|z1| Sechster Abschnitt.
System der Glückseligkeitslehre des Christenthums.

§. 80.

Durch die bisherige Betrachtungen haben wir uns vorbereitet, die gesamte Glückseligkeitslehre des Christenthums im Zusammenhange zu übersehen. Im ersten Abschnitt bestimten wir den Begrif von der menschlichen Glückseligkeit. Im zweiten setzten wir die vortreflichen Anlagen, die in unsren natürlichen, innern und äussern Bestimmungen zu höherer Glückseligkeit angetroffen werden, ins Licht. Im dritten suchten wir die Hindernisse zu entdecken, welche den Menschen bey ihren selbstthätigen Bestreben nach grösserer Wohlfart im Wege sind, und um welcher willen sie einer äussern Hülfe bedürfen. Im vierten betrachteten wir die Lehre Christi in Beziehung auf die Bedürfnisse der Menschen und fanden, daß sie gerade diejenige Hülfe gewähre, welche zur Wegräumung der Hindernisse von aussen erforderlich ist. Im fünften Abschnitt untersuchten wir einige Lehren des gemeinen Kirchenvortrages, welche denkenden Leuten in unsern Tagen anstössig sind, und sie abhalten die Hülfe, welche auch ihnen das reine Christenthum darbietet, zu benutzen und fanden, daß sie menschliche Zusätze sind, die auf mißverstandnen Schriftstellen beruhen, und also von der christlichen Glückseligkeitslehre abgesondert werden können. Nun sind wir im Stande, die Anweisungen Christi zur Glückseligkeit, ohne Beymischung menschlicher Lehrmeinungen, in einem Grundriß vorzulegen, woraus ihre genaue Zusammenstimmung |z2| unter einander und zu dem Zweck, uns seliger zu machen, deutlich ersehen werden kan. Dieser Grundriß ist blos für denkende Personen ein kleines vollständiges System, darin die Hauptwahrheiten ohne alle sinnliche Einkleidung dem Verstande vorgelegt werden: dagegen für den grossen Haufen, der mehr mit der Einbildungskraft denkt, freilich noch manches hinzukommen muß, um diesen geistigen Begriffen einige Haltung und sinnliche Unterstützung zu geben.
Ich will nun in diesem Abschnitt eigentlich zweierley zu liefern suchen:
1. Das kurze System der christlichen Philosophie oder Glückseligkeitslehre selbst, wie es unabhängig von Geschichte und ohne sinnliche Einkleidung erkant werden kan. Da es einen doppelten Weg giebt, sich von der Wahrheit und Göttlichkeit des Christenthums zu überzeugen; entweder, daß man bey der Geschichte anfängt und schließt: wer ein grosser Wunderthäter gewesen ist, dessen Vorträge müssen von Gott und also durchaus wahr und zuverlässig seyn; oder daß man von dem Lehrinhalt ausgehet und folgert: wer den wahren Plan Gottes in der Natur und in seiner moralischen Regierung uns entdekt, dessen Lehre ist von Gott, und dessen Lebensgeschichte verdient daher auch unsere besondre Aufmerksamkeit: so will ich hier meinen denkenden Zeitverwandten, welche den ersten gemeinen Weg aus ein oder der andern Ursache nicht betreten können, den zweiten eröfnen und bahnen, nach Pauli Beyspiel 1 Cor. 9, 20–23.
2. Den Situationsplan der verschiedenen Denkarten und Vorerkentnisse der Juden und anderer Völker zu den Zeiten Christi und der Apostel in Absicht der Religion. So bald man hierüber deutliche Einsichten erlangt, wird das ganze neue Testament durchaus verständlicher und alle Zweifel, welche |z3| durch die endlosen Streitigkeiten der Theologen über so viele Lehrartikel des Christenthums veranlasset worden sind, verschwinden auf einmal. Man stelle sich nur vor, daß in eine glückliche Provinz Leute aus allerley Gegenden von Osten, Westen, Süden und Norden her geführt werden solten: ist es da wol möglich Einen gemeinschaftlichen Weg für alle auszumitteln? Werden nicht mehrere Hauptstrassen und eine noch grössere Anzahl kleinere Wege und Fußsteige, die in die Hauptwege einleiten, angewiesen werden müssen, wenn jeder Kolonist, von seinem Wohnort aus, nach dem Lande des Wohlergehens hingeführet werden soll? Nun waren die Apostel solche Wegweiser, die unter allerley Völker ausgeschickt wurden, jedermann zu höherer Glückseligkeit in die christliche Kirche einzuführen. Sie mußten also die Leute gleichsam in ihrer Heimat aufsuchen, oder mit ihren Anweisungen da anfangen, wo sich ihre Zuhörer und Leser nach ihrer verschiedenen Gemüthslage und Vorerkentnissen befanden; und wie Paulus sich ausdrückt, allen allerley werden, den Juden als Juden, den Griechen als Griechen erscheinen, um viele zu gewinnen. Denn überhaupt ist es doch nicht möglich, auf andre Art Verbesserung der Einsichten durch Unterricht zu veranlassen; als daß man die neuen Erkentnisse, die man erwecken und vergewissern will, aus Theilen des schon vorhandnen Erkentnisses der Zuhörer zusammensetzt und mit Gründen, die von ihnen für ausgemacht wahr gehalten werden, beweiset. Wenn man nun die verschiedenen Principien und Theorien der gelehrten und ungelehrten Juden, Hellenisten und Griechen zu den Zeiten Christi unterscheidet, und sodann darauf acht hat, für welche Klasse derselben jedes Evangelium und jeder Brief zunächst aufgesetzt und bestimt worden, so lernet man aufs überzeugendste einsehen, daß im neuen Testament, nicht, wie in der Kirche gewöhnlich angenommen worden, nur Ein Weg, sondern mehrere, ja |z4| eben so viele einzelne Wege, als es verschiedne Gemüthslagen der damaligen ersten Leser gegeben hat, gebähnet worden sind, um allerley Leute von ihren Vorerkentnissen aus, zu höheren Religionseinsichten und einer glückseligern Gemüthsfassung zu bringen. Dieses ist nun der wahre Schlüssel zum richtigen Verstande des neuen Testaments: dagegen bey dem gemeinen Auslegungsgrundsatz der Glaubensähnlichkeit (analogia fidei), nach welcher alle Aussprüche der heiligen Schrift in allen Begriffen und Sätzen übereinstimmig erklärt werden sollen, gar vielen Stellen des neuen Testaments nothwendig Gewalt angethan werden muß, und die Streitigkeiten der Theologen darüber niemals geendigt werden können. Zwey Wege, die von verschiedenen Gegenden, von Osten und Westen her, auslaufen, können und müssen eine ganz entgegengesetzte Richtung haben, wenn sie beide richtige Wege seyn und am Ende in einem Mittelpunkt zusammentreffen sollen: eben so kan und muß ein und derselbe Satz in der einen Reihe von Vorstellungen bejahet und in einer andern Reihe verneinet werden, wenn am Ende aus beyden Reihen der Gedanken eben dasselbe Resultat der mehrern Gemüthsruhe und besserer Entschliessungen hervorgehen soll. Dieses alles wird meinen Lesern völlig verständlich und anschauend werden, wenn ich den Situationsplan der Denkarten und Vorerkentnisse der Menschen zu Christi und der Apostel Zeiten, und die dadurch bestimte mannigfaltige Lehrarten der heiligen Schriftsteller ins Licht gesetzt haben werde.
(NB. §. 81 bis 86. bleiben nach der ersten Ausgabe unverändert.)

§. 81.

