimt er Theil am Wesen Gottes? Hat man in ihm mehrere Naturen zu unterscheiden, und
heißt er nur nach einer oder nach beiden der Sohn Gottes? Wie theilen sich diese Naturen ihre Eigenschaften mit?
u. s. w.
alle diese Fragen und tausend
andre kan der Christ zur Seligkeit unbeantwortet lassen, und jeder Gelehrte ist durch die
mannigfaltige Vortragsarten der Apostel berechtiget, sich den Lehrbegrif nach Maaßgabe seiner sonstigen Erkentnisse so auszubilden, als es ihm zu seiner Beruhigung am erfreulichsten ist; und es werden sich ihm auch gewiß beym fleißigen Forschen der Schrift Aussprüche darbieten, die seine Theorie, wie sie auch immer ausfallen mag, begünstigen werden. Denn
|z45| eben dadurch wird das Christenthum eine
allgemeine Religion, daß es sich an alle Vorerkentnisse
anschließt, und von da zu höherer Seligkeit leitet.
Die Geschichte der Lehrmeinungen in der Kirche bestätiget nun auch, daß es seit der Apostel Zeiten eine überaus
grosse Mannigfaltigkeit der Vorstellungsarten von der Person Christi
in allen Zeiten gegeben habe; und
d√ jede Parthey
c√ ihre Lehre deutlich im neuen Testament anzutreffen geglaubt, und Beweisstellen,
die von ihren Gegnern nicht völlig widerlegt werden konten, dafür angeführet
habe. Anfänglich, da man sich blos aus den mündlichen Vorträgen der ersten Christenthumslehrer etwas
|b277| aufgezeichnet hatte, oder sich auf mündliche Ueberlieferungen von den Apo
|d251|steln berief, gab es eine
grosse Men
|c277|ge Lebensbeschreibungen von Christo
, und viele einzelne Lehrbegriffe von seinem
Unterricht. In jedem Lande, unter jeder besondern jüdischen und philosophischen Sekte, hatte man eigne Evangelien und Lehrbücher, die alle sehr von einander abwichen. Dieses konte nicht fehlen, da die Apostel sich überall nach den Vorerkentnissen ihrer Zuhörer richteten, und davon
soviel beybehielten und benutzten, als zur Erweckung der größten Hochachtung und
des möglichsten Zutrauens gegen Christum
nur irgends brauchbar zu seyn schien; um den Principien zu bessern Religionseinsichten einige Haltung zu verschaffen. Nachmals, da die
eigne Schriften der Apostel und ihrer Begleiter,
die an die Hauptgemeinen gerichtet worden waren, durch diese ein höheres und allgemeineres Ansehen
erlangt hatten, hielt jede Gegend sich an
die Evangelien und Briefe,
die für ihre
Denkart eingerichtet, und ihr zunächst gewidmet worden waren. Die aus den Schulen der syrischen Juden hatten das Evangelium Matthäi
, Marci
, Lucä
; die platonisirenden Christen das Evangelium Johannis
. Die daraus nothwendig entstehende Verschiedenheit in ihren Lehren von der Person Christi
|z46| veranlaßte indes noch keine Spaltung oder sektirischen Haß.
Justinus
der Märtyrer,
der in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts, und also bald nach der Apostel Zeiten
gelebt hat, und die philosophischen Systeme mehrerer griechischen Schulen
studirt hatte, nachher aber ein berühmter rechtgläubiger Lehrer und Vertheidiger des Christenthums geworden war,
erklärt in seinem
Gespräch mit dem Juden Tryphon ausdrücklich: „wenn ich auch nicht beweisen könte, daß Jesus
schon zuvor der Sohn des Weltschöpfers gewesen sey, ehe er als ein Mensch von der Jungfrau Maria
geboren worden ist, so würde doch dadurch nicht aufgehoben, daß er nicht Christus
|b278| oder der Gesalbte Gottes sey. – Man kan annehmen, daß er als ein Mensch von Menschen geboren, und doch
|c278| von Gott zum Christ
gewählet oder bestimmet worden sey.
Denn es giebt auch unter den Christen unsrer Nation (
απο του |d252| ημετερου γενους) einige,
die ihn für den Christ halten, und doch sagen, daß er ein Mensch von Menschen sey. Ich pflichte ihnen
indes nicht bey, wenn es gleich die
gemeine Meinung seyn mag.“ Aus dieser Stelle siehet man deutlich, daß nicht nur Christen aus den Juden, sondern auch aus den Griechen, Jesum
blos für einen Mann, der durch
ausserordentliche Mittheilung höherer Gaben von Gott autorisiret worden, die Religion zu verbessern, gehalten haben; ja daß dieses die gemeinere
Vorstellungart damals gewesen sey, ohne daß eine Parthey die andre deshalb für unchristlicher erkläret habe.
