Fünfter Abschnitt.
Von den willkührlichen Hypothesen, welche den Einfluß des Christenthums auf die Glückseligkeit verhindern.
§. 41.
Die göttliche Kraft des Evangeliums alle diejenigen, welche es als einen von Gott bekanten Unterricht annehmen, zu immer höherer moralischer Glückseligkeit zu erheben, kan sich nur in so fern äussern, als der Vortrag desselben nach seiner Bestimmung zur Erweckung Gott ähnlicher Gesinnungen gerichtet wird. Die Geschichte der Kirche und Völker lehret, daß solches nicht immer geschehen ist. Schon Paulus klaget 1 Tim. 1, 4 f. daß sich Lehrer in der Kirche einfänden, welche mehr auf Grübeleyen und ins unendlich gehende spekulative Fragen, als auf die wahre Erbauung der Gläubigen dächten, dabey aber den ganzen Endzweck der Lehre Christi, Liebe von reinem Herzen, von gutem Gewissen und ungeheuchelter Treue zu befördern, verfehlten, und bey ihrem gelehrt scheinenden Geschwätz doch selbst nicht wüßten, was sie sagten, oder behaupten wolten. Er warnet den Timotheus wiederhohlentlich 1 Br. 4, 7. K. 6, 4. 5. 20. so wie den Titus K. 3, 9. vor allem gelehrten Schulgezänke; und dennoch hat solches bald nachher unter den Lehrern der Kirche überhand genommen, so daß sie ganz des grossen Gebots der Liebe vergessen, und sich über Fragen, die keiner zu beantworten verstund, über geständliche Geheimnisse, aufs äusserste gehaßt und verfolget haben. Diese Zänkereyen über blos spekulative gelehrte Hypothesen hoben indes noch nicht gerade zu die beseligenden Wirkungen der praktischen Lehren des Christenthums auf, sie änderten dieselben auch nicht merklich, sondern schwächten nur die Aufmerksamkeit auf dieselben, und den Eifer auf ihre Anwendung und Uebung zu dringen. Aber in der ersten Hälfte des 5ten Jahrhunderts gelang es einem afrikanischen Rhetor und Bischof, Augustin, sein aus Vermischung des Manichäismus und der Geschichte der heiligen Schrift entstandenes Privatsystem in der Kirche einzuführen, und mit Gewalt zur herrschenden Lehre der Kirche zu machen. Durch dieses wurde nun gerade zu alle Wirkung des Christenthums auf die Moralität der Menschen, und auf die Beförderung der daraus entstehenden höheren Glückseligkeit gehemmet. Da dieser Mann so wol in der römischen, als in beyden protestantischen
Kirchen noch in einem solchen Ansehen stehet, daß obgleich der grössere Theil der Theologen in allen Kirchen seinen Lehrbegrif verwirft, dennoch jeder sich scheuet ihm gerade zu zu widersprechen, und sich nur bemühet, seinen Worten einen gelindern Sinn beyzulegen; so will ich erst zeigen, wie wenig Augustin die geringste Autorität in der Kirche zu haben verdienet; und denn es beweisen, daß alle von ihm aufgebrachte Lehren den gesamten Einfluß des Christenthums auf die menschliche Glückseligkeit aufheben.
Bey allen theologischen Streitfragen muß man sich zuvörderst deutlich machen, was die Bejahung oder Verneinung derselben für einen Einfluß auf unsre Gesinnungen haben würde. Wird Gott uns nicht liebenswürdiger, unser Vertrauen zu ihm nicht grösser, unsre Betriebsamkeit ihm wohlgefällig zu werden nicht verstärkt, wenn wir die eine oder die andre Meinung annehmen; so können wir die ganze Frage unentschieden lassen, und kaltblütig oder vielmehr mittleidsvoll den Federkriegen zusehen, und uns glücklich schätzen, wenn man uns erlaubt neutral zu bleiben. Hat aber die verschiedne Beantwortung einer Streitfrage einen unmittelbaren Einfluß auf die Gesinnungen, so muß man entscheiden, und dasjenige freymüthig und standhaft sagen und behaupten, was man als Wahrheit erkennet. Zur letztern Art gehören Augustins Hypothesen.
§. 42.
Augustin hat uns selbst seine Lebensgeschichte in seinen
libris confessionum aufgezeichnet. Ich übergehe, daß er nach seinem eignen Geständniß sehr heftige Leidenschaften gehabt, und in seiner Jugend sich den aller lüderlichsten Ausschweifungen überlassen, auch seine Aeltern, wo er nur gekont, bestohlen und betrogen hat; dis hat nur einen entfernten Einfluß auf seine Lehren. Allein folgende von ihm erzählte Umstände, verdienen unsre größte Aufmerksamkeit:
- a) Daß er einen beständigen Widerwillen gegen die griechische Sprache gehabt, und solche durchaus nicht erlernen gewolt hat. Daher ist es nun gekommen, daß er das neue Testament nur blos in der lateinischen Uebersetzung, die Schriften der griechischen Kirchenväter aber gar nicht gelesen hat, folglich sich auch keine gründliche Erkentniß von dem, was bisher in der ältern griechischen Kirche gelehrt worden war, zu verschaffen im Stande gewesen ist.
- b) Daß er die Gelegenheiten, welche seine Aeltern ihm zum studiren machten, gar nicht benutzet, sondern sich in allen auf sein eigen Genie allein verlassen, und daher auch alle eigne Einfälle ohne lange Prüfung behauptet, und mit seinem lebhaften Witz wahrscheinlich zu machen gesucht hat: wie besonders seine elenden Kommentarien über die heilige Schrift zeigen.
- c) Daß er eine geraume Zeit die Rhetorik zu Karthago, Rom und Milan gelehret hat, und daher in allen Klopffechterkünsten, eine Meinung durchzusetzen und andre davon zu überreden, geübt gewesen ist.
- d) Daß er, ehe ihn Ambrosius bestimt hat, das Christenthum anzunehmen, sich zum manichäischen Lehrbegrif bekant hat. Da dieser Umstand das meiste Licht über sein nachmaliges System vom Christenthum verbreitet, so muß hierüber folgendes bemerkt werden. Manes war ein persischer Gelehrter, der das alte philosophische Lehrgebäude der Magier oder Sabier unter den Christen einzuführen suchte, und zu diesem Zweck sich für den größten der Apostel, oder für den παρακλητος, welchen Christus an seine Statt zu senden versprochen hatte, ausgab, und vermöge dieser höhern Gesandtschaft der übrigen Apostel Schriften verbessern wolte. Ob nun gleich nachher Augustin gegen die Manichäer geschrieben, in so fern sie die heiligen Bücher veränderten und allerley schwärmerische Lehren mit dem Christenthum vermischten, so behielt er doch im Grunde das philosophische System der Magier bey. Nach demselben war zwar nur ein Gott, als das principium des Guten, unter dem Bilde eines Lichts, welches sich immerfort auszubreiten sucht; zugleich aber auch ein objektives principium der Materie unter dem Bilde der Finsterniß, welches die Ausbreitung des Lichts hinderte, und woraus alles Uebel in der Welt entstünde, angenommen. Da nun schon Tertullian und die meisten damaligen afrikanischen Kirchenlehrer die Seele für materiell hielten, und lehreten, daß sie per traducem aus Partikeln der Seele der Aeltern entstünde, so mußte nun Augustin nach seiner Philosophie ganz natürlich auf das System kommen, daß die Seele durchaus zu allem Guten unthätig sey, und Gott alles übernatürlich in ihr wirken müßte. Hieraus sind denn weiter alle übrige Lehren desselben von Prädestination und Verwerfung; von willkührlichen Handlungen Gottes; von unwiderstehlichen Wirkungen der Gnade u. s. w. geflossen, welche allen eignen Fleiß in der Gemüthsbesserung und Tugend und alles kindliche Vertrauen zu Gott bey den Menschen vernichten.
Die Auflösung der Frage, woher das Böse in der Welt komme, wenn man nur ein höchst gütiges und unendlich mächtiges Wesen zum Urheber derselben annimt, hat von je her die scharfsinnigsten Weisen in Verlegenheit gesetzt. Man glaubt mehrentheils allgemein, daß die Magier um den Ursprung des Bösen zu erklären ein doppeltes effektives Principium oder einen guten und einen bösen Gott angenommen hätten, welche mit fast gleicher Kraft gegen einander wirkten, woraus die Mischung des Guten und Bösen in der Welt entstünde. Gewiß ist, daß die Juden ihre Theorie vom Teufel zu Babylon daraus erlernet haben. Man darf nur 2 Sam. 24, 1. mit 1 Chron. 22 (21), 1. vergleichen, um sich davon zu überzeugen. Nach einer fast allgemeinen Vermuthung sind die Bücher Samuels vor der babylonischen Gefangenschaft aufgesetzt oder vielmehr aus vorher geschriebenen Nachrichten excerpirt worden. Damals hatte das jüdische Volk noch zu wenig Kultur, es anstössig zu finden, daß der Jehovah willkührlich handeln, und auch zu moralisch bösen Handlungen jemand
reizen könne. Es wird daher 2 Sam. 24, 1. gesagt, der Jehova wäre ergrimt, und hätte den David gereizt das Volk zu zählen. Dagegen wird in den Büchern der Chronike, welche unläugbar nach der babylonischen Gefangenschaft geschrieben worden sind, 1 B. 22, 1. eben dieselbe Anreizung des Davids das Volk zu zählen, dem Satan zugeschrieben, welchen nun die Juden, als das dem guten Gott entgegen wirkende, jedoch etwas schwächere Wesen in Chaldäa kennen gelernt hatten. Mir scheint es aber höchst wahrscheinlich, daß die alten persischen Weisen, so wol von den Juden, als von ihren spätern und minder scharfsinnigen Gegnern nicht recht verstanden worden sind, und daß sie in ihrer Bildersprache schon eben das zur Erklärung über den Ursprung des Bösen in der Welt gelehret haben, was in neuern Zeiten vom Leibnitz und von andern christlichen Vernunftweisen deutlicher und bestimter behauptet worden ist. Nemlich es kan schlechthin kein endliches Ding unendlich vollkommen werden, denn sonst würde es Gott: folglich kan jedes endliche Ding nur einen gewissen Grad der Realität oder des Guten erhalten, und daher wird die Mittheilung des Guten an die Objekte durch derselben wesentliche Schranken begrenzt. Da nun aus den wesentlichen Schranken der Dinge ihre natürliche Mängel und Unvollkommenheiten, so wol die physischen, als moralischen entstehen; so erhellet, daß Gott zwar der Urheber aller Realitäten und alles Guten, nicht aber der Hervorbringer irgends eines Bösen sey, als welches blos etwas Negatives ist, welches aus der innern nothwendigen Beschaffenheit des Endlichen entsteht. Dis scheinen mir die alten chaldäischen Weisen eingesehen zu haben, indem sie eigentlich nur
ein höchst mächtiges und gutes Wesen zum
wirkenden principio unter dem Bilde des Lichts, was sich immer auszubreiten sucht, angenommen haben, welches aber durch das gleichfals ewige und von jenem nicht abhängende an sich unthätige
principium der objektiven Beschaffenheit der Materie oder der endlichen Dinge, das sie als eine das Licht begrenzende Finsterniß dachten, in seinen Wirkungen eingeschränkt werde. Ich überlasse indes diese meine Vermuthung der weitern Prüfung der Gelehrten. Was nun des Augustins kirchliches System betrift, so kan man es als die Urquelle aller Unrichtigkeiten in demselben ansehen, daß er Natur und Gnade als entgegengesetzte
principia der Handlungen und Veränderungen im Menschen gedacht hat. Dis war eine natürliche Folge der manichäischen Philosophie. Nirgends wird in der heiligen Schrift die Gnade der Natur entgegengesetzt, sondern überall heißt
χαρις nach dem gemeinen Sprachgebrauch, so viel als Gunst oder Wohlwollen, und
metonymice im Gegensatz eines verdienten Lohns, was aus freier Güte oder umsonst gegeben wird, so erklärt es Paulus auf das bestimteste Röm. 11, 6. Das ganze Evangelium wird daher ein Gnadengeschenk genant, im Gegensatz der jüdischen Einbildung, als ob sich die jüdische Nation ein Vorrecht durch vorhergegangne Verdienste zu demselben erworben hätte, und demnach die Heiden von dessen Genuß auszuschliessen wären. Hiergegen lehret Paulus Röm. 3. daß die Juden eben so lasterhaft als die Heiden gelebt hätten, und ihnen also das Glück selig oder Christen zu werden von Gott allein aus freier Güte ganz umsonst ohne Rücksicht auf vorhergegangne Werke und Verdienste zugetheilet würde.
§. 43.
Die neuen bisher in der ältern Kirche unbekanten Lehren, welche Augustin aufbrachte und allgemein zu machen suchte, sind hauptsächlich folgende:
- 1. Daß alle Menschen schon in Adam gesündiget hätten, und daher kleine Kinder, wenn sie, ohne die Gnade der Taufe erlangt zu haben, verstürben, ewig verdamt blieben, wenn sie gleich selbst noch keine Sünden begangen hätten.
- 2. Daß die ganze Natur des Menschen durch Adams Fall durchaus verdorben und zu allem Guten völlig untüchtig sey, so daß der Mensch gar nichts Gutes denken, reden oder thun könte, sondern nur aufs Böse zu dichten durch seine Natur gedrungen würde: und überall keinen freien Willen habe.
- 3. Daß daher die Gnade Gottes jeden einzelnen guten Gedanken und jede einzelne gute Bewegung des Willens selbst im Menschen wirken müsse, ohne daß der Mensch weder durch Vorbereitung noch durch Mitwirkung dabey förderlich seyn könte, sondern sich bloß leidentlich und unthätig verhalten müsse.
- 4. Daß Gott eine gewisse Anzahl der Menschen ausgesondert habe, die er selig machen wolle. Nur für diese sey Christus gestorben, nur diese erhielten die Gnade, sie möchten sie haben wollen oder nicht; denn sie wirke unwiderstehlich. Alle andre Menschen blieben elend und verdamt und könten nicht gut werden, sie möchten sich darnach bestreben wie sie wolten. Gott habe diese nur erschaffen um an ihnen zu zeigen, was der freie Wille des Menschen für eine ohnmächtige Sache sey, wenn ihm die Gnade versagt würde.
Solche harte Lehren konte indes Augustin nicht so leicht in der Kirche einführen. Die ersten, die ihm widersprachen, waren Pelagius und Cälestius, ein paar Privatchristen (
monachi), die kein öffentlich Lehramt begleiteten, aber so wol wegen ihrer schon durch Schriften gezeigten Gelehrsamkeit, als wegen der strengen Untadelhaftigkeit ihres Lebens vom Augustin selbst bisher sehr gelobt worden waren. Diese behaupteten gegen jene Sätze desselben:
- 1. Die Sünde sey ein Vergehen des Willens, was vermieden werden könte, nicht aber ein Naturfehler. Die Seelen der Kinder wären nicht aus Theilchen von den Seelen der Vorältern zusammengesetzt, sondern kämen unmittelbar von Gott. Es könten daher die Kinder nicht schon an Adams Sünde Theil genommen haben, und wenn sie ohne Taufe verstürben, deshalb nicht verdamt werden, weil sie dafür nichts könten.
- 2. Der Mensch habe zwar von Natur keine Erkentnisse von Gott und dem wahren Guten und bedürfe daher der Gnade des Unterrichts; er habe aber gute natürliche Vermögen des Verstandes, die ihm bekantwerdende Wahrheiten sich vorzustellen, sie zu fassen und zu benutzen.
- 3. Es müsse daher der Mensch von seinen natürlichen Vermögen Gebrauch machen, und sich selbst bestreben im Erkentniß und in der Ausübung der Religion immer vollkomner zu werden: wozu die Schrift ihn durch so viele Ermahnungen auffordere.
- 4. Gott wolle alle Menschen selig haben und habe alle durch Christum erlösen lassen; biete auch allen hinlängliche Mittel zur Besserung dar: wer demnach unselig bliebe, sey selbst durch den Nichtgebrauch der von Gott ihm natürlich und durchs Evangelium noch ausserordentlich verliehenen Kräfte, schuld an seinem Verderben.
Was nun die Geschichte der öffentlichen Streitigkeiten betrift, so entspannen sich solche zuerst dadurch, daß Pelagius gegen einen Bischof in Rom die vom Augustin in seinen Gebeten so oft gebrauchte Formel: Gieb, Herr, was du befielst, und dann befiel, was du wilst! getadelt hatte. Er behauptete, es sey ganz widersinnisch zu lehren, daß Gott etwas befehlen solte, was uns zu thun unmöglich wäre, da kein vernünftiger Vater von seinen Kindern etwas unmögliches verlangte; und noch widersinnischer, daß Gott, was er uns geben wolte, uns befehlen würde. Dieser Tadel eines Privatchristen ward vom Augustin für ein Verbrechen gegen die bischöfliche Würde angesehen; er suchte daher zuvörderst die hohe Geistlichkeit in Afrika gegen denselben aufzubringen, und nun wurden von diesen gemeinschaftlich Pelagius und dessen Freunde überall verfolgt. Cälestius, der in Karthago Priester werden solte, ward im Jahr 412 vor einer dortigen Synode angeklagt und verdamt, appellirte aber an den Bischof zu Rom. Im Jahr 415 ward Pelagius vor dem Patriarchen Johannes zu Jerusalem auf Anklage der Afrikaner verhört, und für rechtgläubig erklärt: und noch einmal in demselben Jahr zu Diospolis (ehedem Lydda) von einer Versamlung von 14 Bischöfen, die ihn auch für orthodox erkanten. Das Jahr darauf wurden zu Karthago und Mileve Synoden gehalten, welche die dem Pelagius schuld gegebene Irrthümer verdamten, und dem Bischof Innocentius nach Rom zur Bestätigung zuschickten. Aus dessen Antworten an beyde Synoden erhellet, daß dem Pelagius fälschlich aufgebürdet worden, er lehre: der Mensch bedürfe gar keiner Hülfe von Gott, weil er mit hinlänglicher Freiheit des Willens versehen sey. In dieser Voraussetzung ward er ohne gehört zu seyn, vom Innocentius verurtheilt, wiewol dieser sehr weit von Augustins Lehrsätzen entfernt war. Da sich nun viele Bischöfe der griechischen Kirche, besonders in Palästina, des Pelagius und Cälestius annahmen, so verlangte der römische Bischof, daß sie sich zur nähern Untersuchung nach Rom stellen solten. Endlich ward unter dem folgenden Bischof Zosimus zu Rom ein feyerlich Synodalverhör über den Pelagius und Cälestius, welche ihren Lehrbegrif schriftlich eingereicht hatten, öffentlich gehalten, und Zosimus erklärte hierauf durch ein im Namen der ganzen römischen Klerisey nach Afrika abgelassenes Schreiben: Pelagius und Cälestius sind vor dem apostolischen Stuhl erschienen. Freuet euch, diese Männer, welche von falschen Angebern verläumdet waren, nun für solche zu erkennen, die sich nie von unsrer Kirche oder von der allgemeinen Rechtgläubigkeit entfernet haben. Uebrigens nennet Zosimus und die römische Klerisey mit Recht die Streitfragen über die Fortpflanzung der Seele, über die Erbsünde, und die Art und Weise der Gnadenwirkungen, in diesem Schreiben verfängliche Fragen und läppische Streitigkeiten, welche mehr Zerrüttung als Erbauung veranlassen. Hieraus ist nun historisch gewiß, daß Augustins Lehre nicht nur in der griechischen Kirche als etwas unerhörtes angesehen worden ist, und daß des Pelagius und seiner Freunde Behauptungen für den bisherigen altchristlichen Glauben von derselben erkläret worden sind; sondern daß auch die lateinische und besonders die römische Geistlichkeit, die vom Pelagius und Cälestius gegen des Augustins Neuerungen behauptete Wahrheiten für rechtgläubig und katholisch erkläret habe. Man hat also blos Afrika als die Mutter und Pflegerin der sämtlichen damals aufgekomnen Lehren von der Natur und Gnade, der Prädestination und allen übrigen, damit zusammenhängenden Hypothesen anzusehen.
§. 44.
Die afrikanische Kirche beruhigte sich indes nicht bey des römischen Bischofs Zosimus Ausspruche, sondern hielt in den Jahren 417 und 418. abermals Synoden auf welchen beschlossen ward, daß die erste von der römischen Kirche durch den Innocentius gegebene Erklärung, welche doch ohne Untersuchung, auf die blosse Angabe der Afrikaner, ertheilet worden war, gültig seyn; die zweite (des Zosimus) aber verworfen, und nun weiter nicht über das Meer appelliret werden solte. Sie setzten acht Anathematismen gegen alle Pelagianisch denkende auf, liessen 214 Geistliche unterschreiben, legten des Innocentius erschlichnes Gutachten bey, und schickten solches an den kaiserlichen Hof, als ob es das Urtheil der ganzen christlichen Kirche wäre. Hierauf ward auf Ansuchen der Afrikaner ein kaiserlich Edikt von den Prätoren bekant gemacht, nach welchem jeder berechtigt seyn solte, Pelagianisch gesinnte gerichtlich anzugeben, und diese solten mit Konfiskation des Vermögens und unwiederruflicher Landesverweisung überall bestrafet werden. Hierüber frolockt Augustin in seinen Briefen; und da Pelagius und dessen Freunde baten, man möchte sie doch durch gelehrte Männer ordentlich verhören lassen, ehe man sie verjagte, so widersetzte sich Augustin, unter dem Vorwande, daß es den weltlichen Fürsten nicht zukäme, wo die Kirche schon entschieden hätte, zweifelhaft zu bleiben, sondern ihre Pflicht sey blos, ihre Gewalt zu Unterdrückung der von der Kirche Verurtheilten anzuwenden. Der Bischof Zosimus zu Rom mußte selbst nachgeben, um seine Autorität nicht auf immer in Afrika zu verlieren, und überlies alles dem Gewissen der afrikanischen Bischöfe. Noch nicht genung, man erschlich ferner einen kaiserlichen Befehl, darin allen afrikanischen Bischöfen, die auf den Karthaginensischen Synoden nicht gegenwärtig gewesen waren, aufgegeben ward, bey Strafe der Absetzung und Verjagung das Verdammungsurtheil der Pelagianer zu unterschreiben. Die meisten thaten es aus Furcht; doch achtzehn der rechtschaffensten und gelehrtesten Bischöfe faßten das Herz, sich zu widersetzen, und forderten in einem Schreiben an den Bischof zu Thessalonich die morgenländische Kirche auf, daß diese sich der Profanität der Manichäer widersetzen möchten, als welche lehreten: daß kein Mensch, wenn ihm nicht Gott wider seinen Willen, und gegen sein Widerstreben die Geneigtheit gut zu handeln aufdränge, nicht einmal irgends etwas unvollkommen Gutes verrichten oder wollen könte. Hieraus erhellet nun,
daß diese Augustinische Lehre vermittelst willkührlicher Gewalt die ältern christlichen Lehren, welche Pelagius und die Griechen behaupteten, verdrungen hat. Es ist desto unverantwortlicher vom Augustin, daß er sich solcher unchristlichen Mittel zur Ausbreitung seiner Meinungen bediente, da nach seinem eignen Begrif die Pelagianer nicht dafür konten, daß die Gnade Gottes in ihnen nicht die angeblich bessern Einsichten des Augustins wirkte, und sie sich solche nicht selbst geben konnten. Allein man siehet hieraus, daß
in praxi Augustin wohl gewußt hat, daß ein Mensch Freyheit habe, ob er es gleich in der Theorie läugnete.
Man kan hierüber des Herrn D. Semlers historische Einleitung vor dem 3ten Bande der Baumgartenschen Polemik §. 102. f. nachlesen, wo alles hier angeführte ausführlicher aus Originalquellen erwiesen wird. Um sich von der Gelehrsamkeit und Einsicht der Afrikanischen Bischöfe, welche auf den Koncilien die nachmals in der Kirche geglaubte Lehrmeinungen aufgebracht haben, einen Begrif zu machen, darf man nur den 6ten Kanon des 3ten Karthaginensischen Konciliums lesen. In demselben wird für gut befunden festzusetzen, daß man den Todten nicht ferner das Abendmahl reichen wolle, und beygefügt, cavendum quoque ne mortuos etiam baptizari posse fratrum (i. e. episcoporum) infirmitas credat, cum evcharistiam mortuis non dari animadvertit. Wie kan man nun solchen Leuten noch immer zutrauen, daß sie die reine Lehre Jesu aus der heil. Schrift schon eruirt haben, und wie kan man solcher schwachen Bischöfe Aussprüche für heilig halten?
§. 45.
Ob nun gleich Augustin das Glück gehabt hat, sein Ansehen in der abendländischen Kirche dergestalt zu befestigen, daß man auch nach seinem Tode sich gescheuet hat, ihm gerade zu zuwidersprechen, so hat doch immer der grössere Theil der Kirche, und insonderheit die Schule der Skotisten seine Lehren von einer absoluten Prädestination und dem gänzlichen Mangel der Freiheit beym Menschen verworfen. Das Koncilium zu Trient hat auch, indem es Kalvins Lehren verdamte, bey aller äussern Ehrerbietigkeit gegen den Augustin im Grunde den Lehrbegrif desselben über die Gnade zugleich verdamt; und dis ist von der römischen Kirche aufs neue durch Verwerfung des Jansenismus geschehen. Denn wer nicht auf Worte, sondern auf Begriffe sieht, kan nicht einen Augenblick zweifeln, daß Kalvin und Jansenius Augustins System und noch überdis mit einiger Milderung und grösserem Anschein der Wahrheit vorgetragen haben. Selbst wo das Koncilium zu Trient den Worten nach mit dem Augustin übereinzustimmen scheint, ist oft eine grosse Verschiedenheit der Begriffe, besonders in dem Wort Iustitia, und man kan es daher als den immer katholisch gebliebenen Glauben der Kirche ansehen, daß Gottes Gnade und hülfreiche Veranstaltungen allgemein sind, und es von der Freiheit der Menschen abhange, wie sie solche brauchen wollen.
Mit Recht wird übrigens in dem Augsburgischen Bekentniß der Satz: daß der Mensch blos durch eigne Kräfte ohne höhere Hülfe sich völlig bessern könne, verworfen, es ist aber historisch unrichtig, daß Pelagius diesen Satz gelehret hat.
§. 46.
Daß Lutherus, als ein ehemaliger Augustiner Mönch für desselben Lehre sehr eingenommen gewesen ist, beweißt seine Schrift de servo arbitrio: es ist aber auch bekant, daß Melanchton die allgemeine Gnade und die Freiheit des Willens behauptet, und selbst Luthern nach und nach dazu bestimt hat, wenigstens von der eifrigen Behauptung der harten Prädestinationslehre nachzulassen, und die allgemeine Gnade Gottes zu lehren. Indes ist dennoch von Augustins anderweitigen Begriffen noch viel unausgemerzt geblieben, und wenn ich freimüthig sagen soll, wie es ist: wir haben noch alle Prämissen von Augustins Fato und läugnen nur die Folgerungen. Wir würden indes hierüber bald mehr aufgekläret worden seyn, wenn nicht der sanfte Melanchton und dessen sanfte Schüler von einigen Eiferern unter den ersten Schülern Luthers in den synergistischen Streitigkeiten unterdrückt worden wären. Es geht aber gewöhnlich so, daß die kleine Anzahl der Männer von deutlichen Einsichten in die Wahrheiten, bey welchen das Gemüth ohne Leidenschaft bleibt, von dem grossen Haufen derer überschrieen werden, welche wegen Verworrenheit der Erkentniß sich erbossen, daß sie die Wahrheit ihrer Lehrsätze nicht so deutlich darthun können, als sie solche zu fühlen glauben.
Wie richtig Melanchton schon gedacht, erhellet unter andern aus der Stelle, welche in der letzten Wittenbergischen Ausgabe seiner Loc[.] theol. vom Jahr 1543 unter dem Artikel de humanis viribus seu de libero arbitrio, zu finden ist: Praeterea si nihil agit liberum arbitrium, interea donec sensero fieri illam regenerationem, de qua dicitis, indulgebo diffidentiae et aliis vitiosis affectibus. Haec Manichaea imaginatio horribile mendacium est, et ab hoc errore mentes abducendae sunt et docendae, agere omnino aliquid liberum arbitrium – Nec admittendi sunt Manichaeorum furores, qui fingunt aliquem esse numerum hominum – qui converti non possint. – Si tantum expectanda esset illa infusio qualitatum sine ulla nostra actione sicut Enthusiastae et Manichaei finxerunt, nihil opus esset ministerio evangelii; – nulla etiam lucta in animis esset etc. Wie handgreiflich wahr ist dis alles für jeden noch ungelähmten Verstand.