Als ein Grundriß zu einem vollständigen System über die Philosophie des Christenthums kan folgender kurzer Vortrag der Hauptwahrheiten der Lehre Jesu angesehen werden:
  • 1. Gott, der Urheber dieser ganzen vorhandnen Welt und aller darin befindlichen Dinge ist ein Geist von dem allerhöchsten und vollkommensten Verstande. In ihm wechseln nicht wie bey uns klare und dunkle Vorstellungen ab, sondern alles ist vor ihm beständig helle, das Gegenwärtige, das Vergangne und das Zukünftige, nach allen seinen Theilen und Beziehungen derselben gegen einander. Sein Charakter ist die großmüthigste und uneigennützigste Güte; denn da er selbst die Quelle alles Guten ist und nichts bedarf, so findet er blos sein Vergnügen darin, ausser sich empfindsame Wesen hervorzubringen und ihnen wohlzuthun. Da Gottes Güte durch den vollkommensten Verstand in ihren Erweisungen geleitet und durch eine allgewaltige Kraft, der nichts widerstehen kan, unterstützt wird; so ist sie die heiligste gerechteste Güte, deren Wirkungen durchaus die besten und vollkommensten, so wol für das Ganze als für jeden Theil desselben, sind. Die scheinbaren Uebel in der Welt entstehen aus den nothwendigen Schranken alles endlichen, welches an sich keiner unendlichen Vollkommenheit empfänglich ist. Und wie in einem grossen Hause nicht alle Gefässe zu einem gleich edlen Gebrauch bestimt, oder am menschlichen Körper nicht alle Glieder Augen seyn können; aus dieser Mannigfaltigkeit der Theile aber die Vollkommenheit des Ganzen erwächst: so entsteht auch aus den verschiednen Arten und Graden der Gaben, welche Gott einzelnen Naturen zugetheilt hat, eine weit grössere Vollkommenheit und Glückseligkeit durch die allgemeine Zusammenstimmung der verschiedenen Wirkungen aller einzelnen kleinen und grössern Kräfte der endlichen Dinge. Aber wir stehen nicht auf einem so erhabenen Standpunkte aus welchem wir die ganze Stadt Gottes übersehen und die Folgen aller Veränderungen Jahrtausende hindurch in ihrem Zusammenhange durchschauen könten. Jedes Kind findet an den weisesten und wohlthätigsten Maaßregeln seines Vaters vieles zu tadeln, es verehret sie aber dankbar, so bald es ein Mann wird; wir sind jetzt im Alter der Kindheit, Apostg. 17, 24 f. Joh. 4, 24. Jak. 1, 17. 1 Tim. 6, 15 f. 1 Cor. 12, 14 folgg. K. 13, 9 und 12.
  • 2.
    Da Gott alle Naturen der Dinge eingerichtet, die Grade ihrer Kräfte bestimt, die Gesetze ihrer Thätigkeit festgestellt, und sie in diejenigen Verhältnisse gegen einander gesetzt hat, nach welchen sie auf einander wirken, und die ganze Folge dieser gegenseitigen Wirkungen regelmässig ununterbrochen fortgehet: so kan er mit ohnfehlbarer Gewißheit alle Veränderungen der Geister und Körperwelt voraus übersehen, und daher geschiehet nichts in der Welt ohne sein Vorherwissen und Genehmigung. Es giebt demnach eine göttliche Vorsehung, vermöge welcher nicht nur für alle Gattungen der Wesen, sondern auch für jedes einzelne Geschöpf und alle desselben kleinste Bestimmungen und Veränderungen dergestalt im voraus gesorgt ist, daß alles zu desselben möglichsten Besten in Absicht der ganzen Zeit seiner Dauer abzielet , und mitwirkt. Ueberall läßt sich auch keine Erhaltung, Ordnung und Regierung eines aus vielen einzelnen Theilen zusammengesetzten Ganzen ohne Aufsicht und Fürsorge für alle einzelne Theile, woraus das Ganze bestehet, denken; indem wer zum Beyspiel für die Gebäude einer Stadt sorgen soll, unmöglich anders die Erhaltung der Stadt überhaupt bewirken kan, als in so fern er für jedes einzelne Haus und dessen einzelne Theile das nöthige veranstaltet. Die allgemeine Fürsorge eines Königes für eine Armee würde ohne allen Erfolg seyn, wenn nicht durch die Menge der untergeordneten Befehlshaber für jeden einzelnen Soldaten Sorge getragen würde, daß jeder seine Nahrung, Kleidung, Quartier und seinen täglich angewiesenen Posten erhielte, Matth. 6, 25 f. K. 10, 29 f.
    (Ob Gott bey Versorgung und Regierung der Welten sich erhabner Geister zu Geschäftsträgern bediene, so wie er zur Beförderung der äussern Wohlfart der Völker Fürsten, Unterobrigkeiten und Väter geordnet hat, läßt sich aus dem Unterricht Christi, der sich nach den Vorstellungen seiner Zuhörer zum öftern gerichtet hat, nicht mit Gewißheit entscheiden, indem die Juden bereits Schutzgeister glaubten, Matth. 18, 10. wenigstens wird es nirgends zu einem Lehrpunkte der christlichen Religion gemacht. Gewiß ist, daß Gott nicht aus Bedürfniß untergeordnete Mittelspersonen anzustellen nöthig hat, und es also auch keiner Obrigkeit bedürfte, wenn Gott unmittelbar uns regieren wolte. Es hat ihm aber, wie die Erfahrung lehret, gefallen, daß Menschen von Menschen versorgt, unterrichtet und regieret werden sollen; und also ist es analogisch gedenkbar, daß er auch Unterregenten ganzer Weltkörper und Sonnensysteme angestellet haben könne. Man muss gestehen, daß sich kein erhabneres und seligeres Geschäfte und keine fruchtbarern Gelegenheiten, Geisteskräfte und göttliche Tugenden zu üben, für Geister höherer Ordnungen gedenken lassen, als wenn ihnen Gott vergönnete, Werkzeuge seiner Regierung über ganze Menschengeschlechter und Geisterfamilien zu seyn. Hierdurch würde zugleich ein allgemeinerer Zusammenhang des Geisterreichs nach dem wahrscheinlichen Stufengefolge der vernünfgen Wesen ersichtlich; und für thätige zur Aehnlichkeit mit Gott hinanstrebende Menschenfreunde, eine Aussicht zu dereinstigen sich immer erweiternden Umkreisen ihrer Wirksamkeit und Wohlthätigkeit eröfnet. Allein diese Hypothese ist nicht für Seelenmenschen, die allzu leicht auf abergläubische Einbildungen von Erscheinungen und Eingebungen der Schutzgeister und allerley Schwärmerey verfallen würden, und daher soll dis nur hier für die Studierstube der Gelehrten hingeschrieben seyn.)
  • 3. Damit der Mensch alles von Gott ihm vorbereitete Gute im vollesten Maaße geniesse, und seines Lebens möglichst froh werde, ist nun nichts weiter nöthig, als daß er durch die Ueberzeugung, daß alle Verfügungen Gottes überhaupt, und in Absicht unsrer eignen Person insonderheit unverbesserlich gut sind, sich zuvörderst zu einer gänzlichen Zufriedenheit mit seinem gegenwärtigen Zustande und zum getrosten Muth in Absicht der Zukunft erwecke, und alle von ihm selbst nicht abhängende Veränderungen seiner Tage der Einrichtung einer höhern Weisheit mit völliger Beruhigung in ihren vortheilhaften Ausgang überlasse: hiernächst aber auch den Plan Gottes und alle Regeln der Ordnung desselben genehmige, und geneigt werde, dieselben ohne Ausnahme zu befolgen. Da nun der allgemeine Vater allen Menschen gleich wohlwill, und es sein Plan ist, daß keiner sich selbst eine merkliche Wohlfart ohne Beyhülfe andrer Menschen verschaffen kan; so ist der wahre Weg dankbare Liebe gegen Gott an den Tag zu legen, und zugleich sich die größte gesellschaftliche Wohlfart zu verschaffen, daß man allen Menschen aufrichtig wohlwolle, mit ihren Fehlern Nachsicht habe, ihnen mit Achtung, Dienstbeflissenheit und Freundschaftsbezeugungen zuvorkomme, und also mit Gott zu einem Zweck wirke. Hiervon ist nun der nächste Erfolg, daß man in sich selbst von aller Unruhe und Erniedrigung, welche aus Falschheit, Verstellung, Neid und andern ungeselligen menschenfeindlichen Neigungen entstehet, frey bleibt; sich in sich selbst bey edlen wohlthätigen Gesinnungen groß und achtungswerth fühlt; und bey diesem heitern mit sich selbst zufriednen Herzen zu allen Freuden des Lebens weit aufgelegter, und selbst gegen sinnliche Eindrücke des angenehmen und schönen in der Natur ungleich empfindsamer ist. Eben so belohnend sind die weitern natürlichen Folgen dieser göttlichen Denkart, indem alle mit uns in Verbindung stehende Menschen, vermöge der allgemeinen Begehrungsgesetze, denjenigen, welcher ihnen wohlwill und mit Achtung und Liebeserweisungen zuvorkomt, gegenseitig wohlwollen und schätzen; dem, welcher ihre Fehler entschuldiget, gern wieder Schwachheiten übersehen, und ihn vertheidigen, und Diensterweisungen mit Gegendiensten erwiedern. So bald aber ein Mensch durch edle Menschenliebe Feinde, Neider und Spötter entwafnet, und sich eine allgemeine Achtung und Zutrauen durch Rechtschaffenheit und warme Theilnehmung an dem Wohl andrer verdienet hat, so ist er in derjenigen Lage, darin ihm die größte Summe des ihm nach seinem Standpunkte nur möglichen Guten in dem reichlichsten Maaße von allen Seiten zu theil wird. So entstehet aus religiösen Gesinnungen wahre allgemeine und feste Tugend, und aus dieser immer wachsende Wohlfart und Seligkeit, Matth. 22, 37 f. K. 6, 12. K. 5, 44 f. Röm. 12, 10. 1 Joh. 4, 16. 20. 21. Matth. 5, 5 f.
  • 4. Wenn der Mensch stirbt, so wird blos das Werkzeug seiner bisherigen äussern Empfindungen und seiner Wirksamkeit auf die Körperwelt abgeändert. Die gröbern fremden Theile, welche unsern ursprünglichen Schematismus angeschwängert und ausgedehnet haben, werden aufgelöst und wieder abgesondert, um in das Pflanzen und Thierreich zurück zu kehren, aus welchem wir sie zu unsrer Nahrung entlehnt hatten. So wie ein Samenkorn erstirbt und verweset, und doch der darin enthaltene Keim eben hierdurch zu seiner neuen Entwickelung geschickt gemacht wird; so soll auch nach der Zerstörung unsers groben Körpers, der darin schon liegende Grundstof zu einem neuen Empfindungswerkzeuge eine weitere Ausbildung erhalten. Wie nun die Anschwängerung des Grundkeims zu dem gegenwärtigen Körper, durch die Erzeugung von unsern Aeltern, denselben zu einem geschickten Werkzeuge gemacht hat, viele Erkentnisse von aussen einzusamlen, und auf die uns umgebende gröbern Körper zu wirken; so wird die abermalige neue Entwickelung und Anschwängerung desselben uns in den Stand setzen, auf eine leichtere und ausgebreitetere Art Erkentnisse einzusamlen und mit mehrerer Schnellkraft äusserlich thätig zu seyn. Die Beschaffenheit unsrer Empfindungen in einer andern Art des Körpers, läßt sich von uns schlechterdings noch nicht vorstellig machen. Ein Blindgeborner kan, wenn man ihm auch noch so viele Beschreibungen vom Licht und von der Empfindung des Sehens vortrüge, doch niemals einen Begrif von dieser Sinnesart bekommen: und es kan daher noch unzählich viele Sinnesarten geben, davon sich keine Idee formiren läßt, so lange man noch nichts ähnliches selbst empfunden hat. Wir müssen uns daher an das allgemeine halten, welches darin besteht, daß die unleugbare ausserordentlich große Anlagen des Menschen zu einer mannigfaltigen Vollkommenheit, die sich im gegenwärtigen Zustande nur sehr wenig, und bey den vorzüglichsten Menschen oft nur von einer Seite merklich ausgebildet haben, vermittelst der nächstkünftigen Organe sich schneller und ausgebreiteter entwickeln werden. Hieraus fliesset nun, daß unser künftiger Schematismus theils unsre geistige Selbstthätigkeit weniger einschränken, sondern mehr unterstützen, theils auch zu einer grössern Mannigfaltigkeit und höhern Intension der angenehmen Empfindungen aufgelegt seyn wird, 1 Cor. 15, 35 f. 2 Cor. 5, 1 f.
    Ich lese 2 Cor. 5, 3. mit dem Mill, welcher die Richtigkeit dieser Lesart erweiset, εκδυσαμενοι, anstatt in unsern gewöhnlichen Ausgaben ενδυσαμενοι gelesen wird, und übersetze diese Stelle: denn auch wenn wir von diesem groben Körper entkleidet sind, werden wir nicht ganz nackend erscheinen; so daß mir der Verstand zu seyn scheinet: unser Geist wird nicht ganz von allem körperlichen entblößt, wenn wir sterben, sondern bleibt noch von einem feinen organischen Schematismus umgeben, welcher nachher eine weitere Ausbildung überkomt.
  • 5. Die nächstkünftige Scene unsrer Thätigkeit ist eine ganz eigentliche Fortsetzung des gegenwärtigen Lebens. Wir behalten unsre Persönlichkeit und bleiben uns deutlich bewußt, was wir hier empfunden, gedacht und gethan haben. Es werden daher durch den Tod nur diejenigen Folgen unsrer Handlungen unterbrochen, die sich blos auf den groben Körper und dessen Lage gegen die äussern Dinge beziehen. Krankheiten, Kerker und Bande, äusseres Geld und Gut nimt keiner in jenen Zustand mit sich hinüber. Aber die den innern Menschen selbst betreffende Bestimmungen der Denkart und der moralischen Fertigkeit ändert das Sterben nicht ab. Wer hier sinnlichen Eindrücken nachgehangen und sich nicht mit Ueberlegung und nach allgemeinen Regeln der Ordnung zu handeln gewöhnt hat, der nimt diese Schwäche des Geistes mit sich hinüber, und wird auch in jedem andern Körper zunächst von der Sinnlichkeit beherrscht werden. Wer mit habitueller Unzufriedenheit über die allgemeine Ordnung der Dinge, mit fürchterlichen Begriffen von Gott, mit neidischen, stolzen, unverträglichen und überhaupt mit menschenfeindlichen Gesinnungen dieses Leben verläßt; kan unmöglich blos durch den natürlichen Tod zu einer bessern Denkart umgeschaffen werden, und wird in jedem andern Körper und Zustande in sich selbst unruhig und zu gesellschaftlicher Glückseligkeit ungeschickt seyn. Denket man sich nun ferner, daß im nächstkünftigen Zustande alle Menschen, nicht nur die mit uns zu gleicher Zeit gelebt haben, sondern auch die vor uns verstorben sind und nach uns folgen werden, sich mit uns wieder in einer allgemeinen gesellschaftlichen Verbindung befinden werden, in welcher nach der Analogie der gegenwärtigen Verbindung, ein gegenseitiger Einfluß der Gesinnungen und Dienstbeflissenheit, wahrscheinlich auch eine mannigfaltige Subordination oder Verschiedenheit der Standpunkte und Beziehungen, statt finden werden; so lässet sich aufs deutlichste einsehen, wie alle hier unterbrochene Folgen guter und böser Handlungen, oder alle natürliche Belohnungen und Strafen der Tugend und des Lasters sich völlig äussern werden. Dort wird es sich aufklären, wer hier ein verkappter Bösewicht oder ein rechtschaffener Mann gewesen ist; dort werden so viele Geheimnisse der Bosheit entdeckt werden, die hier verborgen geblieben sind; dort wird so manche stille That der Rechtschaffenheit kund werden, die hier unbemerkt und unbelohnt geblieben ist; und eben die Folgen, welche mit dergleichen Entdeckungen hier verknüpft sind, müssen es der Natur der Dinge nach auch dort auf eine noch ausgebreitetere Art seyn. Gedemüthiget, tief erniedriget wird der stolze entlarvte Heuchler dort sich vor der heitern in sich erhabenen Unschuld derer, die er hier verketzerte und unterdrückte, verkriechen: aber dankbare Hochachtung, Vertrauen, Lob und Dienstbeflissenheit aller vollendeten Edlen werden die hier unerkant gebliebenen Verdienste der stillen und wohlthätigen Redlichkeit in dem vollesten Maaß belohnen. Und hiermit löset sich denn das sonst unerklärbare Räthsel auf, wie der Urheber der Natur, der durch alle übrige in uns gelegte Triebe sichtbarlich unser eignes Wohl befördert, in die besten und thätigsten Seelen den sonst betrüglich scheinenden Trieb zum Nachruhm, ohne Verletzung der väterlichen und heiligsten Güte gepflanzt haben könne. Ist kein andres Leben, und ist dasselbe nicht eine Fortsetzung des gegenwärtigen, so ist der Trieb zum Nachruhm ein betrügerisches Gift, welches der Welt die edelsten nützlichsten Menschen frühzeitig entzieht, und diesen Rechtschafnen selbst ihr verdienstvolles Leben ohne Ersatz und Belohnung verkürzt, 1 Cor. 15, 19. 30 f. Stehet uns aber ein weiteres Leben bevor, das sich zu dem gegenwärtigen, wie das männliche Leben zum Leben der Kindheit, wie die Erndte zur Saat verhält; so löset sich alles in Harmonie zum Preisse der Gottheit auf. Gesetzt, wir würden jetzt in die Versamlung der vor uns Verstorbenen versetzt, nach wem würden wir zuerst fragen? Gewiß nach denen, die uns hier Wohlthaten erwiesen haben, und unter unsern Bekanten die Verdienstvollsten gewesen; und sodann nach denen, welche uns aus der Geschichte als vorzügliche Männer und Wohlthäter des ganzen menschlichen Geschlechts oder des Vaterlandes angerühmt worden sind. Schon vorbereitet, sie hochzuachten, würden wir mit dankbarer Verehrung ihnen unsre ganze Freundschaft, ganze Dienstbeflissenheit entgegen tragen. Welche Glückseligkeit, die Folgen unsrer wohlthätigen verdienstvollen Handlungen sich Jahrhunderte hindurch nach unserm Tode über viele tausende zum Segen verbreitet zu wissen, und von allen Nachkommen Bewunderung, Dank und Ergebenheit einzuerndten! Welche Aufmunterung zur Rechtschaffenheit, zur uneigennützigen Wohlthätigkeit, zum Fleiß in unserm Beruf, bietet eine solche Aussicht dar! Endlich lässet sich schon nach der Analogie erwarten, daß so wie hier ein jeder, der in einem niedrigen Posten Fleiß und Treue beweiset, in jedem wohleingerichteten Staat zu höhern Bedienungen erhoben wird; eben so in der künftigen Gesellschaft ein jeder, nach dem Maasse seiner hier durch Uebung erlangten Fertigkeiten im Guten, Vorzüge vor andern und einen grössern Umkreis seiner Thätigkeit erhalten müsse. Dieses alles hat Christus und Paulus schon ganz eigentlich gelehret, Matth. 25, 21. 31 f. K. 5. 11. Röm. 1, 6. f. 1 Cor. 4, 5.