Insonderheit
veranlaßte nun der Johannäische Vortrag, daß der Logos (das Wort) Gottes einen menschlichen Körper angenommen habe, Joh. 1, 1–14. vielerley besondre philosophische Theorien. Denn da das griechische Wort Logos
zweierley bedeutet, nemlich
einmal die Vernunft, cd√ und
dann auch ein Wort oder
eine Rede, so
mußte die weitere Entwickelung dieser Begrif
|z47|fe nothwendig verschiedene Lehrbegriffe erzeugen. Die unter Logos die Vernunft
verstunden, rechneten den Logos zum Wesen Gottes, und gaben ihm eine gleiche Hoheit und Ewigkeit; weil Gott ohne Vernunft nie würklich gewesen seyn
konte.
cd√ Diejenigen aber, welche unter Logos ein ausgesprochnes Wort
verstunden, theilten sich in vielerley Partheien, und gaben dem Logos entweder eine besondere Subsistenz und abgesondertes Daseyn
ausser Gott; oder sie dachten sich ihn blos als eine
|c279| Ausstrahlung oder aus Gott hervorgehende
Kraft und Wirkung. Daher finden wir die Kirchenväter der ersten drey Jahrhunderte,
die alle für rechtgläubig gehalten wor
|b279|den
cd√, so sehr verschieden in ihren Vergleichungen, wodurch sie uns deutlich machen wollen, wie der Logos zu Gott
gehört, und doch eine andre Person
ist, als der Vater.
|d253|
Tertullian
, ein afrikanischer Kirchenvater des zweiten Jahrhunderts, will es recht
deutlich machen, wie der Sohn als Logos immer im Vater gewesen, und doch auch von ihm selbst als eine zweite Person
gezeugt sey, und hält sich dabey an die
doppelte Bedeutung des
Ausdrucks Logos. In seiner Schrift wider den Praxeas trägt er diese Lehre folgendergestalt vor,
K.
5.
folg.
„Man darf nur acht geben, wie die Schrift vom
Sohn als vom
Wort; oder besser als von der Vernunft (Gottes) spricht: Ehe etwas war, war Gott
allein; da war er sich selbst Welt und Ort und alles.
Allein war er, weil nichts
ausser ihm war: übrigens war er auch damals nicht allein, denn er hatte seine
Vernunft bey und in sich, – den Logos, wie ihn die Griechen nennen, und die unsren durch
Wort oder
Rede übersetzen, da es doch natürlicher wäre, die
Vernunft als das ältere anzunehmen. Denn Gott wird uns von Anfang nicht als
sprechend, wol aber als
vernünftig vorgestellt. Wie wol es
liegt so viel nicht
daran (wie man Logos übersetzt); denn was man
denkt, sind
Worte, und dann ist
|z48| das zweite, was sich bey uns äussert,
die Rede,
die den Gedanken
herausbringt oder offenbaret. – Wie viel mehr wird das so in Gott seyn, dessen Bild und Gleichniß wir sind. – Ich kan mit Grunde annehmen, daß Gott vor der Schöpfung der Welt nicht allein gewesen, da er in sich selbst die Vernunft, und mit der Vernunft auch das Wort gehabt, welches er, indem er mit sich selbst überlegte, als den zweiten nächst sich machte,
K.
6. Eben das
heißt sonst auch die Weis
|c280|heit in der Schrift. Daher
heißt es auch, daß die Weisheit als die zweite Person geschaffen sey, Sprüchw. 8, 22. 31.
vergl.
mit
V.
12. und eben in dieser Stelle
|b280| wird sie, man bedenke das, als Gott beystehen und also als würklich von ihm abgesondert beschrieben. So bald nemlich Gott das, was er mit der Weisheit,
Wort und Vernunft (Logos) in sich selbst geordnet hatte, würklich ans Licht bringen wolte, hat er
das Wort selbst zuerst
hervorgebracht –
K.
7. Da nahm
|d254| Gott also
das Wort, selbst seine Form und Gestalt, Schall und Tonfügung an, da Gott sprach: Es werde Licht. Dieses ist nun die völlige Ausgeburt des
Worts, indem es von Gott
ausgeht. – Aber, wird man gegen mich einwenden, was ist denn das
Sprechen; es ist ja nichts als ein hörbarer verständlicher Schall, übrigens aber etwas unkörperliches, was nicht für sich
besteht. – Ja, antworte ich, was von Gott
ausgeht, kan nicht etwas leeres oder vorübergehendes seyn; sondern was
von einer solchen Substanz herkomt, muß selbst
ein Bestehen und Fortdauer haben. – Was nun auch der Logos für eine Substanz oder Bestehen bekommen haben mag, so nenne ich dieses eine Person und den Sohn Gottes, und behaupte, er sey der zweite nächst dem Vater,
u. s. w.