§. 47.
Die Schweitzerischen Reformatoren waren auch nicht einerley Meinung. Zwinglius war für die Lehre der heiligen Schrift, Kalvin aber für die Augustinische, jedoch dabey ein besserer Logikus als die Lutheraner, indem er nicht blos die Prämissen, sondern auch ihre Folgerungen annahm und lehrete. So groß indes das Ansehen dieses verdienstvollen Mannes in der Schweitzerischen Kirche und den von dort aus unterrichteten englischen Presbyterianern gewesen ist, so hat dennoch Augustins Lehre auch in dieser Kirche niemals einen allgemeinen Beyfall gefunden. In Holland brach darüber zwischen dem Arminius und Gomarus ein öffentlicher Zwist aus, welcher die Synode zu Dortrecht veranlaßte, auf welcher abermals mit Hülfe der weltlichen Obrigkeit Augustins Lehre die Oberhand behielt, da man doch nicht hätte disputiren, sondern abwarten sollen, bis die Gnade den Arminianern bessere Einsichten infundiret hätte. Allein auch diese Synode ist nicht überall, und insonderheit auch nicht in den Brandenburgischen Landen von den reformirten Kirchen angenommen worden, und in England ist im Jahre 1662 der weise königliche Befehl ergangen: daß die Prediger ihre Zeit und Fleiß nicht in Untersuchung der tiefen und spekulativen Dinge, ins besondre solcher, welche die verborgene Fragen von der ewigen Gnadenwahl und Verwerfung; die unbegreifliche Weise, wie Gottes freie Gnade, und des Menschen freier Wille bey einander bestehen u. d[.] g. betreffen, verschwenden sollen.
Man findet diesen königlichen Befehl aus dem Benthem gezogen in Alberti Briefen den neuesten Zustand der Religion in England betreffend Th. 3. Br. 39.
§. 48.
Aus dieser Geschichte von der Entstehung, Ausbreitung, und Erhaltung der Augustinischen Hypothesen erhellet nun offenbar, daß sich kein Wahrheit suchender christlicher Theologe durch das noch immer, blos wegen mangelhafter Kentniß der Kirchengeschichte, bisher fortdaurende Ansehen Augustins abhalten lassen muß, in der heiligen Schrift selbst zu forschen.
Man kan sicher behaupten, daß jetzt der ungleich grössere Theil der Theologen in der römischen und beyden protestantischen Kirchen die manchäischen Schwärmereyen von magischen und überwältigenden Einwirkungen Gottes in den Menschen verwirft: zumal denselben unser Selbstgefühl und die tägliche Erfahrung widerspricht. Ein jeder wird sich bewußt, wie viel er selbst zu seinen guten Entschliessungen beyträgt, und keiner der frömsten Christen zeigt übermenschliche Tugenden, die eine übernatürliche durch ihn wirkende Kraft erwiesen, und sich nicht aus der moralischen Wirkung der Religionswahrheiten aufs Gemüth nach psychologischen Naturgesetzen völlig erklären liessen. Allein es ist von Augustins System fast in alle Artikel der Dogmatik etwas übergegangen, und ehe dieses nicht alles weggeschaft und das lautre Christenthum wieder hergestellet wird, ist gar nicht daran zu dencken, daß die Lehre Jesu die volle Wirkung zur Verbesserung der Moralität und Glückseligkeit der Menschen äussern werde. Es ist daher nöthig, die vornehmsten Lehrsätze, welche diese wohlthätige Wirkungen noch gerade zu hindern, ins Licht zu setzen und den ganzen afrikanischen Brast der willkührlichen Lehrbestimmungen gänzlich aus der Philosophie des Christenthums oder dem dogmatischen System herauszuwerfen. Hiedurch allein kan die Kirchenverbesserung vollendet werden.
§. 49.
Wenn man Augustins Lehrsätze nach der Ordnung, in welcher sie gewöhnlich in dogmatischen Lehrbüchern unter verschiednen Artikeln aufgestellet werden, nach einander prüfen will, so würde der erste Satz seyn:
daß alle Menschen schon in Adam gesündiget haben, und ihnen daher desselben erste Vergehung von Gott zur Schuld angerechnet wird. Die Afrikaner konten dis lehren, da sie Röm. 5, 12. in ihrer lateinischen Bibel an statt:
weil sie alle gesündiget haben, lasen:
in welchem, nemlich Adam, sie alle gesündiget haben (statt
ἐφ’ ὡ,
in quo): und dieses stimte mit ihren Begriffen von der Materialität der Seele und deren Fortpflanzung überein. Denn sind unsere Seelen Partikeln der Seele Adams gewesen, so haben wir allerdings sämtlich zu seinen Vergehungen mitgewirkt. Nachmals, da man die Körperlichkeit und Erzeugung der Seele aus Bestandtheilen der Aeltern verwarf, mußte man zu einem neuen willkührlichen Satz seine Zuflucht nehmen, um das Forterben der Sünde begreiflich zu machen. Zu diesem Behuf nahm man an: Adam sey als Haupt des menschlichen Geschlechts unser aller Repräsentant oder Stellvertreter gewesen, und habe in aller seiner Abkömlinge Namen gehandelt, und also sey nichts unbilliges darin zu finden, daß uns seine Sünde mit angerechnet würde. Denn Gott habe eine Art des stillschweigenden
Vergleichs mit ihm errichtet gehabt, nach welchem, wenn er gehorsam bliebe, alle seine Nachkommen glücklich seyn; wenn er aber ungehorsam würde, auch seine sämtlichen Abkömlinge mit ihm dem Elend preiß gegeben werden solten. Diese Einkleidung ist aber eine blosse Erfindung des menschlichen Witzes ohne biblischen Grund, voller Widersprüche gegen sich selbst, gegen die reinen Begriffe von Gott, und gegen das Christenthum, auch nach ihren Folgen der Moralität der Menschen äusserst nachtheilig: denn
- 1. jemand eine Handlung imputiren oder zurechnen heißt, ihn für die freie wirkende Ursache oder den Miturheber derselben erkennen und erklären; es ist daher widersprechend von Gottes höchstem Verstande zu denken, daß in demselben alle Nachkommen Adams als Urheber seiner Vergehung vorgestellt werden könten, da sie es doch nicht sind.
- 2. Daß Adam in unsrer aller Namen gehandelt, wird nirgends von der Schrift behauptet, und da wir ihm keinen Auftrag deshalb gemacht haben, so würde es willkührlich und ungerecht von Gott gehandelt seyn, wenn er uns, die wir doch eigentlich seine eigne Kinder sind, darum hassen wolte, weil wir durch solche Mittelspersonen in die Welt gesetzet worden sind, an deren üblen Verhalten wir nicht schuld sind, ja die er uns selbst, nicht aber wir, zu Stammältern unsres Geschlechts erwählet hat.
- 3. Es ist kein Grund vorhanden, warum Adam nur beym Sündigen, und nicht auch bey Erduldung der Strafe das ganze menschliche Geschlecht vorgestellet haben soll. Denn ist er wirklich unser Repräsentant oder Stellvertreter gewesen, so muß uns alles nicht nur was er gethan, sondern auch was er dafür gelitten hat, als in unsrem Namen erduldet, zugerechnet werden. Es würde also eine doppelte Ungerechtigkeit seyn, wenn uns nicht nur eine fremde Schuld zugerechnet würde, sondern wir auch dafür abermals, nachdem sie schon an unserm Stellvertreter bestraft und abgethan worden, doch noch einmal büssen solten. Paulus sagt 1 Cor. 15, 22. auch: Gleichwie sie alle in Adam sterben, also werden sie in Christo alle lebendig gemacht werden. Niemand verstehet diese Worte so unrecht, daß er dabey an eine Zurechnung des Todes Adams denken solte, in welchem wir als schon Gestorbene von Gott angesehen würden; sondern man ist einig, daß hierdurch nur gesagt werde; so wie alle Menschen von ihrem Stammvater an, als Adamiten oder Menschen sterben müssen, so sollen alle als Christen zum Leben und zur Glückseligkeit gelangen. Eben so muß man Paulum Röm. 5. verstehen, wo er eigentlich lehret: lange vor Mose und Abraham wäre Sünde da gewesen, und habe sich schon von Adam an über alle Menschen verbreitet, und nun solte eben so allgemein ohne Rücksicht auf Abkunft von Abraham oder auf Moses Gesetz sich durchs Christenthum Besserung und Seligkeit über alle Sünder verbreiten.
- 4. Es würde sonst aus der gemeinen Erklärung von Pauli Worten folgen, daß eben so allgemein alle Menschen in Adam gesündiget hätten, eben so allgemein würden auch alle in Christo gerecht und selig, Röm. 5, 15–19. und so wie Gott allen Menschen durchgängig Adams Sünde, sie mögen nun davon etwas wissen oder nicht, selbige genehmigen oder nicht, dennoch zur Verdammung imputire, Gott auch auf gleiche Art allen Menschen ohne Unterschied, sie mögen darein willigen oder nicht, Christi Gerechtigkeit zur Seligmachung zurechnen müßte. Soll aber eine Ergreifung und Zueignung des Verdienstes Christi erst nöthig seyn, ehe es dem Menschen zu statten komt, so kan auch niemand Adams Sünde eher imputirt werden, bis er diese ergreift, und sich zueignet. Dis wird aber wol nicht leicht von jemand geschehen. Man sieht hieraus, was ein einziger willkührlicher Satz für Verwirrung und Widersprüche im System erzeuget, und wie blind die Schulgelehrsamkeit oft den natürlichen Verstand macht, daß die gröbsten Widersprüche nicht bemerkt werden.
- 5. Will man zur Vertheidigung der Billigkeit des Gott angedichteten Verfahrens, in Zurechnung der Sünde des Stamvaters an alle Nachkommen, sich auf gemeine Fälle des bürgerlichen Rechts berufen, wonach Kinder an den Belohnungen der Verdienste ihrer Vorfahren, eben so wie an den üblen Folgen ihrer Vergehen, überall theil nehmen müssen; so ist doch kein Grund vorhanden, warum nur eine und nicht alle Sünden Adams; kein Grund, warum nur Adams und nicht aller unsrer Vorältern Sünden; kein Grund, warum nur die Sünden und nicht auch das Gute unsrer Vorältern uns imputirt werden solte. Da nun die Schrift so wol ausdrücklich und ausführlich im alten Testament Ezech. 18, 1. folg. und an vielen Orten im neuen Testament, Röm. 2, 6. 2 Cor. 5, 10. Gal. 6, 4. 5. erklärt, daß jeder nur für seine eigne Handlungen Gott Rechenschaft geben solle: als auch alle Zurechnung einer fremden Gerechtigkeit, welche die Pharisäer lehrten, gänzlich verwirft, Matth. 3, 9. verglichen mit Joh. 8, 32 f. so folgt, daß überhaupt der Begrif einer willkührlichen Imputation fremder Handlungen und Gesinnungen ohne biblischen Grund sey; wie denn auch solche Vorstellungen die richtigen Empfindungen des Gewissens verwirren, die Aufmerksamkeit von uns selbst entfernen, und dem Fortgange wahrer moralischen Verbesserung eines Volks höchst hinderlich sind. Es ist demnach im Gegensatz gegen Augustins Behauptung und deren spätere Maskirungen zu lehren, daß Gott jeden Menschen ohne Rücksicht auf irgends einen andern, sich so vorstellt, wie er wirklich in seinen eignen innern Gesinnungen und nach seinem Verhalten beschaffen ist, und ihm nach dieser innern Empfänglichkeit das möglichste Gute nach seiner allgemeinen Vaterliebe zutheilt.
Ueber die allegorische Erzählung Mosis vom Fall Adams ist Jakobi 1, 13. 14. 15. der authentische Kommentarius, aber nicht B. Weish. 2, 24.
§. 50.
Der zweite Satz des afrikanischen Systems ist, daß durch Adams Fall die Natur des Menschen verdorben worden sey, und diese Verderbniß dergestalt forterbe, daß die menschliche Seele bereits mit wirklicher Sünde behaftet, und mit einem positiven Hang zum Bösen zur Welt komme. Diese Lehren flossen ebenfals natürlich aus den Vorstellungen einer materiellen Fortpflanzung der Seelen. Denn ist die Seele der Kinder aus Theilen von den Seelen der Aeltern zusammengesetzt, so kan eine innere Verderbniß derselben, so wie Gicht und Schwindsucht ganz natürlich auf die Kinder forterben. Allein so bald man die Seele für eine unkörperliche einfache Substanz oder Kraft in engerer Bedeutung erkennet, so können die afrikanischen Lehrmeinungen ohne Widerspruch mit Schrift und Vernunft nicht angenommen werden. Man mag nun entweder die Hypothese, daß bey der Zeugung des Körpers die Seele erst von Gott geschaffen werde, welches die Pelagianer glaubten; oder die wahrscheinlichere Meinung, daß die einfache Substanz der Seele durch harmonische Verbindung mit körperlichen Organen, zu Vorstellungen von aussen allererst veranlasset werde, da sie solche aus sich selbst ohne solche Veranlassung von aussen nicht erzeugen kan, annehmen; so erhellet, daß die Sünde auf sie nicht forterben könne, wenn man nicht die grobe Idee hat, daß sie in den Saamentheilchen oder Keim des Körpers schon wohne. In diesem Fall aber würde nicht die Seele, sondern blos der Körper der Erbsünde wegen strafbar seyn. Sehr richtig und stark hat daher schon Julianus mit Beyfall der altgriechischen Kirche gegen den Augustin geschrieben: Es ist keine aus den apostolischen Zeiten her überlieferte oder sonst gegründete Glaubenslehre, sondern in den Zusammenkünften der Bösewichter erdacht, vom Teufel eingeblasen, vom Manes vorgetragen, und vom Marcion ausgebreitet, was man in den Kirchen jetzt predigen will: daß die Sünde eine solche Macht habe, daß sie bereits vor Ausbildung der Gliedmassen, vor dem Entstehen und der Ankunft der Seele, über den Saamentheilchen bey der Empfängniß herflattre, in das Innerste des mütterlichen Leibes eindringe, und die zu Verbrechern mache, die noch erst geboren werden sollen: und auf diese Weise die Sünde früher als der Mensch vorhanden seyn und schon da sitzen soll, die Ankunft der Seele zu erwarten. Es kan auch ein jeder es bey sich selbst fühlen, daß der Gedanke: meine Seele würde gut seyn, wenn Gott nicht durch die Einrichtung, daß sie durch sündliche Aeltern in sündliches Fleisch eingekerkert worden ist, sie hätte verdorben werden lassen; die Begriffe von der göttlichen heiligsten Güte sehr umwölkt. Dergleichen Vorstellungen schwächen die Wirkung des natürlichen Gewissens, indem der Mensch seine Vergehungen denn nicht sich selbst, sondern der Verdorbenheit seiner Natur, wofür er selbst nichts kan, zur Last legt, auch es für vergeblich hält, auf seine Verbesserung Mühe zu verwenden. Richtig sagt daher Cälestius: Man entfernt sich sehr weit von dem Sinn der allgemeinen christlichen Kirche, wenn man eine Erbsünde durch Fortpflanzung behauptet. Denn die Sünde wird nicht mit dem Menschen geboren, sondern von ihm erst nachmals begangen: indem man ja deutlich lehrt, daß Sünden Vergehungen des Willens und nicht der Natur sind. Dieses muß man vorher wohl festsetzen, damit man nicht bey der Lehre von der Nothwendigkeit und dem Nutzen der Taufe dem Schöpfer zum Vorwurf auf die Meinung verfalle, die Sünde würde dem Menschen, ehe er sie begehe, schon durch die Natur überliefert. Longe a catolico sensu alienum est, peccatum ex traduce affirmare: quia peccatum non cum homine nascitur, quod postmodum exercetur ab homine, quia non naturae delictum sed voluntatis esse demonstratur; hoc praemunire necesse est, ne per mysterii (baptismi) occasionem ad creatoris iniuriam, malum antequam fiat ab homine tradi dicatur homini per naturam.
§. 51.
Da indes verschiedne Schriftstellen die Lehrmeinung von einer allgemeinen Verdorbenheit der menschlichen Natur zu begünstigen scheinen, so ist hierüber noch folgendes zu merken.
Erstlich kan Paulus Brief an die Römer als die eigentliche Hauptquelle der herrschenden Lehrmeinungen angesehen werden. Hier komt es nur blos auf eine aufrichtige Untersuchung der Frage an: ob der Zweck Paulus sey, von einer Verderbniß der Natur auch bey Kindern; oder nicht vielmehr von einem Verderbniß der damaligen Nationen in Absicht der unter ihnen herrschenden Grundsätze, Gottesdienstlichkeiten und Laster zu reden. Es ist offenbar das letzte sein Zweck, denn er beweiset in den zwey ersten Kapiteln die unter den Heiden herrschende Verderbniß nicht aus der Abkunft von Adam, sondern aus den unter ihnen im Schwange gehenden Lastern. Noch mehr, er erklärt ausdrücklich die Natur für gut, und behauptet, daß die Heiden durch ihre Vernunft Gott hätten erkennen, und nach ihrem natürlichen Gewissen auf den Weg wahrer Wohlfart geleitet werden können; da sie aber die in ihnen vorhandne Wahrheit in Lügen selbst verwandelt hätten, so wären die traurigen Folgen ihrer Lasterhaftigkeit als Strafen des Mißbrauchs ihrer gehabten hinlänglichen Naturkräfte anzusehen. Ja Kap. 2, 13–15. behauptet Paulus ganz bestimt, daß alle Heiden Einsichten in das göttliche Gesetz und einen Gewissenstrieb solche zu befolgen ohne Offenbarung oder Gnade durch die Naturkräfte ihrer Vernunft wirklich hätten, und viele unter ihnen die Werke des Gesetzes thäten, oder sich in ihrem Verhalten , zur Beschämung der Juden, die ihr geoffenbartes Gesetz vernachlässigten, darnach richteten. Nachher beweißt er ausführlicher, daß die Juden, ob sie gleich mehrere äussere Erweckungen und Hülfsmittel gehabt, doch der ganzen Nation nach, nichts besser als die Heiden wären. Die ganze Stelle Röm. 3, 10. f. handelt daher nicht von einer Bösartigkeit, womit die Juden geboren worden sind, sondern von der Lasterhaftigkeit und Verdorbenheit der Nationaldenkart, die unter den erwachsenen geherrschet hat. Es ist daher auf ähnliche Art die Stelle Eph. 2, 3. wo Paulus nach Luthers Uebersetzung sagt: wir führten unsern Wandel in Lüsten des Fleisches, und thaten den Willen des Fleisches und der Vernunft, und waren auch Kinder des Zorns von Natur gleichwie die andern; dem Zusammenhange und Zweck nach dahin zu erklären: So wie die Heiden nach dem unter ihnen herrschenden Geist der Immoralität sich allerley Ausschweifungen ergeben haben, so haben wir Juden ebenfals uns durch sinnliche Lüste und thörichte Einfälle leiten lassen, und sind der Nation nach nicht minder strafwürdige Leute als andre Völker. Es ist also die Lehre der Schriften neuen Testaments, und der ältesten Kirche: daß die Natur, womit wir geboren werden, gut ist, daß aber der unterlassene Gebrauch der Vernunft, des natürlichen Gewissens, und der übrigen äussern Gelegenheiten zur bessern Erkentniß bey Heiden und Juden ein herrschendes Nationalverderben hervorgebracht hat: folglich solches nicht aus Adams Fall herzuleiten sey: obgleich mit Adams erster Sünde die Sünde in die Welt gekommen ist, und alle erwachsene Nachkommen desselben ihm nachgeahmt haben.
Daß
τα θεληματα των διανοιων nicht den Willen der Vernunft, sondern der Einbildungen, Einfälle und mit
της σαρκος zusammen, das was unsern sinnlichen unter einander laufenden Einbildungen nach uns beliebte, zu erklären sey, bedarf für Sprachkundige keines Beweises. Daß aber
φυσις selbst in Paulus Sprache die Herkunft oder die Nation bedeute, erhellet aus Gal. 2, 15. und daß es solches hier bedeute aus dem Zusammenhange; indem Paulus nicht von angebornen, sondern von wirklich begangenen Sünden, die unter den Juden, wie unter andern Völkern, Mode geworden waren, redet.
Daß die ältere Kirche schriftmässig gelehret habe, dafür will ich blos eine Stelle anführen. Clemens Alex. στρωματεων Libr. 7. sagt: Die Quelle aller Sünden sind Unwissenheit und Schwachheit, an beiden sind wir schuld in so fern wir uns nicht bemühen zu lernen, und die Begierden zu besiegen.
§. 52.
Der dritte Augustinische Hauptsatz ist,
daß der Mensch schlechterdings ganz unvermögend sey, etwas zu seiner Besserung beyzutragen, und Gott daher jeden einzelnen guten Gedanken, jede gute Handlung allein in uns wirken müsse; daher niemand durch alles sein aufrichtiges Bestreben sich forthelfen könne, sondern nur derjenige, den Gottes Gnade ergreife, gebessert würde, er möchte wollen oder nicht. Diese Sätze waren natürliche Folgen der zum Grunde liegenden philosophischen Principien. Man hat in der Kirche solche zu mildern gesucht, weil es in die Augen fiel, daß sie gerade zu allen eignen Fleiß in der Heiligung, wozu wir so oft in der heiligen Schrift aufgefordert werden, ersticken. In der lutherischen Kirche hat man den Satz: Gott müsse alles und der Mensch könne nichts zu seiner Besserung thun; beybehalten, jedoch, um den natürlichen harten Folgerungen zu entgehen, dabey angenommen, daß die Gnade Gottes den Menschen nicht wider seinen Willen bekehre, sondern der Mensch
widerstehen könne. Aber auch diese menschliche Hypothese, von der die Schrift nichts enthält, löset sich von selbst aus einander, so bald man frägt, was denn der
Nichtwiderstand des Menschen sey? ob nicht ein Entschluß des Menschen erfordert werde, nicht widerstehen zu wollen? ob der Mensch sich durch eigne Ueberlegung zu diesem Entschluß bestimmen könne? ob der Mensch die Bestimmungsgründe zu dem Entschlusse, nicht zu widerstehen, durch eigne Kräfte in sich hervor bringen könne? ob nicht ein natürlich Vermögen, das Gute was ihn
zum Entschluß bestimmen soll, als etwas Gutes einzusehen, und eine freiwillige Aufmerksamkeit und Nachdenken darüber erfordert werde? ob also der Mensch nicht viele Handlungen vornehmen muß, die durchaus sein eignes Werk sind? denn wenn sie es nicht sind, so hängt auch der Nichtwiderstand von ihm selbst nicht ab. Sehet da, Freunde der Wahrheit, wie viel Verwirrung menschliche Hypothesen in der Religion hervorgebracht haben, und wie der übertriebne Scharfsinn der Gelehrten, wenn einmal falsche Principien zum Grunde liegen, die leichte Einsicht in die Wahrheit erschweren kan.
§. 53.
Ehe wir vergleichen, was aus der heiligen Schrift für oder wider die gemeine Hypothese vom gänzlichen Unvermögen der Menschen, etwas zur Förderung ihrer Glückseligkeit beyzutragen, angeführt zu werden pflegt, müssen wir erst das Vorurtheil entkräften, als ob Gott oder desselben Gnade in Christo desto mehr verherrlichet würde, je verdorbner und unvermögender die menschliche Natur vorgestellet wird. Hierher gehört
- 1. Alle Realität und alles Gute komt von Gott. Von ihm erhalten wir die Kraft zu denken, Wahrheit und Irrthum, Gutes und Böses, Recht und Unrecht zu erkennen, und zu unterscheiden. Er bleibt der eigentliche Vater unsres Geistes, wenn wir gleich durch unsre Aeltern den organischen Körper, durch welchen Begriffe in uns erweckt werden, überkommen: ja auch dis ist seine Einrichtung; er bildet uns ohne unsrer Mutter Bewußtseyn, ja ohne daß diese weiß, was dazu gehört, zu unsrer Bestimmung. Die Gesetze nach welchen sich unsre Begriffe formen, nach welchen diese auf unsre Begierden wirken, nach welchen wir uns zu vernünftigen moralischen Wesen entwickeln, sind ebenfals von Gott, und nur nach diesen Gesetzen können wir denken und wollen. Auch die äussern Objekte, und die Wirkung, die sie auf uns machen, wodurch die Reihen unsrer Vorstellungen und Begierden bestimt werden, sind von Gott hervorgebracht und in das Verhältniß gegen uns gestellt, nach welchem sie auf uns wirken. Und in dieser Beziehung ist es unläugbar allgemein wahr, daß ursprünglich alles Gute von Gott komt, und der Mensch nicht die geringste reelle Bestimmung in sich erschaffen kan, wozu ihm nicht die Kraft so wol als der Stof von Gott dargeboten würde. Wenn man nun annimt, daß die Kräfte und die Veränderungsgesetze der Entwickelung unsrer Talente von Natur schlecht sind, und nichts zu unsrer Bestimmung beytragen können, sondern Gott unmittelbar andre Kräfte darreichen, oder den natürlichen Gang der Gedanken, wider die ursprüngliche selbst gemachte psychologische Gesetze, alle Augenblicke abändern müsse, so umwölkt man seine Weisheit, und beschuldiget sie offenbar einer grossen Unrichtigkeit oder Mangelhaftigkeit in ihrem ersten Plan. Es ist wenigstens klar, daß man Gottes Ehre auf dieser Seite allemal so viel entzieht, als man ihm auf der andern beylegen will.
- 2. Auch verdunkelt man Christi Verdienste um uns und die durch die Sendung desselben geoffenbarte Güte und Weisheit Gottes ungemein, wenn man annimt, daß Gott auch bey denen Menschen, welchen die Lehre Jesu vorgetragen wird, alle Erkentniß, alles Wollen, und alles Vollbringen des Guten noch durch unmittelbare Wirkung hervorbringen oder ergänzen müsse. Aber alsdenn wird die Weisheit Gottes in Christo verherrlichet, wenn die Anweisungen desselben unsrem schwachen Erkentnißvermögen genau angemessen, und die Beweggründe der Lehre Jesu, nach den natürlichen Veränderungsgesetzen unserer Seele gute Gesinnungen und Thätigkeiten hervor zu bringen, hinlänglich sind; wenn Gottes Liebe auch unsren schwachen Augen in Christi Leben und Lehre so reizend erscheint, daß wir ihn wieder zu lieben und uns ihm ganz zu widmen bestimt werden. Dann harmonirt Gott in der Natur, in seiner Vorsehung und in seinen Offenbarungen durch Christum mit sich selbst, und sein Plan ist vollkommen, ohne daß er denselben augenblicklich nachzubessern nöthig hat.
- 3. Der Mensch wird auch durch die Lehre, daß seine natürlichen Kräfte zu seiner Glückseligkeit mitwirken müssen, gar nicht stolz werden. So bald man nur den manichäischen Irrthum, als ob Natur und Gnade entgegenstehende Principien wären, fahren läßt, so zielt alles zu Verherrlichung Gottes und Christi weit sichtbarer ab. Die ganze Natur des Menschen ist ja auch ein Gnadengeschenk Gottes, da unsre ganze Existenz solches ist. Gott kan also unmöglich mit sich selbst streiten, und durch unsre Natur uns von demjenigen Ziel abziehen, zu welchem er uns durch unmittelbare Wirkungen hin zu ziehen sucht. Ist aber alles, was ich auch natürlich Gutes vermag, Gottes Gabe, wie könte ich darauf stolz werden? Und überdis, was heißt denn tugendhaft seyn anders, als in vollem Maasse das Gute geniessen, was Gott von allen Seiten der thierischen, geistigen und moralischen Natur des Menschen aus freier Güte darbietet? So bald man also die Menschen von den Begriffen, als ob wir Gott dienen könten, und als ob es willkührliche göttliche Vorschriften gäbe, durch deren Beobachtung wir selbst nicht glücklicher würden, entwöhnet hat, so wird ein Mensch sich so wenig auf seinen Fleiß in der Tugend etwas einbilden, als es je einem Menschen einfallen wird, darauf stolz zu werden, daß er selbst Speise und Trank durch seine Naturkräfte geniessen kan, ohne daß erst eine unmittelbare Einwirkung Gottes ihn zum jedesmaligen essen und trinken geschickt machen muß.