§. 82.

Der vorhergehende Paragraph enthielt eine ausführliche Vorstellung des Ausspruchs Christi: Gott über alles und seinen Nächsten als sich selbst zu lieben, macht Menschen hier und in alle Ewigkeit vollkommener, glücklicher, seliger: und dis ist der ganze wesentliche Inhalt aller göttlichen Offenbarungen oder Anweisungen zur Glückseligkeit; die ganze praktische Philosophie des Christenthums, Matth. 22, 37–40. Luc. 12, 25 f. Nun ist noch die Philosophie der heiligen Schrift über die Hülfsmittel, durch deren Gebrauch der Mensch zu dieser beseligenden Gemüthsfassung und Denkart gelangen, und solche in sich unterhalten und befestigen kan, kürzlich vorzutragen. Hieher gehört:
  • 1. Der Mensch komt ohne Erkentnisse zur Welt und samlet seine Begriffe durch die Sinne ein: er würde daher ganz sinnlich zu denken und zu handeln fortfahren, wenn er nicht durch Unterricht zu geistigeren und allgemeinen Einsichten, und dadurch zu höheren moralischen Gesinnungen erweckt würde, Joh. 3, 6. Die göttliche Vorsehung hat in Absicht einzelner Menschen durch die Erzeugung derselben von Aeltern, die schon im Gebrauch der Vernunft stehen, für die ersten Erweckungen der Verstandskräfte und Moralität gesorgt, und in Absicht ganzer Nationen veranstaltet, daß von Zeit zu Zeit Männer von vorzüglichen Talenten, von einem edlen Enthusiasmus, von einem göttlichen Geist angetrieben werden, ihre Zeitverwandten nach Maaßgabe der schon durch die Geschäfte des Lebens vergrösserten Empfänglichkeit mit hellern Einsichten und edlern Gesinnungen zu beglücken. Damit aber dergleichen höhere Erleuchtungen nicht wieder verschwinden, sondern eine fortdaurende und allgemeinere wohlthätige Aufklärung einer Nation dadurch befördert werde, ist nöthig, theils daß einige Personen dazu ausgesondert und bestellet werden, welche die Lehren der Weisheit aufbewahren und sich üben, dieselbe jedermann verständlich und überzeugend vorzutragen; theils daß schickliche Oerter und Zeiten zu allgemeinen Versamlungen festgesetzt werden, damit das Volk unterrichtet und zur Besserung der Gesinnungen und jeder Tugend ermuntert werden könne, Apostelg. 17, 26 f. Ebr. 1, 1. (Tit. 1, 12.) Col. 3, 16. 2 Cor. 5, 18. 20. Ebr. 10, 23. 25.
  • 2. Da unser Körper einen immerwährenden Einfluß auf die Vorstellungen unserer Seele hat, und dieselbe theils schwächet theils verstärket, nachdem die sinlichen Bewegungen in demselben mit dem, was wir denken, harmoniren oder disharmoniren: so sind bezeichnende Handlungen, welche die Sinne beschäftigen, ungemein wirksame Hülfsmittel, der Zerstreuung vorzubeugen und in ernsthafte höhere Betrachtungen des Verstandes eine grössere Intension und Leben zu bringen. Es ist daher sehr nützlich in Versamlungen des Volks feierliche Handlungen und Gebräuche zu veranstalten, welche zu eben dem Zwecke durch die Sinne zu wirken geschickt sind, zu welchem der Unterricht selbst abzielet. So ist es zum Beyspiel eine ungemein schickliche und wirksame Feierlichkeit, wenn ein erwachsener Mensch bey der Aufnahme in die Gemeine der Christen ganz unter das Wasser getaucht und nachher mit neuen Kleidern angethan ward, um es ihm und den Zuschauern eindrücklich zu machen, daß um ein wahrer Christ zu werden, ein Mensch allen vorigen abergläubischen und lasterhaften Grundsätzen absterben, und zu einem neuen Leben, welches sich durch Reinigkeit der Gesinnungen und des Wandels vom vorigen unterschiede, hervorgehen müsse. Die blosse Benetzung des Hauptes mit Wasser, welche in den kältern Abendländern jetzt üblich ist, soll ebenfals die Reinigkeit und Rechtschaffenheit, zu welcher der Christ berufen wird, sinnlich bezeichnen. Eben so ist der gemeinschaftliche Genuß von einem in der Gemeine ausgetheilten Brodt eine sehr zweckmässige Feierlichkeit, um die Gemeinschaft der Christen unter einander zu bezeichnen, vermöge deren sich jeder als ein Glied eines ganzen durch einen Geist, (den christlichen Geist der Rechtschaffenheit und Liebe) beseelten Körpers betrachten, und sich zu der aufrichtigsten Theilnehmung an seiner Mitglieder Wohl, zur thätigsten Beförderung des gemeinsamen Besten, erweckt finden soll. Auf gleiche Art war das Herumgeben eines mit Wein angefüllten Bechers in den Versamlungen der Christen, den Gebräuchen der Juden und Heiden bey ihren Gedächtniß- und Opfermahlzeiten entgegen gesetzt. Wer aus diesem Becher trank, bekante dadurch feierlich seine Ueberzeugung, daß kein Blutvergiessen und eigne Büssung, um Gott zu versöhnen, nöthig sey, sondern daß jedem sich aufrichtig bessernden Sünder alle Strafen ohne Genungthuung erlassen würden; und die feierliche Handlung geschahe zugleich zum dankbaren Andenken an den Stifter dieser erfreulichen Lehre und an dessen freiwilligen blutigen Tod, womit er seine eigene Ueberzeugung davon, und die Hofnung eines künftigen glückseligen Lebens versiegelt hatte, Röm. 6, 3 f. Gal. 3, 27. 1 Cor. 12, 12 f. K. 10, 15–21.
  • 3. Eine feierliche Ueberdenkung unsres gesamten Zustandes in Beziehung auf Gott und das Ganze ist überhaupt das unter dem Namen des Gebets so oft in der Schrift empfohlne natürliche Mittel, uns weise, ruhig und getrost zu machen. Das Dankgebet ist die umständliche und lebhafte Vorstellung des mannigfaltigen Guten in unsren Bestimmungen, Verhältnissen und Erwartungen, wodurch Zufriedenheit mit unsrer Lage und Genehmigung des ganzen Plans der Vorsicht, und standhafter Muth für die Zukunft natürlich hervorgebracht wird. Das Gebet in engerer Bedeutung begreift die Selbstprüfung unsrer Gesinnungen nach den allgemeinen Regeln der Ordnung, und die Fassung edler Vorsätze dem Vater der Welt wohlgefällig und ähnlich zu denken und zu handeln. Die Bitte ist das aus Erkentniß der gegenwärtigen und bevorstehenden Bedürfnisse entstehende Verlangen nach allerley Guten vom Vater der Welt, wodurch der Gedanke, alles, was mir begegnet, ist Schickung höherer väterlicher Weisheit, habituell gemacht und hierdurch das Gemüth zur weisen Benutzung der angenehmen Tage, und zu geduldiger und standhafter Ertragung unvermeidlicher Uebel geneigt gemacht und dazu gestärket wird. Die Fürbitte für alle Menschen, besonders für Obrigkeiten und für Feinde ist das natürliche Mittel sich durch höhere Beweggründe zur willigen Erfüllung aller Pflichten des gesellschaftlichen Lebens aufzumuntern. Gute Andachtsbücher sind nützlich, wenn sie als Vorbereitungen zu Selbstbetrachtungen in Absicht auf Gott oder zum eigentlichen Gebet, mit Nachdenken gelesen werden. Formulare sind bey gemeinschaftlichen Gebeten nöthig um eine Uebereinstimmung der Anbetenden in ihren Gesinnungen und Ausdrücken zu veranlassen, Ph. 4, 6. 1 Thess. 5, 17. 18. Matth. 6, 5 f. Matth. 7, 7 f. 1 Tim. 2, 1 f.