–“ Den Geist Gottes aber erkläret Tertullian
folgendergestalt: „Jede Rede hat einen Sinn
|z49| oder Verstand, und dieser ist der Geist, welcher den Worten gleichsam das Bestehen giebt.“
Aus diesen Erklärungen der berühmtesten christlichen Lehrer, gleich nach den Zeiten der Apostel, erhellet nun aufs deutlichste, wie sich ein jeder nach seiner Philosophie die biblischen Begriffe weiter entwickelt und
geformt hat, und daß es auch damals, so wenig als vor oder nachher, eine Uebereinstimmung in allen Begriffen gegeben habe. Dieses aber hinderte auf keinerley Weise den Zweck des Christenthums und den
äussern Frieden der Kirche. Al
|c281|lein so bald die Kaiser das Christenthum begünstigten, und den Bischöfen eine obrigkeitliche Gewalt einräumten, fingen diese an, verbindliche Lehrvorschriften zu er
|b281|theilen, wornach sich alle ihre untergeordnete Priester richten solten. Man hatte nun nach und nach die apostolischen Schriften,
die sonst nur einzeln bey den Gemeinen vorhanden gewesen waren, gesamlet; und es traf sich nicht selten, daß an einer Kirche Lehrer aus syrischen, griechischen und egyptischen Schulen zugleich angestellet wurden. Ein jeder trug nun die Lehren des neuen
Testaments nach denjenigen apostolischen Schriften,
die ihm zuerst bekant worden waren,
|d255| und in der Einkleidung seiner Landesphilosophie vor. Daraus
entstanden Mißverständnisse, und die
Bischöfe setzten die Priester, welche sich nicht nach ihrer Vortragsart bequemen wolten,
von ihren Aemtern in ihrem Kirchsprengel
cd√ ab. Fand nun ein solcher Priester bey andern Bischöfen seiner theologischen Schule Unterstützung, so brach über die Streitfrage ein öffentlicher Zank aus; und indem jeder Bischof seine Parthey durch die Mehrheit der Stimmen zu verstärken suchte, so ward der Streit in kurzem in allen Gegenden der Christenheit allgemein. Jeder Theil führte Schriftstellen für sich an, worin er seine Meinung mit klaren Worten zu finden glaubte, und es war nicht möglich,
sich aus der Bibel
cd√ zu widerlegen. Die Kaiser sahen sich genö
|z50|thiget, um den öffentlichen Unruhen, welche der Bischöfe Eifer gegen einander
veranlaßte, Einhalt zu thun, sich selbst ins Mittel zu schlagen. Sie versuchten zuerst den Weg eines Vergleichs, und versamleten die angesehensten Bischöfe und Gottesgelehrten aus allen christlichen Gegenden. Allein, wie konten sich diese vereinigen, da keiner nach der Schrift unrichtig
lehrete, und nur alle darin irreten, worin die Theologen noch heut zu Tage irren, nemlich daß sie annahmen, es sey in den heiligen Schriften überall nur
einerley Theorie und Vorstellungs
|c282|art über
jeden Artikel
d√ anzutreffen. – Es
mußte also natürlich der allgemeine Erfolg aller Kirchenversamlungen seyn, daß entweder die stärkere Parthey die schwä
|b282|chere unterdrückte, oder daß man sich über etwas, wie zu Nicäa aus Gefälligkeit gegen den gegenwärtigen (noch ungetauften) Kaiser, vereinigte, was keiner recht verstand, und worüber bald nachher, wenn
man es erklären wolte, neue Zwistigkeiten ausbrachen.
Es ist unmöglich, daß mehrere von verschiedenen Gemüthsfertigkeiten und Vorerkentnissen, wenn sie einerley Lehrvortrag hören oder lesen, sich völlig gleiche Vorstellungen von dem Inhalte bilden solten, zumal wenn es unsinnliche oder moralische Gegenstände betrift. Ein jeder
faßt daraus nur
grade so viel, als er sich vermittelst der
vorrä|d256|thigen, ihm schon klaren, Begriffe begreiflich machen, und mit seinen übrigen Erkentnissen zusammen reimen und damit verknüpfen kan. Nun
kommen auf den Koncilien Geistliche aus so sehr verschiedenen philosophischen Schulen, aus Egypten, Palästina, Griechenland und den Abendländern zusammen, die einander unmöglich ihre Philosophie beybringen konten, und deren ein jeder nur dieses oder jenes biblische Buch, was für sein Vaterland geschrieben worden war, für völlig klar und verständlich hielt. Gesetzt nun auch, daß man einräumen wolte, es wären auf den Koncilien solche Lehr
|z51|bestimmungen und Vortragsarten
beliebt worden, die damals nach der Fassung des größten Theils der Bischöfe und Priester die bequemsten gewesen
wären, so konten sie es doch nicht lange bleiben, sondern
mußten verändert werden, so bald die übrigen Einsichten der Geistlichen und ihre Philosophie sich verbesserte. Denn mit jeder Kultur der Vernunft wird die Fähigkeit zu reinern Erkentnissen von Gott ohnstreitig vermehret. – Ein jeder kan nun leicht hieraus erklären, woher so vielerley Geheimnisse und Dunkelheiten in das gelehrte System des
|c283| Christenthums hineingekommen sind. Wir haben nach und nach die jüdische, alexandrinische, pythagorisch-platonische, afrikanische und
gröstentheils auch die aristote
|b283|lische Philosophie so verlassen, daß sich kaum noch einige Theologen um historische Kentnisse davon bemühen, und haben
dem ohnerachtet die Lehrbestimmungen
im Christenthum beybehalten, welche aus diesen verschiedenen philosophischen Theorien nach und nach auf Kirchenversamlungen aufgenommen worden sind. So solte
z. B.