Es verhält sich mit den Augen des Verstandes, wie mit den Augen des Körpers. Wer nicht blind geboren wird, hat das Vermögen alle sichtbare Objekte zu erkennen: allein wirklich siehet er wegen dieses blossen Vermögens noch nichts. Es müssen Objekte von aussen sich dem Auge in der Nähe und in gerader Linie darbieten, und es muß ein äusseres Licht darüber verbreitet seyn. Eben so hat jeder nicht blödsinnig geborne Mensch das Vermögen alle gedenkbare Wahrheiten einzusehen; wir sehen aber durch das blosse Vermögen noch nichts wirklich ein, sondern es müssen uns erst alle Begriffe von aussen dargeboten werden. Was uns aber näher vorgelegt wird und mit hinlänglicher Klarheit erscheint, das sehen wir wirklich ein ohne weitere Hülfe. Durch die Lehre Jesu sind die zu unsrem Wohl zu erkennen nöthige Objekte erhellet, und nahe vor Augen gelegt worden. Solten wir nun doch noch nichts verstehen und einsehen können, so müßte Gott die Augen des Verstandes nicht so gut als die Augen des Körpers formiret haben. Nach Augustins Vorstellung ist aller Menschen Vernunft mit dem Staar behaftet, und Gott muß zu jedem einzelnen Blick, wenn dem Menschen eine Wahrheit einleuchten soll, den Staar durch eine unmittelbare Wirkung zurücke ziehen, und so bald Gott damit nachläßt, ist der Staar wieder vor den Augen. Ob diese Vorstellung Gott verherrliche, mag jeder selbst beurtheilen.
§. 54.
Alle Schriftstellen, welche man zum Behuf der Augustinischen Lehre vom gänzlichen Unvermögen der Menschen etwas Gutes zu erkennen, zu wollen, und zu vollbringen anführet, beweisen blos: daß kein einzelner seinen Naturtrieben überlaßner Mensch, so wenig als eine ganze in Aberglauben und Lasterhaftigkeit versunkene Nation sich selbst zu richtigen Einsichten in der Religion, und zu wahrer Tugend ohne äussere Hülfe erheben könne. In dieser Beziehung wird daher das Evangelium als eine göttliche Kraft, welche die Menschen umschaft, einen neuen Geist in ihnen hervorbringt und sie zu guten Werken tüchtig macht, beschrieben. Nirgends aber wird gelehret, daß nun die Christen, welche diesen Geist oder diese neue Einsichten und eine dadurch verbesserte Denkungsart überkommen haben, noch zu jedem einzelnen guten Gedanken, Entschluß oder Vollbringen der Vorsätze eine anderweitige Einwirkung der Kraft Gottes erwarten solten. In eben den Stellen, welche den Worten nach Augustins Lehre am meisten begünstigen, werden die Menschen aufgefordert ihre Kräfte zu brauchen. Das müssen nothwendig Kräfte seyn, deren Gebrauch von ihnen abhängt, indem Gottes Kraft nicht unter der Disposition der Menschen stehen kan; folglich eigne zur Natur des Menschen gehörende Kräfte. Gott ists, sagt Paulus Phil. 2, 13. der in euch wirket, so wol das Wollen als das Ausüben; darum bearbeitet euch recht stark (κατεργαζεσθε), mit größter Sorgfalt und Vorsichtigkeit, glücklich zu werden; wie ihr denn auch bisher schon (der Lehre) folgsam gewesen seyd. Könte die Schrift so reden, wenn blos der Nichtwiderstand vom Menschen gefordert würde? Könte sie den Christen wol befehlen: 2 Petr. 1, 6 f. 10. Wendet allen euren Fleiß, die möglichste Anstrengung (σπουδην πασαν) dazu an, vermittelst der bessern Religionseinsichten nun alle Tugenden zu üben: oder Phil. 4, 8. denket selbst nach, ihr Christen, was ruhmwürdig, anständig etc. ist, und das thut. Müßten nicht alle unzählige Aufforderungen, Ermahnungen und Befehle, welche die heilige Schrift an die Menschen richtet, wenn Augustin richtig lehrte, an die Gnade Gottes und nicht an die Menschen gerichtet werden, und Petrus und Paulus sagen: verhaltet euch nur ganz ruhig und leidentlich, ihr Christen, suchet nicht selbst zu denken oder etwas zu wirken, denn Gott hat seiner Gnade befohlen, in euch alle Gedanken, Entschliessungen und Handlungen ohne euer Zuthun oder Mitwirken hervorzubringen?
Paulus lehret 1 Cor. 2, 14. nicht daß, wie Luther übersetzt, ein natürlicher Menschenverstand die höhere Religionserkentnisse nicht fassen könne, sondern nur daß ein seelischer oder Seelenmensch (ψυχικος) das ist ein an blos sinnliche Vorstellungen besonders in der Religion gewöhnter Mensch es nicht könne, sondern daß ein Geistesmensch (πνευματικος) das ist, ein gesetzter im vernünftigen Nachdenken geübter Verstand dazu gehöre: wie der unläugbare Sprachgebrauch der Worte Seelenmensch und Geistesmensch (ψυχικος und πνευματικος) unter den jüdischen Gelehrten es mit sich bringt.
§. 55.
Der
vierte den praktischen Glückseligkeitslehren des Christenthums sehr nachtheilige Lehrsatz ist:
daß Gott uns Christi Gerechtigkeit zurechne, wenn wir sie im Glauben ergreifen, oder daß uns Gott so dann in Christo, als eben so gerechte Leute, wie Christum selbst ansehe. Ob man nun wol (nach Chyträus Geständniß) Luthern für den ersten Urheber des Satzes: daß der seligmachende Glaube sich eigentlich mit Ergreifung der Gerechtigkeit Christi beschäftige, zu halten hat; so ist er doch eine ganz natürliche Folge aus den
afrikanischen Auslegungsregeln und Grundsätzen. Denn nach eben den Principien, nach welchen aus Röm. 5. eine Zurechnung der Sünde Adams herausgebracht wird, ist auch die Zurechnung der Gerechtigkeit Christi darin gegründet: und nach eben den Rechtsgründen, nach welchen eine fremde Schuld uns imputirt wird, soll uns auch eine fremde Gerechtigkeit zugeeignet werden. Diese Sätze, von Zurechnung fremder Verdienste, werden in der römischen Kirche noch weiter ausgedehnt, so daß jemand auch andrer Menschen überflüssige gute Werke sich erhandeln und vor Gottes Gericht gegen seine eigne Sünden verrechnen, oder durch Einkleidung in die Ordenskutte eines frommen Mönchs im sterben vor Gott sich angenehmer machen kan. Da nun bey diesen Lehrsätzen von der Ueberkleidung mit einer fremden Gerechtigkeit auf einer Seite so ausnehmend viel verworrene Begriffe zum Grunde liegen, und so viele verführerische Mißdeutungen gewöhnlich sind; auf der andern Seite aber ein grosser Theil der Geistlichen denselben als den rechten Kern und Stern des gesamten Christenthums betrachtet, ob er gleich niemals in der ältern Kirche geglaubt, noch selbst in unsrer Kirche symbolisch geworden ist, so ist, wenn nicht der ganze Zweck der Religion Jesu verfehlet werden soll, eine deutliche Entwickelung des wahren und des irrigen in demselben nothwendig.
Die Urquelle der Verwirrung in der ganzen Lehre von der Imputation der Gerechtigkeit Christi liegt in der falschen oder doch undeutlichen Vorstellung von dem Grunde und der Absicht der göttlichen Anforderungen an die Menschen, und der damit verknüpften Vermischung allgemeiner göttlichen Gesetze mit den mosaischen Satzungen. Diese Verwirrung zu heben müssen wir erst die wahre Beschaffenheit der göttlichen Gesetze untersuchen. Alle Vorschriften, die Gott den Menschen und jeder Vater seinen Kindern ertheilen kan, sind entweder blos väterliche Rathgebungen, durch deren Befolgung die Kinder selbst vollkomner und glücklicher werden, oder es sind Dienstforderungen, deren Erfüllung den Kindern selbst zu keinem Vortheil gereicht.
1. Die Gesetze der
ersten Klasse, welche die Kinder blos belehren, wie sie sich vor Schaden hüten und sich Vortheile und Vergnügen verschaffen können, müssen nothwendig von den Kindern selbst befolgt werden, und es kan ihnen durchaus nichts helfen, wenn sie ein Dritter für sie erfüllen solte. So kan zum Beyspiel der älteste Sohn nicht für seine unartigen Geschwister Arzney einnehmen, oder studieren, weil wenn auch der Vater dessen gute Handlungen den jüngern Söhnen zu gute rechnen wolte, diese doch offenbar dabey krank und ungeschickt bleiben würden. Gleiche Bewandniß hat es nun mit allen göttlichen Anweisungen über unser rechtes Verhalten zur Glückseligkeit, indem ihre Befolgung uns selbst vollkomner und glücklicher macht. Es kan uns gar nichts helfen, wenn es auch möglich wäre, daß Gott uns Christi Mässigkeit, Vertrauen zu ihm, Geduld unter den Leiden, u. s. w. zurechnen wolte; weil so lange wir selbst noch von Unmässigkeit, Mißtrauen zur göttlichen Vorsicht, und ungestümer Ungeduld geplaget werden, unser moralisches Elend immer fortdauret. Es ist aber auch nicht gedenkbar, daß Gott sich uns einen Augenblick anders als wir wirklich sind vorstellen solte, indem solches theils an sich ein Irrthum in Gottes Erkentniß wäre, theils uns selbst zum Schaden gereichen würde. Denn wenn Gott sich uns in Christo als moralisch vollkommen denken solte, so würde er sich uns in demselbigen als selige Leute vorstellen, und doch blieben wir die kranken und mit uns selbst im Widerspruch lebenden Geschöpfe. Ueberdis schwächet diese Art der Einbildungen nach ihren natürlichen Folgen alle reelle Hofnungen. Ist es an sich möglich, daß Gott sich mich anders vorstellt als ich wirklich bin, so wird er mich vielleicht im Grabe lassen, und sich vorstellen, als wäre ich in Christo auferstanden und lebte in demselben höchst glückselig. Um diesen falschen Begriffen vorzubeugen, lehret daher die Schrift in eben den Stellen, darin sie sagt, daß wir in und mit Christo gestorben sind Röm. 5, 6. daß wir um mit ihm zu leben, nun selbst der Sünde absterben und uns der Rechtschaffenheit und der Tugenden Christi befleissigen sollen, weil eben das wahre Leben hier und in allen Ewigkeiten nur aus den moralisch guten Gesinnungen, wodurch wir Christo und Gott ähnlich werden, erwächst. Es ist also unläugbar, daß jeder Christ nicht nach dem Maaß, nach welchem er sich Christi Gerechtigkeit zurechnet, oder sich versichert hält, daß Gott sie ihm zurechne; sondern nur nach dem Maaß, als er selbst Christi Sinn und Denkungsart annimt und demselben in seinem ganzen Verhalten nachahmt, glückselig werde. Nur hierdurch werden wir selbst vollkomner. Ja da auch moralische Vorschriften, und das ist göttliche Gesetze beobachten nichts anders ist, als mit sich selbst in Harmonie kommen und alles von Gott dargebotene Gute in vollerm Maaß geniessen, wie §.
19. gezeigt worden, so folgt unmittelbar, daß weil wir nicht einen andern für uns geniessen lassen können, auch kein andrer für uns Gottes väterliche Anweisungen befolgen kan.
2. Die Gesetze der zweiten Klasse sind eigentliche Dienstforderungen, deren Leistungen demjenigen, der sie erfüllet, mehr nachtheilig als vortheilhaft ist: als wenn zum Beyspiel ein Vater von seinem Sohne verlangt, daß er einen Brief bey ungestümen Wetter an einen entfernten Ort überbringen, oder seinen ermüdeten kleinern Bruder auf den Arm nehmen und nach Hause tragen soll. Dergleichen befohlne Handlungen können von einem dritten übernommen werden, und da gilt die Rechtsregel: was jemand durch einen andern leisten läßt, wird so angesehen als ob er es selbst gethan habe; insonderheit wenn die Genehmigung des Gesetzgebers dazu komt. Es kan also in dem angeführten Fall ein Fremder den Brief, oder das ermüdete Kind an den bestimten Ort überbringen. Nun frägt sich, ob es dergleichen Dienstforderungen Gottes an die Menschen gegeben hat und noch giebt? Hier ist nun Moses und Christus wohl zu unterscheiden. Mosis Gesetz enthält unstreitig eine Menge solcher Dienstforderungen. Allein Moses hat eigentlich ein Gesetzbuch für die bürgerliche Staatsverfassung der Juden in Palästina liefern wollen: und da Gott unter dem Namen Jehova zugleich als das bürgerliche Oberhaupt des israelitischen Staats, oder als der Landesherr derselben in den mosaischen Gesetzbüchern erscheint, dessen Residenz die Stiftshütte und nachmals der Tempel war, so kommen im Mose viele zur Religion gar nicht, sondern blos zur Aufrechterhaltung des jüdischen Staats erforderliche Gesetze von Abgaben, Lieferungen und Dienstleistungen beym Hoflager des Jehova vor. Da nun aber die Juden das, was zur Staatsverfassung und zur eigentlichen Religion gehörte, nicht unterschieden, so ward nun von Christo und den Aposteln dieser Unterschied, so viel es nach den geringen Fähigkeiten der Juden geschehen konte, ihnen deutlich gemacht, wie ich dieses in den Bestätigungen meines Systems gegen die Einwürfe einiger Gelehrten, ausführlicher darthue. In dieser Beziehung lehrete daher Paulus: daß durch die Beobachtung des mosaischen Gesetzes, weil es selbst an Sinnlichkeit gekränkelt , keine höhere Glückseligkeit habe befördert werden können, und kein Mensch durch dergleichen Wercke willkührlicher Verordnungen zu wahrer moralischen Güte der Gesinnungen gelange: daß aber Christus nun alle, die unter diesem Gesetze seufzeten, erlöset; alle solche den Menschen nicht beseligende Vorschriften abgeschaft, und eine völlige Freiheit von allen Dienstforderungen der Gottheit seiner Kirche versichert habe. Folglich hat auch von dieser Seite Christus nichts für uns, die Mosis Gesetz nichts angegangen , leisten dürfen, was uns zugerechnet werden könte; aber befreiet hat er uns auf immer von dem Aberglauben, als ob Gott von uns Dienste geleistet haben wolte. Röm. 8. Gal. 5.
Daß es weder von der ganzen lutherischen Kirche, noch in einem symbolischen Buche derselben, noch in der heiligen Schrift gelehret worden sey, daß Christus durch Erfüllung des Gesetzes uns erlöset habe, oder daß sein thuender Gehorsam uns statt eigner Gerechtigkeit angerechnet werde, hat schon mein verehrungswerther Lehrer und Amtsvorgänger D. Töllner mit seiner bekanten scharfsinnigen Genauigkeit in einem eignen Buch: der thätige Gehorsam Christi betitelt, sehr ausführlich dargethan.
§. 56.
Es frägt sich nun zweitens: In wie fern Christi Leiden uns von Gott zur Strafe für unsre Sünden angerechnet werden, oder was für Strafen Christus an unserer Statt habe übernehmen und erdulden können? Um hierüber helle Einsichten zu erhalten, muß man sich vor allen Dingen recht deutlich auseinander setzen, was eigentlich Strafen sind. Man kan gewisser maßen sagen, daß alle Verwirrungen in der gesamten praktischen Religion aus der Verworrenheit des Begrifs der göttlichen Strafen entstehen, und daß daher durch eine richtige Entwickelung dieses Begrifs
auf einmal die meisten Mißverständnisse in der Lehre von Christo und der von ihm gestifteten Versöhnung ihre Auflösung erhalten; und hiermit zugleich die Hindernisse, welche den praktischen Einfluß des
Christenthums auf das natürliche Gewissen der Menschen hemmen, weggeräumet werden. Ich will also versuchen, ob ich nicht auch für solche Leser, die keine geübte Metaphysiker sind, einen Weg bahnen könne, auf welchem sie sich aus dem Labyrinth der hierüber vorhandnen in einander laufenden gelehrten Meinungen heraus helfen können. Man bemerke also hierüber zuvörderst folgendes:
- 1. Bey allen freien Handlungen muß man das physische (materiale) der Handlung von dem moralischen (formali) derselben unterscheiden. Das physische bestehet in der blossen Anwendung der Kraft, eine Veränderung hervorzubringen, oder in der blossen Handlung selbst. Das moralische ist die Beziehung, welche die Handlung auf ein bekantes Gesetz hat. Z. B. Zwey Kinder gehen eine Meile; das eine Kind thut es auf Befehl seines Vaters, das andre wider ein ausdrücklich Verbot seiner Aeltern. Hier ist die physische Handlung bey beyden einerley; sie gehen einen Weg und gleich weit: aber die verschiedne Beziehung ihrer Handlung auf ihnen bekante Gesetze macht den moralischen Unterschied aus; das eine Kind leistet eine Pflicht, das andre begehet einen Ungehorsam.
- 2. Das physische so wol, als das moralische der Handlung hat jedes seine eigne besondre Folgen, die wohl von einander unterschieden werden müssen.
- a) Die Folgen des physischen in der Handlung sind diejenigen, welche die Handlung haben würde, wenn auch kein Gesetz darüber vorhanden wäre, und welche daher so wol bey denen statt finden, die durch die Handlung eine Pflicht zu leisten suchen, als bey denen, welche dadurch einen Ungehorsam beweisen. In dem gegebenen Beyspiel von den mit einander einerley Weg wandernden Knaben sind die Folgen der physischen Handlung gleich, so wol die natürlichen als die zufälligen. Beyde werden ermüdet; dis ist die natürliche Folge. Beyde werden, wenn sie ein Ungewitter überfällt, gleich naß; beyde bekommen, wenn sie schwächlich sind, ein Fieber davon; dis sind zufällige Folgen der blos physischen Handlung, welche keine Beziehung auf den Gehorsam oder Ungehorsam haben, den die Kinder dadurch beweisen.
- b) Die Folgen des moralischen der Handlung entstehen aus der Beziehung derselben auf ein bekantes Gesetz. Man theilet solche in natürliche und willkührliche ein.
- 1) Die natürlichen Folgen der Moralität einer Handlung sind blos innerliche, welche aus dem Bewußtseyn recht oder unrecht gehandelt zu haben erwachsen. In unsrem Exempel sind die natürlichen Folgen der Moralität bey dem ungehorsamen Kinde, daß es über sich selbst verdrießlich wird, sich ohne Noth Ermüdung, Verderbung der Kleider und Krankheit zugezogen zu haben, daß es sich schämet und ängstiget vor dem Vater zu erscheinen, und die Ausbrüche seines Unwillens fürchtet: bey dem gehorsamen Kinde dagegen, daß es innerlich ruhig ist, sich freuet dem Vater gefällig geworden zu seyn, und neue desto grössere Liebeserweisungen zur Vergütigung der überstandnen Unbequemlichkeiten frölich erwartet.
- 2) Die willkührlichen Folgen der Moralität der Handlung sind die, welche der Gesetzgeber über den Thäter verhängt: als wenn in unsrem Fall das ungehorsame Kind vom Vater die Ruthe bekomt, und die verdorbene Kleider zu seiner Beschämung öffentlich tragen muß; das gehorsame dagegen geliebkoset und gelobt, und noch schöner als vorher neu gekleidet wird.
- 3) Nur diejenigen Folgen, welche das moralische einer Handlung hat, sind Belohnungen und Strafen, und niemals müssen die Folgen der physischen Handlung darunter gerechnet werden. Dis wird im gemeinen Sprachgebrauch nicht beobachtet, und eben dis, daß man die Folgen der physischen Handlung auch als Belohnungen und Strafen ansiehet, ist eine Hauptquelle der Verwirrung in der Lehre von den göttlichen Strafen und von der Genugthuung Christi. Man wird im gemeinen Leben zu einem ungehorsamen Kinde, welches wider den Willen seines Vaters eine Meile gelaufen und davon krank geworden ist, sagen: siehe, das ist die Strafe der Sünde und deines Ungehorsams. Daß aber dis offenbar unrichtig sey, erhellet daraus, daß eben dis Kind, wenn es denselben Weg auf Befehl des Vaters gegangen wäre, und also einen Gehorsam geleistet hätte, unläugbar eben so krank geworden seyn würde. Aber das ist seine natürliche Strafe, daß es sich als den Urheber seines Uebelbefindens selbst ansehen muß.
§. 57.
Da die Folgen des physischen in unsren Handlungen nicht zu den Strafen gehören, so kan auch Christus dieselbe nicht für uns übernommen haben. Dis beweiset nun auch die Erfahrung. Ein Mensch, der sich durch Unmäßigkeit Armuth und Krankheit zugezogen, oder durch Betrug und Thorheiten die Achtung seiner Mitbürger verscherzet hat, erhält durch den Glauben an die Gnade Gottes Vermögen, Gesundheit und Ehre nicht wieder; sondern nur wenn und in so fern er durch die Regelmäßigkeit seines Verhaltens sich solche aufs neue erwirbt. Mit dem Tode hören auch nur diejenigen üblen physischen Folgen unsrer Handlung auf, welche den Körper und den äussern Zustand betreffen, und dis ist bey allen Menschen, bekehrten und lasterhaft sterbenden gleich. Der, welcher seine Gesundheit oder Vermögen seinen Pflichten aufgeopfert hat, und der, welcher beides durch lasterhafte Ausschweifungen verlor, werden durch den natürlichen Tod auf gleiche Art von Schmerz und dem Druck des Mangels befreiet. Aber die innre oder mehr geistige Folgen bleiben dieselben. Wer hier verabsäumet hat Erkentnisse einzusamlen, und gute Fertigkeiten durch Uebung zu erhalten, der bleibt in alle Ewigkeit unvollkomner, als wenn er zeitiger angefangen hätte, sich gut zu verhalten: und in alle Ewigkeit muß jede Rückerinnerung an begangne Thorheiten uns unangenehm bleiben, und das Andenken an edle Handlungen unsre Zufriedenheit vermehren. Hieraus folgt, daß die Zueignung des Verdienstes Christi die natürlichen üblen Folgen unsrer Handlungen nicht abändert, und in dieser Beziehung sich unser innrer und äusserer Zustand nur in so fern verbessert, als wir selbst so handeln, daß die physischen Folgen uns vortheilhaft werden. Die größte Wohlthat, welche Christus dem menschlichen Geschlecht gewähret , ist also darin zu setzen, daß wir durch seine Lehre die Weisheit überkommen, alle Handlungen zu vermeiden, deren physische Folgen uns elend und unglücklich machen: das ist, daß er von der Sünde selbst eine Erlösung oder Befreiung gestiftet hat. Denn die Sünde ist, ohne willkührliche Strafen der Gottheit, schon an sich der Leute Verderben. Sprw. 14, 34.
§. 58.
Nun ist weiter zu untersuchen, von was für üblen Folgen der Moralität oder des
formalis unsrer Handlungen, als welche nur eigentlich Strafen sind, uns Christus befreiet habe? Hierbey müssen wir uns nun deutlich entwickeln,
theils was für natürliche, theils was für willkührliche Strafen die Sünden gegen Gott in Absicht ihrer Moralität nach sich ziehen. Was nun erstlich
die natürlichen Folgen der Thorheiten und Bosheiten betrift, welche unmittelbar aus dem Bewußtseyn schlecht gehandelt zu haben erwachsen, so sind solche von einer doppelten Art:
- 1. Ohne Rücksicht auf den Gesetzgeber, bringt schon die Bemerkung, daß wir selbst Urheber der Verschlimmerung unsres Zustandes sind, in uns Verdruß gegen uns selbst hervor. Dieser innre Verdruß ist allezeit genau der Moralität der Handlung proportionirt. Je wichtiger die üblen physischen Folgen einer Handlung sind, je mehr daher die Handlung unsre vorläufige Ueberlegung verdient hätte; je mehr wir Zeit und Veranlassung hatten, solche vor der Verrichtung derselben anzustellen; und je leichter wir die begangne Thorheit hätten vermeiden können; desto heftiger ist der innre Unwille und Verdruß gegen uns selbst. Diese üble Folge jeder Handlung gegen unsre Vernunft und gegen uns mögliche bessere Einsichten findet ohne Ausnahme bey allen Menschen statt, auch wenn sie von keinem Gott, oder von keinen göttlichen Vorschriften etwas wissen. Je verständiger und klüger indes ein Mensch ist, desto empfindlicher ist das innre Mißvergnügen über sich selbst bey ihm; wenn er sich eine Thorheit begangen zu haben bewußt wird. Es ist aber diese natürliche Strafe etwas wohlthätiges, indem jeder dadurch zu grösserer Vorsichtigkeit, und besserm Gebrauch der Vernunft erweckt wird. Christus hat uns auch daher von dieser Strafe nicht befreien können, und auch der gebesserte Mensch empfindet dieselbe noch bey jeder Uebereilung zur Besserung. Die tägliche Reue oder Busse bey der Gewissensprüfung erfordert sogar, dieses moralische Mißvergnügen über sich selbst möglichst zu erwecken und zu unterhalten.
- 2. In Absicht auf den Gesetzgeber, entstehen mit dem Bewußtseyn, denselben beleidiget zu haben, sehr unangenehme Vorstellungen, welche aber von sehr verschiedner Art seyn können, nachdem wir uns desselben Charakter mehr oder weniger fürchterlich oder liebenswürdig denken.
- a) Wenn wir uns den Gesetzgeber als einen Tyrannen vorstellen, der harte Dienste fordert, und jedes Versehen, jede geringe Verabsäumung mit unbarmherziger Strenge bestraft, so wird eine sklavische Furcht mit dem Bewußtseyn ihn beleidiget zu haben entstehen, welche mit ängstlicher Bemühung ihm zu entfliehen, oder uns doch möglichst lange vor ihm zu verbergen, verbunden seyn wird. Einen solchen Despoten werden wir von ganzem Herzen hassen, uns gegen seine Peinigungen verhärten, oder in Verzweifelung gerathen, wenn wir kein Mittel ihm zu entrinnen und kein Ende der Quaalen absehen können. Das ist die Traurigkeit des Judenthums, die den Tod wirket, 2 Cor. 7, 10.
- b) Wenn wir uns aber den Gesetzgeber als einen gütigen und einsichtsvollen Vater denken, welcher bey seinen Vorschriften nur zur Absicht hat, daß wir durch ihre Befolgung glücklicher werden sollen, und der es weit besser als wir verstehet, was zu unsrem wahren Besten gereicht, so werden ganz andre Empfindungen in uns erregt werden. Zwar werden wir uns bis ins innerste der Seele vor ihm schämen; aber ihn dennoch lieben, uns nicht fürchten, daß er uns noch elender machen werde, als unsre Thorheit uns schon gemacht hat: wir werden zu ihm eilen, uns demüthigen, von ganzem Herzen Besserung angeloben, und uns bestreben durch vermehrten Eifer in Befolgung seiner Vorschriften ihm wohlgefällig zu werden. Dis ist die Traurigkeit, die zu Gott führt, 2 Cor. 7, 10.
