Zu den Hindernissen eines
schnellen Wachsthums der
Tugend, und eines fortdaurenden Bewußtseyns des überwiegenden Guten, welche in der Natur des Menschen
cd√, und in der Entwickelung unsrer Talente angetroffen werden, gehöret
zuvörderst: daß der Mensch mit
blossen Vermögen und ohne alle wirkliche
Erkentniß zur Welt
komt. Sämtliche Begriffe müssen durch
Empfindung eingesamlet werden, und der Verstand
kan nicht die kleinste Idee aus sich selbst erzeugen, wovon nicht wenigstens
die Bestandtheile vorher durch den innern oder die
äussern Sinne ihm dargeboten worden wären: ob er
|b53| |c53| gleich
|a47| nachher die von
aussen eingesamleten Begriffe verschiedentlich zusammensetzen, thei
|d47|len und von einzelnen Seiten betrachten
kan. Es
hängt daher vom Menschen nicht ab, wie er sich die Dinge vorstellen will, sondern die Begriffe werden durch die Eindrücke der Gegenstände in die Sinne gebildet
(
qualis idea impressa talis expressa). So
hängt auch die Reihe oder Folge der Begriffe, die sich uns aufdringen, nicht von uns, sondern von der Lage des Körpers und
d√ dessen Verhältniß gegen die
ausser uns befindlichen Dinge ab. Hierdurch aber werden zugleich die Begierden
bestimt, und diese sind bey Kindern ganz unmoralisch, indem sie nothwendig nach dem, was ihnen sinnlich angenehm ist, ein Verlangen, und gegen das, was ihnen sinnlich unangenehm
vorkomt, einige Widrigkeit empfinden müssen. Bliebe nun ein Kind lediglich sich selbst überlassen, so würde es
nie anders als sinnlich begehren und verabscheuen, und sich wenig über
witzige oder mit einem
vernunftähnlichen Witz versehene Thiere erheben. Der Mensch bedarf also, weil er mit
blossen Anlagen zur Welt
komt, einer Hülfe von
aussen, wenn er zum
Gebrauch der Vernunft gelangen, und ein moralisches Wesen werden soll.
cd√ Da
dis nun eine von keinem Menschen abhängende Einrichtung unsrer Natur
ist; so erhellet, daß wer diesen Weg der Darstellung des Menschen für verderbend hält und tadelt, den Urheber der Natur lästert. Indes hat Gott nun auch dafür
gesorgt, daß allen Menschen, die
ihnen nöthige Hülfe zur Entwickelung ihrer
Moralität wirklich
angedeihet; indem vermöge der Erfahrung, theils bey menschlichen Aeltern der natürliche Trieb der wohlthätigen Liebe gegen ihre Kinder weit länger fortdauert, als bey den Thieren gegen ihre
Jungen, theils Kinder weit hülfsbedürftiger zur Welt kommen, und weit länger die Verpflegung der Aeltern bedürfen, als junge Thiere,
die in
wenig Tagen ihre Mutter verlassen,
|b54| |c54| und sich selbst ernähren können. Durch
|a48| diese dem Anscheine nach unter die Thiere uns erniedrigende Schwächlichkeit bey
unserer Geburt werden wir genöthiget, uns dem Willen erwachsener
im Gebrauch der Vernunft stehender Personen zu unterwerfen, und hierdurch erhalten wir die Erweckungen zum
Gebrauch der Vernunft, und
|d48| lernen über die Dinge im Zusammenhange nachdenken, und sie uns auch von denen Seiten vorstellen, wie sie sich den Sinnen nicht darbieten. So wie nun hieraus überhaupt erhellet, daß der
Mensch, um der Moralität fähig zu werden, einer
äussern Hülfe bedürfe, so ist auch nicht schwer einzusehen, wie sehr vieles in der nachmaligen
Denkart eines Menschen von den ersten Entwickelungen durch die
Sinne; von der Association der
Ideen; von dem Unterrichte der Aeltern und