auf dem Nicäischen Koncilium eine bestimte Erklärung von der Person Christi
, und dem
Verhältniß desselben zum Vater gegeben werden. Ist aber wol jetzt das damals geformte Symbolum eine
würkliche Erklärung der biblischen Lehre, oder ist es nicht geständlich jetzt allen ein Geheimniß, das ist, eine weit dunklere Lehre, als
sie die Schrift selbst vorträgt? –
Ich unterschreibe ohne Bedenken das
symbolum Athanasianum in Beziehung auf die platonischen Sätze der Ar
|d257|rianer vom Logos, denen die verneinende Sätze desselben entgegen gestellet sind: ich bin aber zu gleicher Zeit überzeugt, daß unter tausend Predigern kaum einer ist,
der den wahren Sinn desselben begreift, eben daher, weil sich überaus wenige mit der Geschichte der alten philosophischen Meinungen beschäftigen, woraus der wahre Verstand begreiflich wird. Die mehresten, die sich
in dem |z52| kirchlichen Sinn darum für
cd√ Rechtgläubige halten, weil sie die Worte der Koncilien und Symbolen
beybehalten, sind nichts weniger als rechtgläubig, weil sie unter den alten Formeln sich gar nicht mehr die Begriffe denken, die ehedem damit
verknüpft worden sind. Gleiche
Bewandniß hat es nun auch mit den Symbolen der Protestanten. Man kan zugestehen, daß darin die Christenthumslehre so gut vorgetragen sey, als es nach der
Fassung der Philosophie, und den übrigen Erkentnissen der Geistlichen zur Zeit der Reformation geschehen
können. Sind wir
|c284| denn aber seitdem nicht weiter gekommen? Solten nicht Gelehrte in unsren Tagen von vielen Religionssätzen schon weit reinere Vorstellungen haben, als damals
|b284| möglich waren? Und solte nicht mancher Satz für uns
anstössig geworden seyn,
der es zu den Zeiten Luthers
noch nicht war? Ohnstreitig hat jede Aufklärung des menschlichen Verstandes, in welcher
besondern Wissenschaft sie auch immer erfolgen mag, einigen Einfluß auf die Religion. Nicht blos die so sehr verbesserte philologische, kritische und historische Erkentnisse,
die sich näher auf die Bibel beziehen, sondern auch die neuern Aufschlüsse in der Naturkunde und spekulativen
Philosophie machen einen gereinigtern Religionsvortrag, als für Luthers
Zeiten erforderlich war,
für unser Jahrhundert nothwendig. Ich kan hierüber jetzt nicht ausführlich werden; aber zur Erweckung des
weitern Nachdenkens wird ein einziges Beyspiel für Leser, wie ich mir wünsche, hinlänglich seyn. Es ist bekant, daß zu den Zeiten der Reformation, und noch lange nachher, diese Erde für den einzigen bewohnten Weltkörper, und die Menschen für die vornehmsten Geschöpfe Gottes gehalten worden sind. Ob man nun gleich dabey auch Engel glaubte, welche höhere
|d258| Kräfte
besässen, so hielt man sie doch in Absicht der künftigen Bestimmung kaum den Menschen gleich, sondern beehrte sie mit dem Amte, hier die
|z53| Menschen, besonders in der Kindheit zu beschützen, und ihnen dereinst an Abrahamstafel zu Tische zu dienen. Mir selbst hat man in meinen Kinderjahren dergleichen Vorstellungen noch beygebracht, wobey man sich auf Ebr. 1, 14. Luc. 16, 22. 1 Cor. 6, 3. berief. So lange man nun nach diesen Ideen das Menschengeschlecht für das vornehmste der göttlichen Werke ansahe, und
dem Zweck der Schöpfung des Weltalls auf
ihre Seligmachung einschränkte,
cd√ konte
man kein zu
übergrosses Mittel erdenken, was nicht immer einer göttlichen Weis
|c285|heit zu
brauchen anständig gewesen wäre, um den Hauptzweck ihrer ganzen Weltschöpfung an den Menschen zu erreichen. – Allein da in
unsren Tagen die Aussich
|b285|ten in die Stadt Gottes dergestalt erweitert worden sind, daß wir unsre Erde nur als ein unbedeutendes Kämmerchen in derselben betrachten können, was man im Ganzen, wenn es völlig wegfiele, gar nicht vermissen würde; da man viele tausend Sonnen, und um jede derselben eine Menge
grösserer Erdbälle, als der unsrige ist,
kennet, und diese insgesamt wahrscheinlich nur ein unendlich
kleinerer Theil des ganzen
Weltalls sind; da kan man wol unmöglich alle Lehrsätze und alle Einkleidungen derselben, wie sie die alten Dogmatiker ausgebildet haben, so schlechthin beybehalten. Wenigstens müssen die, welche
mit Maupertuis
es für einen der stärksten Beweise eines höchst weisen Urhebers des Ganzen erkennen, daß überall zu keiner Wirkung in der Natur mehr Kraft angewandt
wird, als
grade dazu nothwendig ist, eine auffallende Disproportion zwischen Absichten und Mitteln in dem
Kirchensystem finden. Wer also nicht zugleich glauben
kan, daß es weise sey, die Mittel zu den Zwecken genau zu proportioniren, und auch daß die höchste Weisheit zu kleinen endlichen beschränkten Zwecken Mittel,
die ungleich
grösser sind als die Zwecke selbst,
gewählt habe: der wird im
Kirchensystem in vielen Artikeln reformiren müs
|z54|sen. – Deutlicher will ich hier mit
|d259| Vorsatz nicht seyn; ein jeder mache die Anwendung, so gut er
kan!
§. 93.
Mit allen übrigen Lehrartikeln der apostolischen Schriften hat es nun eben die Bewandniß, wie mit der Lehre von der Person Christi . Man verstehet alles, wenn man sich vorher klar macht, wie die unmittelbaren Zuhörer und Leser der Apostel über jeden Lehrpunkt dachten, und alsdenn nur das Ziel in Augen behält, wohin sie geführet werden solten, nemlich zur Furchtlosigkeit |c286| und freudigern Vorstellungen von Gott, und d√ ihren künftigen Schicksalen bey moralischguten Gesinnungen. Um |b286| nur eine Probe zu geben, wie hieraus die Lehrart der Apostel ihr volles Licht erhält, wähle ich die Artikel von den Dämonen und von dem Versöhnopfer Christi .