Nun können wir das grosse Werk der Erlösung Christi erklären:
- I. in Absicht der Juden. Dieser Nation erschien in der mosaischen Gesetzgebung der Jehova nicht als ihr Schöpfer und Vater, sondern als ein strenger Gesetzgeber, der sein Recht, daß Israel ihm dienen mußte, auf die Eroberung dieser Nation von den Egyptern oder auf die Loskaufung derselben aus ihrer egyptischen Sklaverey zu einem ihm nun eigenthümlich zugehörigen Volk gründete, 2 Mos. 20, 2. 5. 5 Mos. 5, 6. Ebr. 8, 9. der seine Dienstforderungen mit den schrecklichsten Verfluchungen gegen die Uebertreter unwiederruflich verpönt hatte, 5 Mos. 28, 15 f. K. 29. Gal. 3, 10. und welcher nach den zu Christi Zeiten herrschenden Lehrmeinungen der Pharisäer, die Strafen derjenigen Sünden, für welche geopfert wurde nur aufschob, solche aber im Tode durch den Satan oder Asmothi, der im Sterben dem Menschen leibhaftig erschien, vollziehen ließ: daher der Jude lebenslang die sklavischte Furcht und Angst vor dem Tode hatte, indem sterben und ins Reich des Satans überliefert werden, ihm gleichbedeutend waren. Diese Nation der Juden erkaufte und erlösete nun Christus,
- 1) Von dem gesamten mosaischen Frohndienste und allen willkührlichen Anforderungen Gottes an sie, daß sie sich nicht mehr als Knechte des Jehova, sondern als Kinder des Vaters im Himmel betrachten durften, Gal. 4, 4–7. Mose selbst war nur ein Knecht im Hause Gottes gewesen, und ihm waren die Juden während der Kindheitsjahre als einem Zuchtmeister überlassen worden, dagegen versetzte sie nun Christus als der Sohn Gottes in die völlige Freiheit, und in den völligen Genuß des ihnen bestimten Guten, und erklärte sie für volljährig, so daß sie nun nach ihren eignen Einsichten zu handeln berechtiget wurden, ohne sich an ihres ehemaligen Hofmeisters Vorschriften weiter kehren zu dürfen, Ebr. 3, 5. 6. Joh. 8, 36. Gal. 4, 24 f. K. 5, 1 f. denn der ganze Gottesdienst nach Mosis Einrichtung war ein unfruchtbarer Dienst, der nichts dazu beytrug höhere Glückseligkeit zu befördern, 1 Petr. 1, 18. indem durch denselben die Juden nur an sinnliche Begriffe in der Religion gewöhnt wurden, Röm. 8, 3. (ησθενει) und daher zu keinen höhern Einsichten, welche die Anwendung der obern Seelenkräfte erfordern, gelangen konten, 1 Cor. 2, 14. (ψυχικος.) Die mosaischen Dienstforderungen waren eine Last, welche die Juden nie hatten ertragen können, Apostg. 15, 10. wodurch sie in lauter Angst und Elend versetzt wurden, 2 Cor. 3, 6. 7. ja welche in ihnen Widrigkeit und feindselige Gesinnungen gegen Gott erregten, Röm. 14, 15. K. 8, 3. 15. hiervon erlösete und erkaufte Christus sie auf immer. Ebr. 9, 12 f. 1 Petr. 1, 18. und wer sich nun abermals durch Annehmung der Beschneidung in dis sklavische Joch der mosaischen Dienstforderungen gefangen nehmen ließ, dem half alles, was Christus gethan und gelehret hatte, nichts, Gal. 5, 1 f. weil eben darin die durch Christum offenbarte göttliche Gnade und desselben Verdienst um die Menschen zu setzen ist, daß er allen Aberglauben, als ob Gott etwas anders, als vernünftige Bestrebung nach Glückseligkeit von uns forderte, aufgehoben hat, so daß nur ein einziges göttliches allgemeines Gebot für uns gültig bleibt; unsre Mitmenschen als uns selbst zu lieben, Gal. 6, 4. 7. 9.
- 2)
Von der sklavischen Furcht, daß die Vergehungen wider Mosis Gesetz an ihnen im Sterben gerochen, und sie durch den Tod dem Satan zur Vollziehung aller Verfluchungen überliefert werden würden. Christi Tod ist erfolgt zur Erlösung von allen Uebertretungen des alten mosaischen Bundes, Ebr. 9, 15. zur Versicherung der Vergebung für alle Sünden, für welche bis dahin die Strafen von Gott aufgeschoben waren, Röm. 3, 25. nicht für Sünden der Christen, Ebr. 10, 26. und er hat also alle von dem Zorn, den man als noch bevorstehend dachte, erlöset 1 Thess. 1, 10. Er hat durch seinen Tod die Idee von einem Gewalthaber des Todes (עזמות, κρατος εχων του θανατου) vernichtet, so daß alle von der sklavischen Furcht vor einem Todesengel oder Fürsten der Finsterniß befreiet worden sind, Ebr. 2, 14. 15. verglichen mit Tob. 3, 8. 1 Tim. 1, 10. Col. 1, 13. 14. ja indem er sein Leben durch einen gewaltsamen Tod am Holz beschlossen, so hat er alle Verfluchungen des Gesetzes vereitelt, Gal. 3, 13.
Dis ist also die Lehre der Schrift. Jeglicher Jude ward, so bald er glaubte, Jesus sey der Christ, der Sohn des lebendigen Gottes, sogleich hierdurch selig, oder errettet von der niederdrückenden Last der Zwangsdienste, und den Verfluchungen des mosaischen Gesetzes, und zu einer lebendigen Hofnung wiedergeboren, 1 Petr. 1, 3 f. 2 Tim. 1, 10. er bekam einen kindlichen Geist, Röm. 8, 15 f. und konte sich nun ohne weiter der Vermittelung eines Hohenpriesters zu bedürfen, und ohne Gaben und Opfer zu bringen, überall zu Gott, seinem Vater unmittelbar nahen. Röm. 5, 1. 2. Eph. 2, 18. 3, 12. Ebr. 10, 14–24. Frägt man weiter, wie denn eigentlich der Tod Jesu die Erlösung der Juden bewirkt habe, so erklärt die Schrift uns dieses ganz anders, als unsre kirchlichen Lehrbücher. Der Jude, sagt Paulus, ist ans Gesetz gebunden so lange er lebt, durch die Taufe wird er in Christi Tod getauft, und ist also mit ihm den Satzungen abgestorben, er lebt nun nicht mehr als ein Mitbürger der Judenwelt, sondern indem er aus dem Taufwasser heraussteigt, wird er zu einem neuen Leben mit Christo auferwecket, Röm. 7, 1 f. K. 6, 3 f. Col. 2, 11 f. 14, 15. 20 f. K. 3, 1 f. Das Sterben hört nun auf als eine Ueberlieferung in Satans Reich zu erscheinen, da Christus gestorben ist, Ebr. 2, 14. 15. 2 Tim. 1, 10. 1 Cor. 15, 55. 57. Alle Verfluchungen des Gesetzes sind vereitelt, da Christus sein Leben an einem Pfahle beschlossen, denn sonst würde der Sohn Gottes auch ein Verfluchter seyn , wenn man Mosen noch hören wolte; Gal. 3, 13. so hat also Christus die Handschrift, die gegen die Juden war, mit sich ans Kreuz geheftet und vertilget. Col. 2, 14. 15. 20.
- II. In Absicht der Heiden erwähnt die heilige Schrift keiner Erlösung von Strafen; denn diese hatten die fürchterlichen Vorstellungen , welche Mosis Gesetz, oder vielmehr die pharisäische Auslegung desselben zu Christi Zeiten, von bevorstehenden willkührlichen göttlichen Strafen im Reich des Satans bey den Juden erweckte, nicht. Gott hat die Zeit der Unwissenheit übersehen, sagt Paulus, in Absicht der Heiden, Apostelg. 17, 30. 31. nun aber bietet er durch Christum einen bessern Unterricht dar, und verlangt, daß alle ihre moralische Gesinnungen bessern sollen; denn durch Christum sind die menschenfreundliche Gesinnungen Gottes bekant gemacht worden, daß alle Völker von den sie elend machenden Thorheiten, Aberglauben und Lastern befreiet, und durch göttliche Gesinnungen und Thätigkeit im Guten ganz neue glückselige Menschen werden können. Tit. 2, 11–14. Eph. 1, 13. 14, K. 2. Col. 1, 21. 22. 28. Apostelg. 16, 18.
- III. In Absicht der Juden und Heiden im Verhältniß gegen einander und gegen Gott, wird gelehrt 1 Cor. 1, 30. daß alle Nationen im Christenthum das fänden, was sie auf verschiedenen Wegen vergeblich gesucht hätten, nemlich die Griechen, die nach Weisheit geforschet hätten, göttliche Weisheit, einen wahren göttlichen Unterricht, wie man zur Glückseligkeit gelangen könne, so daß man mit Recht fragen kan v. 20. wo sind die Weisen? was sind gegen Christum alle heidnische Götter- und Tugendlehrer? Die Juden, welche durch Beobachtung ihrer Gottesdienstlichkeiten und Gebräuche gerecht werden wolten, viel mit Reinigungen und Abwaschungen zu thun hatten, und auf eine wunderthätige Erlösung aus den Händen ihrer Feinde, wie ehemals aus Egyptens Sklaverey warteten; wahre Gerechtigkeit oder Rechtschaffenheit, wodurch man Gott wohlgefällig wird, wahre Reinigung von Sünden durch Verbesserung der Gesinnungen und die herrlichste Erlösung von sklavischen Frohndiensten und eitlen Befürchtungen, zur Freiheit und Freudigkeit, die erwachsenen Söhnen im Verhältniß gegen den gütigsten Vater zukomt, so daß man mit Recht fragen kan, v. 20. wo sind die Schriftgelehrten? was ist hiergegen alle jüdische Rechtsgelehrsamkeit? Beide Juden und Heiden, welche so wol um der mosaischen Gesetze willen in Feindschaft unter einander, als auch wegen schlechter Erkentnisse von den gütigen Gesinnungen Gottes, in beständiger Furcht und ängstlicher Erwartung göttlicher Verhängnisse und Strafen ohne Hofnung, ohne Vertrauen zu Gott, und daher in Feindschaft gegen denselben lebten, sind durch Christi Tod nun unter einander und mit Gott ausgesöhnet worden, und werden durch Christum und desselben Gesandten nun gebeten, doch sich aussöhnen zu lassen , d. i. alle fürchterliche Begriffe von willkührlichen Behandlungen Gottes aufzugeben, und Vertrauen und Freudigkeit zu ihm zu fassen, und nunmehro gern seinen väterlichen Rathgebungen zu folgen. Col. 1, 15–20. Eph. 2, 12–18 f. Röm. 5, 12. 5–11.
§. 59.
Da die heilige Schrift nirgends lehret, daß Gott habe versöhnet, oder zu bessern Gesinnungen gegen uns gebracht werden müssen, sondern überall sagt, daß er durch Christum die Welt mit sich, und die Nationen unter einander ausgesöhnet, das ist, gegen sich geneigter gemacht habe; ja da auf allen Blättern des neuen Bundes die ganze Sendung Christi, als der größte Beweis der ewig unveränderlichen Liebe Gottes zu den Menschen, ob sie gleich feindselig gegen ihn gesinnet waren, vorgestellet wird; Röm. 5, 8. Joh. 3, 16. so ist es fast unbegreiflich, wie dem ohngeachtet unter den Theologen die ganz widerchristliche Theorie von einer satisfactione vicaria oder vertretenden Genungthuung Christi habe aufkommen können, als ob Gott durch Christum sich selbst erst habe besänftigen müssen. Kläglich ist es zu bemerken, daß so gar noch in unsren mit so vielen Hülfsmitteln der Auslegung versehenen Zeiten, eine so sehr widersinnische Hypothese noch immer als eine Lehre der Schrift, oder doch als eine altchristliche Meinung der ältesten Kirche eifrigst vertheidiget, und alle Liebenswürdigkeit Gottes in Christo dadurch verdunkelt wird. Dennoch sind alle Begriffe von einer vertretenden Genungthuung, die um Gottes willen nöthig gewesen wäre, ein sehr später Auswuchs der Augustinischen privat Meinungen. Erst gegen das Ende des elften Jahrhunderts brachte Anselmus Bischof von Canterbury, ein eifriger Anhänger Augustins, diese Hypothese auf, und gründete solche nicht auf Schriftstellen; denn dergleichen finden sich nirgends; sondern auf einen Beweis a priori. Seine Schlußfolgen waren diese: in Gott ist alles nothwendig, dessen Gegentheil etwas unschickliches (inconveniens) ist; nun ist nichts unschicklicher und weniger in der Ordnung der Dinge zu dulden, als wenn ein Geschöpf dem Schöpfer die Ehre raubt; Gott kan also ohne Genungthuung solches nicht vergeben; und da das Geschöpf nicht selbst für die Grösse seines Verbrechens hinlänglich genungthun kan, so ist nothwendig gewesen, daß ein göttlicher Erlöser eine volle Satisfaktion leistete, sonst hätte Gott keinen Menschen begnadigen oder selig machen können.
Diesem unphilosophischen Geschwätz widersetzten sich damals und in folgenden Jahrhunderten die grösten Theologen, und vornemlich selbst der Gelehrteste unter Anselms Schülern Petrus Abälard, welcher behauptete, es sey keine Satisfaktion für die Sünden der Menschen nöthig gewesen, sondern Christus sey nur darum im Fleisch erschienen, um uns zu unterrichten, und uns durch seinen Tod die Grösse seiner Liebe gegen uns zu bezeigen. (Centur. Magdeburgicae saec. XII. Cap. 5.) Seit dem sind bis zu den Zeiten der Reformation die Meinungen darüber getheilt geblieben, doch hat nach und nach mit Augustins Lehrbegrif auch diese dazu passende Anselmische Theorie die Oberhand über die Schrift gewonnen. Es liegen nun bey dieser ganzen Hypothese sehr verworrne Begriffe von willkührlichen Strafen, welche Gott über Sünder verhängen müsse, zum Grunde; so bald man sich daher deutlich aus einander setzt, was Strafen sind, und was solche für verschiedne Absichten haben können, so fällt auch das ganze unschriftmässige Anselmische Lehrgebäude über den Haufen. Ich will versuchen dieses zu bewirken.
§. 60.
Es ist schon §.
56. f. gezeiget worden, daß die üblen natürlichen Folgen des physischen unsrer Handlungen nicht zu den göttlichen Strafen gehören, und also von Christo nicht haben übernommen werden können; und daß sie auch bey den Bekehrten fortdauren; daß ferner die natürlichen Folgen des moralischen, welche in den Vorwürfen des Gewissens bestehen, in so fern sie auf richtigen Erkentnissen von der Güte der Gesetze beruhen, Verbesserungsmittel sind, und daher auch durch Christi Vermittelung nicht haben aufgehoben werden können, daß aber die Angst und Furcht, welche aus der Vorstellung einer tyrannischen Härte des Gesetzgebers, und den von ihm zu besorgenden grausamen Strafen entsteht, durch Christum aufgehoben, und wir durch ihn hiervon erlöset worden sind. Nun frägt sichs also,
ob diese Erlösung dadurch geschehen sey, daß er uns blos von den gütigen nachsichtsvollen väterlichen Gesinnungen Gottes durch Lehre, Leben, Leiden, Tod und Auferstehung vergewissert habe, oder dadurch, daß er solche grausame willkührliche Strafen, dergleichen Mose, nach der pharisäischen Auslegung, als noch im Tode bevorstehend angedrohet, und Anselmus a priori ausfindig machen wollen, selbst übernommen und ausgestanden habe. Um dis einzusehen, muß man sich nun die verschiedne Absichten, welche bey willkührlichen Strafen statt finden können, recht deutlich machen. Willkührliche Strafen überhaupt sind Uebel, welche der Gesetzgeber mit dem Ungehorsam gegen seine Befehle verknüpft, oder über die Verbrecher blos wegen ihres Ungehorsams verhängt, und welche sonst an sich keine natürliche Folgen der Handlung seyn würden. Z. B. Ein König läßt einen, der verbotene Waaren heimlich eingebracht hat, auf die Festung setzen; dis ist eine blos willkührliche Strafe, die nur vom Belieben des Gesetzgebers abhängt. Dergleichen willkührliche Strafen haben entweder eine wohlthätige Absicht oder nicht. Haben sie eine
wohlthätige Absicht, so ist diese entweder
Güte gegen den Verbrecher selbst, um denselben zu bessern und von grössern Vergehungen gegen sein Wohl abzuhalten, wie alle väterliche Strafen, und denn heissen sie
Züchtigungen; oder sie haben weise
Güte gegen das Ganze oder die Gesellschaft zum Grunde, um andre von ähnlichen Vergehungen abzuschrecken und die Motiven zum Gehorsam zu vermehren, alsdenn heissen sie
Strafen zum Exempel für andere. Haben sie aber
keine wohlthätige Absicht, sondern zielen blos zum Verderben der Verbrecher ab, so ist es
selbstsüchtige Rache, welche gewöhnlich aus Schwäche und Furcht des Gesetzgebers vor dem Verbrecher entsteht. Nun wollen wir untersuchen, welche Art dieser Strafen Gott zieme, und Christus für uns habe erdulden können.
§. 61.
Zuvörderst müssen wir die Frage untersuchen, ob ein gütiger und weiser Vater über seine Kinder, die er angelegentlichst wünscht nach und nach zu immer höherer Glückseligkeit zu leiten, jemals Uebel oder Verderben verhängen könne, ohne die Absicht dabey zu haben, sie zu bessern, und vor grösserer Verschlimmerung zu bewahren? Diese Frage wird jeder Theologe ausser dem System ohne Bedenken verneinen: denn jeder menschliche Vater, der seine Kinder durch Strafen unglücklicher macht und nicht zur Besserung züchtiget, wird von
jedermann für einen Barbaren oder wenigstens für einen sehr unverständigen Mann erkläret werden. Aber diese richtige Begriffe werden uns durch die Künste einer transcendenten Sophisterey wegpraktisirt, wenn wir uns nicht an die heilige Schrift und unser Selbstgefühl halten, und uns durch menschliche Hypothesen auch nur einen Schritt weit davon abführen lassen. Die neuere Augustinianer und Anselmianer haben uns einen Lehrbegrif überliefert, welcher unglücklicher Weise als eine göttliche höhere Weisheit zum Nachtheil der einfachen leicht verständlichen Lehre Jesu in der Kirche angenommen, jedoch niemals darin für allgemeine Christenthumslehre erkläret worden ist. Sie haben es erfunden, daß in Gott Eigenschaften sind, welche seiner Güte gerade zu entgegen wirken; daß in ihm Gerechtigkeit und Heiligkeit ganz etwas anderes sey, als die weiseste Güte; und daß eben die Handlungsart, welche bey menschlichen Vätern leidenschaftliche Unvernunft und grausame Härte seyn würde, bey Gott die vollkommenste Gerechtigkeit und Heiligkeit sey. Sie lehren
, Gott wolle nach seiner unendlichen Güte zwar alle Menschen glückselig machen, ihnen bey ihren Fehltritten gern aufhelfen, die Uebel, welche sie sich durch Thorheiten zuziehen, gern verringern; aber seine eben so unendliche Heiligkeit und Gerechtigkeit erlaubte dis nicht, sondern forderte, daß er jedes Vergehen gegen seine Gesetze, weil seine unendliche Majestät dadurch verunehret werde, auch unendlich strafen, folglich seine Kinder unendlich verderben müsse. Da haben wir nun das gute und böse Principium der Manichäer in unsrem Gott vereint: zwey mit gleicher Unendlichkeit wider einander strebende Eigenschaften, nach welchen Gott seine strauchelnde Kinder vermöge der einen zu verbessern und vollkomner zu machen, vermöge der andern ins Elend und Verderben zu stürzen gleich stark gedrungen wird. Also ist in Gott selbst ein ewiger Widerspruch! Um diesen innern Widerspruch in sich selbst zu heben, hat nun Gott, wenn wir die menschliche Vernünfteley weiter hören, eine menschliche Natur in die Gottheit aufnehmen müssen, um vermittelst derselben zwischen seiner Gerechtigkeit und Güte Frieden zu stiften: diese menschliche Natur hat dadurch die Empfänglichkeit zu unendlichen Quaalen überkommen, welche die Gerechtigkeit über sie ausgeschüttet hat, und dadurch hat die Güte erst freie Hand erhalten, die Menschen ohne verderbende Strafen zu begnadigen und glücklich zu machen. Ja man gehet in den metaphysischen Grübeleyen noch weiter, und läßt Gott zum Behuf dieser menschlichen Theorie nun in der Bemühung sich selbst zu beruhigen, verschiedene Personen vorstellen, so daß Gott in so fern er ungezeugt ist, von sich, in so fern er von sich selbst gezeugt worden ist, und zu seiner Persönlichkeit einen Menschen mit aufgenommen und in demselben unendlich gelitten hat, in Christi Martern und Tode besänftiget worden sey.
Saget mir, Freunde Jesu, wo dis unser Herr und Meister oder seine Schüler jemals gelehret haben, und wie es möglich ist, daß eine so ungesunde Philosophie statt der göttlichen mit der edelsten Simplicität vorgetragenen Anweisung Christi zur Glückseligkeit, die sich an dem natürlichen Menschenverstande so gleich als Wahrheit rechtfertiget, bey euch die mindeste Autorität haben kan. Warlich wir Theologen sind es, welche die Göttlichkeit des Christenthums durch dergleichen metaphysische Geschwätze in den Augen aller Vernünftigen verächtlich machen; wir sind es, welche Liebe und Vertrauen zu Gott, die Grundlage aller Glückseligkeit hindern, indem wir Gott nur halb gut und halb als grausam vorstellen, daß die Christen ungewiß bleiben müssen, ob sie ihn mehr lieben oder mehr fürchten sollen. Lasset uns zurückkehren, und aufs neue aus der Schrift lernen, so werden wir die durch Luthern und andre Reformatoren unter so vielen Gefahren erstrittne Freiheit, selbst aus Gottes Wort unsre Einsichten zu schöpfen, ihrer Absicht gemäß dankbar benutzen. Diese Männer thaten, was sie bey ihren exegetischen Hülfsmitteln und Philosophie thun konten; wir treten auf ihre Schultern und haben mehr Hülfsmittel, es ist Pflicht für uns, weiter zu sehen; Pflicht das Christenthum immer mehr von aller in finstern Zeiten angestaunten menschlichen Philosophie zu reinigen, da unsre Nation nunmehro klare Begriffe und nicht geheimnißvolle Kunstwörter in religiösen Anweisungen zur Glückseligkeit von uns zu erhalten verlangt.
Ueberdis haben auch schon die Stifter der protestantischen Kirchen alle diese gelehrte spekulative Untersuchungen über die Art und Weise der durch Christum gestifteten Versöhnung der Menschen mit Gott, als müssige Gelehrsamkeit von den eigentlichen, allen Christen zu wissen nöthigen, Seligkeitslehren abgesondert. Im zweiten Artikel und der Erklärung Luthers darüber, geschieht keine Erwähnung von einer zur Besänftigung der Strafgerechtigkeit Gottes nothwendigen Erduldung der Strafen oder einer vertretenden Genungthuung. Es wird darin blos gesagt: Christus habe uns verlorne und verdamte Menschen erlöset, erworben, gewonnen von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels, damit wir sein eigen seyn, und in seinem Reich unter ihm leben und ihm dienen solten in Gerechtigkeit, Unschuld und Seligkeit. Und so viel gehört auch nur zum beruhigenden und bessernden Glauben, daß Christus uns durch Lehre, Leben, Leiden und Tod von allen sündlichen Grundsätzen, allen daraus entstehenden Uebeln, aller Furcht vorm Tode, und aller Angst vor bösen Geistern befreiet, und es allgemein möglich gemacht hat, bessere religiöse Gesinnungen und hiermit Seligkeit zu überkommen. Was in andern öffentlichen Schriften der ersten protestantischen Lehrer, die noch eine Wiedervereinigung mit den Katholiken hoften, aus damaliger Theologie beybehalten worden, ist von ihnen selbst nicht zur christlichen Glückseligkeitslehre gerechnet worden.
Nur das ist richtiger Verstand der Vorträge Jesu und seiner Gesandten, was die ersten Zuhörer dabey haben denken sollen und können. Unmöglich haben sie die Begriffe unsres Systems, worin die philosophischen Hypothesen so vieler Nationen und Jahrhunderte in einander gewebt sind, sich schon zur Erklärung der Worte Jesu und der Apostel denken können, und da die ersten Zuhörer und Leser meist unstudirte Leute waren, so ist der einfachste Sinn der Schriftstellen,
zu dessen Einsicht damals keine Gelehrsamkeit und Scharfsinn gehöret hat, allezeit der hermenevtisch wahreste.
§. 62.
Hören wir die Schrift, so versichern schon die Schriftsteller des alten Bundes, welchen Gott doch bey weiten nicht in seiner ganzen Liebenswürdigkeit und Gnade erschien: Barmherzig und gnädig sey Gott, geduldig und von grosser Gnade: er vergebe gern Missethat und Sünde: er wolle den Tod des Sünders nicht, sondern daß er sich bekehre, (nicht Satisfaktion leiste) und lebe: er sey feind allen Opfern und äussern Versöhnmitteln, sondern wolle wahre Verbesserung der Gesinnungen, und wer diese zeige, dem freue er sich zu vergeben, Jes. 1, 10. Nirgends aber wird behauptet, die Heiligkeit und Gerechtigkeit Gottes hindre seine Güte, den sich bessernden Sünder ohne Genungthuung zu begnadigen. Alle Opfer waren nur für äussere Unreinigkeit und Unordnungen, nicht für böse Gesinnungen verordnet. Unter den unzählichen Versicherungen des N. T. von der allgemeinen Gnade und Barmherzigkeit Gottes gegen die Sünder, welche durch keine andre Eigenschaft eingeschränkt wird, will ich nur die wählen, welche am wenigsten bisher beahndet worden. Jesus stellet seinen Vater uns ohne Einschränkung zur Nachahmung vor Luc. 6, 35. 36. Er versichert Gott sey gütig über die undankbaren und boshaften, daher solten wir nicht blos lieben, die uns liebten v. 32. sondern auch unsern Feinden gutes thun, und eben so barmherzig seyn, eben so gelinde richten, eben so großmüthig ohne Genungthuung verzeihen, wie unser Vater, wenn wir seine Kinder seyn wolten. Solte es nun Heiligkeit und Gerechtigkeit in Gott seyn, nicht ohne volle Satisfaktion zu vergeben, so müßten auch wir weder unsern Kindern und Untergebenen noch unsern Feinden ohne völlige Genungthuung je etwas übersehen, um dem Vater im Himmel ähnlich zu werden; oder es müßte derselbe kein vollkommenes Muster für uns seyn; und Christus, der aus des Vaters Schooß kam, ihn weniger gekant haben, als Anselmus von Canterbury, Matth. 5, 44. f. K. 6, 12. Ja Christus versichert, daß der ganze Himmel über jeden zurückkehrenden
Sünder sich freue, und Gott sich gegen uns verhalte, wie der Vater gegen den ungerathenen Sohn bey seiner Rückkehr, der an keine Satisfaktion dachte, Luc. 15. Endlich stellet die heilige Schrift auf allen Blättern die gesamte Sendung Jesu, und alles was er gethan hat,
nicht als die Ursache, sondern
als die Wirkung und
den Beweis der allgemeinen Gnade und Menschenliebe Gottes gegen alle Nationen vor, und lehret nicht mit einer Sylbe, daß Gott habe besänftiget oder versöhnt werden müssen. Sie saget nicht: also hat Gott die Welt gehasset, daß erst sein Sohn dieselbe vom Zorn erkaufen mußte; sondern: so hat er sie geliebet, daß er seinen Sohn sandte, um alle, welche nicht in Finsterniß und Unwissenheit bleiben wollen, zu höherer Einsicht und Glückseligkeit durch ihn zu leiten. Sie saget nirgends, Gott hat uns eben so nach seiner Heiligkeit gehasset, als nach seiner Güte geliebet, daß Christus zwischen beiden Eigenschaften Frieden stiften müssen. Sie saget vielmehr: ein Mittler könne nicht gedacht werden, wo nicht zwey Partheien vorhanden wären, Gott aber wäre einig, Gal. 3, 20. verglichen mit Ebr. 6, 6. K. 9, 15 f. K. 10, 16 f. folglich durfte Gott nicht als eine doppelte Person bey der Erlösung handeln, nicht mit sich selbst ausgesöhnet werden, sondern wir Menschen mußten von seinen guten Gesinnungen und seiner Gnade gegen die Sünder besser unterrichtet und stärker vergewissert werden. Darum fordern nun die Apostel jedermann auf, sich mit Gott zu versöhnen, das ist erfreulichere Begriffe von ihm zu fassen, 2 Cor. 5, 18 f. In Christo ist die Freundlichkeit und Leutseligkeit Gottes im vollen Glanz erschienen, und Gott preiset daher seine Liebe zu uns, daß Christus für uns gestorben ist, da wir noch feindselig gegen ihn gesinnet waren. Wäre die philosophische Theorie des Anselmus gegründet, so müßte es heissen: Gott preiset seine Heiligkeit, daß er alle Strafen der Sünden vollkommen an Christo vollzogen hat; aber davon weiß die ganze heilige Schrift nichts.