§. 83.

Die mehresten erwachsenen Menschen benutzen ihr Leben nur immer als Mittel, niemals als Zweck. Sie arbeiten fortgesetzt für die Zukunft um dereinst sich glücklich zu wissen, aber niemals komt der Zeitpunkt, darin sie nun recht mit Bewußtseyn die Früchte ihres Fleisses genössen und sich glücklich fühlten. Das Leben wird meistens in Hofnungen verträumet. Es ist daher eine sehr wohlthätige Veranstaltung für ein Volk, wenn zwischen mehreren Arbeitstagen ein Feiertag angeordnet ist, welcher den gewöhnlichen Kreislauf der mühsamen Geschäfte hemt, und die arbeitsamen Menschen zur Erholung und Genuß der Früchte ihres Fleisses einladet. Gott einen Tag heiligen heißt, aus mehreren Tagen, an welchen man die Mittel, den Bedürfnissen dieses Lebens abzuhelfen, herbeyzuschaffen sucht, einen aussondern und dazu widmen, sich deutlich, umständlich und anschauend des ganzen Werths seines Daseyns, des ganzen Umfanges der Wohlthätigkeit Gottes bewußt zu werden. Die Ruhe von beschwerlicher Arbeit, der Genuß besserer Speisen und Getränke und der mehrere Kleiderputz reizen zur Geselligkeit und Fröhligkeit; und schon hierdurch wird bey Leuten, welche ihre tägliche grobe Arbeiten ganz unempfindsam machen würden, die Menschlichkeit unterhalten, und ein stärker Gefühl für Sitten erweckt, Marc. 2, 27. Zur höhern Feier eines Tages, an welchem es uns erlaubt ist, mehr uns selbst als andern zu leben, gehört nun vornemlich die ruhige Ueberdenkung unsres gesamten Zustandes. Bey den täglich fortgehenden Geschäften kommen wir selten völlig zu uns selbst; selten werden wir veranlaßt, den ganzen Umfang des Guten, was wir besitzen, schon erarbeitet haben und noch hoffen, uns ausführlich klar zu machen, und daher sind wir auch so selten recht zufrieden, weil blos die äussern kleinen Veränderungen unsre Aufmerksamkeit beschäftigen, und das immer vorhandne Gute gar nicht beahndet wird. Indes sind auch wenige Menschen dazu aufgelegt, dergleichen Betrachtungen von selbst in sich zu veranlassen, und gehörig fortzusetzen. Wenn aber an solchen Tagen zugleich öffentliche Vorträge gehalten werden, welche uns auf den Werth dieses Lebens aufmerksam machen; das viele sich uns darbietende mannigfaltige Gute ins Licht setzen; Gründe zu den schönsten und erhabensten Hofnungen darbieten und vergewissern; alle gesellige edle Triebe und Gesinnungen beleben; und uns neue Aussichten in eine fruchtbarere Benutzung unsres Lebens eröfnen: ja denn werden diese Tage wahre Feste für uns, an welchen wir uns zu höheren Staffeln der Glückseligkeit empor gehoben fühlen. Personen von tiefen und ausgebreiteten Einsichten können freilich von den meisten öffentlichen Lehrern wenig neue Aufschlüsse oder grösseres Licht, als sie selbst schon besitzen, erwarten: allein da die Erfahrung lehret, daß viele gute Erkentnisse bey uns lange Zeit hindurch in der Seele gleichsam schlafen, so dienet doch sicherlich jeder öffentliche Religionsvortrag dazu, uns an allgemeine praktische Wahrheiten zu erinnern und Betrachtungen, auf die wir sonst, wenigstens vorietzt, nicht gekommen seyn würden, in uns zu veranlassen. Redet der Lehrer des Volks aus warmen Herzen, so träget dis viel zur Belebung edler Gesinnungen bey. Hiernächst aber ist die Beywohnung einer öffentlichen Versamlung mit dem unausbleiblichen Vortheil verknüpft, daß es uns bey der gemeinschaftlichen Anbetung der Gottheit sinnlich klärer und eindrücklicher wird, wie alle Menschen bey aller Verschiedenheit der Talente, der Neigungen, der Stände, der Geschäfte des Lebens und andrer äusserer Verhältnisse doch sämtlich als Kinder Gottes von gleicher innern Würde und gleich erhabener Bestimmung sind; und wie die Mannigfaltigkeit ihres äussern Berufs sie sämtlich zu nutzbaren Gliedern eines grossen Körpers macht, welche daher auch als unsre Mitglieder unser ganzes Wohlwollen und alle thätige Hülfsleistungen von uns verdienen. Wie viele Beförderung wahrer Glückseligkeit könten unsre öffentliche Religionsübungen bewirken, wenn alles bey denselben zweckmässig nach Maaßgabe der Kultur der Einwohner jeglichen Orts eingerichtet würde! Ebr. 10, 25. 1 Cor. 14 besonders v. 26. K. 12, 4 f.

§. 84.