Dämonenlehre.
- 1.
Vorerkentnisse der ersten Leser. Ihr Juden glaubt, daß eine Menge Dämonen in der Luft sind, welche auf die Seele und den Körper der Menschen und auf die äussere Begebenheiten der Welt einen kräftigen Einfluß haben. Ihr glaubt, daß die mächtigsten unter denselben mit ihrem Anhange in eignen Gebieten herrschen, und sie zu erweitern suchen. Ihr haltet diejenigen, welche euer Reich beschirmen, für gute Engel, die Schutzgeister der übrigen Nationen aber für eure Widersacher und Teufel, und daher auch für Feinde des Jehova, Dan. 10. Jud. 9. Tob. 3, 8. K.
12, 14. 15. Offenb. 12, 3 f.
Diesen bösen Geistern schreibt ihr die meisten Unfälle und verschiedne Arten unheilbarer Krankheiten zu; ja ihr befürchtet, daß ihr im Sterben, wegen der Uebertretung eures Gesetzes, ihnen ausgeliefert und von ihnen gequälet werden möchtet. Nun will ich mich nicht auf den |z55| Grund oder den Ungrund eurer Meinungen einlassen, aber euch zu eurer Beruhigung nun eine erfreuliche Lehre verkündigen.
- 2. Unterricht der Apostel: Christus ist ein Stärkerer als das Oberhaupt der widerwärtigen Geister. Er |d260| ist dazu gekommen, die Wirksamkeit derselben aufzuheben, und hat in seinem Tode dem Gewalthaber des Todes seine Macht über die Menschen benommen; und zum Beweise davon alle, die vom Teufel überwältiget waren, gesund und frey gemacht. Nun ist er über alle Dämonen und Geister, sie mögen über, auf oder unter der Erde seyn, erhöhet; alles ist unter sei|c287|ne Füsse gethan. Wer daher an Christum glaubt, |b287| und redlich seinen Vorschriften gemäß lebt, an den hat Satan keine Gewalt, sondern er fliehet vor ihm. Aber durch Abfall vom Christenthum, und durch Betrug und Lieblosigkeit geräth man in der Teufel Gewalt und Verdamniß, Ebr. 2, 14. 15. 1 Joh. 3, 8. Eph. 6, 12. 16. 1 Tim. 4, 1. 1 Joh. 3, 10.
Versöhnungstod Christi .
- 1. Vorerkentnisse. Ihr Juden glaubt nach Mosis Gesetz, daß niemand als nur der Hohepriester einen nahen Zutritt zu Gott habe; daß man daher eines solchen zum Mittler und Fürsprecher bey Gott beständig bedürfe. Ihr glaubt, daß wer nicht alle Worte des Gesetzes erfülle, vom Herrn verflucht sey; und daß
keine Vergebung ohne Blutvergiessen erfolgen könne. Unter diesen Verhältnissen lebtet ihr in Angst und Todesfurcht; aber nun verkündigen wir euch ein Evangelium.
- 2. Apostolischer Unterricht: Christus ist uns von Gott zu einem ewigen unsterblichen Hohenpriester verordnet, er ist ein für allemal mit seinem eignen Blut, das mehr werth ist, als aller Böcke und Kälberblut |z56| und alles Lösegeld von Metall, in das Allerheiligste eingegangen, und hat dadurch eine ewige Erlösung und Befreiung von allen Strafen, die Mose den Uebertretern seines Gesetzes gedrohet hat, gestiftet. Nun ist der Vorhang im Tempel zerrissen, und jeder hat als ein Christ einen ofnen und freien Zugang zu Gott. Die Handschrift, die wider uns Juden war, ist ans Kreutz geschlagen, und aller Fluch aufgehoben, da Christus durch sein Hängen am Holz ihn auf sich genommen hat. Nun bedür|d261|fen Christen auch keines Priesters zum Fürsprecher, sondern sie selbst können in seinem Geist ihn überall wohlgefällig als Vater anbeten. Aber nun muß auch jeder Christo leben, der für ihn |b288| |c288| gestorben ist, wenn er dereinst auch mit ihm in seiner Herrlichkeit leben will, Ebr. 2, 12. Luc. 23, 45.