§. 63.
Seit Grotius Zeiten hat nun schon ein grosser Theil der Gottesgelehrten diese unchristliche und widersinnliche Theorie verlassen. Man sahe ein, daß man nicht zwey einander entgegen wirkende Eigenschaften in Gott annehmen könte, nach welchen er gleich stark seine fehlende Kinder zu begnadigen, und auch zu verderben bestimt würde; da bey diesem innern Widerspruch Gott selbst höchst unselig seyn müßte: und man nahm also ganz richtig an, daß Gott allerdings ohne Strafen begnadigen könne, und keine Genungthuung nöthig sey; daß wenn er strafte, solches nicht um seinetwillen, sondern nur zur Verhütung grössern Verderbens und also in wohlthätiger Absicht geschehen könne. Nun aber brachte Grotius die neue Hypothese auf, daß die Leiden und der Tod Jesu nothwendig gewesen wären, um das Ansehen der göttlichen Gesetze aufrecht zu erhalten, welches, wenn alle Strafen erlassen worden wären, sehr gelitten haben würde. Diese Hypothese verdunkelt allerdings bey weiten die Liebenswürdigkeit Gottes nicht so sehr, als die erste: allein genauer betrachtet ist sie eben so wol wie jene gegen Schrift und Vernunft. Alles komt hierbey darauf
an, sich deutliche und bestimte Begriffe von der Heiligkeit und Gerechtigkeit in Gott zu verschaffen.
Die Heiligkeit in Gott ist keine besondere wirkende Vollkommenheit, sondern vielmehr die Abwesenheit aller Mängel und Fehler seines Verstandes und seiner Güte, und wenn die Schrift uns auffordert, heilig zu werden, wie Gott heilig ist, so wird von uns gefordert, daß wir Thorheiten und schlechte Gesinnungen ablegen sollen, 1 Petr. 1, 13. 14. 15. Col. 1, 22. Ephes. 5, 26. 27. Es ist also eine Erklärung der Heiligkeit Gottes, wenn Jakobus sagt, es können keine andre als gute und vollkomne Gaben von dem Vater aller richtigen Einsichten herkommen, denn in ihm ist kein Wechsel des Lichts und der Finsterniß, er kan nicht in der Wahl der besten Mittel zu den besten Zwecken fehlen, und in ihm kan nie Unwillen und Zorn die gütigsten Entwürfe der Wohlthätigkeit stören.
Gerechtigkeit ist ebenfals keine die Güte einschränkende Eigenschaft, sondern eine der Empfänglichkeit der Objekte proportionirte oder weise Güte. Der Sprachgebrauch und die allen Menschen bekante Begriffe können uns hier aus der Verwirrung der gelehrten Hypothesen, so bald wir ihnen nur nachgehen, ohne Schwierigkeit heraus führen. Man muß nur dabey nicht an die Gerechtigkeit solcher untergeordneten Richter denken, welche an willkührliche Gesetze höherer Obrigkeiten gebunden sind, und nach denselben, oft wegen Mängel dieser Gesetze selbst, öfters aus Mißverstand bey Anwendung derselben sehr harte, ungütige und unweise Urtheile fällen. Die Gerechtigkeit eines höchsten Gesetzgebers, oder eines Vaters ist das, wovon wir analogisch den Begrif von der Gerechtigkeit des allgemeinen Monarchen und Vaters der Welt bilden müssen. Nun können wir zeigen, daß alle Gerechtigkeit weise proportionirte Güte sey.
1) Bey der Austheilung des Guten handelt ein Vater gerecht gegen seine Kinder, nicht wenn er jedem einerley und gleichviel Gutes giebt, sondern wenn er jedem das schicklichste ihm brauchbarste Gute giebt. Er läßt mehrern Söhnen von verschiedner Grösse Kleider nach Proportion ihres Körpers verfertigen, so daß sie ihnen gerecht oder anpassend sind; es würde unweise Güte, und daher keine Gerechtigkeit seyn, wenn er den kleinen eben so grosse Kleider machen liesse, als den erwachsenen. Also ist Güte hier der Grundbegrif, und durch Weisheit modificirt wird sie Gerechtigkeit.
2) Bey der Gesetzgebung ist ein Vater und Monarch gerecht, wenn er seine Vorschriften so einrichtet, daß dadurch das Wohl aller Kinder und Unterthanen möglichst befördert wird; so bald einiger Wohl ganz gestört wird, und sie ohne anderweitigen Ersatz leiden, so sind die Gesetze ungerecht: und dann ist entweder Mangel allgemeiner Liebe, oder Mangel der Klugheit, Kollisionen zu verhüten, der Grund davon. Also beruhet die Vollkommenheit der Gerechtigkeit auf der Gleichheit der Liebe gegen alle, und auf der Weisheit das Wohl aller einzelnen ohne Nachtheil der andern möglichst zu befördern.
3) Auch die Gerechtigkeit beym Strafen ist weise Güte; so bald mehr gestraft wird, als zur Besserung oder Verhütung größrer Uebel nöthig ist, so schreiet man über Härte und Ungerechtigkeit. Alle Strafen müssen daher gütige Absichten haben, wenn sie gerecht seyn sollen, und sie müssen wahre proportionirte Mittel zur Erreichung des Zwecks seyn. Folglich ist durchaus Gerechtigkeit allgemeine durch Weisheit geleitete Güte. Bey allen Uebertretungen der Gesetze besteht die Beleidigung gegen den Gesetzgeber blos in dem Ungehorsam, folglich ist die Beleidigung des Gesetzgebers gleich groß, es mag die Handlung wider das Gesetz wichtige oder geringe Folgen haben, Jak. 2, 10. 11. Solten nun die Strafen sich lediglich auf die dem Gesetzgeber widerfahrende Beleidigung beziehen, oder zur Aufrechthaltung der Autorität der Gesetzgebung nothwendig seyn, so würde folgen, daß alle wissentliche Vergehungen gegen alle Gesetze ohne Unterschied gleich hart bestraft werden müßten: denn durch jede Uebertretung wird der Gesetzgeber auf einerley Art nemlich blos durch Ungehorsam, beleidiget, und die Autorität der Gesetze auf einerley Art gehöhnt. Wer würde aber nicht über Ungerechtigkeit schreien, wenn ein Monarch auf alle Vergehen gleiche Strafen setzte, und zum Beyspiel den, welcher ein Pfund Kaffee unveracciset eingebracht , eben so hart als einen Mordbrenner bestrafen wolte? wer würde einen Vater nicht der Grausamkeit beschuldigen, der sein Kind, wenn es wider sein Verbot in den Garten gegangen wäre, eben so strenge bestrafte, als wenn es eine ansehnliche Summe Geldes gestohlen hätte? Hieraus erhellet also, daß alle Strafen sich auf das Beste derer, welchen Gesetze ertheilet worden sind, beziehen und proportionirte Beförderungsmittel der Besserung seyn müssen, und daß alle Uebel, welche ohne diese Absicht verhangen und dazu nicht nothwendig erfordert werden, aus Mangel der Güte oder der Macht oder der Klugheit entstehende Ungerechtigkeiten sind.
§. 64.
Nun können wir den wesentlichen Unterschied, welcher zwischen der menschlichen und zwischen der göttlichen heiligsten Gerechtigkeit statt findet, deutlich aus einander setzen. Es beruhet derselbe auf der unendlich höhern Vollkommenheit der göttlichen Güte, Macht und Weisheit, in Vergleichung mit der Güte
, dem Vermögen und der Klugheit der Menschen.
1. Die Güte und das Wohlwollen der Menschen ist eingeschränkt und vielen Abwechselungen unterworfen. Die besten Väter werden oft ungeduldig und verfahren nach leidenschaftlichem Unwillen. Selten ist ihre Liebe ganz unpartheiisch, und sehr oft zieht eins der Kinder, durch seine glücklichere Bildung oder schmeichelhafteres äusseres Betragen, das Herz der Aeltern zum Nachtheil der übrigen Geschwister an sich. Und welche obrigkeitliche Personen haben nicht ihre Favoriten, für welche sie zum Präjudiz andrer unproportionirte Güte beweisen. Aber Gottes Güte ist die heiligste, allgemeinste, unwandelbarste. Gott wird durch keine partheiische Prädilektion geleitet, und kan nie zu leidenschaftlichem Zorn gereizet werden, sondern bleibt immer gleich stark geneigt, jedem seiner Kinder nach dem Grade seiner innern Empfänglichkeit das möglichst größte Gute mitzutheilen, Matth. 7, 11. Röm. 2, 11. Jac. 1, 17.
2.
Das Vermögen der Menschen Gutes zu thun und zu belohnen ist eben so wie ihre Macht, Vergehung gegen Gesetze zu hindern, und die Uebertreter zu strafen, eingeschränkt. Dis veranlaßt, daß sie nicht immer so milde und gerecht seyn können, als sie wünschen. Ein Vater hat 5 Söhne, welche alle gleiche Talente und Begierde haben zu studiren: sein Vermögen reicht aber nur dazu hin, einen derselben studiren zu lassen: er kan also nicht gegen alle gleich gütig seyn. Gern möchte der König allen für das Vaterland blessirten Officiren und Soldaten einen gemächlichen Unterhalt zur Belohnung anweisen: allein die Einkünfte des Staats reichen nicht hin: er muß aus Unvermögen partheiisch seyn, weil er nicht allen, sondern nur einigen helfen kan.
Aber Gottes Vermögen wird durch Austheilung des Guten nicht verringert, er kan also jedem einzelnen Geschöpf ohne Nachtheil der übrigen im vollesten Maaß das schicklichste Gute zutheilen. Oft muß der gütigste Monarch einen Ausreisser bey der Armee, den er gern begnadigte, am Leben strafen, weil es ihm an Macht fehlt, auf andre Art der fernern Desertion vorzubeugen.
Gott befindet sich niemals in der Verlegenheit, aus Schwachheit grausamer und härter zu strafen, als der Verbrecher es zu seiner eignen Besserung bedarf; weil es ihm nicht an Mitteln fehlen kan, seine Absichten an allen ohne Verletzung der heiligsten
Güte gegen irgends eines seiner Kinder zu erreichen.
3)
Die Einsichten der Menschen sind eingeschränkt: sie können nur nach dem äussern Anschein urtheilen, selten die Moralität der Handlungen erforschen, und die Zukunft nicht übersehen. Hieraus entstehen die Mängel der Gerechtigkeit der gütigsten Fürsten und Väter.
- a) Bey der Vertheilung des Guten und den Belohnungen werden zum öftern verdienstlose Heuchler den würdigern und verdientern Personen aus Irrthum vorgezogen; oft denen, welche vorzüglich begünstiget werden sollen, solche Wohlthaten erwiesen, wodurch sie unglücklich werden. Jener Sohn, von welchem der Vater hoft, er werde die Stütze der Familie werden; auf welchen er daher den größten Theil seines Vermögens verwendet, wird durch diese vorzügliche Güte zu Ausschweifungen veranlaßt, und verdirbt: der Vater hat also gegen die übrigen Kinder ungerecht gehandelt, nicht aus Mangel der Güte, sondern aus Mangel der Einsicht in die Zukunft. Dieser Mann, welchem der König grosse Talente, Rechtschaffenheit und Diensteifer zutrauet, wird vielen andern, die sich bereits verdient gemacht haben, vorgezogen; aber diese Begünstigung ist sein Unglück. Er bekomt Gelegenheiten zu Betrügereien von Erheblichkeit, seine schwache Tugend kan nicht widerstehen, er wird ein Verräther des Vaterlandes, und stirbt als Missethäter. Gottes Güte kan nie ungerecht handeln, weil sein Verstand nicht irren kan. Er wird nicht durchs Aeußre hintergangen, er kennet die Gedanken und innersten Gesinnungen der Menschen, und übersieht im voraus alle Folgen seiner Wohlthätigkeit bey jedem Subjekt. Alles, was er zutheilt, ist daher dem Empfänger in Beziehung auf seine ganze Dauer wahrhaftig gut. So erhellet, wie seine Güte durch die vollkommenste Weisheit geleitet, die heiligste und gerechteste Güte ist.
- b) Bey der Gesetzgebung veranlaßt die eingeschränkte Weisheit der Menschen, daß bey der gütigsten Gesinnung des Gesetzgebers doch oft das Wohl einzelner Personen dem Wohl des Ganzen ohne Ersatz aufgeopfert werden muß, und es giebt fast kein positives menschliches Gesetz, worunter nicht einzelne Personen bisweilen leiden solten. So wohlthätig z. B. die Unterhaltung einer Armee für die Sicherheit und Ruhe eines ganzen Staats ist, so leiden doch offenbar viele einzelne Personen, welche zu dieser Art der Dienste fürs Vaterland gezwungen werden, darunter. Viele derselben verlieren ein grösseres ihnen mögliches Glück, oft auch Gesundheit und Leben, ohne dafür eine Vergütigung vom Vaterlande erhalten zu können. Gottes Gesetze sind dagegen, vermöge seiner uneingeschränkten Weisheit, so vollkommen, und seine moralische Regierung so mängelfrey, daß nie ein Theil um der übrigen willen ohne Ersatz leiden darf, und die anscheinenden Leiden zum besten andrer selbst nur die Empfänglichkeit zu höherer Glückseligkeit bey den Leidenden vermehren.
- c)
Daß bey Strafen oft die besten Väter und Fürsten, wegen ihrer eingeschränkten Erkentniß ungerecht handeln, weil sie theils die Moralität der Vergehen nicht immer genau durchschauen, theils nicht vorher wissen können, wie die Strafen zur Besserung und Verhütung neuer Vergehen einzurichten sind, und daher oft den Zweck verfehlen. Nicht selten lügt sich der Bösewicht und Verführer von der Strafe los, und der einfältige Verführte wird hingerichtet. Nicht selten wird das durch sanfte Mittel leicht zu bessernde Kind durch eine unweise Züchtigung, die für sein Nervengebäude zu heftig war, ungesund, oder zur Rachgier erboßt. Aber Gott erkennet die Moralität aller Handlungen nach ihrer kleinsten Gradation; er kennet die Mittel genau, welche zur Züchtigung und Besserung eines jeden Individuums die wirksamsten sind: und es ist also unmöglich, daß er den Zweck der Besserung bey seinen Bestrafungen verfehlen könte.
Nur derjenige Gesetzgeber muß einige zum Schrecken andrer härter, als es zu ihrer Besserung nöthig ist, strafen, welchem es an Mitteln fehlt einen jeden einzelnen zu bessern. Daher muß ein Monarch, der Millionen regieren soll, aus Mangel des Vermögens auf alle Individuen gleiche Aufmerksamkeit zu beweisen, oft gegen einzelne grausam handeln, und sie zum Besten des Ganzen aufopfern; aber ein Vater wird solches nie thun, weil er seine Kinder übersehen kan; niemals wird er ein Kind um den übrigen seine Autorität und Ernst sichtbarer zu machen, auf immer verderben und tödten. Hieraus folgt demnach, daß Gott nie ein einziges Geschöpf stärker strafen könne, als es zu desselben eignen Besserung nöthig ist, und daß alle Strafen zum Exempel für andere, in so fern sie aufhören Wohlthat für den, welcher sie erduldet, zu seyn, nur aus der Schwäche menschlicher Regenten, die nicht alle Individuen beobachten können, herrühren. Folglich giebt es keine andre göttliche Strafen als Züchtigung zu Besserung derer, welche sie erleiden; und diese müssen, weil Gott in der Wahl der Mittel nicht irren kan, allemal dadurch gebessert werden.
§. 65.
Hier bitte ich nun meine Leser den noch wenig ins Licht gesetzten unterscheidenden Charakter der heiligsten Gerechtigkeit Gottes, welchen wir derselben vermöge der unendlichen Weisheit des höchsten Wesens zuschreiben müssen, im Gegensatz aller eingeschränkten Gerechtigkeit, wohl zu bemerken. Er besteht darin: daß Gott sich niemals in der Verlegenheit befinden kan, das Wohl irgends eines einzigen seiner Kinder oder vernünftigen Geschöpfe zum grössern Wohl des Ganzen oder der übrigen Geister
auf immer und ohne vollen Ersatz aufzuopfern. Denn wenn unmittelbar aus dem Begrif der heiligsten oder uneingeschränktesten Güte folgt, daß Gott sich aller seiner Werke erbarme, sie alle zu dem größten Grade, der nach ihrer wesentlichen Empfänglichkeit bey ihnen möglichen Glückseligkeit führen wolle, so folgt nothwendig, daß seine Weisheit begrenzt seyn müßte, wenn er keine Mittel ausfinden könte, diese Absichten seiner Güte
an allen zu erreichen. Offenbar würde sonst Gott in Absicht derer, welche er dem Wohl der übrigen aufopferte, nicht die heiligste Güte zeigen; indem diese Ausnahme Schranken und Partheilichkeit in derselben beweisen würde. Und hier ist nun der Ort, wo wir den richtigen Begrif von der göttlichen Ehre, welcher gewöhnlich in fürchterliche Dunkelheit eingehüllet wird, ins Licht setzen können. Nur denn wird das ganze Geisterreich aus voller innern Empfindung ausrufen: heilig, heilig, heilig ist Gott, alle Lande sind seiner Ehre voll, ihm gebühret ewiger Dank und Preiß! wenn erkennet wird:
- 1. Daß Gott alle seine vernünftigen Geschöpfe gleich durch ohne alle Ausnahme mit gleicher Liebe umfaßt, und alle zur möglichsten Glückseligkeit führen wolle.
- 2. Daß es der göttlichen Weisheit nicht an Mitteln fehle, diese gütige Absichten aufs vollkommenste, mithin bey allen, ohne die mindeste Kollision und Ausnahme zu erreichen.
- 3.
Daß die göttliche Macht nie anders, als nach der weisesten Güte handle, und den Plan derselben wirklich ohnfehlbar ausführe, so daß jeder Geist zu der ihm möglichen
größten Glückseligkeit wirklich gelangt.
Ein jeder frage sein Selbstgefühl, ob nicht alsdenn Gott ihm am anbetungswürdigsten und in dem erfreulichsten
Glanze erscheine, wenn
alles glückselig ist, und ob nicht dagegen der Gedanke, daß auch nur
ein einziges Geschöpf unglücklich und
ewig elend bleibt, allen weichgeschaffnen Seelen die ganze Seligkeit des Himmels verderben, und dem Geisterreich den Vater der Welt weit minder liebens- und ehrwürdig darstellen würde. Ueberdis hilft alles übrige erfreuliche der Religion mir nichts, so lange ich glaube, daß es zur Ehre Gottes oder zur Beförderung des allgemeinen Wohls nöthig ist, daß einige Geister ewig gequälet werden müssen; denn da keine Offenbarung diese Unglücklichen namentlich bekant macht, so kan ich niemals gewiß werden, ob
ich nicht vielleicht selbst unter diese Schlachtopfer einer eben so unendlich grausamen, als gütigen Gerechtigkeit gehöre.
§. 66.
Aus allen diesen Betrachtungen, welche der ungesunden Philosophie der Afrikaner und Anselmianer entgegen gesetzt worden sind, fließt nun, daß Christus keine vertretende Genungthuung zur Besänftigung der Strafgerechtigkeit, Heiligkeit oder verletzten Ehre Gottes habe leisten dürfen, sondern daß er uns nur durch seinen Tod auf immer von aller Furcht einiges Zorns oder vorbestehender willkührlichen Strafen Gottes erlöset, und eine allgemeine Menschenliebe und Bereitwilligkeit des Vaters aller Geister uns unsere Fehltritte ohne einige Satisfaktion oder Büssungen gern zu verzeihen, so bald wir nur erkennen, daß wir uns selbst dadurch seiner Wohlthaten unempfänglich machen und aufrichtig uns zu bessern suchen, versichert habe. Da nun die Menschen durchgängig geneigt sind, von ihrer eignen Denkart, auf andre, und auf den Charakter Gottes zu schliessen, und daher alle Völker, wie die Geschichte der Religionen unter denselben lehret, darauf gekommen sind, Gott durch Geschenke, Opfer und äußre Demuthsbezeigungen und Peinigungen zu besänftigen; weil sie sich selbst von ihren Beleidigern nicht anders begütigen lassen: so bleibt es ein höchst beruhigender Satz für jederman und zu allen Zeiten: daß durch Christi Tod alle dergleichen selbstgewählte Besänftigungsmittel der Gottheit für überflüssig erkläret worden sind, und daß Gott, der seines eignen Sohnes nicht verschonet, sondern ihn für uns alle dahin gegeben hat, uns gewiß mit ihm alles zu schenken geneigt sey, und nichts von uns fordere, als daß wir das von ihm dargebotene Gute annehmen und mit freudigem Herzen geniessen sollen. Und so hat Christus daher nicht nur die Juden, sondern alle Menschen, die an ihn gläuben, von der größten moralischen Unglückseligkeit, die aus den peinigenden Vorstellungen einer über uns zürnenden Gottheit entsteht, auf immer durch seinen Tod befreiet und errettet, daß wir nichts weiter zu fürchten haben, als die natürlichen Folgen unsrer Thorheiten, wodurch wir uns wider Gottes Plan selbst elend und höherer Segnungen unfähig machen: so wie er uns zugleich durch seine Lehren den Weg zu immer höhern Stafeln der Glückseligkeit bezeichnet, und auf demselben durch seinen eignen Wandel vorgeleuchtet hat.
*) Meine Hauptabsicht, in welcher ich hier so ausführlich darzuthun gesucht habe, daß eine vertretende Genungthuung Christi, oder Erduldung unendlicher Leiden an unsrer Statt, zur Befriedigung der Strafgerechtigkeit Gottes, nicht in der heiligen Schrift gelehret wird, gehet eigentlich dahin, den einsichtsvollen denkenden Menschen das größte Hinderniß, Christi Lehre als göttlich zu erkennen, wegzuräumen. Denn, wer reine Begriffe von einer höchstvollkomnen Gerechtigkeit hat, kan unmöglich beredet werden, daß der Vater der Welt andre Strafübel, als welche zur Besserung nothwendig sind, über jemand verhängen könne. Es ist aber deshalb weder nöthig noch rathsam, auf den Kanzeln die gemeine Theorie zu bestreiten. Man bleibe in öffentlichen Vorträgen bey der einfachen Lehre der Schriften des neuen Testaments: daß Jesus alle erlöset und ihnen die Gnade Gottes, Vergebung der Sünden, wenn sie sich bessern, zu finden, durch seinen Tod vergewissert habe. Man lasse sich aber gar nicht über die in der heiligen Schrift unentschiedne Fragen ein: warum Christus so viel habe leiden und warum er sterben müssen? ob dis um Gottes oder der Menschen willen nöthig gewesen sey
wie eigentlich Christus der Welt Sünden getragen habe? in wie fern seine Leiden eigentlich vertretend gewesen sind? Gehörte eine vollständige Erkentniß hiervon zur Seligkeit, so würde es in der heiligen Schrift so deutlich erklärt worden seyn, daß keine Streitigkeiten darüber entstehen könten.
§. 67.
Die Streitfrage zwischen der römischen und den protestantischen Kirchen, ob die Seligkeit aus dem Glauben allein entstehe, oder ob auch gute Werke dazu nothwendig erfordert werden, läßt sich bey Voraussetzung der bisher entwickelten Begriffe nun leicht entscheiden. Der Vortrag der heiligen Schrift selbst ist hierüber ganz deutlich, so bald man nur die Ausdrücke Glaube, Werke, Gerechtigkeit, Seligkeit so verstehet, wie sie von den ersten Lesern der apostolischen Briefe, dem damaligen Sprachgebrauch und dem Zweck der heiligen Schriftsteller gemäß, im Zusammenhange verstanden werden müssen. Paulus und Jakobus widersprechen sich nur, in so fern man die Begriffe des Systems von Werken, Glaube und Seligkeit den Ausdrücken der Apostel unterschiebt.
- 1. Paulus hat im Briefe an die Römer und Galater augenscheinlich zur Absicht, die pharisäisch gesinnten Irrlehrer, welche nach Apostg. 15, 5. das Gesetz Mosis ausserhalb Palästina von allen Christen, auch den ehemaligen Heiden, beobachtet wissen wolten, zu widerlegen. Es war so leicht nicht, den Juden, wenn sie auch Jesum für den verheissenen Christ erkanten, den so fest eingewurzelten Nationalstolz zu benehmen, nach welchem sie sich grosse Vorrechte vor andern Völkern in Absicht auf Gott zueigneten; die höhere Verheissungen der Lehre Jesu, als Belohnungen ihrer durch Beobachtung des mosaischen Gesetzes erlangten Verdienste ansahen; und daher die Heiden nicht anders daran Theil nehmen lassen wolten, als in so fern sie sich auch beschneiden und dadurch zur Befolgung des jüdischen Gesetzes verpflichten liessen. Hierwider lehret nun Paulus, daß die Juden durch ihre Werke des Gesetzes, das ist, durch die mosaische Gottesdienstlichkeiten, nicht eine wahre Gerechtigkeit oder wahrhaftig religiöse Gesinnungen, wodurch man Gott allein angenehm würde, hätten erhalten können, sondern daß das sittliche Nationalverderben unter ihnen eben so groß als unter den Heiden gewesen sey, und sie daher eben so wol Sünder, und eben so sehr einer Vergebung derselben aus Gnaden bedürftig wären als andre Völker, Röm. 2, 3. Ferner daß nicht blos das Ceremonialgesetz, sondern das ganze durch Mosen bekant gemachte Gesetz die Juden nur mit einem Geist der Furcht vor Gott erfüllet hätte, wobey keine wahre Freudigkeit zu Gott, und kein freiwilliges Bestreben ihm wohlgefällig zu werden, in ihnen hätte entstehen können; um so mehr, da es die Menschen zu sehr ans sinnliche beym Gottesdienst und nicht an höhere geistigere Vorstellungen gewöhnt hätte; daher es ein Gesetz, welches nur Zorn anrichtet; ein Buchstabe, der da tödtet, genant wird Röm. 7 und 8. K. 4, 15. Gal. 2, 5. 2 Cor. 3, 6 f. Dagegen wird nun das Christenthum unter den synonymischen Benennungen, Glaube, Geist, Gesetz des Glaubens, Christus, dem Gesetz schlechthin oder dem Gesetz der Werke, des Fleisches, der Sünde, des Todes entgegen gesetzt und behauptet, daß es ohne Beymischung der mosaischen Religion beselige, mit Freudigkeit zu Gott und einem kindlichen Geist erfülle, und zu allen guten Werken geschickt mache. Röm. 1, 16. 17. K. 3, 22 f. K. 7, 6. K. 8. Gal. 3, 23. K. 8. K. 5, 24. Joh. 1, 17. Selig werden, heißt nun oft nur so viel als ein Christ werden, und hiermit aus dem bisherigen Aberglauben und ängstlichen Gottesdienstlichkeit errettet und zu lebendigen Hofnungen wiedergeboren werden. Und in dieser Absicht wird die Seligkeit oder das Glück ein Christ zu werden, für ein freies Gnadengeschenk Gottes, das Juden und Heiden ohne Rücksicht auf ehemalige Verdienste zu theil werde, beschrieben, Eph. 2, 8. 9. Phil. 2, 13. verglichen mit Röm. 10, 12. 15. K. 11, 5 f.