Aus diesem mit wenigen Grundstrichen entworfenen Plan der christlichen Philosophie ist nun die Wahrheit und Göttlichkeit der Lehre Jesu auch unabhängig von der Geschichte seines Lebens ersichtlich. Das eigentliche innre Merkmal der Wahrheit für denkende Leute ist die Uebereinstimmung einer Lehre in allen ihren Theilen untereinander, mit allen ohnstreitigen Vernunftwahrheiten und mit den unverwerflichsten Erfahrungen. Diese allgemeine Zusammenstimmung findet bey dem System der christlichen Glückseligkeitslehre so augenscheinlich statt, daß jeder aufgeklärte Menschenverstand ohne Hülfe einiger Schulgelehrsamkeit dieselbe deutlich ersehen kan.
1. Es ist nichts unnatürliches, nichts überspanntes, nichts, was mich nöthigte mir unnatürlichen Zwang anzuthun oder meine Selbstliebe zu verleugnen, in der christlichen Weisheitslehre. Ich soll Gott erkennen, verehren, lieben, nicht um seinetwillen, sondern damit ich selbst ruhiger, zufriedner, getroster werde und in mir die Geneigtheit alle Regeln der Ordnung gern zu beobachten aus der Ueberzeugung entstehe, daß diese Ordnung auch in Absicht auf mich unverbesserlich gut und die vortheilhafteste sey. Ich soll alle Menschen wie mich selbst lieben, auch Feinden Gutes thun; auch da großmüthige Wohlthätigkeit zeigen, wo ich nicht absehen kan, daß es mir von Menschen vergolten werden möchte; ja selbst mein Leben soll ich für Brüder und Mitbürger lassen, wenn dadurch die allgemeine Wohlfart befördert werden kan: aber nicht mit Kränkung meiner Selbstliebe; nicht aus Schwärmerey; sondern mit voller Vernunft und deutlicher Einsicht, daß ich dabey nichts verliere, mich nicht um andrer Willen gänzlich auf immer aufopfere, sondern daß dis mich unausbleiblich höherer Glückseligkeit empfänglich macht; aus Ueberzeugung von dem heiligsten und vollkommensten Plan der moralischen Regierung Gottes, nach welchem ich von den uneigennützigsten Handlungen den allergrößten und dauerhaftesten Nutzen sicherlich erwarten kan. Wie sehr erhebt dis die christliche Philosophie über die stoische, wie viel mehr Vernunft ist hierin, wie viel sichtbarer stimt dieses mit den Grundtrieben unsrer Natur überein! Ich soll nach Preis und Ehre und unsterblichem Ruhme trachten, nicht als nach einem leeren, nach meinem Tode mich schlechthin nicht mehr beglückenden Schall meines Namens bey der Nachwelt, sondern aus der Ueberzeugung, daß in einem noch bevorstehenden vollkomnern gesellschaftlichen Leben alle natürliche Folgen der grössern Hochachtung, Dankbarkeit und Dienstbeflissenheit meiner gewesenen Zeitverwandten und der Nachwelt mich reel beglücken werden. Daher soll ich nicht nach eitler Ehre geizen, nicht blos scheinen wollen, gut zu seyn und zu handeln, sondern zuvörderst nach der Ehre bey Gott streben; das ist, ich soll in meinen innern Gesinnungen, in meinen geheimsten Gedanken, die nur der Allwissende siehet, rechtschaffen, edel, wohlthätig und wahrhaftig ehrwürdig zu seyn trachten, weil ich nur dadurch allein überall so handeln werde, daß ewige Ehre mein Lohn seyn kan; dagegen alle Gleisnerey bey den weitern Aufklärungen in jenem andern Leben Schimpf und Verachtung erzeugen wird. Ich soll hier von den Gütern dieser Erde, die ich besitze, den Dürftigen reichlich mittheilen; nicht um es mir zu entziehen, sondern weil dieses das einzige Mittel ist, diese Güter, die im Tode zurückbleiben, in ein besseres Leben hinüber zu retten: indem ich nicht nur die Verehrung und Liebe derer, welchen ich wohlthue, geniesse, sondern auch in ihren dankbaren Gesinnungen einen Schatz in jener neuen Verbindung der Menschen wieder finde, wo sie mir sehr reichlich durch Gegendienste und Freundschaftsbezeugungen alles zu vergelten im Stande seyn werden, was ich hier zu ihrem Besten gethan habe, Luc. 16, 9. 1 Tim. 6, 18. 19. Matth. 25, 34–40.
Wer von meinen Lesern fühlet nicht, wie sehr diese Vorstellungen und Motiven das menschliche Herz zu jeder edlen und liebreichen Gesinnung beleben können? Wer siehet nicht, wie Christen bey Befolgung solcher Grundsätze nothwendig sich überall einen Himmel bereiten werden, wo sie sich in einer Gesellschaft vereint befinden? und wer kan noch zweifeln, daß jedem Staat daran gelegen seyn müsse, die christliche Philosophie und Denkart durch alle Stände und Familien zu verbreiten?
2. Die wahre Vorbereitung zum künftigen Leben nach dem Tode bestehet in der weisesten und fruchtbarsten Benutzung des gegenwärtigen. Der Christ darf hier nichts um Gottes oder der Ewigkeit willen thun, nichts aufopfern oder sich entziehen, was er nicht schon nach gesunder Vernunft, zu seiner gegenwärtigen gesellschaftlichen Wohlfart zu thun, für nützlich erkennen muß. Er unterscheidet sich demnach von Unchristen blos durch die grössere Allgemeinheit und Erhabenheit der Beweggründe und die erfreulichern Aussichten in vortheilhafte Folgen seiner Verdienste ins Unendliche. Hier ist also abermals der vollkommenste Zusammenhang und die genaueste Zusammenstimmung, das ächte Merkmal der Göttlichkeit des Plans: die Aussichten in jenes Leben ermuntern zur bessern Benutzung des gegenwärtigen, und der vollste Genuß dieses Lebens vergrössert unsre Empfänglichkeit zu höhern Graden der Glückseligkeit im künftigen. So erhellet demnach, daß christliche Tugend nichts anders als die Fertigkeit sey, seines Daseyns in allen Lagen, darin man sich immer befinden mag, möglichst froh zu werden; denn sie erwächst aus deutlicher Einsicht in den gesamten Plan der moralischen Regierung des allervollkommensten Wesens.
3. Da die menschliche Glückseligkeit, wie im ersten Abschnitt erwiesen worden, im herrschenden Bewußtseyn des wachsenden Uebergewichts der Vollkommenheiten unsres gesamten Zustandes über die Unvollkommenheiten desselben bestehet, so ist nun zugleich offenbar, wie das System der christlichen Philosophie die vollkommenste Glückseligkeitslehre sey: denn
  • a) da alle von uns nicht abhängende Bestimmungen unsres Zustandes von der vollkommensten Güte und Weisheit eingerichtet werden, so sind sie, im Zusammenhange und in Beziehung auf unsre ganze Dauer, unfehlbare Mittel unsre höhere Wohlfart zu befördern. Dem Verstande des Christen erscheint daher keine äussere Bestimmung, bey Ueberdenkung seines gesamten Zustandes, als wahres bleibendes Uebel; und die bald vorübergehende unangenehme Empfindungen des Körpers sind uns allemal erträglich und werden freiwillig übernommen, so bald unsre Vernunft sie als Mittel einer dauerhaftern Verbesserung unsres Zustandes erkennet. Folglich ist eine herrschende Vorstellung von dem grossen Uebergewicht des Guten in unsrem Zustande über das Böse dem Christen möglich und leicht, und er kan daher eine beständige Zufriedenheit geniessen.
  • b) Da uns eine ganz unbegrenzte Aussicht in einen fortgehenden Wachsthum von Wohlfart und höherer Glückseligkeit eröfnet wird, so fällt alles, was bey Ueberdenkung unsrer ganzen Bestimmung in Absicht der Zukunft uns nothwendig kleinmüthig und niedergeschlagen machen muß, gänzlich hinweg; und der König der Schrecken, der so furchtbare Tod, ist für uns ein göttlicher Bote, der uns in seligere Scenen hinüberführt. Der Christ kan also bey Ueberdenkung der ganzen Zukunft seine Zufriedenheit behalten; ja sie wird eben durch dieselbe aufs stärkste erhöhet.
  • c) Da der Christ eine ganz vollkomne moralische Regierung Gottes erkennet, vermöge welcher jede gute Handlung ihn nicht nur innerlich vollkomner macht, sondern auch dereinst äussere vortheilhafte Folgen für ihn haben muß, wenn solche gleich zunächst in diesem Leben gehemmet und unterbrochen würden; so hängt ein beständiger Wachsthum seiner Vollkommenheiten von ihm selbst ab. Da nun überdis gute Handlungen auch schon hier in den meisten Fällen den äussern Zustand verbessern, so erhellet, wie bey einer wahrhaftig christlichen Denkungsart ein immer fortgehender täglicher Wachsthum des Uebergewichts des Guten in unsern gesamten Bestimmungen, folglich immer höhere moralische Glückseligkeit erfolgen müsse.
  • d) Das System des Christenthums ist so vollkommen, daß alle einzelne Theile sich in ihrer Wirksamkeit zum Zweck durchaus unterstützen. Je mehr sich dem Menschen die Vollkommenheiten der göttlichen Güte und Weisheit aufklären, desto ruhiger wird er unmittelbar, und desto geneigter sich in den Plan Gottes zu schicken; bey der hieraus entstehenden Heiterkeit des Gemüths ist er aufgelegter, das viele Gute in seinem Zustande zu bemerken und es frölich zu geniessen. Dieser vollere Genuß des Guten verstärket rückwärts die lebhaftere Vorstellung der wohlthätigen Gesinnungen Gottes gegen uns, und diese belebt aufs neue die dankbare Liebe und Betriebsamkeit, ihm wohlgefällig zu denken und zu handeln. Durch das Bewußtseyn solcher Gesinnungen und durch jede Handlung der Rechtschaffenheit wird in uns das Vertrauen zu Gott und der getroste Muth vermehret: und indem die meisten Handlungen der aufrichtigen Menschenliebe auch den äussern Zustand verbessern, so vermehren diese Erfahrungen täglich die Geneigtheit unser Glück durch die Bemühungen Gott in allem ähnlich zu denken und zu handeln, das ist, durch die thätigste rechtschaffenste Menschenliebe und die Beobachtung aller Regeln der Ordnung zu bauen. So multipliciren sich alle religiöse Bestrebungen des Christen in sich selbst zu einem immerfort wachsenden Resultat höherer Glückseligkeit.
Und nun will ich diese Entwickelung des wesentlichen in der Philosophie des Christenthums noch durch eine sehr wichtige Bemerkung beschliessen. Es sind unleugbar nun schon beynahe volle 18 Jahrhunderte verflossen, seitdem Christus zuerst diese Glückseligkeitslehre, im Gegensatz der abergläubischen, unmoralischen und ängstlichen Gottesdienstlichkeit der Juden und Heiden, und auch im Gegensatz der überspannten und doch sehr unvollständigen Tugendlehren der alten Philosophen vorgetragen hat. In dieser geraumen Zeit ist bis auf den heutigen Tag, aller mehreren Kultur der menschlichen Vernunft und alles tiefsinnigen Nachdenkens so vieler Gelehrten ohnerachtet, doch noch nicht ein einziger Satz gefunden worden, welcher uns mehr Zufriedenheit, mehr Geneigtheit zur Tugend, mehr Muth und Hofnungen einflössen könte, als die Wahrheiten, die Christus schon versichert hat. Alle so hoch berühmte Entdeckungen in der Metaphysik und natürlichen Religion sind doch genau betrachtet nichts anders, als endlich nach langem Suchen in der Natur der Dinge entdeckte Gründe und Prämissen zu den Wahrheiten, welche Christus so viele Jahrhunderte vorher schon deutlich ohne alle Schulgelehrsamkeit mit der erhabensten Simplicität vorgetragen hat. Solte diese unleugbare Geschichtswahrheit nicht die Aufmerksamkeit aller denkenden Männer verdienen? Solte sie nicht jedem das Geständniß abnöthigen, daß der Unterricht Christi, und die Ausbreitung seiner Lehre in der Welt nicht nur unter die größten, sondern auch unter die ausserordentlichsten Wohlthaten gehöre, womit Gott je das menschliche Geschlecht gesegnet hat?

§. 85.

Die Einkleidung der Glückseligkeitslehre in Geschichte ist das schicklichste Mittel, den ungleich grössern Theil der Menschen, der nur sinnlich zu denken gewohnt ist, von transcendenten Begriffen und allgemeinen Vernunftwahrheiten klare, gewisse und praktische Erkentnisse beyzubringen. Die ersten Schüler Jesu hatten zu ihren Lesern ein Volk, zu dessen Denkart sie sich herablassen mußten, wenn sie es bessern wolten; und es war nothwendig, daß sie alle schon habende Erkentnisse desselben möglichst benutzten, um eine grössere Aufklärung nach und nach zu bewirken. Der gewöhnlichste Fehler, welchen die Gottesgelehrten bey den Auslegungen der apostolischen Schriften begehen, ist, daß sie solche als allgemeine Abhandlungen oder Traktate betrachten, welche zum Unterricht des menschlichen Geschlechts überhaupt aufgesetzt wären; da solche doch offenbar zunächst nur für besondre zum Theil namentlich bemerkte Oerter und einzelne Personen und in Beziehung auf Lokalumstände und herrschende Sitten und Vorurtheile abgefaßt worden sind. Alles wird verständlich und klar, so bald man die einzige allgemeine Regel der Auslegungskunst beobachtet, daß man sich ganz in die Situation und Erkentnisse der ersten Leser hineindenken und alsdenn das, was diese bey den apostolischen Vorträgen natürlich haben denken können und sollen, als den einzigen hermeneutisch richtigen Sinn annehmen muß. Um nun meine Leser in den Stand zu setzen, die verschiedne Lehrarten der Neutestamentischen Schriften richtig zu beurtheilen und zu unterscheiden, was aus der historischen Einkleidung nur für damalige Leser, und was davon noch für unser Volk nützlich ist, will ich so viel von der Geschichte der Religion unter den Menschen und Israeliten vortragen, als zu solchem Zweck hinreichend seyn wird.

§. 86.