Es erhellet ganz deutlich, daß diese Lehrart die Juden gerade zu dahin brachte, alle Furcht fahren zu lassen, und die zur Glückseligkeit nöthige Freudigkeit zu Gott, besonders in Absicht der Zukunft, zu fassen, und überhaupt geistiger und vernünftiger zu denken und zu handeln. Aber auch in diesen Lehren ist eine grosse Mannigfaltigkeit der besondern Einkleidung, für die verschiedenen jüdischen Sekten und für die Heiden, in den heiligen Schriften anzutreffen. Nirgends wird denen, welche von den bösen Geistern nichts wußten, es zu einer Seligkeitsbedingung gemacht, dergleichen zu glauben; nirgends den Heiden gesagt, daß sie ohne Söhnopfer keine Vergebung zu hoffen gehabt hätten. Hieraus folgt demnach die Regel der Amtsklugheit: man wähle bey jeder Klasse der Zuhörer den nächsten Weg, sie mit Vertrauen, Liebe und Freudigkeit zu Gott zu erfüllen. Haben sie keine ängstliche Vorstellungen von der Gewalt böser Geister, so erwecke man sie ihnen nicht erst. Sind sie bereits von so hellen Einsichten, daß sie von Gottes väterlicher Güte Verzeihung, ohne vorgängiges Blutvergiessen oder andre |z57| Geschenke, hoffen, so bringe man sie nicht erst auf die finstere jüdische Begriffe zurück. Findet man dagegen unter den Christen Leute vor sich, die so weit in ihren Vorerkentnissen zurück sind, wie ehedem die Juden waren, nun dann führe man diese denselben Weg, den die Apostel von da aus vorgezeichnet haben. Wer jenseit des Stroms sich befindet, bedarf einer Brücke um herüber zu kommen, es wäre aber thöricht, wenn man Leute, die disseit des Wassers wohnen, darum erst auf einem gefährlichen Nachen über den Strom herübersenden wolte, um auch sie über die Brücke in die Stadt herein zu bringen. Die Lehre vom Opfertode cd√ ist die Brücke für alle; welche |d262| da stehen, wo sich die Juden zur Zeit der |b289| |c289| Apostel befanden: unsre denkende Christen wohnen schon disseits.
Lieset man nun die Schriften der Kirchenväter aus den ersten Jahrhunderten, so findet man fast durchgängig den Tod Christi
als das Erlösungsmittel von der Gewalt des Todesengels oder des Teufels
vorgestellt, aber keine Spur von der spätern Lehre, daß Gott
d√ besänftiget oder ihm eine Genungthuung geleistet werden sollen. Ein jeder christlicher Schriftsteller entwickelte sich, nach seiner
eignen besondern Philosophie, die Gründe und die Art und Weise der Erlösung vom Teufel. Einige lehreten, der Körper Jesu
sey dem Teufel als eine Lockspeise vorgehalten worden, damit Christus
den Satan, wenn er glaubte, eine Menschenseele zu haschen, selbst fassen und gebunden ins Gefängniß führen können.
Gregor von Nazianz
.
Rede 39.
Andre wie
z. B.
Augustin sagten: Gott hätte zwar nach seiner Allmacht dem Teufel seine Gewalt über die Menschen nehmen können, aber
dis hätte sich für Gott nicht geschickt, sondern der Teufel hätte durch Gerechtigkeit
besiegt, oder nach Urtheil und Recht seiner Herrschaft über die Menschen,
die sich ihm freiwillig unterwürfig ge
|z58|macht
hätten, beraubt werden müssen. Gott hätte daher veranstaltet, daß der Teufel Gelegenheit
gehabt, sich an Christo
als einem völlig Unschuldigen zu vergreifen und
derselben zu tödten, und
eben dadurch hätte er nun das bisher gehabte
Anrecht an die
Menschen verloren. Es ist daher auch diese Vorstellung
in Luthers
Erklärung des zweiten Artikels übergangen: erworben, gewonnen, von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels.
Wer sich selbst ausführlich überzeugen will, wie mannigfaltig von der Apostel Zeiten her die
besondre Vorstellungsarten einer jeden einzelnen Hauptwahrheit, und die Methoden sie mit einander zu verbinden, ge
|b290||c290|wesen sind, und entweder die todten Sprachen nicht geläufig versteht, oder weitläuftige Werke sich nicht anschaffen kan, oder
cd√ durchzustudiren nicht Zeit hat, der lese
die deutsche Uebersetzungen und Auszüge aus den Schriftstellern der ersten
|d263| Jahrhunderte, welche uns der Herr Professor Rößler
zum Theil geliefert hat
und noch liefern wird. Denn ob gleich
Herr Rößler
unter solchen Verhältnissen gegen kirchliche Policeygesetze
schreibt, daß er das herrschende System möglichst schonen
muß, und daher
z. B.
den wichtigen Unterschied zwischen
Θεος (ein Gott) und
ὁ Θεος (der höchste Gott) in seiner Uebersetzung nicht hervorstechen
läßt, so ist doch für Gottesgelehrte durch die
beygedruckte Originalstellen an vielen Orten
gesorgt; und die übrigen Leser,
die auf feinere Lehrbestimmungen zu merken nicht nöthig haben, werden aus der Lesung des Ganzen sich noch immer einleuchtend überzeugen, daß das Christenthum überall nach der Landesphilosophie und dem
Geist des Zeitalters geformt worden ist; daß die jetzt gemeinen Kirchenlehren ehedem unbekant gewesen sind; daß in den
frühern Jahrhunderten das Christenthum gleichsam in der Kindheit sich befunden
d√, so wie es nachher in den finstern Zeiten der
|z59| Barbarey in den Abendländern abermals noch sinnlicher geworden
d√; und daß also bey einer solchen Aufklärung der Vernunft und aller Wissenschaften, als Gott in diesem
Jahrhundert uns gönnet, nothwendig eine Absonderung der groben
Begriffe und eine geistigere Vorstellung der Lehre Jesu
, als von den Zeiten der Apostel an
bis jetzt noch
nie statt finden können,
d√ nicht nur möglich, sondern auch nothwendig
ist.
§. 94.