- 2. Nun darf man nur in Pauli Schriften auf den von ihm überall beobachteten Unterschied zwischen Werken schlechthin oder Werken des Gesetzes (Mosis), und zwischen guten Werken oder Erweisungen wahrer Tugend aufmerksam seyn, so siehet man sogleich, wie er mit Jakobo, Petro und Christo selbst aufs genaueste übereinstimmet; so sagt er: Eph. 2, 7. 10. Tit. 3, 5. 8. nicht aus vorhergegangnen Werken, sondern aus Gnaden gelanget jeder zu dem Glück ein Christ zu werden, aber durchs Christenthum wird er zu guten Werken zubereitet und verpflichtet. Gott wird einem jeden nach seinen Werken geben, und nur denen, die in guten Werken standhaft beharren, das ewige Leben, Röm. 2, 6. 7. Ueberall dringt Paulus auf Fleiß in guten Werken, 2 Cor. 9, 8. Gal. 6, 4. Col. 1, 10. 2 Thess. 2, 17. 2 Tim. 2, 21. Tit. 2, 14. und also lehret er eben das, was Jakobus lehrt, daß ein blosses Erkentniß und ein müssiger Beyfall gegen die Lehre Christi den Menschen nicht glückseliger mache, sondern nur die wahre Thätigkeit im Guten, Jak. 2, 14–26. K. 1, 22 f. Jakobi Brief ist daher nicht strohern, wie Luther als Augustiner glaubte, denn eben das hat Jesus selbst gelehret, Matth. 7, 22 f. und das künftige entscheidende Urtheil für die Ewigkeit soll nach den Werken erfolgen, Matth. 25, 35. 36. 40. 42. 43. 45. jeder wird ein desto grösser Maaß der Kräfte und Seligkeit erhalten, je mehr und treuer er hier mit den anvertraueten Talenten gewuchert; und desto reichlicher erndten, je reichlicher er hier gesäet hat, Luc. 19, 23 f. 2 Cor. 9, 6 f. Man lese auch 1 Joh. 1, 7. K. 2, 4 f. v. 29. K. 3, 3 f. K. 4, 7 f.
§. 68.
Wer die Streitschriften der Theologen und Philosophen mit einer ganz unbefangenen Vernunft, das ist, ohne im voraus zu glauben oder zu wünschen, daß diese oder jene Parthey Recht haben möchte, und mit Nachdenken durchlieset, der wird finden, daß fast immer beyde streitende Partheien gewisser massen Recht haben, oder daß die Wahrheit zwischen ihnen getheilet ist. Ich nehme diejenigen spekulativen und transcendenten Fragen aus, die ganz über den Gesichtskreiß unsres Verstandes hinausgehen
, und worüber daher keiner etwas gegründetes hat behaupten können; sonst mache ich mich anheischig, von allen übrigen, besonders den kirchlichen Zwistigkeiten darzuthun, daß die Wahrheit niemals ganz auf einer Seite allein gewesen ist. Nirgends aber fället dis mehr in die Augen, als bey den Streitigkeiten über die Lehre vom Glauben und guten Werken, wo offenbar jede Kirche aus einem besondern Gesichtspunkt einen Theil des Ganzen richtiger als die andern erkant hat, und blos Mißverständnisse der Worte die vollständigere Einsicht in den Zusammenhang des gesamten Plans der christlichen Religion erschweret haben. Ich will in Beziehung auf diese noch obwaltende Streitfragen hier die wahre Theorie liefern, worüber im Grunde und den Sachen nach alle Kirchen einig seyn werden, so bald die gewöhnliche Lehrformeln, welche die Mißverständnisse veranlassen, an die Seite gelegt werden.
§. 69.
Die Ordnung, in welcher ein Mensch durchs Christenthum
zu höherer Glückseligkeit gelanget, ist folgende:
Erstlich: Die Wahrheit, daß Jesus der Christ, der höchste Gesandte und Sohn Gottes sey, und daß also seine Anweisungen einen göttlichen Unterricht über den Weg zur Glückseligkeit enthalten, ist die Grundlage des gesamten Glaubens eines Christen, 1 Joh. 5, 1. K. 4, 16. Joh. 17, 3. 16. 36. Apostelg. 2, 36–38, K. 4, 12. K. 16, 30. 31. Auf diesen Satz wurden die Juden, welche den einigen Gott schon erkanten, bey ihrem Eintritt in die Gemeine der Christen getauft, Apostg. 8, 16. K. 10, 48. K. 19, 4. 5. und hiermit selig gemacht oder errettet, Röm. 10, 9. 10 f. Dis ist der Glaube
an Christum; und in so fern hat die lutherische Kirche recht, daß sie
das Vertrauen in den Begrif des Glaubens aufnimt. Wer an den Namen Christi glaubt, der eignet ihm die höchste Autorität in der Religion zu, und hat also ein völliges Vertrauen zu desselben Anweisungen. So bald nun der Jude oder Heide dieses Vertrauen zu Christo faßten, so ging eine
μετανοια oder Veränderung der Denkart in der Religion in ihnen vor. Ihre bisherige abergläubische Vorurtheile verloren alle Gewalt über sie; die Heiden thaten den ersten Schritt aus der Finsterniß zum Licht, aus der Gewalt des Satans zu Gott, das ist, von der Abgötterey zu richtiger Erkentniß und Verehrung des wahren Gottes, und von der Lasterhaftigkeit zu bessern Gesinnungen: die Juden aus der Sklaverey beschwerlicher Gottesdienstlichkeiten und beständiger Todesfurcht zur Freiheit und den erfreulichsten Aussichten. So wurden beyde errettet oder selig, ob sie gleich von dem ganzen Inhalt des Unterrichts Jesu noch gar keine vollständige Einsichten hatten, und solche erst nachher durch fernern Unterricht erhalten mußten, Röm. 12, 1. 2 f. Eph. 4, 15–32. und andern Orten. Allein mit diesem Glauben, daß Jesus ein göttlicher Wegweiser zu höherer Glückseligkeit sey, entstund unmittelbar die Begierde seine Anweisungen nun anzuhören, und eine Bereitwilligkeit,
solche zu befolgen. So wie nun ein Kind schon alsdenn gutartig ist, und sich auf dem Wege zu seiner Wohlfart befindet, wenn es geneigt ist, sich in allen nach seines Vaters Willen zu erkundigen und denselben zu befolgen, wenn es gleich noch nicht den ganzen Plan des Vaters übersiehet, und erst nach und nach solchen verstehen lernen muß; so kan auch ein Christ bey dem blossen Vertrauen zu Christo und der allgemeinen Geneigtheit seinen Unterricht in allen zu befolgen, Gott wohlgefällig und auf dem Wege zum Leben seyn, wenn er gleich noch sehr mangelhafte Erkentnisse von den Anweisungen Jesu hat. Hieraus erhellet in wie fern die Katholiken Recht haben, wenn sie ein ausführlich Erkentniß der gesamten Religion nicht zum seligmachenden Glauben für nothwendig halten, sondern behaupten, daß schon
fides implicita bey denen hinlänglich sey, deren geringe Verstandskräfte und äussere Umstände ein deutliches und vollständiges Erkentniß der Lehre Christi nicht verstatten.
§. 70.
Zweytens: Aus dem Glauben an den Namen Christi, das ist, aus der Ueberzeugung, daß Jesus ein göttlicher Lehrer sey, entsteht nun unmittelbar die Begierde von ihm zu lernen, und seine wohlthätige Vorschriften zu befolgen. Der Inhalt der Lehre Jesu ist theils theoretisch, theils praktisch. Hier ist die Frage entstanden, ob nur die erstere oder beyde Arten der Wahrheiten den eigentlichen Gegenstand des Glaubens ausmachen. Aus Mißverstand einiger paulinischen Stellen darin das Gesetz und der Glaube einander entgegen gesetzt werden, hat man die christliche Religion in Evangelium und Gesetz eingetheilt, und nur die Gnadenversicherungen unter dem Namen des Evangeliums mit Ausschliessung der Anweisungen über unser Verhalten für den Gegenstand des Glaubens erklärt. Allein Paulus setzt offenbar Gal. 3, 23 f. und in allen ähnlichen Stellen nicht zwey Theile der Lehre Jesu unter dem Namen des Gesetzes und des Glaubens einander entgegen, sondern er verstehet unter Gesetz die ganze mosaische Religion, und unter dem Glauben die ganze christliche Lehre; daher auch Mose und Christus als synonymische Ausdrücke statt Gesetz und Glaube gebraucht werden, und das Christenthum als ein Gesetz des Glaubens ausdrücklich von dem Gesetze der Gottesdienstlichkeiten oder der Werke unterschieden wird, Röm. 3, 27. Joh. 1, 17. Ebr. 8, 9. 10. Die Lehre Jesu ist demnach ein unzertrennbares Ganze und durchaus Evangelium. In ihr erscheinen die göttlichen Vorschriften über unser Verhalten nicht als Anforderungen eines Gebieters, sondern als Rathgebungen eines Vaters. Wie nun ein Vater seine Kinder nur halb glücklich machen würde, wenn er ihnen blos seine Liebe versicherte, und vieles Gute verspräche und schenkte, sie aber nicht zugleich unterrichtete, wie sie solches brauchen und aufs beste benutzen und geniessen solten: so würde auch die Lehre Jesu uns durch alle Versicherungen von der Gnade Gottes nicht wirklich zu seligen Leuten machen, wenn sie uns nicht auch durch ihre moralische Anweisungen belehrte, wie wir aufs weiseste alles von Gott kommende Gute anwenden und aufs fruchtbarste benutzen sollen. Der Christ muß demnach eben so viel Vertrauen zu den praktischen Anweisungen Jesu, als zu desselben Gnadenversicherungen beweisen und jene so wol wie diese erkennen und glauben.
§. 71.
Drittens: Je mehr nun der an Christum glaubende Mensch den Unterricht desselben verstehen lernt, und je mehr sich seine Einsichten in die Gesinnungen und den Entwurf Gottes über uns erweitern und aufklären, je mehr Seligkeit entstehet auch hiermit in seiner Seele. Da die Kirche sich hierüber fast in lauter allegorischen und mystischen Ausdrücken erkläret, und diese grosse Veränderung der Denkungsart des Menschen, welche der lebendige Glaube bewirkt, Wiedergeburt, Geburt aus Gott, neue Schöpfung, Vereinigung mit Gott und Christo, Hervorbringung eines neuen Geistes und Herzens, Rechtfertigung und Heiligung, u. s. w. zu benennen pflegt, wodurch blos schwankende und verworrene Begriffe, zum Theil auch nur Worterkentnisse , wie ich aus eigner Erfahrung weiß, selbst bey Theologen veranlasset und unterhalten werden, so will ich mich bemühen anschauendere Sacherkentnisse von dem, was in dem Gemüth des Menschen in seiner Bekehrung vorgehet, hier zu erwecken.
- a) Der natürliche durch höheren Unterricht über die Religion noch nicht erleuchtete Seelenmensch beurtheilet die Dinge nach dem sinnlichen Eindruck, welchen sie auf ihn machen. Ihm erscheinet daher sehr vieles als Unvollkommenheit und Uebel in der Welt, wie die unaufhörlichen Klagen der Menschen über das Elend dieses Lebens solches beweisen. Ueberall findet er Hindernisse und Schranken bey dem Bestreben seine Begierden zu befriedigen, und seine klügsten Entwürfe werden bald durch Unglücksfälle, bald durch die Hinterlist böser Menschen vereitelt. Hierbey kan nun keine wahre Zufriedenheit in seiner Seele wohnen; denn ihm scheint in seiner Lage das Böse ein grosses Uebergewicht über das Gute zu haben. Richtet er seine Blicke in die Zukunft, so ist sie in fürchterliches Dunkel vor ihm verhüllet. Sorgen, Kummer, ängstliche Befürchtungen bemächtigen sich nothwendig von Zeit zu Zeit eines Geistes, der seine Ruhe und sein Glück in Dingen sucht, die ihrer Natur nach unaufhörlichen Abwechselungen unterworfen sind, so wie es unser Körper selbst ist, der schon im männlichen Alter zur endlichen Zerstörung sich aufzulösen beginnt. Vermischen sich mit diesen trüben Vorstellungen noch einige Begriffe von einem allgewaltigen Wesen, welches die Welt beherrscht, so wird das moralische Elend noch grösser. Der sinnliche Mensch kan eine Gottheit nicht lieben, von welcher er glaubt, schon hier verwahrloset und in ein Jammerthal gesetzet zu seyn. Daher tadeln und lästern rohe Menschen die Einrichtung der Dinge, und die Wege der Vorsicht. Aber der Gedanke, daß man sich der Obermacht dieses furchtbaren Wesens nicht entziehen könne, daß man es beleidiget habe, daß es zürne und vielleicht im Tode seine Rache noch über uns ausschütten werde, fällt in den Stunden des Tiefsinns und der Kränklichkeit schwer auf das Gemüth des hoffnungslosen Sünders, daß Zittern und Zagen ihn ergreift und in seinem Busen eine wahre Hölle entbrennt. Dann hascht der sinnliche Mensch nach abergläubischen Rettungsmitteln, und quält sich durch willkührliche Büssungen, oder vergräbt sich lebendig in Einöden schwermüthiger Gottesdienstlichkeit und entsagt dem gesellschaftlichen geschäftigen Leben, welches dagegen für uns ein Paradies Gottes wird, so bald das Licht des Evangeliums seinen himlischen Glanz darüber verbreitet. Denn bey den Erleuchtungen der Lehre Jesu verschwindet die furchtbare Dunkelheit, welche die Liebenswürdigkeit Gottes den Augen blos sinnlicher Menschen verbirgt. Wir erblicken auf dem Throne der Welt einen Vater, der nur wohlthätig und nachsichtsvoll gegen uns denkt und handelt: der uns auf dieser Erde im ersten Kindheitsalter unsres Daseyns zu höherer Glückseligkeit vorbereitet und mannigfaltige Freuden für die Sinne darbietet; nicht um uns darin zu sättigen, und in ihrem Genuß unsere höchste Wohlfart zu suchen, sondern daran nur einen Vorschmack zu haben, was für erhabnere Freuden uns, wenn wir Gott lieben, in einem männlichen Alter des zukünftigen Lebens erwarten. So betrachtet nun der glaubende Christ alle von ihm nicht abhängende Veränderungen auf seiner Wallfart hienieden; alle glückliche und unglückliche Ereignisse seiner Tage; als Führungen eines gütigen weisen Vaters, der ihn auf unbekanten Wegen zu Scenen höherer und dauerhafterer Seligkeit hinüber führt. Und hierbey nehmen Ruhe, Heiterkeit, Zufriedenheit und getroster Muth in dem Herzen des Christen ihre beständige Wohnung. Der lebendige Glaube an die Lehre Jesu hat demnach die Kraft selig zu machen; indem er alle fürchterliche Vorstellungen von Gott, von willkührlichen Forderungen, oder willkührlichen nicht zur Besserung abzielenden Strafen desselben, und von der Nothwendigkeit eigener Büßungen und beschwerlicher Gottesdienstlichkeiten völlig verscheucht, und die Ueberzeugung hervorbringt, daß alle von uns nicht abhängende Bestimmungen und Veränderungen unsres Zustandes uns gut sind, und ein immer fortgehender Wachsthum unserer Vollkommenheiten von Gott veranstaltet wird. Daß aber dieses herrschende Bewußtseyn des wachsenden Uebergewichts des Guten in unsrem Zustande ganz eigentlich die menschliche Glückseligkeit bestimme, ist bereits im ersten Abschnitt erwiesen.
- b) Der sinnliche sich selbst überlassene Mensch setzet sein größtes Glück in dem Besitz der äussern Vortheile dieses Lebens. Indem er demselben nachjagt, wählt er sehr oft Wege, die zum Verderben führen. List und Gewaltthätigkeit scheinen ihm näher zum Ziel seiner Wünsche zu führen, als Redlichkeit und mühsame Verdienste; indem aber andere eben so denkende Menschen, oft mit mehrerm Glück ihm entgegen arbeiten, so entsteht in seinem Gemüth Eifersucht, Neid, Rachsucht und Menschenhaß. Bey diesen Gesinnungen und Maaßregeln ist der Mensch stets mit sich selbst uneins, verdrüßlich, ängstlich und in beständiger Unruhe, weil seine Denkart nicht mit der allgemeinen Ordnung und dem göttlichen Plan über die menschliche Glückseligkeit harmonirt. So bald nun aber der Mensch es Christo glaubt, daß das einzige wahre Mittel sich möglichst glücklich zu machen, die redlichste und thätigste Menschenliebe sey, nach welcher man einem jeden mit einer solchen Begegnung zuvor komt, als man in ähnlichen Fällen von ihm zu erhalten wünscht; so wird er mit sich selbst und mit dem Plan Gottes in Harmonie gebracht. Die menschenfeindlichen Gesinnungen der Mißgunst, Rangsucht und des niedrigen Eigennutzes, an welchen er bisher gekranket hat, fliehen das durch Liebe zu Gott zur Menschenliebe erwärmte und veredelte Herz, und hiermit werden zugleich alle natürliche Triebe nicht unterdrückt oder geschwächt, sondern geheiliget, das ist, auf das erhabene Ziel unserer Bestimmung zu höherer gesellschaftlichen Glückseligkeit übereinstimmig gerichtet. Nun sucht der Mensch seine Ehrliebe nicht mehr dadurch zu befriedigen, daß er besser scheinen will, als er ist; er denket nun wirklich so gegen andre, daß auch seine innre Gesinnungen ihm Ehre machen, und er der ängstlichen Bemühung überhoben ist, sich zu verstellen. Der Trieb, das Eigenthum und die damit verknüpfte Unabhängigkeit zu vergrössern bestimt ihn nicht mehr zu niedrigen Handlungen des Betruges, wodurch die Ehrliebe gekränket wird; er erwecket ihn vielmehr zur Arbeitsamkeit und zum Fleiß in seinem Beruf und zur Ordnung und Wirthlichkeit im Haushalten. Die Neigung zu sinnlichen Ergötzlichkeiten, die ihm vielleicht öfters zum Nachtheil seiner Gesundheit, seines Vermögens, und seines Rufes zu Ausschweifungen hingerissen hatte, wird nun durch dankbares Andenken an Gott beym Genuß der sinnlichen Annehmlichkeiten, veredelt: und der entgegen gesetzte tyrannische, den Menschen selbst quälende und entehrende, Trieb zum Geitz wird durch den grossen Gedanken, daß wir Gott nur durch wohlthätige Gesinnungen ähnlich werden, und durch Almosen die irdischen Güter, die sonst im Tode zurück bleiben, ins künftige Leben hinüber retten können, entkräftet und zur weisen Sparsamkeit gemildert. So bringt also der Glaube an Christum eine innre Harmonie aller unsrer natürlichen Triebe unter einander und mit dem Plan Gottes hervor, und nun wird einem jeden die Sache selbst deutlich seyn, was die Theologen durch die Ausdrücke sagen wollen: der Glaube heiliget; er schaffet ein neu Herz; er erfüllet mit dem Geist Gottes oder mit dem Sinn Christi; er vereiniget den Menschen mit Gott; er macht uns göttlicher Natur theilhaftig; denn nun will der Mensch, was Gott will, und wirket mit Gott zu einerley Zweck, zur allgemeinen Wohlfart und Glückseligkeit, wie Christus dazu auf die verdienstvollste Art gewirket hat.
§. 72.
Viertens: So bald die Denkart eines Menschen gottesgeistig geworden ist, so bald er den Sinn Christi, das ist, wahrhaftig christliche Gesinnungen, wie sie das Vorbild und die Lehre Jesu erfordern, angenommen hat, so befindet er sich in dem Zustande der höhern moralischen Glückseligkeit oder der Gnade bey Gott. Denn nun hat er ein völliges Vertrauen zu Gott, und ist über alle Veränderungen seines Lebens ruhig und voll der erfreulichsten Hofnungen für die Zukunft: und da Gott wohlgefällig zu denken
und zu handeln, das Ziel seiner Wünsche und Bestrebungen ist, so findet in ihm schon die allgemeine Geneigtheit und der Grundtrieb zu allen göttlichen und gesellschaftlichen Tugenden statt.
Nun lässet sich die berühmte Streitfrage zwischen der römischen und der protestantischen Kirche, ob nur der Glaube allein oder auch die Werke zur Seligkeit nothwendig sind? ohne Schwierigkeit auflösen.
Unter guten Werken verstehet man entweder selbstgewählte und willkührliche Gottesdienstlichkeiten und Büssungen, als fasten, sich geisseln, wallfahrten, Formulargebete hersagen u. d. gl. oder die äussere Erweisungen der innern christlichen Gesinnungen gegen Gott und den Nächsten. Die erste Gattung so genanter guten Werke sind ein Ueberbleibsel des Judenthums, wogegen Paulus so oft im Briefe an die Römer und Galater eifert, und Col. 2, 16. ausdrücklich einschärft, lasset euch niemand Gewissen machen über Speise, oder Trank, oder bestimmten Feyertagen u. s. f. und diese werden daher mit Recht von den Protestanten für unnöthig, ja unter gewissen Umständen für der Seligkeit schädlich erkläret. Was aber die guten Werke nach dem
biblischen Begrif betrift, so ist davon zu bemerken:
- a) Man kan immerfort gut gesinnet seyn und eine herrschende Geneigtheit haben, alle Tugenden auszuüben, ohne jedoch solches immerfort werkthätig äussern zu können. Jede Art der guten Werke, als äussere in die Sinne fallende Handlungen betrachtet, erfordern äussere Gelegenheiten, sie verrichten zu können. Ich kan zum Beyspiel so gut gesinnet seyn, daß ich der Vorschrift Jesu gemäß meinen Feind gern speisen und bekleiden würde; allein um dis gute Werk thätig zu verrichten, wird voraus gesetzt, theils daß ich einen Feind habe; theils daß dieser meiner Unterstützung bedarf; theils daß ich das Vermögen dazu habe, ihm zu helfen; theils daß mir seine Dürftigkeit bekant wird; theils daß ich mich mit ihm in einer solchen Lage befinde, daß meine Wohlthaten bis zu ihm gelangen können; alles dieses hängt aber nicht von mir selbst ab. Gleiche Bewandniß hat es mit allen andern einzelnen Arten der guten Werke. Nun würden wir in der That sehr übel daran seyn, wenn die Verrichtung einer jeden oder doch gewisser bestimter Arten guter Werke zur Seligkeit schlechterdings nothwendig wären, da es nicht von uns abhängt, uns die Gelegenheiten dazu zu verschaffen. In dieser Beziehung kan also der Satz: gute Werke sind zur Seligkeit nicht nothwendig, allerdings mit Grunde behauptet werden, in so fern keine einzelne Gattung derselben zu nennen ist, deren werkthätige Leistung schlechterdings zum Glückseligseyn erfordert würde.
- b) Da aber die Seligkeit nicht ein augenblicklich vorübergehender sondern fortdaurender Zustand ist, darin der Mensch immerfort denkt, wünscht und handelt, und alle diese Entschliessungen und Handlungen nothwendig entweder gut oder böse sind, uns vollkomner oder unvollkomner, Gott wohlgefälliger oder mißfälliger machen, so erhellet wie in diesem Betracht der Fleiß in guten Werken zur Seligkeit nothwendig sey. Es muß nemlich der Mensch nothwendig alle christliche Tugenden werkthätig ausüben, so bald sich zu derselben Verrichtung Gelegenheit darbeut, denn der aus Gott Geborne kan, wie Johannes 1 Br. 3, 9. sagt, nicht sündigen, er kan nicht wider sein Gewissen handeln, noch unterlassen, was dieses von ihm fordert. Christus selbst erklärt das blosse Unterlassen guter Handlungen für den Grund der Unseligkeit. Matth. 25, 42 f.
- c) Gute Werke sind nun eigentlich in einer dreifachen Beziehung nothwendig,
- 1) als natürliche und unausbleibliche Folgen guter Gesinnungen, Matth. 7, 18. an welchen der Mensch erkennen muß, ob er den Sinn Christi wirklich habe, 1 Joh. 3, 10. 14.
- 2) als Befestigungsmittel in guten Gesinnungen; indem nur durch Uebung in der Geduld, im Vertrauen auf Gott, im Nachgeben, in großmüthiger Wohlthätigkeit, in der Arbeitsamkeit, diese beseligende Tugenden zu Fertigkeiten werden können.
- 3) als Beförderungsmittel der Wohlfart, indem jede Ausübung einer Pflicht unsren Zustand verbessert. So oft ich andern mit Ehrerbietung und Dienstbeflissenheit zuvorkomme, erwerbe oder vermehre ich ihre Achtung oder Freundschaft gegen mich: so oft ich eine Versuchung zu Thorheiten überwinde, entgehe ich übeln Folgen, die mich beunruhiget haben würden, und befestige die Herrschaft des Geistes über die Sinnlichkeit.
§. 73.
Fünftens: Da das Wort
Glaube, durch die so sehr von einander abweichende willkührliche Definitionen der Theologen so vieldeutig geworden ist, und selbst in der heiligen Schrift eine verschiedne Ausdehnung hat; es aber bey dem Erkentniß der Religion nicht auf Töne, sondern auf Begriffe ankomt: so ist der sicherste Weg aus der Verwirrung der Wortstreitigkeiten, und den daraus entstehenden Mißverständnissen sich heraus zu finden, daß man statt dieses Worts, andre Ausdrücke von bestimterer Bedeutung wähle, die eben die Begriffe einzeln und begrenzt darbieten, welche sonst unter dem Wort Glaube zusammengefaßt werden. Solten nicht alle einsichtsvolle Theologen in allen Kirchpartheien darüber eins seyn, daß der Mensch alsdenn selig wird, wenn er
den Sinn Christi überkomt, oder gegen Gott und Menschen, solche Gesinnungen annimt, wie Christus gegen seinen Vater und gegen uns gezeiget hat? Denn worin, meine protestantische Brüder, wollen wir das Leben des Glaubens setzen, als in die Wirksamkeit, welche er auf die Gesinnungen äussert? Kan wol ein Glaube rechter Art seyn, oder selig machen, der das Herz ungeändert läßt? Was fehlt aber, meine katholische Mitbrüder, demjenigen noch zur Seligkeit, dessen Denkart dem Sinn Christi ähnlich ist? Wird nicht der, welchen dieser Geist des Christenthums beseelt, alle Gelegenheiten gutes zu thun freywillig aufsuchen und mit Emsigkeit benutzen? Ich empfehle daher statt der ewigen Wortanalysen über den rechten Begrif des Glaubens und des lebendigen Glaubens, wodurch man einfältigen Christen niemals bestimte und nutzbare Erkentnisse beybringen wird, auf den Kanzeln lieber zu sagen: Die Seligkeit beruhet auf guten oder christlichen Gesinnungen. Dis wird von jederman so gleich verstanden, und nun kan man das aus der Lehre Jesu vortragen, was diese Gesinnungen der dankbaren Liebe, des Vertrauens, der Folgsamkeit gegen Gott, und der aufrichtigen und wohlthätigen Menschenliebe in den Zuhörern zu erwecken am geschicktesten ist; und sie dann weiter anweisen, wie sie diese Gesinnungen in ihrem ganzen Verhalten äussern und an den Tag legen müssen. So bestehet denn das ganze Werk der Seligmachung des Menschen durch die christliche Religion darin, daß der Mensch
- 1. Vertrauen zu Christo als einem göttlichen Lehrer fasset.
- 2. Den Unterricht desselben sich bekant macht.
- 3. Die daraus erkanten Warheiten in der Zueignung auf sich selbst überdenkt, und hierdurch seine ganze Denkart umbildet.
- 4. Durch den Geist der Religion Jesu sich nun weiter in alle Wahrheit und Tugend leiten läßt, und hiermit seinen innern und äussern Zustand immerfort vollkomner macht, nach allen Gelegenheiten, die sich ihm, gutes zu thun, darbieten.
§. 74.
Die Bekehrung des Menschen durchs Christenthum ist vermöge der bisherigen Entwickelung eine durchaus erfreuliche Sache. In der ganzen Lehre Jesu findet sich kein Satz, der den Menschen, welcher sich bessern will, betrübt oder niedergeschlagen machen könte. Wir werden sogleich, wenn wir diese Lehre annehmen, wiedergebohren, indem wir die Grösse der Liebe Gottes, der Mildthätigkeit seines Plans über uns, und einen sichern und angenehmen Weg, unsre Wohlfart immerfort Ewigkeiten hindurch zu vergrössern, aus dem Unterricht der heiligen Schrift kennen lernen; das kan niemanden Traurigkeit erwecken. Es muß daher jedem Freunde der Lehre Jesu nahe gehen, wenn er gewahr wird, wie blos die unglückliche Uebersetzung des Worts μετανοια durch poenitentia und durch Buße in der abendländischen Kirche so viel finstere Lehrsätze erzeuget hat, welche die Liebenswürdigkeit der Einladungen Christi so sehr verdunkeln. Der ganze Artikel von der Buße in unsrer Dogmatik und Moral, besonders was von einer Beängstigung des Gewissens, Zerknirschung, Bußkampf und dergleichen darin vorkomt, ist aus dem alten Testament entlehnt, hat nicht den allermindesten neutestamentischen Grund, und kan auch schlechthin mit dem Geist des Evangeliums nicht bestehen. Ich will dieses etwas umständlicher erweisen.