Zuvörderst will ich meine Hypothese über den Ursprung der Religionsbegriffe und Gottesdienstlichkeiten unter den ersten Menschen oder den rohen Nationen vorlegen, welche ich indes der weitern Prüfung der Gelehrten überlasse. Es ist mir höchst wahrscheinlich, daß die alten Völker zuerst durch die in der Atmosphäre sich zutragende Veränderungen zu der Vermuthung veranlasset worden sind, daß höhere über uns Gewalthabende Wesen die Oberwelt bewohnen. Sie mußten die wohlthätigen Einflüsse der Sonne und des Regens, die von anhaltender Hitze und Wassergüssen entstehende Verheerungen ihrer Felder, die Gewalt der unsichtbar tobenden Sturmwinde, und die erschütternde furchtbare Wirkungen der Donnerwetter nothwendig bemerken und anstaunen. Sie betrachteten also den Himmel, der über ihre Häupter bald Segen, bald Verderben schüttete, mit einer gewissen Ehrfurcht; und da die Veränderungen desselben nach keinen an den Körpern auf der Erde in die Augen fallenden Gesetzen erfolgen, so vermutheten sie ganz natürlich, daß über ihnen willkührlich handelnde Wesen oder Elohims wohneten. Nun sannen sie auf Mittel, derselben Gunst zu gewinnen, und da Menschen durch Geschenke gewonnen werden können, so schlossen sie analogisch, daß man auch die Gunst der Elohims sich dadurch müsse erwerben können. Die Schwierigkeit war, wie man die Geschenke in die Höhe hinaufbringen könne. Nun bemerkten sie, daß das Feuer die Körper auflöset, und der Dampf sich bis in die Wolken empor hebt; und so entstund das Anzünden der Opfer den Elohims zum süssen Geruch. Ob ein dargebrachtes Opfer angenehm gewesen sey oder nicht, schloß man blos aus dem Erfolge. Brachten zwey zugleich ihre Opfer dar, der eine um Regen, der andre um Sonnenschein zu erbitten, so konte der erfolgende Regen in einem rohen Zeitalter sehr leicht eine solche Eifersucht wegen der mehrern Begünstigung dessen, den die Götter erhöret hatten, bey dem andern erwecken, daß ein Bruder den andern erwürgte. Oft wurden eine Menge Opfer dargebracht ohne Erhörung zu bemerken; und nun sann man auf allerley neue Versuche, ob man nicht irgends etwas ausfindig machen könte, was die Götter bewegen möchte, die Abänderung schädlicher Witterung zu beschliessen. Vielleicht geschahe es nach einer lange anhaltenden Dürre, daß ein Gewitter herauf zog und einen Menschen erschlug; und so gleich ward die Idee aufgefaßt, daß unter manchen Umständen die Elohims Menschen zum Opfer verlangten. Das erste Studium der Theologie bestund also darin, daß man Bemerkungen aus der Erfahrung samlete, was für Arten der Opfer und Ceremonien unter diesen oder jenen Umständen am gewöhnlichsten durch einen guten Erfolg bestätiget worden wären. Hiernächst fieng man nunmehro auch an, den Himmel und dessen Veränderungen sorgfältig zu beobachten; ja selbst was sich den Wolken zu nähern schien, der Flug der Vögel und deren Geschrey wurden für andeutende Zeichen und Boten des Götterwillens gehalten. Die, welche diesen Beobachtungen mit besonderm Fleisse oblagen, hiessen Seher; und da sie natürlich früher als andere einige Vorbedeutungen von den Witterungsveränderungen aus der Aehnlichkeit der Fälle entdeckten, so konten sie manches vorher sagen, und erhielten hierdurch eine gewisse Autorität, unter dem Namen der Propheten, Wahrsager und Zeichendeuter. Diese Leute machten ihre Entdeckungen als den ihnen geoffenbarten Willen der Götter bekant, und wurden nach und nach als Heilige mit den Elohims in näherem Umgange stehende Minister der Gottheit verehret, und bey allen wichtigen Angelegenheiten von Familien und Völkerschaften um Rath befragt. Bis dahin hatte nun die Religion noch nicht den mindesten Einfluß auf die Verbesserung der Moralität; denn die Witterung und Veränderungen der Atmosphäre stehen in keiner ersichtlichen Verbindung mit den Gesinnungen und freien Handlungen der Menschen. Weil indes die erstgebornen Söhne in der alten Welt Priester und Häupter der Familien zugleich waren, so benutzten diese die vorhandne Ehrfurcht vor den Göttern, und ertheilten gute gesellschaftliche Vorschriften, als ihnen vom Himmel geoffenbarte Gesetze. Diese Verbindung der Moral mit der Gottesdienstlichkeit war demnach nur zufällig.
Es ist mir ferner sehr wahrscheinlich, daß die Astronomie, welche doch mit den gemeinsten Bedürfnissen des Lebens einen weit geringern Zusammenhang hat, als viele später erfundene Künste, ihren frühzeitigen Anbau dem Religionsgeiste des ersten Zeitalters, welcher zu genauer Beobachtung alles dessen, was in der Höhe vorgieng, erweckte, zu danken habe. Diejenigen, welche sich durch diese Kentnisse zuerst hervor thaten, erhielten bald ein grösseres Ansehen, als alle übrige Wetterpropheten; und da man sie aufsuchte und mit Geschenken überhäufte, um von ihnen über die Zukunft unterrichtet zu werden, so wurden sie hierdurch aufgemuntert, sich lediglich auf das Studium der Naturkunde zu legen. Um ihren Kindern ein gleich bequemes Leben zu verschaffen, machten sie aus ihren Entdeckungen Familiengeheimnisse und unterhielten aus Interesse den Aberglauben des Volks. Der Begrif von der Einheit Gottes, oder von einem höchsten Monarchen der Welt, ist wie ich glaube unter diesen Gelehrten zeitig gefunden worden. Die Naturkündiger mußten bald bemerken, wie alles mannigfaltige in der Körperwelt so harmonisch zusammen geordnet ist, daß wenigstens der Plan dazu nur von Einem höchst verständigen Anordner herrühren kan. Ueberdis wird ein Gelehrter, der für die monarchische Regierungsform der Reiche, es sey aus Grundsätzen oder aus Gewohnheit, eingenommen ist, sich analogisch die Regierung der Welt monarchisch zu denken sehr geneigt seyn, obgleich dabey aus ähnlichen Gründen die Existenz vieler Unterregenten und Schutzgötter ihm wahrscheinlich bleiben wird. Wir haben sehr wenig ächte Urkunden von der ältesten Philosophie und Theologie der Chaldäer, Egypter und andrer zuerst kultivirten Völker, aber alles, was sich davon erhalten hat, scheint mir dazu übereinzustimmen, die vorgetragene Hypothese zu bestätigen.

§. 87.