Ich habe nun, meinem Versprechen gemäß, deutlich dargethan, daß es beym
Christenthum nicht auf Buchstaben oder auf tiefsinnige Lehrbestimmungen, son
|b291||c291|dern blos auf die innere Gemüthslage ankomme; daß nur der Geist der kindlichen Liebe und Freudigkeit gegen den Weltregierer, und der Geist des thätigen Wohlwollens gegen alle Menschen die göttliche Wohlthat sey,
die durch Christum
allen Gläubigen hat
zugetheilet werden sollen; und daß übrigens das Bruch- und Stückwerk aller sonstigen Erkentnisse bey den Menschen, der Seligkeit unbeschadet, mehr oder weniger sinnlich und fehlerhaft seyn kan, und in diesem Leben immer mangelhaft bleiben wird. Paulus
, der Gelehrteste
|d264| unter den Aposteln, bekennet, daß seine Einsichten und seine Auslegungskunst der Schriften
d√ alten
Testaments Stückwerk sey, und daß er sich, wie alle Menschen hier in diesem Leben noch im Kindheitsalter befände, und Gottes Regierungsplan nur wie im Dunkeln sähe, 1 Cor. 13, 9–12. Was würde dieser
grosse Apostel zu den demonstrirten Kirchensystemen der spätern Theologen gesagt haben,
die genau alle Begriffe begrenzen, alle Fragen entscheiden, und von uns verlangen, daß nun keiner weiter denken, sondern seine Vernunft der festgestellten Lehrform unterwerfen soll! Paulus
meint in dem ange
|z60|führten
Kapitel v.
1. 2. 3. daß,
wenn er auch alle Sprachkunde und alle
andre Wissenschaften im vollkommensten Grade
besässe, die Schrift völlig erklären, und alle Religionserkentnisse in einem vollständigen
System liefern, und noch
oben drein Wunder thun
könte, so wäre das alles zusammen
genommen nicht so viel werth, als ein Herz voll Liebe
zu Gott und den Menschen. Er meint ferner
v.
8–13 alle damalige Schrifterkentnisse würden verschwinden, wenn in einem männlichen Alter des menschlichen Geistes reinere Einsichten sich darbieten würden; nur Redlichkeit, Liebe und Hofnung würden immer wesentlich bleiben, und unter diesen bliebe die Liebe das
grösseste und
wirksamste: auf welche Christus
bey Entscheidung der ewigen Schicksale auch nur allein sehen wird, Matth.
|b292| 25,
31 f.
– Ich will gegen diesen ächten
|c292| Geist des Christenthums
den Geist der kirchlichen Orthodoxisterey nicht kontrastiren lassen; ich fühle, daß ich zu lebhaft werden würde, und auch dieses könte den Geist der Liebe schwächen, 1 Cor. 13, 4–7. Gott sey gedankt, daß wir seit zwanzig Jahren so weit empor gekommen sind, daß wir nun wiederum mit Paulo
einsehen, es lasse sich kein allgemeines vollständiges System
cd√ erbauen, weil unser Wissen Stückwerk ist, und daß es thöricht sey, von andern eine völlige
Beystimmung zu
unsrem Glaubensbekentniß zu verlangen! – Allein diese Schrift selbst solte, dem Titel nach, ein System der christlichen Glückseligkeitslehre vorlegen. – Wie stimt dieses mit den vorstehenden Entwickelungen zusammen? – –
|d265| Was ich geliefert habe, theureste Leser, ist kein solches System, wie die Dogmatiker in weitläuftigen Werken aufführen; es ist nur eine Zusammenordnung der allgemeinsten Religionswahrheiten, wodurch Glaube, Liebe und Hofnung unmittelbar
erzeugt werden; auch ist es nur für einen Theil meiner denkenden Zeitverwandten, die mit mir
|z61| ohngefehr gleiche
Denkart und Vorerkentnisse haben, geschrieben. Von den Sätzen und gelehrten Meinungen, worüber die Kirchen sich zanken, findet ihr nichts darin, und da man in der ganzen Christenheit über die Wahrheiten, welche ich §.
81. gesamlet habe, einig ist, so
dünkt mir, es sey dieses ein neuer Beweis, daß eben diese Wahrheiten nur allein wesentlich sind; und daß die streitigen Lehrbestimmungen das
Zufällige ausmachen, welches eben so wenig bey allen gleichförmig seyn kan, als die einzelnen Gesichtszüge der Menschen, ob wir gleich alle ein
menschlich Gesicht in Absicht des Wesentlichen
der Organisirung haben. Freilich werden hundert Leser meines Systems auch hunderterley verschiedene Vorstellungen von den Wahrheiten,
die sie hier
lesen, in dem
Innern ihres
Gemüths sich ausbilden, wenn sie
|b293| |c293| es gleich alle verstehen. Es ist unmöglich, daß alle in gleichem Grade der Klarheit, Deutlichkeit, Bestimtheit,
Gewisheit und des Lebens die Begriffe fassen solten, und die
bisherige Vorerkentnisse eines jeden,
die sich sogleich beym Lesen einmischen, müssen unendlich verschiedene Gedankenreihen darüber erzeugen.
Wenn aber nur jeder, nach seiner persönlichen Denkungs- und innern Empfindungsart, Gott über alles liebt und als den erfreulichsten Gegenstand der herzlichsten Anbetung
verehrt; wenn nur jeder nach seiner Fähigkeit sich die herrlichsten Aussichten für die Zukunft eröfnet, und unbegrenztes Vertrauen zu Gott
faßt, und wenn nur jeder nach dem
Maaß seiner Kraft Gott immer ähnlicher zu denken und zu handeln strebt
, und mit seinem ganzen
Gemüth dem Nächsten wohlwill und
liebt, o so sind wir alle gleich selig und Gott gleich wohlgefällig, so weit auch immer der Abstand in den Graden der Vollkommenheit
unsrer einzelnen Begriffe zwischen uns seyn mag.