1. Ueberall wo Luther in der Verdeutschung des N. T. Buße und Reue gesetzt hat, stehen im Grundtext zwey Worte, welche blos eine aus reiflicher Ueberlegung und Nachdenken entstehende Veränderung und Verbesserung der Entschliessungen und Gesinnungen anzeigen. Eben diese Worte brauchen die alexandrinischen Uebersetzer selbst von Gott und von der Veränderung seiner Verfügungen, folglich liegt darin gar nicht der Begrif des Betrübtseyns oder der Zerknirschung. Dagegen bedeutet nun Buße und büßen so viel, als Genungthuung für begangene Vergehungen leisten, es sey durch Geldbuße, oder Erduldung schmerzhafter Empfindung. Esr. 7, 26.
*) Im hebräischen bezeichnet
נחם auch ganz allgemein jede Veränderung des Gemüthszustandes und der Gesinnungen, so wie
μετανοεω, und daher nicht nur reuen, sondern auch sich trösten und neuen Muth fassen: dagegen büßen ein ganz anderer Begrif ist, der durch
ענש und
ζημιοω ausgedruckt wird.
2. Alle Stellen und Beyspiele, welche aus dem alten Testament in diesem Artikel als Erklärungen und Beweise dessen, was bey der Bekehrung durchs Christenthum im Menschen vorgehen muß, angeführet werden, sind schlechterdings unbrauchbar. Denn der Geist des alten Testaments war der Geist der Furcht und Knechtschaft; der Geist des neuen Bundes ist der kindliche freudige Geist zu Gott. Die jüdischen Schriftsteller waren unter dem Gesetz, das nur Zorn anrichtet, unter dem Buchstaben, der da tödtet; wir sind unter der Gnade und einem lebendigmachenden geistigen Evangelium. Nur erst durch Christum Jesum ist Gnade und Wahrheit und lebendige Hofnung ans Licht gebracht worden. Wäre jener erste Bund untadelich gewesen, so hätte es keines neuen Bundes bedurft, Ebr. 8, 7 f. Ich betrübe mich allemal, so oft ich in christlichen Versamlungen die Psalmen Davids lesen höre, als ob es vom Geist des Christenthums eingegebene Gebete wären. Was sind sie? es sind angstvolle Gebete, worin David Gott nicht als den allgemeinen Vater der Menschen, sondern als den Schutzgott des jüdischen Volks, der die benachbarten Nationen hasset, anruft, und dessen Ehrliebe zum öftern auffordert, sich seines Volkes um seines Namens willen, weil er sich den Gott Israels nenne, anzunehmen und andre Völker zu verderben: zum Beyspiel Ps. 79. 44. 46. oder worin er bey dem Anblick der Zerrüttung und Meuthereien, die seine Vielweiberey, schlechte Kinderzucht, und andre Vergehungen in seiner Familie und in dem Staate veranlasset hatten, sich in dem größten äussern Bedrängniß befindet, und Gott mit Gelobung der Besserung um Rettung gegen seine Feinde, und um Hülfe zu ihrer Untertretung anflehet, Ps. 2. 5, 9 f. Ps. 6. 7. und in vielen andern. Wie ist es möglich, daß solche Gebete, darin so gar nichts von dem christlichen göttlichen Geiste der Liebe zu spüren ist, noch von Christen nachgebetet werden können?
Ich muß hierbey von dem Verhältniß der Schriften des alten Testaments zum Christenthum eine allgemeine Bemerkung einschalten. Die jüdische Nation war durch Mosen und die Propheten, als durch Knechte Gottes, in ihrem Kindheitsalter oder in der Zeit ihrer rohen unkultivirten Sinnlichkeit gehofmeistert und in strenger Zucht durch eine Menge einzelner Gesetze und willkührlicher Strafen gehalten worden, Ebr. 3, 5. 6. Gal. 4, 1 f. nun erschien Christus als der Sohn Gottes, und hob alle Verordnungen der Vormünder auf, verbesserte die ganze Denkart der Juden und erklärte sie für freie und volljährige Söhne, die keines Gesetzes mehr bedürften, Gal. 3, 23. 24. K. 4, 1 f. Ebr. 8, 6. 17. Nun mußten die Apostel allerdings die Juden, welche an ihre bisherige Pfleger, Mosen und die Propheten gewöhnt waren, überführen, daß diese Lehrer ihrer Kindheit nicht das Gegentheil von dem Inhalt des Christenthums vorgetragen hätten, sondern daß ihre Anweisungen auch schon zu eben dem Zweck abgezielet, aber nur wegen der kindischen Denkart des Volks sehr sinnlich, und daher unvollkommenes Schattenwerk gewesen wäre, und daß jene vorzügliche Männer auch selbst eine noch bevorstehende größre Aufklärung der Religionseinsichten vorher verkündiget hätten, Col. 2, 16. 17. Ebr. 8, 5 f. K. 9, 9 f. Daher sagt nun Christus selbst Matth. 11, 9. 11. Luc. 7, 26 f. Johannes sey bereits grösser denn alle Propheten, welche vor ihm gewesen wären, und nur auf die Zeiten des neuen Bundes gedeutet hätten, aber der geringste Lehrer des Christenthums sey grösser denn Johannes, das ist, übertreffe bey weitem alle Propheten des alten Testaments an Richtigkeit, Deutlichkeit und Vollständigkeit der Einsichten in dem Plan Gottes über die Glückseligkeit der Menschen. Wie undankbar handeln wir demnach gegen Christum, der unser einziger Meister seyn soll, daß wir in die Kinderschule der Juden zurückkehren, und in derselben die Begriffe, was zur christlichen Bekehrung gehöre, erlernen wollen; aber wir werden auch dafür bestraft, indem wir aus derselben Aengstlichkeit, Hammerschläge des Gesetzes, Zerknirschung, Bußkampf, heilsam seyn sollende Verzweifelung, und andre den Geist einer kindischknechtischen Furcht einhauchende Begriffe unausbleiblich zurück bringen.
3. Im ganzen neuen Testament findet sich nicht eine einzige Stelle, darin gelehret werde, daß zur Verbesserung des menschlichen Gemüths durchs Christenthum eine vorläufige Beängstigung des Gewissens, oder wehmuthsvolle mit Thränen begleitete tiefe Betrübniß vorgängig erfordert werde. Die Stellen, welche man hieher zu ziehen pflegt, handeln offenbar nicht von der christlichen Umbildung zu Gott ähnlichen Gesinnungen. Der Zöllner, welcher im Tempel betet, betet unläugbar als Jude, Luc. 18, 13 f. und Christus stellet ihn gar nicht in der Lage vor, wie er durchs Evangelium wiedergeboren wird, sondern setzt nur die demüthige Aufrichtigkeit eines Zöllners, die von den Juden schlechthin als verworfne Sünder angesehen wurden, der stolzen Heucheley eines Pharisäers, welche das Volk für Heilige hielt, entgegen. Wenn Ebr. 12, 17. nach Luthers Verdeutschung gesagt wird: Esau fand keinen Raum zur Buße, wiewol er sie mit Thränen suchte, so wird doch wol niemand behaupten, daß hier von einer Bekehrung des Esau durchs Christenthum zu Gott die Rede sey; überdis aber ist der eigentliche Sinn dieser Stelle: Esau konte seinen Vater selbst durch Thränen nicht bewegen, seine Gesinnungen zu ändern, daß er den vorzüglichen dem Jakob ertheilten Segen zurück genommen und auf ihn übertragen hätte. Die scheinbarste Stelle ist 2 Cor. 7, 8 f. worin von einer Traurigkeit, welche religiöse Besserung wirket, geredet wird. Allein der Zusammenhang beweiset, daß hier nicht von einer Bekehrung der Corinther zu Christo, und von einer Traurigkeit über ihren vorigen lasterhaften Zustand die Rede sey; sondern daß ihre Betrübniß daher entstanden war, weil Paulus der ganzen Gemeine harte Vorwürfe darüber gemacht hatte, daß sie einen Menschen in ihrer kirchlichen Gesellschaft duldeten, der seine Stiefmutter geheirathet hatte. Die Wirkungen, welche dieser Betrübniß zugeschrieben werden, sind nach Vers 11. Verantwortung, Furcht, Verlangen, Eifer, Rache. Diese Wirkungen aber passen gar nicht zu der dogmatischen Theorie von der Buße; indem die Corinther nur, um sich gegen Paulum zu rechtfertigen, ihren Zorn, Eifer und Rache gegen den Verbrecher und dessen etwannige Beschützer ausgelassen hatten.
4.
Will jemand über den Begrif der Sinnesänderung mit mir philosophiren, und daraus
a priori es etwa herleiten, daß doch nothwendig so oft man seine Gesinnungen ändert und sich zu einem neuen Plan des Lebens entschließt, eine Mißbilligung der bisherigen Maaßregeln vorhergehen müsse, so gebe ich dieses überhaupt zu; läugne aber die Folge, daß aus dieser Mißbilligung des vorhergehenden Verhaltens ein
praedominium oder Uebergewicht des Affekts der Traurigkeit über das Vergnügen, welches durch die Aussicht in den glücklichen Erfolg der neuen Entschliessungen veranlasset wird, in einem sich bessernden Gemüth entstehen müsse. Wir können hierbey drey Fälle unterscheiden.
- a) Wenn ein Mensch gewissenhaft, aber aus Mangel richtiger Erkentnisse fehlerhaft gedacht und gehandelt hat, und nun zu bessern Einsichten in sein wahres Wohl gelanget, so findet bey dem Entschluß zu einem neuen Plan des Lebens blos Freude und keine Betrübniß statt. In diesem Fall befanden sich fromme Juden und gutherzige Heiden bey der ersten Einladung zum Christenthum. Ihr Uebergang aus der Finsterniß zum Licht; aus einer knechtischen Gottesdienstlichkeit zur Freiheit; aus dem Schatten des Todes zu den Hofnungen ewiger Glückseligkeit; war eine durchaus angenehme Umwandlung ihrer Denkart.
- b) Wenn ein Mensch wider beßre Einsichten und wider sein Gewissen ausgeschweift hat, und dann in ein Elend hineingeräth, aus welchem er noch keinen Ausgang gewahr werden kan; so bemächtiget sich allerdings seines Gemüths Schwermuth, bittre Reue und Verdruß gegen sich selbst, welche so lange fortdauren, als es ihm noch ungewiß scheint, ob er errettet werden könne. So war die Angst Davids nach dem begangnen Verbrechen des Ehebruchs und Mords, und die Reue des verlornen Sohnes, ehe er gewiß war, ob ihn der Vater wieder annehmen würde, beschaffen: und von dieser Art ist die Buße der meisten Christen auf dem Sterbebette und der verurtheilten Missethäter, daher man solche gewöhnlich und mit Recht eine Galgenbuße, die aus Furcht vor noch bevorstehenden Strafen erzeuget wird, zu nennen pflegt.
- c)
Wenn ein Mensch zwar überhaupt Gelegenheit zu guten Erkentnissen und einige allgemeine Begriffe von dem Wege zur Glückseligkeit gehabt, solche aber theils aus Leichtsinn, theils wegen mancher Zweifel dagegen unbenutzt gelassen, und nach blossem Gutdünken gelebt hat; alsdenn durch irgends etwas veranlasset wird, mehr Aufmerksamkeit und Nachdenken darauf zu wenden, und etwa so glücklich ist eine Predigt voll Salbung zu hören, und dadurch mit dem wahren Geist der Religion Jesu bekant zu werden: so wird der Entschluß den ganzen Plan des Lebens zu ändern mit einem doppelten Affekt begleitet seyn. Auf einer Seite wird er bedauren, nicht früher zu solchen beseligenden Gesinnungen gelanget zu seyn; auf der andern Seite aber wird die erfreuliche Vorstellung nun endlich zu der längst vergeblich gesuchten Ruhe des Gemüths und zur wahren Zufriedenheit des Lebens zu gelangen ihn frölich machen, und gewiß wird dieser angenehme Affekt das Uebergewicht in der Seele so fort erhalten. Dis ist der gemeinste Fall, worin unsre von Jugend auf in der Religion unterrichtete Christen sich befinden, wenn sie in männlichen Jahren zu der lebhaften Ueberzeugung gelangen, daß nur allein das gewissenhafte Bestreben, Gott wohl zu gefallen, uns ruhig, weise und glücklich machen könne.
Es ist demnach gewiß, daß alle durchs Christenthum bewirkte Besserung der Gesinnungen, von den angenehmen Aussichten in wahre Glückseligkeit, welche durch dasselbe uns eröfnet werden, anfängt, und nicht von Gewissensangst und Zerknirschung. Lutherus fühlte auch die Uebereinstimmung dieser Begriffe mit dem wahren Geist des Christenthums und ward nur durch den Mangel genungsamen Spracherkentnisses abgehalten, es deutlicher aus der Schrift herzuleiten; denn er schreibt in einem seiner Briefe an Staupitz: Es war mir, als wenn ich eine Stimme vom Himmel hörete, da du lehrtest: es sey keine Buße (oder Bekehrung) rechter Art, wenn sie nicht aus innrer Liebe zu Gott und dem Guten ihren Ursprung hätte. Möchte man doch, da jetzt allgemein anerkant wird, daß μετανοια nicht Buße, sondern Besserung der Gesinnungen heißt, einen solchen Hauptbegrif in der gemeinen Uebersetzung ändern, und nicht aus Anhängigkeit an Menschen so gleichgültig gegen das richtige Erkentniß der Anweisungen Jesu seyn.
§. 75.
Ich will diese ganze Lehre noch durch ein Gleichniß erläutern, welches auf die gewöhnliche Bekehrungsgeschichte unsrer Christen genau passet. Gesetzt der König liesse öffentlich von den Kanzeln bekant machen, daß alle, die sich und die ihrigen nicht ehrlich zu nähren wüßten, sich in einer gewissen Gegend einfinden solten, wo ihnen Gelegenheit zu reichlichem Erwerb angewiesen werden sollte; gesetzt daß viele, die bisher höchst kümmerlich gelebt hätten, so gleich auf die erste Bekantmachung sich entschlössen, die Einladung anzunehmen, so ist offenbar, daß von diesen die Entschliessung zur Veränderung des ganzen Plans ihres Lebens mit Freuden gefaßt werden würde, weil sich ihnen die Aussicht in beßre Tage eröfnet; und daß sie über ihr bisheriges Verhalten keine Betrübniß oder Reue empfinden würden, weil sie vorher nicht gewußt hätten, wie sie sich besser helfen solten. In diesem Fall befanden sich Juden und Heiden, da ihnen das Evangelium zuerst verkündiget ward; und darin befinden sich in unsern Tagen noch alle diejenigen gebornen Christen, welchen lauter unverständlicher Wörterkram statt Christenthum von Jugend auf vorgetragen worden ist, wenn sie das erstemal eine wirklich christliche Predigt hören. Gesetzt aber daß andre Einwohner, die eben so sehr der gnädigen Hülfe des Landesvaters bedürften, die erste Einladung nicht benutzten, weil sie überhaupt nicht recht darauf acht gehabt, und sie nicht völlig verstanden hätten, oder weil sie ein Mißtrauen gegen die Bekantmachung hegten, ob sie auch wirklich vom Könige sey; ob sie auch ihre Person angehe; ob ihnen auch alle gute Versprechungen würden gehalten werden; oder weil sie die Reise für allzu beschwerlich hielten; oder endlich weil sie zu sehr an den Ort ihres bisherigen Aufenthalts gewöhnt wären, und sich an demselben beßre Zeiten für die Zukunft versprächen. Gesetzt ferner, daß einer dieser nachgebliebenen in immer dürftigere Umstände geriethe, durch die mühseligsten Arbeiten nicht mehr genungsames Brodt für die Seinigen erwerben könte, schon zum Stehlen seine Zuflucht genommen hätte, dabey aber ergriffen und ins Gefängniß gesetzt worden wäre, so daß er keinen Ausgang des Elends mehr vor sich erblicken könte. Gesetzt endlich, daß unter diesen Umständen ein königlicher Kommissar diesem Mann nochmals die Gnade des Königs anböte, ihm völlige Verzeihung wegen seines bisherigen Aussenbleibens und seiner Vergehung wider die Gesetze versicherte, die angenehmste Beschreibung von der blühenden Wohlfart derer machte, die der Einladung des Monarchen gefolgt wären, ihm alle etwannige Zweifel darüber benehme und endlich ihm sogar königlichen Vorspann und Gelder, und alle Erleichterung bey der Reise verspräche: was, fraget euch selbst meine Leser, was werden wol für Gemüthsbewegungen in diesem Mann vorgehen, so bald er dem königlichen Boten glaubt? wird nicht der Gedanke: was bin ich für ein Thor gewesen, daß ich mich so lange gequält und nicht sogleich den gnädigen Einladungen des Königes gefolgt bin, die Seele gleichsam nur obenhin berühren, und von der freudigen Vorstellung, nun Ketten und Kerker verlassen zu können, und sich künftig im Wohlstande zu befinden, völlig verdrungen werden? Genau so gehet es mit der Bekehrung der Christen, welche von Kindheit an unsre Kirchen besucht haben; wenn sie zu klaren und praktischen Einsichten in die wohlthätige Beschaffenheit der himlischen Berufung des Evangeliums gelangen. So bald ihre Zweifel gehoben sind, aus denen allein Schwermuth und Traurigkeit entstehen kan, bemächtiget sich ihrer ein freudiger und kindlicher Geist, und die Liebe Gottes wird in ihre Herzen ausgegossen, bey welcher keine Pein, keine Aengstlichkeit, keine andre Thränen als Thränen der dankbaren Freude statt finden können.
§. 76.
Ueber die Frage: ob ein Christ den Tag und die Stunde seiner Bekehrung wissen könne und müsse? will ich meine Meinung noch mit wenigen Worten eröfnen. Wenn man unter der Bekehrung die Umbildung der Denkart und Gesinnungen eines Menschen versteht, wobey in demselben der allgemeine feste Entschluß gefaßt wird, durchaus rechtschaffen und gewissenhaft zu denken und zu handeln, und das Wohlgefallen Gottes zum höchsten Ziel aller Bestrebungen zu setzen, so sind zwey Fälle zu unterscheiden.
- 1.
Wenn ein Mensch, der im Christenthum von Jugend auf unterrichtet ist, (denn von einem solchen ist hier nur die Frage,) eine geraume Zeit hindurch gänzlich gewissenlos und in offenbaren Ausschweifungen der Ungerechtigkeit, Völlerey, Unzucht u. d. g. gelebet hat, und denn auf einmal in ihm die Vorstellung lebhaft wird, wie dieser Weg ihn zum Verderben führe und er dagegen durch Befolgung der Vorschriften der Religion zu wahrer Glückseligkeit gelangen könne, so wird allerdings auf eine so auffallende und feierliche Art seine ganze Denkart umgeschaffen, daß nicht nur er selbst, sondern auch andre, die sein Betragen beobachten, die Zeit seiner Bekehrung wissen können.
Indes ist auch hierbey zu bemerken, daß wenn gleich bey einigen Christen die Besserung schnell und auf einmal zu folgen scheint, solche dennoch lange vorher und allmählig vorbereitet worden ist. Die Sache verhält sich folgendergestalt: Der Mensch samlet nach und nach Einsichten und Beweggründe zum rechtmässigen Verhalten ein: bald wird ihm diese, bald jene Warheit theils durch Unterricht, theils aus der Erfahrung klärer und gewisser. Es entstehen daher von Zeit zu Zeit Beunruhigungen über sein regelloses Verhalten und einige Wünsche und schwache Entschliessungen sich zu bessern. Dis ist das, was die Mystiker in ihrer Sprache gute Rührungen oder das Anklopfen der Gnade an das Herz der Menschen zu nennen pflegen. So lange indes die Beweggründe zur Besserung sich nur einzeln darbieten, und das Gemüth noch durch sinnliche Zerstreuungen im ernsthaften Nachdenken gestört wird, so kommen die Vorsätze nicht zur Kraft. Wenn nun aber das Herz eines solchen Menschen durch irgend eine äussere Veranlassung, zum Beyspiel durch Unglücksfälle, merkwürdige Errettungen, Krankheit, schreckenvolles Ende eines geliebten Gefährten der Ausschweifungen oder sonst einen andern begünstigenden Vorgang in die Lage gebracht ist, daß es stillen Selbstbetrachtungen nachzuhängen sich schon bestimt findet, und dann ein Buch oder eine Predigt oder das Zureden eines redlichen Freundes alle in der Seele schon vorhandne Triebfedern zum Guten in Bewegung setzt, daß die einzelen eingesamleten Begriffe und Motiven zur Besserung belebt werden, sich herzudrängen, und mit vereinter Kraft auf das Gemüth wirken, so erfolgt auf eine auffallende Art die grosse Revolution auf einmal. Hierin ist demnach nichts magisches, wunderthätiges oder übernatürliches anzutreffen, sondern alles erfolgt den psichologischen Veränderungsgesetzen völlig gemäß.
- 2. Wenn ein Mensch von Jugend auf ehrbar, nach den durch die Erziehung in ihn gebrachten Fertigkeiten und nach natürlicher Ehrlichkeit und Gutherzigkeit gehandelt hat, so erfolgt die höhere Verbesserung seiner moralischen Denkart nur allmählig und nach dem Maaß, nach welchem seine Einsichten in die wahre Rechtschaffenheit sich aufklären und vervollkomnen, und ein solcher Mensch kan also keinen besondern Zeitpunkt seiner Bekehrung angeben. In diesem Fall befinden sich die meisten unsrer Christen, deren Gewissen durch das Fehlerhafte in ihren Gesinnungen aus Mangel genungsamer Sachbegriffe von der Religion nicht beunruhiget wird, und die sich immer für gut genung halten, ob sie gleich sich mancherley Ausnahmen von den Regeln der Ordnung und Rechtschaffenheit erlauben, bis sich nach und nach ihre Einsichten verbessern, wenn sie so glücklich sind gesunde moralische Predigten zu hören.
§. 77.
Die Mißdeutung des Lehrsatzes, daß allein der Glaube und die Ergreifung des Verdienstes Christi auch ohne Wercke gerecht und selig mache, hat nun in der lutherischen Kirche den Fleiß im gutes thun ungemein geschwächt, und die beseligenden Wirkungen des Geistes der christlichen Religion auf vielerley Art eingeschränkt und verhindert. Lutherus eiferte zwar sehr wider die guten Werke der römischen Kirche, aber wo er nicht polemisirt, dringt er überall auf wahre Geschäftigkeit im Guten; und es scheint, als ob er die unglücklichen Mißdeutungen seiner Nachsprecher vorher besorgt hätte und ihnen zuvorkommen wollen, indem er mehr denn hundertmal die Nothwendigkeit der guten Werke in seinen Schriften behauptet hat. Man lese darüber nur seinen Kommentar über den Brief an die Galater. Im 4ten Tom. der lateinischen jenensischen Ausgabe seiner Werke, Blat 109 schreibt er: Man muß von den guten Werken nur nicht sagen, daß man durch sie die Vergebung der Sünden bey Gott verdiene, sonst kan man nicht groß und rühmlich genung von guten Werken sprechen und sie nicht angelegentlich genung empfehlen. Desgleichen Blatt 165. Es ist nothwendig, daß rechtschafne Prediger die Lehre von den guten Werken eben so sorgfältig einschärfen, als die Lehre vom Glauben. Dem ohnerachtet ist bald nachher die Religion als ein blosser Gegenstand des Glaubens oder vielmehr der Spekulation behandelt, und auf allen Kanzeln über theoretische gelehrte Streitfragen polemisirt worden. Als hierauf der ehrwürdige Spener und seine Gehülfen die Lehre Jesu wiederum als eine Sache fürs Herz vorstellten, und nach und nach alle kordate Leute auf ihre Seite traten, verfielen ihre minder gelehrte und minder redliche Nachtreter auf eine mystische Sprache und auf Tändeleyen mit dem Körper Jesu, wodurch sinnliche Gefühle erregt, aber der Geist des Menschen wenig erleuchtet und gebessert ward. Nachher hat man sich in den Predigten in einem engen Zirkel von Worterklärungen über die theologischen Begriffe von Buße, Glauben und guten Werken, Rechtfertigung, Wiedergeburt, Natur und Gnade u. d. g. herumgedreht, so daß in einem ganzen Jahrgange oft nicht eine einzige umständliche und deutliche Anweisung zu irgends einer christlichen Tugend anzutreffen ist, wie so viele gedruckte Postillen und Andachtsbücher beweisen. Seit etwa 30 Jahren hat man hin und wieder angefangen, sich über mehrere Religionswahrheiten in den öffentlichen Reden zu verbreiten, auch moralische Vorschriften ausführlich vorzutragen. Allein noch finden sich viele zum Theil es recht gut meinende Männer, welche moralische Predigten für unchristliche auch wol gar für heidnische Reden erklären. Solten einige dieser Männer diese Schrift gewürdiget haben, sie bis hieher zu lesen, so hoffe ich, daß wir uns hierüber mit einander verständigen wolten. Zuvörderst bin ich mit euch, gutdenkende fromme Männer, vollkommen darüber einig, daß aller Vortrag einzelner Pflichten dem Menschen keine Kraft darbieten kan, solche vollständig auszuüben, und daß also die blosse Vorschriften der Moral keine Seligkeit hervorbringen, sondern daß vorher die ganze Denkart eines Menschen umgeändert oder der Sinn Christi in ihm hervorgebracht seyn muß, wenn er christliche gute Werke verrichten soll. Ich gestehe ferner zu, daß der Geist des Christenthums oder wahre Rechtschaffenheit nur eigentlich durch die theoretischen Wahrheiten von den durch Christum uns bekant gemachten guten Gesinnungen Gottes gegen uns, und von der Wohlthätigkeit aller seiner Vorschriften überhaupt, in den Menschen erweckt werden könne: denn es läßt sich nicht die Liebe zu Gott durch einen Befehl erzwingen, sondern sie muß aus anschauender Erkentniß der Liebenswürdigkeit Gottes entstehen. Allein solten denn nicht, wenn wir mehrere Jahre hindurch diese erfreuliche Wahrheiten geprediget haben, endlich ein oder der andre unter unseren beständigen Zuhörern sich finden, der wirklich von der Liebe Gottes überzeugt worden wäre, selbst dankbare Liebe gegen Gott empfände, und nun von ganzem Herzen wünschte, Gott durch sein gesamtes Verhalten wohl zu gefallen, und Christo ähnlich zu werden? Und wenn ohnstreitig dergleichen Personen in allen christlichen Gemeinen anzutreffen sind, ist es denn nun nicht nöthig, daß wir sie ausführlicher unterrichten, wie sie in jeder Beziehung handeln müssen, um Gott zu gefallen? Wird denn ein Kind schon dadurch weise und glücklich, wenn es Vertrauen zu seinem Vater hat und geneigt ist, ihm in allen zu folgen? Was hilft alle seine Bereitwilligkeit zum Gehorsam, so lange es nicht weiß, was es von Stunde zu Stunde zum Wohlgefallen des Vaters thun und wie es sich in allen Beziehungen verhalten soll? Sehet da, meine Freunde, darum sind moralische Predigten nothwendig, um den Kindern Gottes, die durch die Rathgebungen ihres Vaters gern weiser und vollkommner werden möchten, solche nun umständlicher bekant zu machen, damit sie in allen besondern Verhältnissen ihres Lebens ihm wohlgefälliger werden, und sich seiner höhern Wohlthaten immer empfänglicher machen können, Röm. 12, 2. Eben dahin zielen die vielen praktischen Anweisungen und einzelne Lebensregeln in den Reden Jesu, und in den Briefen seiner Apostel ab; und nach Gal. 1, 8. ist es doch unmöglich, daß Amsdorf und Muskulus ein ander Evangelium zu verkündigen, von Gott bevollmächtiget gewesen seyn solten.