Unter die ältesten authentischen Urkunden der Gelehrsamkeit, und der Religionskentnisse der Vorwelt ge|z5|höret das Gesetzbuch der Ebräer, oder die Schriften Mosis. Mose war, wie aus seiner eignen Erzählung bekant ist, von einer Israelitin geboren, in einem Kästchen ausgesetzt, und von einer egyptischen Prinzessin gefunden worden. Diese ließ ihn zuvörderst von seiner eignen Mutter säugen und pflegen, nachher aber in aller Weisheit und geheimen Gelehrsamkeit der Egypter unterrichten, Apostelg. 7, 22. Nachdem er bey Vertheidigung eines Israeliten gegen die Gewaltthätigkeit eines Egypters den letztern zu tödten das Unglück gehabt hatte, und deswegen aus dem Lande geflohen war, hielt er sich einige Jahre bey einem midianitischen Oberpriester und Fürsten auf, der als ein sehr kluger Mann geschildert wird, 2 Mos. 18, 14–24. kehrte darauf nach Egypten zurück, ward das Oberhaupt der Ebräer, welche von den Egyptern damals sehr hart behandelt wurden, führte sie aus der Sklaverey zur Eroberung eines andern Landes aus, und gab denselben nun ganz neue Gesetze. Will man von dem wahren Werth dieser Gesetzgebung richtige Einsichten erlangen, so muß man sie von einer doppelten Seite betrachten: erstlich, als die Grundlage einer Staatsverfassung, blos nach politischen Absichten: Zweitens, als die Grundlage zu einer bessern Volksreligion, nach moralischen und höhern Absichten der Vorsehung.
1. Es sey mir also vergönt, auf kurze Zeit zu vergessen, daß Mosis Gesetzbuch von der Kirche unter die göttlich geoffenbarten Lehrbücher über die Religion gezählet wird, um zuvörderst die grosse Staatskunst, die darin verborgen liegt, ohne Rücksicht auf Religion in ihrem eigenen Lichte darzustellen. Weder der Werth der mosaischen Schriften, noch das Christenthum, noch die Wahrheit überhaupt werden dabey verlieren, sondern, wie sich in der Folge zeigen wird, auf mehr denn eine Art gewinnen. Man stelle sich also zuvörderst ein |z6| rohes zahlreiches Volk vor, das aus zwölf gegen einander eifersüchtigen Stämmen oder Horden bestehet, und nun zu Einem Staatskörper, der sich selbst zu erhalten und fortzuwachsen geschickt sey, vereint und geformt werden soll. Nothwendig muß hier vor allen Dingen ein Mittel ausfindig gemacht werden, alle zwölf Stämme durch ein fortdaurendes gemeinschaftliches Interesse auf immer fest zu verbinden; Gemeingeist in ihnen zu erwecken; und allen innern Trennungen, wobey sie ein Raub ihrer Feinde werden würden, vorzubeugen. Was thut Mose? Er verbindet sie durch das höchste Interesse einer gemeinschaftlichen, ihnen allein eignen, Religion und Unicität des Gottesdienstes, der nur an Einem Ort abgewartet werden kan: er erfüllet sie mit religiösen Nationalstolz und Erwartung unmittelbarer Mitwirkung der Allmacht bey ihren gemeinschaftlichen Volksunternehmungen, und mit Religionshaß, Verachtung und Abscheu gegen alle andre benachbarte Nationen, Eph. 2, 14. Was vermögen nicht, der Geschichte zufolge, diese Stücke schon einzeln in den Gemüthern der Menschen; und was würden sie vereint nicht ausgerichtet haben, wenn die Juden von dem Geist der mosaischen Gesetzgebung immer beseelt geblieben wären! – Doch lasset uns dieses weiter entwickeln. Jehova, der höchste über alle andre Götter erhabene Gott, der Schöpfer und Beherrscher des Weltalls, hat aus allen Völkern des Erdbodens sich nur allein das jüdische Volk ausgewählet, seinen Namen durch Beglückseligung desselben zu verherrlichen. – Welch ein Gedanke! Mußte nicht dieser schon das Herz jedes Israeliten mit dem edelsten Stolz anschwellen, und zu den allererhabensten Erwartungen berechtigen? Mußten nicht von dieser Höhe alle andre Nationen den Juden klein und verächtlich erscheinen? – Allein Jehova will nicht nur dann und wann bey ausserordentlichen Fällen sich ihrer unmittelbar annehmen; |z7| nein, er wird ihr gewöhnlicher Heerführer im Kriege, ihr Regent in der bürgerlichen Regierung, ihr Richter bey Streitsachen. Er läßt sich ein Zelt und in den folgenden Zeiten einen Pallast unter ihnen bereiten, in welchem er residiret, und nimt einen der Stämme zu seiner Hofstaat und Leibwacht und eine Familie desselben zu Staatsbedienten an. Diese werden von den öffentlichen Landesabgaben der Zehnten und Erstlinge, und von den Strafgefällen und ausserordentlichen Geschenken bey Sünd- und Dankopfer besoldet. Niemand ausser dem hohen Adel, den Priestern, darf sich in das Innere seines Pallastes nahen, und nur allein der erste Minister hat jährlich einmal Zutritt ins Kabinet, wo des Jehova Herrlichkeit thront: dem übrigen Volk wird aller nähere Zugang von den Leviten verwehrt. Im Lager und besonders bey Märschen stieg von der Hütte des Stifts eine Dampfsäule bis zu den Wolken, und bey Nacht ein hoch hinauf loderndes Feuer empor; gewiß die schicklichsten Mittel, den weit verbreiteten Horden den Ort des Hauptquartiers in grosser Entfernung noch merkbar zu machen, um sich auf dem Fortzuge darnach richten und im Fall des Bedürfnisses hin finden zu können. – Aber alle Anliegen mußten vermittelst der Priester oder Staatsbedienten vor den Jehova gebracht werden, und in zweifelhaften und wichtigen Fällen ward durch den ersten Minister oder Hohenpriester die Antwort ertheilt. – Sehet da, einen vortreflich angelegten Plan, die Stämme zusammenzuhalten, und allen Trennungen vorzubeugen! Das Volk hatte einen unsterblichen König; und hiermit war den Spaltungen und innerlichen Kriegen, welche durch Thronerledigungen veranlasset werden, gänzlich vorgebeugt. – Nur an Einem Ort konte Jehova nach Darbringung eines Opfers vor seinem Pallast mit Erfolg gefragt und angebetet werden. Kein Bildniß von ihm war zu machen erlaubt, weil dieses zur Ver|z8|vielfältigung der gottesdienstlichen Oerter und hiermit zu Trennungen der Stämme Anlaß gegeben hätte. Die Einheit des Orts der Anbetung war eine Mauer ums Volk herum, und die Zusammenkunft aller Mannspersonen bey den hohen Festen zur Stiftshütte oder Tempel unterhielt Bekantschaft und Verknüpfung der Stämme. – Auch waren die Leviten und Priester unter alle übrige Stämme vertheilt; sie waren Geistliche, Gesetzerklärer, Richter, Aerzte und Jugendlehrer zugleich: und hatten also die wirksamsten Mittel aller Art in den Händen, ihre Autorität im Volk ausnehmend zu vergrössern, und ihr gemeinschaftliches Interesse erforderte, die gottesdienstliche Staatsverfassung, wovon ihr ganzes Wohl beym Mangel eigner Ländereien abhieng, möglichst aufrecht zu erhalten. – Was hätte die israelitische Theokratie den Anlagen nach für ein festes und mächtiges Reich werden müssen, wenn Priester und Leviten mehr Klugheit und Thätigkeit gezeigt hätten! – Doch lasset uns Mosis Staatsklugheit in der Gesetzgebung noch in andern Punkten betrachten. Jehova wird als ein heftig eifersüchtiger Gott vorgestellet, der Abgötterey bis ins dritte und vierte Glied strafet. Die Heiden umher sind vor ihm ein Greuel; sie sind längst schon in ihren Stamvätern verflucht worden; er will sie vertrieben und mit der Schärfe des Schwerdts verbannet wissen: alle auch die überwundenen und wehrlosen solten getödtet werden. Warum dieses harte Gesetz? Einmal aus eben dem Grunde, weswegen das Haus Preussen dem Sächsischen niemals in seinen Kriegen mit Oesterreich die Neutralität zugestehen kan; weil das brandenburgische Land gegen Sachsen hin überall offen ist, und die Vertheidigung der Grenzen leichter durch Besetzung enger Pässe in Gebürgen, oder gegen einen Seehafen zu, als auf freien und ebenen Gefilden geschehen kan: und zweytens weil die gesittetern und wohlhabendern Cana|z9|niter die benachbarten Stämme der Juden leicht zu einer Verbindung mit sich, und zur Trennung von den übrigen Stämmen vermocht haben würden; da überdis ihre Gottesdienstlichkeiten sinnlich angenehmer, in der Nähe, und mit weniger Kosten verknüpft waren. Der Erfolg hat Mosen gerechtfertiget, daß er politisch richtig verordnet gehabt; denn die verschont gebliebenen Cananiter verleiteten bald die ihnen benachbarten Juden zum Abfall vom mosaischen Gesetz, und unterjochten nachher bald diesen, bald jenen einzelnen Stamm. –
Durch die bisher betrachteten Gesetze erhielt der jüdische Staat blos innre Festigkeit und äussere Sicherheit. Die übrigen Verordnungen zielten auf Gesundheit, Ordnung, Gerichtspflege, Vermehrung der Volksmenge, Verfeinerung der Sittlichkeit und bürgerlichen Wohlstand überhaupt ab. Was nach damaligen medicinischen Kentnissen den im Volk eingerissenen Skorbut befördern, oder die Zeugungskräfte schwächen und die Fruchtbarkeit verhindern konte, ward zu geniessen und zu brauchen verboten, und die äusserste Reinlichkeit nebst öfterm Baden nachdrücklich eingeschärft. Viel Kinder zu haben war eine vorzügliche Ehre, und Unfruchtbarkeit Schande. Die Ruhe am Sabbathe solte die rohen Juden menschlicher und geselliger machen, und mehr Gefühl für Sitten erwecken. – Auf ähnliche Art zielen die übrigen Gesetze auf Vermehrung der äussern Wohlfart des gemeinen Wesens ab: und erscheinen in der mosaischen Gesetzgebung insgesamt als unmittelbare Verordnungen des Jehova, als des Landesherrn, der die Uebertreter ausrotten, und die gehorsamen Unterthanen mit Reichthum, zahlreicher Nachkommenschaft und allem, was ihr Herz wünschet, beglücken wird. Dem ganzen Gesetzbuch setzte Mose noch die Geschichte der Stammväter der Israeliten vor, um seinen Gesetzen eine neue Unterstützung zu geben. Denn alle Erzählungen |z10| sind mit ungemeiner Klugheit in Hinsicht auf das Gesetzbuch gewählt. So ist z. B. gleich in der Schöpfungsgeschichte der Sabbath; in der Erzählung vom Fall, der Unterschied und das Verbot gewisser Speisen; in den Segnungen und Verfluchungen der Erzväter, die Rangordnung der israelitischen Stämme, und die Verbannung der Cananiter u. s. w. autorisirt. Das Interesse der übrigen Erzählungen, in Absicht auf einzelne Gesetze, kan hier nicht ausgeführet werden; es ist zu meinem Zweck hinlänglich, Aufmerksamkeit darauf erweckt zu haben.
Und nun beschliesse ich diese Betrachtungen über die Staatskunst, womit das mosaische Gesetzbuch entworfen worden, mit der Bitte an meine Leser, bey sich selbst etwas ausführlicher darüber zu reflektiren, was für ein fester, furchtbarer und übermächtiger Staat die Theokratie der Juden, den Anlagen nach, würde geworden seyn, wenn diese Nation von dem Geist der mosaischen Gesetzgebung zu allen Zeiten enthusiasmirt gewesen wäre. Man weiß, was der kleine, in so viele Partheien zersplitterte Ueberrest von zwey Stämmen den kriegerischen Römern bey Jerusalems Zerstörung zu schaffen gemacht hat, und mit welcher Wuth und Tollkühnheit sie den Tempel bis zu seiner Einäscherung vertheidiget haben. Was hätte also nicht die ganze Nation auszurichten vermocht, wenn sie nach Mosis Plan zusammen gehalten, sich der möglichsten Vermehrung beflissen, eine kleine Völkerschaft nach der andern aus ihrer Nachbarschaft vertrieben, und sich durch Erwartung eines ausserordentlichen Beystandes Gottes, der nur sie allein segnen, und die Gräuel der Heiden durch sie vertilgen lassen wolte, zu allen Unternehmungen stark genung gehalten hätte.
2. Nun lasset uns auch Mosis Gesetz nach seiner moralischen Seite in Beziehung auf die Religion betrachten. Hier hoffe ich augenscheinlich darzuthun, daß es |z11| von dem göttlichen Erziehungsplan des menschlichen Geschlechts zu höherer religiöser Denkungsart einen sehr wichtigen Theil ausmacht, und allerdings unter die vorzüglichsten Offenbarungen und Erleuchtungen, die Völkern jemals wiederfahren sind, gehöret.
  • 1. Mose war der erste, der einem ganzen Volk die Lehre von der Einheit Gottes bekant machte: aber dieser Grundbegrif aller wahren Religion hätte sich nicht erhalten können, wenn er nicht durch Verwebung mit der Staatseinrichtung eine feste Begründung bekommen hätte. Es war die erste Bürgerpflicht in der Theokratie, die Einheit Gottes zu behaupten: mehr Götter anzubeten war ein Verbrechen der beleidigten Majestät gegen den Landesherrn. Die Richter und Staatsbediente waren zugleich die Religionslehrer, und ihr Interesse erforderte es, auf das Bekentniß der Einheit des höchsten Gottes zu halten.
  • 2. Mose war der erste, der dem Volke Bilder von Gott zu verfertigen untersagte; und hiermit war ein grosser Vorschritt zu einer geistigern Vorstellung vom höchsten Wesen gethan: obgleich bey der äussern Verehrung desselben viele Sinnlichkeit annoch gestattet werden mußte, besonders in so fern Gott als Landesherr gedacht und bedient werden solte.
  • 3. Mose war der erste, welcher unter seiner Nation edlere Begriffe von der Hoheit, Macht, Güte, Weisheit, Wahrhaftigkeit und andern moralischen Eigenschaften Gottes verbreitete, als noch nirgends unter dem gemeinen Volk eines Landes herrschten, und der die wichtige Lehre von der allgemeinen Vorsehung und Regierung Gottes über die ganze Welt, und von seiner Aufsicht auf einzelne Menschen und ihre Handlungen bey seiner Gesetzgebung zum Grunde legte.
  • 4. Mose war der erste, der es zur Bürger- und Religionspflicht zugleich machte, nicht nur gerecht, sondern |z12| auch mit Nachsicht, Liebe und Wohlthätigkeit gegen den Nächsten zu handeln; obgleich unter den Nächsten nur Bürger und Religionsverwandte und höchstens einzelne durchreisende Fremde begriffen wurden.
  • 5. Mose machte dem Volk das Sündigen schwer, indem es für jede bemerkte Uebertretung der Gesetze Opfer bringen mußte; und da die Priester und Leviten ihren Antheil von diesen Strafgeldern erhielten, so wurden sie dadurch gereizt, auf die strenge Befolgung der Gesetze genaue Aufsicht zu haben: und auch hierdurch ward der Geist der Nation kultivirt, den Ausschweifungen sinnlicher Begierden immer mehr widerstehen und nach allgemeinen Vorschriften sich bestimmen zu lernen. Für nicht entdeckte Vergehungen geschah ein allgemeines jährliches Sühnopfer fürs Volk. Nimt man nun dieses zusammen, so erhellet deutlich, daß Mosis Gesetzbuch die Hauptprincipien und Grundbegriffe der wahren Religion und Sittlichkeit in seiner Nation ausgebreitet und befestiget hat, so weit als es nur irgends ihre damalige Gemüthsfähigkeiten zuliessen, und daß von den Priestern in den Propheten oder Gelehrten-Schulen, darin man schreiben und rechnen die Geschichte und Gesetze verstehen, denken, dichten und musiciren lernte, nach Maaßgabe der weiteren Kultur der Nation, immer höhere Erkentnisse daraus hergeleitet werden konten; wie auch nach den Schriften der Propheten die Begriffe der Religion und Moralität nachmals würklich immer mehr verbessert worden sind. Hieraus folget nun, daß Mosis Gesetzbuch mit Recht eine der ersten Stellen in der Samlung heiliger Urkunden von den ehemaligen von Gott veranstalteten Aufklärungen und Offenbarungen über die Religion zu haben verdient; wie denn auch ohne dasselbe der Unterricht Christi und seiner Apostel, nebst |z13| ihrer ganzen Lebensgeschichte, wenig oder gar nicht verstanden werden kan.
Die bisher vorgetragene Theorie über Mosis Schriften, daß solche das Gesetzbuch der theokratischen Staatsverfassung der Juden seyn solten, und auch die vorangesetzte und eingeschaltete Erzählungen darauf abzielen, den Gesetzen mehr Autorität zu verschaffen, verbreitet nun ein allgemeines Licht über diese Schriften und über die sämtlichen Bücher des alten Testaments. Alle Einwürfe gegen die Würde, moralische Güte und Weisheit ihres Urhebers, welche auf keine befriedigende Art beantwortet werden können, wenn man die Einführung einer bessern Religion zum einzigen Hauptzweck macht, und die Hofhaltung des Jehova, als palästinischen Landesherrn, für eigentlichen Gottesdienst und vorbildliche Ceremonien erklärt, lösen sich nun von selbst auf und verschwinden. Aber noch weit grösser ist der Nutzen dieser Theorie für uns, bey Auslegung des neuen Testaments, indem sich das ganze Verhalten Christi und seiner Apostel in Beziehung auf die mosaischen Gesetze daraus aufkläret, und manche neuerlich erregte Zweifel über den eigentlichen Zweck Jesu und seiner Jünger ihre völlige Auflösung daraus erhalten: woraus auch gegenseitig rückwärts die Theorie selbst eine authentische Bestätigung überkomt.

