Die Mißdeutung des Lehrsatzes, daß allein der Glaube und die Ergreifung des Verdienstes Christi
auch ohne
Wercke gerecht und selig mache, hat nun in der
lutherischen Kirche den Fleiß im gutes thun ungemein
ge|b190||c190|schwächt, und die beseligenden Wirkungen des Geistes der christlichen Religion auf vielerley Art eingeschränkt und
|a176| verhindert. Lutherus
eiferte zwar sehr wider die guten Werke der römischen Kirche, aber wo er nicht
polemisirt, dringt er überall auf wahre Geschäftigkeit im Guten; und es
scheint, als ob er die unglücklichen Mißdeutungen seiner Nachsprecher vorher
besorgt hätte und ihnen zuvorkommen wollen, indem er mehr denn hundertmal die Nothwendigkeit der guten Werke in seinen Schriften behauptet hat. Man lese darüber nur seinen
Kommentar über den Brief an die Galater. Im 4ten
Tom. der lateinischen
jenensischen Ausgabe seiner Werke,
Blat 109 schreibt er:
Man muß von den guten Werken nur nicht sagen, daß man durch sie die Vergebung der Sünden bey Gott verdiene, sonst kan man nicht groß und rühmlich genung von guten Werken sprechen und sie nicht angelegentlich genung empfehlen.
Desgleichen Blatt 165.
Es ist nothwendig, daß rechtschafne Prediger die Lehre von den guten Werken eben so sorgfältig einschärfen, als die Lehre vom Glauben. Dem ohnerachtet ist bald nachher die Religion als ein
blosser Gegenstand des Glaubens oder vielmehr der
Spekulation behandelt, und auf allen Kanzeln über theoretische gelehrte Streitfragen
polemisirt worden.
Als hierauf der ehrwürdige Spener
und seine Gehülfen die Lehre Jesu
wiederum als eine Sache fürs Herz
vorstellten, und nach und nach alle
kordate Leute auf ih
|d172|re Seite traten, verfielen ihre minder gelehrte und minder redliche Nachtreter auf eine mystische Sprache und auf Tändeleyen mit dem Körper Jesu
, wodurch sinnliche Gefühle
erregt, aber der Geist des Menschen wenig erleuchtet und gebessert ward. Nachher hat man sich in den Predigten in einem engen Zirkel von Worterklärungen über die theologischen Begriffe von Buße, Glauben und guten Werken, Rechtfertigung, Wiedergeburt, Natur und Gnade
u. d. g.
herumgedreht,
|b191| |c191| so daß
in einem ganzen Jahrgange oft nicht eine einzige umständliche und deutliche Anweisung zu irgends einer christlichen Tugend anzutreffen
d√ ist, wie so viele gedruckte Postillen und Andachtsbücher beweisen. Seit etwa 30 Jahren hat man
hin und wieder angefangen, sich über mehrere
|a177| Religionswahrheiten in den öffentlichen Reden zu verbreiten, auch moralische Vorschriften
ausführlich vorzutragen. Allein noch finden sich viele zum Theil es recht gut meinende Männer, welche moralische Predigten für unchristliche auch wol gar für heidnische Reden erklären.
Solten einige dieser Männer diese Schrift gewürdiget haben, sie bis
hieher zu lesen, so hoffe ich, daß wir uns hierüber mit einander verständigen
wolten. Zuvörderst bin ich mit euch, gutdenkende fromme Männer, vollkommen darüber einig, daß aller Vortrag einzelner Pflichten dem Menschen keine Kraft darbieten
kan, solche vollständig auszuüben, und daß also die
blosse Vorschriften der Moral keine Seligkeit hervorbringen, sondern daß vorher die ganze
Denkart eines Menschen umgeändert oder der Sinn Christi
in ihm hervorgebracht seyn muß, wenn er christliche gute Werke verrichten soll. Ich gestehe ferner zu, daß der Geist des Christenthums oder wahre
Rechtschaffenheit nur eigentlich durch die theoretischen Wahrheiten von den durch Christum
uns
bekant gemachten guten Gesinnungen Gottes gegen uns, und von der Wohlthätigkeit aller seiner Vorschriften
überhaupt, in den Menschen
erweckt werden könne: denn es
läßt sich nicht die Liebe zu Gott durch einen Befehl erzwingen, sondern sie muß aus anschauender Erkentniß der Liebenswürdigkeit Gottes entstehen.
|d173| Allein
solten denn nicht,
wenn wir mehrere Jahre hindurch diese erfreuliche Wahrheiten geprediget haben, endlich ein oder der
andre unter
unseren beständigen Zuhörern sich finden, der
a√ wirklich von der Liebe Gottes
überzeugt worden wäre,
selbst dankbare Liebe gegen Gott empfände, und nun von
|b192| |c192| ganzem Herzen
wünschte, Gott durch sein
gesamtes Verhalten wohl zu gefallen, und Christo
ähnlich zu werden? Und wenn ohnstreitig
a√ dergleichen
Personen in allen christlichen Gemeinen
anzutreffen sind, ist es denn nun nicht nöthig, daß wir sie ausführlicher unterrichten, wie sie in jeder Beziehung handeln müssen, um Gott zu gefallen? Wird denn ein Kind
|a178| schon dadurch weise und glücklich, wenn es Vertrauen zu seinem Vater hat und geneigt ist, ihm in allen zu folgen? Was hilft alle seine Bereitwilligkeit zum
Gehorsam, so lange es nicht weiß, was es von Stunde zu Stunde zum Wohlgefallen des Vaters thun und wie es sich in allen Beziehungen verhalten soll?