Bey dieser Gelegenheit fühle ich mich gedrungen, die Wunden unsrer Kirche aufzudecken, nicht um ihrer zu spotten, sondern meine Mitbrüder
aufzufordern, sich zur Heilung
derselben zu ermannen. Die Verächtlichkeit, womit man über moralische Predigten hergefahren ist, hat es veranlaßt, daß selbst von den Predigern
das Studium der christlichen Moral unglaublich vernachlässigt worden ist: obgleich in neuern Zeiten verschiedene grosse Männer in unsrer Kirche vortrefliche Systeme darüber geschrieben haben. Niemand kan dis so sehr gewahr werden, als wer ein Theologe von Profession ist, was für unbestimte, verworrne, und zum Theil ganz falsche Begriffe über viele der wichtigsten Pflichten des Christenthums in den öffentlichen Lehrvorträgen angetroffen werden. Soll zum Beyspiel die Demuth empfohlen werden, so wird sie als eine Geneigtheit beschrieben, sich für den größten unter den Sündern, und für ganz nichtswürdig zu halten. Man beruft sich auch wol dabey auf Pauli Urtheil über sich selbst, 1 Tim. 1, 15. wo er sich den vornehmsten unter den Sündern nennet. Wenn man aber diese Stelle mit dem vorhergehenden nur im Zusammenhange, und 1 Cor. 15, 10. damit vergleichen wolte, so würde man erkennen lernen, daß die Demuth nicht darin besteht, sich für schlechter zu halten, als man ist; sondern daß die Demuth eine Fertigkeit sey, sich seiner Unvollkommenheiten bewußt zu seyn, ohne die Vollkommenheiten, die man hat, zu verkennen. Denn Paulus, welcher sich darum den größten Sünder und geringsten unter den Aposteln nennet, weil er vorher den Namen Christi verlästert und die Apostel verfolget hatte, verringert theils selbst die anscheinende Grösse seiner Vergehung dadurch, daß er bemerkt, er habe es aus Unwissenheit gethan; theils erwähnt er auch seiner Talente und des treuen Gebrauchs derselben, daß er mehr gearbeitet habe, als alle übrige Apostel. In was für Aengstlichkeit versetzt man aber nicht den Christen, wenn man es ihm zur Pflicht macht, sich für den nichtswürdigsten unter den Menschen zu halten, und dieses Demuth nennet: da es doch der Fehler der Niederträchtigkeit ist, wenn man seinen eignen Werth verkennet. So geht es nun fast mit allen Pflichten; theils werden sie zum Nachtheil andrer Pflichten übertrieben, theils aus ganz falschen Gesichtspunkten vorgestellet, überall aber solche schwankende Begriffe davon dargeboten, daß bey Kollisionen der Christ mit aller Gewissenhaftigkeit oft thöricht und wider seine Wolfart zu handeln veranlasset wird. Unbeschreiblich groß ist der hieraus täglich entstehende Nachtheil für die Christen. Man stelle sich nur eine Anzahl Kinder vor, welchen man täglich vorpredigte, wie gütig ihr Vater gegen sie gesinnet sey, wie sehr sie aus Dankbarkeit ihm in allen zu folgen verpflichtet wären, und wie glücklich sie dabey werden würden; denen man aber, wenn sie nun begierig wären zu wissen, wie und wodurch sie ihrem Vater wohlgefällig werden könten, die väterlichen Vorschriften desselben entweder gar nicht bekant machte, oder ihnen falsche und mangelhafte Erklärungen darüber gebe: würden diese Kinder wol täglich weiser und vollkommner werden können? Wären unsre gemeine Christen selbst die Weisheitslehre Jesu zu erfinden geschickt, wozu bedürfte es einer Offenbarung? wozu wären so viele Ermahnungen zu einzelnen Pflichten in jeder Beziehung des Lebens in den apostolischen Schriften verzeichnet?
§. 78.
Ein andrer sehr grosser Fehler der theologischen Denkart und der öffentlichen Lehrvorträge, welcher dem Zwecke unsres Amtes überaus nachtheilig wird, ist die fast allgemeine Gewohnheit auf den Kanzeln immer zu tadeln und niemals zu loben. Da, so viel ich weiß, diese üble Gewohnheit und ihr verderblicher Einfluß noch nicht öffentlich gerüget worden ist, so will ich ausführlicher zeigen, wie solche theils auf ganz falschen Gründen beruhe, theils wider das Beyspiel Jesu und der Apostel sey; theils dem Christen die grossen innern Belohnungen, die Gott mit dem Bewußtseyn guter Gesinnungen zur Aufmunterung in der Tugend verknüpft hat, beraube; theils auf mehr denn eine Art die volle Wirkung des Evangeliums und unserer Amtsbemühungen hindre.
1. Es liegen ganz verworrne und falsche Begriffe bey der üblichen Tadelsucht zum Grunde. Alle unsre guten Werke
sind unvollkommen, das ist wahr; aber Gott fordert auch so wenig, als irgends ein menschlicher Vater, von schwachen unmündigen Kindern, mehr als aufrichtigen Willen und treuen Gebrauch der vorhandnen Kräfte, Einsichten und Gelegenheiten. Selbst fehlerhafte und verunglückende Versuche eines Kindes, gut zu handeln, sind väterlichen Augen bereits angenehm, und werden von vernünftigen Aeltern mit Beyfall bemerkt und belohnt. Man mag nun in Absicht der natürlichen Kräfte des Menschen die Lehre des Augustins oder die Lehre der heiligen Schrift annehmen, so folgt aus beiden, daß wir alle auch noch so mangelhafte Aeusserungen des guten Willens unsrer Zuhörer loben müssen.
- a) Glaubt man mit Augustin, daß Gott alles Gute in dem Menschen in Absicht jeder Handlung wirken müsse: so ist es ja die größte Undankbarkeit gegen Gott, wenn man das Gute, was er im Menschen hervorbringt, verkennet oder für geringschätzig hält; und man ehret und preiset Gott und seine Gnade selbst, wenn man alle gute Gesinnungen, Vorsätze, Versuche und Handlungen der Christen in ihrem wahren Werth vorstellet und rühmet. Doch vielleicht wird der Mensch nur getadelt, weil er den Wirkungen Gottes nicht genungsam Raum giebt, weil er widersteht. Allein, meine Freunde, wisset ihr denn gewiß, daß alle eure Zuhörer immer widerstehen, und solten nicht wenigstens alle, in so fern sie nicht widerstanden und daher Gutes gethan haben, gelobet werden? Ich will mich einmal ganz in Augustins Theorie hineindenken, und die Sache durch ein passendes Gleichniß ins Licht setzen. Man nehme an, daß ein Kind schreiben lernen solte; der Vater verlangt nun, es soll ihm nur seine Hand lediglich überlassen und nicht widerstehen. Er faßt also die Hand des Kindes und führt sie: allein das Kind macht mit seiner Hand widerwärtige Bewegungen und daher geräth kein Buchstabe. Nach öftern Erinnern und fehlgeschlagenen Versuchen überläßt endlich das Kind seine Hand so ziemlich der Regierung des Vaters, und nun komt ein zierlicher Buchstabe zum Vorschein. Sagt mir nun, Freunde, was würdet ihr in diesem Fall zu eurem Kinde sagen? Etwa: mein Sohn sey ja nicht stolz darauf, daß der Buchstabe so schön gerathen ist, du hast gar nichts dazu beygetragen, du kanst nichts, dein Vater hat ihn ganz allein durch seine Geschicklichkeit hervorgebracht; blos das Fehlerhafte daran ist deine Schuld, weil du hast mitschreiben wollen. Oder würde nicht jeder vernünftige Vater sagen: Siehe, mein Sohn, wie schön der Buchstabe aussiehet, dismal hast du es recht gemacht; so schön wirst du bald selbst schreiben lernen, wenn du nur aufmerksam bist und mit deiner Hand immer meiner Führung folgest, es wird jedesmal immer noch schöner gerathen. Wolan, so redet denn auch eben so zweckmäßig auf den Kanzeln und saget wenigstens: Ich danke Gott allezeit, lieben Brüder, eurentwegen, so oft ich euer gedenke in meinem Gebet, daß ihr seine Gnade nicht vergeblich empfahet. Ich bemerke unter euch rechtschaffene Väter und Mütter, redliche Kaufleute, gutgesinnte, treue und fleissige Dienstboten etc. es geschieht täglich in allen Häussern so viel Gutes, so viele unter euch geben die unverdächtigsten Beweise, daß sie sich vom Geiste Christi regieren, und Gottes Gnade in sich wirken lassen. Seyd dankbar gegen diese innre göttliche Wirkungen auf euch, und überlasset euch immer mehr denenselben. Solte dis nicht mehr Aufmunterung veranlassen, als das ewige Tadeln? und kan man fehlen, wenn man dem Apostel nachspricht?
- b) Doch, meine Brüder, warum wolt ihr euch vom Augustin länger die Augen verbinden lassen, wenn ihr die Kanzel besteigt? denn in der That sehet ihr, so bald ihr die Augen eures Verstandes nur öfnet, mit völliger Gewißheit ein, daß der Mensch zu seinen guten Handlungen sich selbst bestimmen kan und muß, und darüber das Lob so wol verdient, als über seine Vergehungen den Tadel. Ich habe Predigten gehört, in welchen auf das strengste und ausführlichste erwiesen ward, der Mensch könne gar nichts zu seinen guten Entschliessungen beytragen, alles was wir selbst wirkten sey verwerflich, und daher müßten wir alles Gute was wir etwa thäten, Gott allein zuschreiben, und uns von allem Selbstruhm und Mitwirken ausleeren. Allein gleich nach vollendetem Beweise dieser Sätze und noch am Schluß derselben Predigt offenbarte sichs, daß der Redner von allem, was er erwiesen hatte, im Grunde nicht überzeugt war; so sehr er sich überredet haben mochte, es selbst zu glauben. Er dankte seiner Gemeine für einige freiwillige Geschenke, womit sie ihre Liebe und Erkentlichkeit gegen seine Bemühungen um sie, in der verfloßnen Woche an den Tag gelegt hatten. Hierbey ward gar nicht gesagt, daß Gott allein das Gute gethan, und sie nichts dazu beygetragen hätten; es wurde nichts davon erwähnt, daß alle ihre eigne Entschliessungen verwerflich wären; auch keine Warnung gegen den Stolz und Selbstgenügsamkeit beygefügt; sondern aller Dank und alle Ehre ward den gutgesinneten Leuten lediglich und allein zugeeignet, und ihnen noch oben ein eine gewisse Belohnung dafür von Gott versprochen. Warum veränderte sich hier die Sprache des Predigers so sehr? Gewiß nicht aus Mangel der Redlichkeit, denn es war ein sehr gewissenhafter Mann, sondern weil er nun nicht mehr ans System dachte, sondern seine eigne Vernunft brauchte, die ihm sehr richtig sagte: um die Menschen im Guten
aufzumuntern muß man jede Auesserung des guten Willens, jeden auch unvollkomnen Versuch gut zu seyn, loben. So lasset euch denn, meine Brüder, nicht mehr durch menschliche Lehrformeln verblenden, sondern brauchet euren gesunden Verstand und eure eigne natürliche Vernunft so ganz und völlig im Dienst eures Gottes, wie ihr sie mit Nutzen in den Angelegenheiten eures eignen Interesse anwendet.
2. Christus und die Apostel haben jede gute Gesinnung und jede Aeusserung derselben gelobt. Christus rühmet viele wegen ihres Vertrauens gegen ihn, Matth. 8, 10. K. 15, 28. K. 9, 22. Marc. 10, 52. Luc. 7, 50. K. 8, 48.
K. 17, 19. K. 18, 42. den Nathanael wegen seiner Rechtschaffenheit, Joh. 1, 47. die Maria wegen der Erweisung ihrer Liebe gegen ihn, Marc. 14, 6. den Simon wegen seiner Freimüthigkeit und Standhaftigkeit, Matth. 16, 17. 18. wenn die Jünger sich wegen ihrer guten Gesinnungen und deren Beweisen rühmten, tadelt er sie deswegen nicht, sondern versichert ihnen Belohnung, Matth. 19, 27. und wenn auch das Vollbringen der guten Vorsätze fehlte, lobet er doch den guten Willen und entschuldiget, anstatt zu schelten, Matth. 26, 41. Marc. 10, 17 f. K. 12, 34. Paulus lobt durchaus die Gemeine zu Philippen und zu Thessalonich, wie auch den Timotheus, Titus und Philemon, in den an sie gerichteten Briefen; und in allen seinen Schriften rühmet er das vorzügliche Verhalten einiger Glieder der Gemeine namentlich, ohne eine Warnung vor geistlichem Stolz dabey für nöthig zu halten. Eben dis thut der Verfasser des 2ten und 3ten der Briefe, die dem Johannes zugeeignet worden.
3. Man raubt dem Christen die unmittelbare eigenthümliche Belohnung, die Gott mit dem Bewußtseyn guter Gesinnungen zur Aufmunterung in der Tugend verknüpft hat, wenn man statt das Gute zu loben, nur auf die Mängel desselben sieht und diese immerfort tadelt. Was ist denn das Zeugniß des Geistes Gottes im Herzen? ist es nicht die aus dem Bewußtseyn Gott wohl gefälliger Gesinnungen entstehende Zuversicht zu ihm? Der Beyfall unsres Gewissens und die daraus erwachsende Werthschätzung unsrer selbst ist die eigenthümliche natürliche Belohnung, die Gott der Tugend bestimt hat. Wie soll aber der Christ diese geniessen? Wie soll in ihm Versicherung, daß er ein Kind Gottes sey, entstehen, wenn wir immerfort alles für schlecht, für nichtswürdig erklären, was er thut? Aus den Früchten, sagt Christus, soll die Güte des Baums erkant werden
, und aus den Erweisungen der Menschenliebe sollen, nach Johannis Ausspruch, Christen von sich selbst wahrnehmen, ob sie mit Gott vereiniget sind. Tadeln wir unaufhörlich die Früchte, finden wir das Betragen unserer Kirchkinder immer verwerflich, so rauben wir ihnen alle wahre Gründe der Freudigkeit zu Gott und allen Muth zur Tugend. Lobten wir dagegen jeden Versuch im Guten; erweckten wir sie zur Aufmerksamkeit auf die erhabene Freude, welche der Beyfall unsres Gewissens gewährt; sprächen wir ihnen mehr Muth durch Billigung ihrer Bestrebungen ein, warlich wir würden bald bessere und seligere Christen haben.
4. Der tadelnde mürrische Ton in Predigten hindert den Zweck unsres Amtes auf mehr denn eine Art. Dahin gehört:
- a) So oft der Prediger seinen Vortrag mit allgemeinen Verweisen anfängt, und zum Beyspiel sagt: Es ist traurig, wenn man das Betragen unsrer heutigen Christen beobachtet, so wenig Redlichkeit und thätige Menschenliebe wahrzunehmen etc. so denkt keiner der Zuhörer an sich, sondern an irgends einen andern seiner Nachbaren, der nach seiner Meinung der falsche und lieblose Mensch ist, welcher diesen Verweis verdient. So bald aber der Prediger sagt: ich freue mich, geliebte Zuhörer, daß ich täglich Beweise von Redlichkeit und christlichen mildthätigen Gesinnungen von vielen unter euch wahrnehme; und ich zweifle nicht, daß auch manches Gute im Verborgenen von euch ausgeübt wird, was ich nicht erfahre: so wird jeder aufmerksam und begierig sich so viel von dem Vortrage selbst zu zueignen, als er nur kan; und dann ist es leicht in das sich uns entgegen öfnende Herz den Samen der Tugend zu streuen, und wo er vorhanden ist, ihn zu befruchten. Gesetzt auch wir äusserten größrers Vertrauen zu unsrer Gemeine, als die wenigsten Mitglieder verdienten; so lehrt doch die Erfahrung, daß kein wirksamer Mittel ist, Leute die noch unschlüßig sind, wie sie sich bestimmen wollen, zu guten Entschliessungen aufzumuntern und darin zu befestigen, als daß man recht viel Zutrauen zu ihnen bezeiget.
- b) So oft wir allgemein oder zu unbestimt die Denkart und das Verhalten unsrer Zuhörer tadeln, machen wir die besten Gemüther muthlos und schwächen allen eignen Fleiß in der Heiligung. Denn wer sich bewußt ist, mit aller Redlichkeit zu handeln, und dann doch immer Vorwürfe hören muß, verliert nothwendig alle Lust sich weiter Mühe zu geben. Bey einem andern Theil der Zuhörer, welche noch gleichgültig gegen ihr Gewissen sind, schwächen wir dagegen die Beweggründe sich zu bessern: indem dergleichen Leute auf die Gedanken kommen, es müsse doch wol nicht möglich seyn, so gut zu werden, als der Prediger es verlange; weil doch noch keiner in der Gemeine so geworden sey: und nun denkt jeder derselben, er habe nicht eben nöthig der erste zu seyn, der den mühseligen Versuch wagen solte. Wenn wir dagegen loben, so beweisen wir dadurch zugleich die Möglichkeit und Wirklichkeit wahrer Christen, welche sich der Lehre Jesu gemäß verhalten; und dis ermuntert andre zu ähnlichen Versuchen. Diejenigen aber, welchen ihr Gewissen erlaubt, sich das Lob des Predigers zu zueignen, werden aufs neue ermuntert, sich immer mehr Christo ähnlich zu bilden; und überhaupt wird das Vertrauen und die Zuneigung einer Gemeine gegen ihren Lehrer ausnehmend vermehrt, wenn sie bemerkt, daß er als ein liebreicher Vater Vertrauen zu ihren Gesinnungen und Aufmerksamkeit auf das Gute, was sie zu thun suchen, beweiset.
- c) Wenn wir uns an einen mürrischen tadelnden Ton in unsern Vorträgen gewöhnen, so verstärken wir bey unsern Zuhörern die menschenfeindliche Geneigtheit nur immer auf die Fehler des Nächsten zu sehen, und das Gute desselben zu verkennen. Hiedurch vermehren wir auch insonderheit bey heuchlerischen Leuten den geistlichen Stolz, die Verachtung anderer und den Hang zum Splitterrichten, wovon wir leicht selbst, so bald wir ihre Fehler berühren, der Gegenstand werden. Die Tadelsucht ist unter den Christen weit stärker als unter andern Religionsverwandten; unter den Protestanten gemeiner und spitzfindiger, als unter den Katholicken, und nirgends übertriebener als unter den Pietisten. Denn jemehr in den öffentlichen Lehrvorträgen theils die Anforderungen und Vorschriften der Religion überspannt werden, theils alle menschliche Handlungen von ihrer fehlerhaften Seite vorgestellt und ihre Unvollkommenheiten gerügt werden; desto grössere und allgemeinere Geneigtheit zum Splitterrichten und unbilligen übertriebenen Tadel muß sich in der Gemeine verbreiten. Wenn wir dargegen das Gute, so viel wir dessen gewahr werden, und warlich es ist dessen unglaublich viel mehr als man gewöhnlich bemerkt, an unsern Zuhörern loben, und es ins Licht setzen, so gewöhnen wir unsere Gemeine zur Fertigkeit auf das Gute mehr, als auf die Fehler des Nächsten zu merken; und eben dieses ist die Grundlage der Menschenliebe und aller göttlichen Tugenden, welche das Christenthum als das wahre Mittel, zu gesellschaftlicher Glückseligkeit zu gelangen, empfielt.
- d) Wenn wir ewig über unsre Gemeine Unzufriedenheit äussern, was sollen, sagt mir theureste Amtsbrüder! die Feinde der christlichen Religion von ihrer Göttlichkeit und Wirksamkeit denken. Wenn ein Ungläubiger in die Predigt eines Mannes komt, der 20, 30, 40 Jahre an einer Gemeine gestanden hat, und der seine beständige Zuhörer doch noch durchaus für schlechte ungebesserte Menschen erklärt, die noch keine einzige Tugend in einigem Grade besitzen, was soll er für Vertrauen zur seligmachenden Kraft des Evangeliums fassen? Aber lasset ihn einer Predigt beywohnen, darin wir nach der Wahrheit eine Anzahl rühmlicher Handlungen unsrer Christen erzehlen; nicht eben heroische, welche die Posaune des Gerüchts anfüllen, sondern die weniger bemerkbare edeln sanften Bestrebungen der häußlichen Frömmigkeit, welche in den Familien und Nachbarschaften stille Glückseligkeit des gesellschaftlichen Lebens verbreiten; wird er alsdenn sich nicht weit eher gereizt finden, ein Mitglied einer solchen Gemeine zu werden, worin es so gute und ehrwürdige Personen giebt? Ich glaube, daß hierwider niemand etwas einwenden kan, als etwa ein solcher, welcher von Kindheit an nicht eher sich entschlossen hat, etwas gutes zu thun, als bis er hart darüber angeredet worden ist; denn bey allen andern muß das Selbstgefühl für die Wahrheit meiner Behauptungen sprechen.
Ich kenne durchaus keine stolzere und selbstsüchtigere Leute, als die sich einbilden, sie hätten sich von aller Eigenheit und Selbstwirken ausgeleert. Sie halten ihre eigne Träumereien bis zu den offenbarsten Eigensinnigkeiten für Wirkungen des Geistes Gottes und sich selbst voll Eigendünkel bey dem Schein der größten Demuth für unverbesserlich klug und heilig. – Unmöglich ists, den natürlichen Trieb zur Selbstschätzung und zur Ehre auszurotten, und er ist höchst wohlthätig, so bald er geheiliget wird, das ist, die Richtung bekomt, daß man seine Ehre in wahrhaftig ehrwürdigen Gesinnungen und Handlungen setzet. Dann ist es erlaubt und pflichtmässig von sich groß zu denken. Nach Röm. 2, 7. wird Gott eben denen, die nach Preis, Ehre und Unsterblichkeit getrachtet haben, ewige Glückseligkeit zutheilen.
§. 79.
Ueber die fehlerhafte Vorstellung der Aussichten in die Ewigkeit würde ich hier gar nichts erwähnen, weil es meine Absicht nicht ist, spekulative Irrlehren in dieser Schrift zu rügen: wenn nicht die gewöhnliche Grausen und Entsetzen erregende Hypothese von ewigen Höllenstrafen so gerade zu dem Zweck und Geist der Religion Jesu entgegen wäre, und alle reine Liebe zum Vater der Geisterwelt dadurch verhindert würde. Es ist hier unnöthig alle Schriftstellen, die dahin gezogen werden, richtiger zu erklären, da schon darüber für Leute, die nur sehen wollen, genug Licht verbreitet ist. Ich beziehe mich also nur auf meine weitläuftige Entwickelung der Begriffe von göttlichen Strafen und deren Absicht, und von der göttlichen Ehre, welche §.
56. bis
65. in diesem Abschnitte vorgekommen ist, und
bemerke nur noch:
1. Wenn man annehmen wolte, Gott würde einige Christen alle Ewigkeiten hindurch,
ohne einige wohlthätige Absicht, blos aus innerm Abscheu und Groll gegen die Sünde strafen; weil er durchaus das moralische Böse vor seinen Augen nicht leiden könte; so würde nach der gemeinen Theorie das moralische Uebel nicht verringert
, sondern vermehrt werden, weil man annimt, daß sich die Verdamten nie bessern werden; folglich würde Gott sich immer mehr darüber ärgern und erzürnen, und die physischen Kräfte der Verdamten immerfort vermehren müssen, damit sie immer grössere Quaalen aushalten könten: und so würde sich die Bosheit der Leute und der Grimm Gottes in Ewigkeit in einander multipliciren, und Gott, anstatt das Böse und die Gründe seiner innern Beunruhigung wegzuschaffen, sich immer mehr Verdruß zuziehen. Wer es nicht fühlen oder nicht einsehen kan, wie sehr diese Vorstellung die Majestät Gottes verunehre, dem ist es zu verzeihen, wenn er sie blindlings für wahr hält.
2. Solte Gott um des Beyspiels willen ewig einige Christen quälen müssen, so ist nach der gemeinen Theorie abermals nicht abzusehen, wer durch diese exemplarische Strafen gebessert werden solte: denn nach der kirchlichen Meinung soll kein Gottlosverstorbener sich dort mehr bekehren können, sondern die Gnadenzeit mit diesem Leben verlaufen seyn: die vollendeten Gerechten aber bedürfen solcher Schreckmittel zur Beharrung in guten Gesinnungen, bey welchen sie sich höchst glückselig fühlen, nicht und sind auch, wie die Kirche glaubt, vor aller Gefahr des Rückfalls in Sünden gesichert. Also können ewige exemplarische Höllenstrafen keinen mehr bessern und also keine wohlthätige Absichten dabey statt finden. Aber sie können auch nicht die Tugend und Seligkeit der vollendeten Gerechten vergrössern; denn Beyspiele des Zorns und der Rache, welche Gott an unsern Mitbrüdern und seinen eignen Kindern ausübt und uns zur Schau stellt, können nur Schrecken und Schwermuth, niemals aber Liebe, Ehrfurcht und Freudigkeit gegen den allgemeinen Vater der Geister hervorbringen, und müssen nothwendig allen gefühlvollen sanften Gemüthern ihre Seligkeit ausnehmend vermindern.
3. Wenn Gott einer Seele gänzlich alles Wohlwollen entziehen solte, so müßte sie schlechterdings nicht zu verbessern seyn. Es müßte also die unendliche Weisheit entweder schon hier alle mögliche wirksame Verbesserungsmittel bey jedem verloren gehenden Menschen erschöpft haben, welches wider die Erfahrung ist, oder Gott müßte voraus sehen, daß ein solcher Mensch in keiner einzigen Verbindung und in keiner Reihe der Veränderung moralisch besser werden könte, noch geworden seyn würde, er möchte ihn in welchem Zeitalter, unter welchen Nationen, und unter was für Umständen man auch immer wolle haben gebohren werden lassen. Hieraus aber würde folgen, daß also in der Natur eines solchen Menschen der unter gar keinerley Bedingung und in keinem Zusammenhange gebessert werden kan, oder in der ursprünglichen Beschaffenheit und dem Verhältniß seiner Kräfte gegen einander der Grund der Unmöglichkeit einer Ausbesserung anzutreffen wäre; welches abermals, da Gott der Urheber der Natur ist, nicht gedacht werden kan. Man wende sich also, wohin man will, so wird man Widersprüche mit den reinen Begriffen von den väterlichen Gesinnungen Gottes antreffen. Nur denenjenigen, welche an dergleichen Widersprüche in ihrem System gewöhnt sind, und dadurch gar nicht beunruhiget werden, wenn sie sich Gott eben so unendlich grausam als gütig denken, können dergleichen Lehrsätze mit dem Geist Christi überein zu stimmen scheinen.
4. Die reine Lehre der Schrift, wie sie sich mir nach aufrichtiger Untersuchung vorgestellet hat, ist hierüber diese: Nicht nur in dem gegenwärtigen Leben, sondern in jeder gedenkbaren Scene des Daseyns kan kein endlicher Geist zu höherer Glückseligkeit gelangen, wenn er nicht Gott über alles liebt, das ist, von der Wohlthätigkeit der göttlichen Gesinnungen, Absichten und Verfügungen überzeugt ist, und daher auch die Regeln der Ordnung in dem Plane Gottes genehmiget und befolgt: denn so lange dis nicht ist, bleibt Unzufriedenheit mit dem gegenwärtigen, und Furcht wegen des zukünftigen der herrschende Affekt des Gemüths, und der Mensch handelt seiner Wohlfart zuwider. Eben so kan kein gesellschaftliches Wesen ohne Rechtschaffenheit und allgemeines Wohlwollen gegen seines gleichen zu höherer Wohlfart hinaufsteigen, weil gesellige Geister nur durch gegenseitige liebreiche Begegnung und wohlthätige Dienstbeflissenheit jeden Ort des Aufenthalts sich zum Himmel anbauen können und müssen. Daher ist für Menschen, welche durch habituelle Hartherzigkeit und menschenfeindliche Neigungen zu allen gesellschaftlichen Freuden unfähig sind, nirgends ein Himmel, und diese Wahrheiten ändert keine
Ewigkeit ab.
5. Uebrigens kan ganz rohen Leuten, die moralische Unseligkeit, welche aus Lieblosigkeit und Falschheit entspringt, freylich nicht anders als unter allerley Bildern eines Feuers, das nicht verlischt, eines Thal Hinnoms und dergleichen, anschauend gemacht werden; welches aber so wenig in der heiligen Schrift nach den Buchstaben zu verstehen ist, als wenn gesagt wird, daß wir ewig in Abrahams Schoos sitzen, oder mit den Altvätern zu Tische liegen werden.