Lehrer; von den Beyspielen, die man
siehet; vornemlich aber von den Fertigkeiten,
die man vor dem
Gebrauch der Vernunft
annimt und die durch Gewohnheit zur andern Natur werden, abhänge. Hieraus
folgt ferner, daß bey der mangelhaften Beschaffenheit des Unterrichts und der
Erziehung es manchem Menschen weit schwerer werden müsse, als andern, gute moralische Fertigkeiten nachher zu überkommen, und daß bey einigen gewisse bösartige Handlungen, als
blosse Folgen der ihnen von den Aeltern beigebrachten schlechten Grundsätze
und Gewohnheiten, bisweilen eine sehr geringe Moralität
haben; indem solche Leute, vermöge der in sie ohne
eigne Wahl gebrachten Vorstellungen und Fertigkeiten, nicht anders handeln können. Endlich
fließt hieraus noch, daß ganze
Nationen, so wie einzelne
Kinder, äusserer Erweckungen und einer immer
mehrern Aufklärung durch Unterricht zur Verbesserung der Moralität von Zeit zu Zeit bedürfen, und
dis alsdenn vorzüglich, wenn gewisse unrichtige Erkentnisse und praktische Vorurtheile unter einem
Volk herrschend geworden sind. Es ist demnach
|b55| |c55| der Plan Gottes, daß der Mensch sich vom Thiere durch
eigne An
|a49|wendung seiner Kräfte zu einer
höhern Gattung mehr geistiger Wesen erheben, und daß die Aufklärung der Nationen nach und nach geschehen
soll. Auch lehret die Geschichte, daß die göttliche Vorsicht von Zeit zu Zeit neue Hülfsmittel der Erleuchtung unter den Völkerschaften veranstaltet habe. Warum solches nicht allgemeiner, nicht mit
schnellerm Erfolge geschieht? warum ganze Gegenden, wo schon ehedem helle Erkentnisse herrschten, wieder finster geworden sind? davon können wir
|d49| die wahren Gründe nicht angeben, weil unser Standpunkt zu niedrig und unser Vorhersehungsvermögen zu kurzsichtig ist, als daß wir den Zusammenhang aller Folgen in alle Ewigkeit überschauen
könten. So viel fället uns aber in die Augen, daß es zum
Plan der Vorsehung gehöre, daß das gesamte menschliche Geschlecht, so wie einzelne Nationen und einzelne
Menschen, nur sehr
allmählig zu
höhern Stufen der Einsichten und
d√ moralischen Glückseligkeit gelangen sollen. Fräget man aber noch weiter, warum eben diesem
Volk z. B.
anjetzt den Europäern, die vorzüglichern Hülfsmittel der Aufklärung zugetheilet
worden? warum eben diese Menschen als Christen, und jene unter Wilden geboren worden
d√? endlich warum jener Unglückliche, dessen
Körper auf dem Rabensteine uns Grausen erweckt, von Aeltern,
die ihn zum
Betriegen und
Stehlen anhielten, in die Welt
gesetzt worden, und dieser, der sein Todesurtheil gefället hat, von wohldenkenden Aeltern zu einem ehrenvollen Leben erzogen worden sey?
so lege ich die Hand auf den Mund, und
bewundre mit Paulus
ehrerbietigst den unbegreiflichen Reichthum der Weisheit Gottes in der Mannigfaltigkeit seiner uns unerforschlichen Wege, bin aber auch mit diesem Apostel fest überzeugt, daß so wie alles von Gott ist
(
εξ αυτου), alles nach seinem
Plan sich entwickelt (
δἰ αυτου), eben so auch alles zu dem Gott
|b56| |c56| allein würdigen
Ziel der allgemeinen Glückseligkeit
zuletzt zusammen treffen werde,
εις αυτον τα παντα! Nur
dis |a50| kan nach den von
Gott in unsern Geist gelegten Empfindungsgesetzen, uns bestimmen, auch mit Paulus
zu sagen: Ihm gehöret Ehre und Ruhm in Ewigkeit!
cd√