Sehet da, meine Freunde, darum sind moralische Predigten nothwendig, um den Kindern Gottes,
die durch die
Rathgebungen ihres Vaters gern weiser und vollkommner werden möchten, solche nun umständlicher
bekant zu machen, damit sie in allen besondern Verhältnissen ihres Lebens ihm wohlgefälliger werden, und sich seiner höhern Wohlthaten immer empfänglicher machen
können, Röm. 12, 2. Eben dahin zielen die vielen praktischen Anweisungen und
einzelne Lebensregeln in den Reden Jesu
, und in den Briefen seiner Apostel ab; und nach Gal. 1, 8.
ist es doch unmöglich, daß Amsdorf
und Muskulus
ein
ander Evangelium zu verkündigen, von Gott bevollmächtiget gewesen seyn
solten.
⌇⌇a Bey dieser Gelegenheit fühle ich mich gedrungen, die Wunden unsrer Kirche aufzudecken, nicht um ihrer zu spotten, sondern meine Mitbrüder
aufzufordern, sich zur Heilung
derselben zu ermannen. Die Verächtlichkeit, womit man über moralische Predigten hergefahren ist, hat es
veranlaßt, daß selbst von den Predigern
das Studium der christlichen Moral unglaublich
vernachlässigt worden
|d174| ist: obgleich in neuern Zeiten verschiedene
grosse Männer in unsrer Kirche vortrefliche Systeme darüber geschrieben haben. Niemand
kan dis |b193| |c193| so sehr gewahr werden, als wer ein Theologe von Profession ist, was für
unbestimte,
verworrne, und zum Theil ganz falsche Begriffe über viele der wichtigsten Pflichten des Christenthums in den öffentlichen Lehrvorträgen angetroffen werden. Soll zum Beyspiel die Demuth empfohlen werden, so wird sie als eine Geneigtheit beschrieben, sich für den größten unter den Sündern, und für ganz nichtswürdig zu halten. Man
|a179| beruft sich auch wol dabey auf Pauli
Urtheil über sich
selbst, 1 Tim. 1, 15. wo er sich den vornehmsten unter den Sündern
nennet. Wenn man aber diese Stelle
cd√ mit dem vorhergehenden
nur im
Zusammenhange, und
cd√ 1 Cor. 15, 10.
damit vergleichen
wolte, so würde man erkennen
lernen, daß die Demuth nicht
darin besteht, sich für schlechter zu halten, als man
ist; sondern daß die Demuth eine
Fertigkeit sey, sich seiner Unvollkommenheiten bewußt zu seyn, ohne die Vollkommenheiten, die man hat, zu verkennen. Denn Paulus
, welcher sich darum den größten Sünder und
d√ geringsten unter den Aposteln
nennet, weil er vorher den Namen Christi
verlästert und die Apostel verfolget hatte, verringert theils selbst die anscheinende
Grösse seiner Vergehung dadurch, daß er bemerkt, er habe es aus Unwissenheit
gethan; theils
erwähnt er auch seiner Talente und des treuen
Gebrauchs derselben, daß er mehr gearbeitet
habe, als alle übrige Apostel. In was für Aengstlichkeit
versetzt man aber nicht den Christen, wenn man es ihm zur Pflicht macht, sich für den nichtswürdigsten unter den Menschen zu halten, und dieses Demuth
nennet: da es doch der Fehler der Niederträchtigkeit ist, wenn man seinen
eignen Werth verkennet. So
geht es nun fast mit allen Pflichten; theils werden sie zum
Nachtheil andrer Pflichten übertrieben, theils aus ganz falschen Gesichtspunkten
vorgestellet, überall aber solche schwankende Begriffe davon dargeboten, daß bey
Kollisionen der Christ mit aller Gewissenhaftigkeit oft thöricht und wider seine
|b194| |c194| Wolfart zu han
|d175|deln veranlasset wird. Unbeschreiblich groß ist der hieraus täglich entstehende Nachtheil für die Christen. Man stelle sich nur eine Anzahl Kinder vor, welchen man täglich vorpredigte, wie gütig ihr Vater gegen sie gesinnet sey, wie sehr sie aus Dankbarkeit ihm in
allen zu folgen verpflichtet wären, und wie glücklich sie dabey werden würden; denen man
aber, wenn sie nun begierig wären zu wissen, wie und wodurch sie ihrem
|a180| Vater wohlgefällig werden
könten, die väterlichen Vorschriften
desselben entweder gar nicht
bekant machte, oder
ihnen falsche und mangelhafte Erklärungen darüber
gebe: würden diese Kinder wol täglich weiser und
vollkommner werden können? Wären unsre gemeine Christen selbst die Weisheitslehre Jesu
zu erfinden geschickt, wozu bedürfte es einer Offenbarung? wozu wären so viele Ermahnungen zu einzelnen Pflichten in jeder Beziehung des Lebens in den apostolischen Schriften
verzeichnet?