§. 97.
Ich habe nun, wie ich glaube, sehr deutlich dargethan, daß eine völlige Einförmigkeit des
Lehrbegrifs niemals in
|d281| der Welt statt finden könne, und daß die Mannigfaltigkeit der Religionen überhaupt weit mehr nützlich als schädlich sey. Solten mich dieser freimüthigen
Aeusserungen wegen einige Eiferer unter den
|z80| christlichen Gottesgelehrten, ihrer Gewohnheit nach, für einen
Latitudinarier, Synkretisten oder Indifferentisten erklären wollen, so würden sie sich nicht so wol gegen mich, als vielmehr gegen den höchsten Regierer der Welt, auf die unbesonnenste Weise vergehen: denn auf diesen würde der Vorwurf zurückfallen. Ich bin es ja nicht, der die Menge der Religionssysteme in den Erziehungsplan des menschlichen Geschlechts hineingebracht hat. Ich war es nicht, welcher der weitern Ausbreitung des Christenthums Grenzen setzte, und den gehoften Erfolg der Kreutzzüge vereitelte. Ich habe nichts
|b311| dazu beyge
|c311|tragen, daß die vielen Sekten in der Christenheit entstanden sind, und daß alle Verfolgungen der herrschenden Parthey, sie gänzlich auszurotten, nicht vermocht haben. Worüber
solte ich also Tadel verdienen? Etwa deswegen, daß ich auf den
wahren Plan der göttlichen Vorsehung, wie er am Tage
liegt,
Aufmerksamkeit erwecke? Oder daß ich zu dem Vater aller Völker das ehrfurchtsvolle Vertrauen
äussere, er könne sich in der Wahl der Wege,
die er die
verschiedene Nationen und jeden Menschen zu dem
Ziel ihrer Bestimmung leitet, nicht irren; sondern
alles werde dereinst, so wie es von ihm herkomt, auch durch ihn und nach seinem
Plan wiederum zu ihm hingeführet werden? Haben nicht schon Christus
, Petrus
und Paulus
eben dieses gelehret? Röm. 11, 33–36. Matth. 8, 10. 11. Apg. 10, 34. 35.
Uebrigens bin ich sehr weit davon entfernt, alle Religionen für gleich gut zu halten. Schon die Allegorie, welche ich in diesen Betrachtungen zum öftern
gebraucht habe,
legt es zu Tage, wie ich hierüber denke. Es können viele Wege zu einer glücklichen Provinz hinführen, und doch wird immer einer vor
dem andern
|z81| kürzer, sicherer und weniger beschwerlich seyn. Derjenige, welchem mehrere Wege, die von seinem
Wohnort ausführen, bekant sind,
|d282| ist im Stande, den besten darunter zu wählen; wer aber nur Einen in seiner Gegend vor sich findet, oder von keinem andern nichts weiß, ist genöthiget, den,
der sich ihm darbietet, ohne weitere Wahl zu betreten. Sehr wenige Menschen befinden sich in solchen Umständen, daß sie ihre Religion wählen könten. Die meisten werden durch die Verhältnisse bey ihrer
Geburt, und durch ihre Erziehung sogleich zwischen die Verzäunungen eines kirchlichen
Lehrbegrifs hineingebracht, und an solche Führer gewiesen,
die selbst keinen andern Weg kennen, und
|b312| |c312| alle, die
ausser ihren Schranken fortzukommen suchen, für unglückliche und verlorne Leute erklären. Kaum wird, selbst in gesitteten Ländern, unter jedem Tausend sich Einer befinden,
der in männlichen Jahren Stärke des Geistes und Vorerkentnisse genung hat, sich selbst einen Weg,
der ihn
grade zum
Ziel führet, zu suchen, oder sich einen neuen zu
bähnen. Und diese einzelne unter
Tausenden machen das kleine Publikum aus, für welche ich eigentlich schreibe: Junge Gottesgelehrte, welche selbst Wegweiser ihrer Zeitverwandten von so mannigfaltiger Denkungsart und Gemüthslage werden wollen, und bey den Streitigkeiten der ältern Theologen, über den
Einzigen richtigen Weg zum Leben, sich nach
Rathgebungen eines Unpartheyischen sehnen: und hiernächst auch die edlen Personen der gesitteten Stände, welche ihren Geist durch Lesung der besten untersuchenden Schriften geübt haben, und mit den Augen ihres
eignen Verstandes sehen und beurtheilen wollen, in wiefern dieser oder jener Weg sie richtig oder durch unnöthige Krümmungen dem
Ziel ihrer Wünsche entgegen
führt: die
|z82|se sind es, welchen ich nützlich zu werden wünsche; ohne bey der übrigen Menge das Vertrauen niederschlagen oder schwächen zu wollen, was jeder zu seinem angewiesenen kirchlichen Wegweiser
gefaßt hat.
Das Gedankenvolle, Enthymematische und Aphoristische der Schreibart, welche ich zu dieser Schrift gewählet habe, macht sie zu einem versiegelten
Buch für alle,
die nicht Stärke des Geistes genung haben, sie
mit Nutzen zu lesen.