§. 88.

Zu den Zeiten, da Christus auftrat, hatte Mosis Gesetz noch bey der ganzen jüdischen Nation ein göttliches Ansehen; allein ihr Staat befand sich äusserlich in ganz andern Umständen, als zur Zeit der Gesetzgebung. Die Geschichtbücher des alten Testaments erzählen uns, wie die Juden sehr bald von den übrig gelassenen Cananitern zur Abgötterey, und hiermit zur Vernachlässigung ihres gemeinschaftlichen Interesse verleitet worden sind: |z14| wie sie nachher weltliche Könige gewählet; sich in zwey Reiche getheilt; bürgerliche Kriege geführt; von andern Nationen überwältiget; gröstentheils aus Palästina weggeführt, und in die ganze Welt zerstreuet worden sind, so daß geraume Zeit hindurch ihre eigene Staatsverfassung und solenner Gottesdienst gänzlich zu seyn aufgehöret hat. Als sie nachmals die Erlaubniß von ihren Beherrschern erlangt hatten, sich wieder nach Palästina zu samlen, und ein besondres gemeines Wesen nach dem Gesetzbuch ihrer Vorältern zu errichten, kehrte nur ein geringer Theil des Volks aus einigen Stämmen zurück, und diese waren zu schwach ohne Schutz eines der mächtigern Reiche sich zu erhalten, zumal ein grosser Theil ihres ehemaligen Landes von den Samaritern, einer Mischung der im Lande gebliebenen gemeinen Juden und der hinzu gekommenen heidnischen Kolonisten, mit welchen sie in Religionshaß lebten, besetzt war. Der neue jüdische Staat behielt also eine gewisse Abhängigkeit bald von dem einen, bald von dem andern grössern Volk, und endlich wurden ihre letzte Schutzherren die Römer. Man muß es den Juden nachrühmen, daß sie nach der Rückkehr aus den babylonischen und persischen Provinzen, worin sie merklich kultivirt worden waren, keine Spur von einiger Neigung zur Abgötterey weiter geäussert, und mit weit grösserm Eifer ihr durch das hohe Alterthum ehrwürdiger gewordenes Gesetzbuch respektiret und befolget haben. Die darin verordnete Unicität des Gottesdienstes verband nun, nach wieder erbauetem Tempel, auch alle entferntere und in allen Weltgegenden zerstreuet lebende Juden wieder mit dem palästinischen Staat: alle schickten Geschenke dahin, und suchten, so oft es ihnen der Entfernung wegen möglich war, von Zeit zu Zeit ein hohes Fest in Jerusalem mit ihren Familien zu feiern. Indes fühlten die Juden doch insgesamt die Verachtung, welche die jetzige Schwäche und Abhängigkeit ihres |z15| Staats ihnen von mächtigern Nationen zuzog, und daß die grossen Erwartungen, wozu ihr Gesetzbuch und ihre Propheten sie berechtiget hatten, nicht erfüllet werden könten, wenn nicht ein solcher ausserordentlicher Heiland, wie Mose für sie gewesen war, wieder erweckt würde. Auf einen solchen hofte nun das ganze Volk als Jesus auftrat und die Aufmerksamkeit der palästinischen Juden auf sich zog. Hier entsteht nun zuvörderst die wichtige Frage: was der Zweck Jesu in Absicht des mosaischen Gesetzes gewesen sey? Nach vielen deutlichen Stellen in den Evangelien scheinet die Absicht Christi dahin zu gehen, das Gesetz Mosis zu bestätigen und ihm eine immerwährende Gültigkeit zu zueignen. Er verweiset Matth. 23, 2. 3. das Volk und seine Jünger an die Schriftgelehrten und Pharisäer, als die auf Mosis Stuhl säßen, oder bevollmächtigte Erklärer des Gesetzes wären, und sagt ausdrücklich: alles was sie euch sagen, das ihr halten sollet, das haltet und thut: und Kap. 5, 17–19 erkläret Jesus: er sey nicht gekommen, das Gesetz aufzulösen, sondern zu erfüllen: es solle kein Pünktchen vom Gesetz wegfallen, sondern alles genau beobachtet werden, bis Himmel und Erde vergangen seyn würden: und jeder, der ein Mitbürger seines Reichs seyn wolle, solle dis Gesetz lehren und beobachten. Vergleicht man hiermit das in der Apostelgeschichte erzählte Verhalten der Jünger in Palästina, so scheinen diese darüber zweifelhaft gewesen zu seyn, in wie fern alle Christen sich nach dem Gesetz zu richten hätten, Apostg. 15, 4–21. und, nach langen Debatten über diese Frage, beschliessen sie, nur gewisse mosaische Einschränkungen den Heiden zur Bedingung der Aufnahme in die neue Kirche vorzuschreiben. Lesen wir dagegen Pauli Briefe, besonders den an die Galater, so finden wir überall Mosen und Christum, Gesetz und Evangelium oder Glaube einander entgegen gesetzt; ja Paulus erklärt grade zu Gal. |z16| 5, 1. 2. es sey dem, der sich beschneiden lasse, Christus nichts nütze; denn Christus habe alle von dem sklavischen Joch der mosaischen Gesetze befreien wollen. – Sehet hier, meine Leser, sehr scheinbare Widersprüche, welche man auf vielerley künstliche Art aufzulösen gesucht hat, ohne die Zweifel hinlänglich befriedigen zu können. Ich hoffe nun, durch Anwendung der vorher entwickelten Theorie über das Gesetzbuch Mosis und desselben doppelte Hauptabsicht, eine ganz natürliche und leichte Auflösung darüber zu geben. – Hier ist sie. –
Das Gesetzbuch Mosis soll nach Christi Zweck in so weit es die Landes und Policeygesetze für sämtliche Mitglieder des gemeinen Wesens in Palästina enthält, von allen Juden, die sich zur Lehre Jesu bekennen wollen, nach wie vor aufs genaueste beobachtet werden, bis Himmel und Erde vergehen, das ist (nach einer bekanten jüdischen Art sich auszudrücken) so lange als die gottesdienstliche und politische Verfassung der Juden noch dauren, oder sie noch einen Tempel und eignes Land haben würden. Die Jünger Jesu solten sich selbst, in pünktlicher Erfüllung desselben, nach den strengsten Erklärungen der Pharisäer richten; und dazu auch die palästinischen Christen fernerhin anhalten, damit sie sich als gute Bürger zeigten, und sich des Schutzes der Obrigkeit würdig machten: so wie daher Christus selbst durch die genaueste Beobachtung desselben sich ihnen zum Muster darstellen konte. Aber für etwas mehr als Staatsgesetze solten Mosis Verordnungen nicht weiter gelten, und durchaus nicht für Bedingungen der höhern Seligkeit. Paulus konte demnach ausserhalb Palästina, wo Mosis Schriften nicht die Grundlage der bürgerlichen Einrichtung waren, und keine obrigkeitliche Autorität hatten, auch früher, dem Zweck Jesu ganz gemäß, die fernere Beobachtung derselben für überflüssig und der höhern geistigen Religion des Christenthums schädlich er|z17|klären: dagegen die palästinischen Apostel die Erlösung erst abwarten mußten, welche nach Christi Vorherverkündigung, mit dem Untergang des jüdischen Tempels und Staats, binnen einem Mannsalter ihnen widerfahren würde, Matth. 5, 17–19. vergl. mit K. 24, 39. 44. Luc. 21, 25–33.
Diesem ganz einförmigen Plan Christi und seiner sämtlichen Jünger zu folge, erhielten nun die Apostel die Neubekehrten in Palästina in ihrem Eifer für das Gesetz der Väter, und autorisirten doch auch zugleich Paulum, die Heiden ohne Beschneidung zu Christen aufzunehmen; nur solten diese, der Schwäche der Juden wegen, sich von den Dingen äusserlich enthalten, wogegen den Juden von Kindheit an Abscheu und Ekel beygebracht worden war, damit der freundschaftliche Umgang zwischen beiderley Nationsverwandten nicht litte. – Hiernach lässet sich nun auch eine sehr schwierige Stelle im Briefe an die Galater befriedigend erklären, da Paulus Kap. 2, 11–14. erzählt, wie er sehr hart mit Petro zusammen gekommen wäre und zwar darüber, daß Petrus bey seiner Ankunft nach Antiochien mit den bekehrten Heiden umgegangen sey, sich aber nachher denselben entzogen habe, so bald einige palästinische Judenchristen aus Jerusalem auch daselbst angelanget wären. – Der hierüber zwischen zwey Aposteln entstandne heftige Streit höret auf, etwas Anstössiges zu enthalten, und zeigt die Rechtschaffenheit beider Männer in einem sehr vortheilhaften Lichte, wenn man sich ihre Situation deutlich macht. Paulus war der Heiden Apostel. Er arbeitete Tag und Nacht daran, die Scheidewand zwischen Juden und Heiden niederzureissen, und eine Uebereinstimmung in christlichen Gesinnungen hervorzubringen. Es war ihm darin so weit geglückt, daß die Judenchristen zu Antiochien ihren Nationalstolz und Vorurtheile besieget, und sich mit den Heiden zum gemeinschaftlichen |z18| Brodbrechen vereint hatten. Petrus komt an; er ist mit Paulo eines Sinnes und macht keinen Unterschied zwischen bekehrten Juden und Heiden. Paulus benutzt diesen Umstand wahrscheinlich dazu, die Juden durch die Autorität, welche Petrus als ein unmittelbarer Begleiter Christi in ihren Augen voraus hatte, noch mehr in ihren guten Gesinnungen gegen die Heiden zu befestigen, und dis macht auch den gewünschten Eindruck. Nun aber treffen palästinische Juden aus Jerusalem selbst zu Antiochien ein; Leute, bey welchen, nach der Verabredung zwischen Jakobo und Petro, der Eifer fürs mosaische Gesetz noch erhalten werden solte, damit sie gute Bürger blieben, und den Tempeldienst unter den Augen der Obersten des Volks fleissig und andächtig abwarteten. Was solte hier Petrus thun? Er, der mit diesen Leuten nach Jerusalem zurückkehren mußte, und wenn er mit Heiden umging, ihr Zutrauen verlor, und seiner ganzen Gemeine in Palästina verdächtig ward; oder aber Gefahr lief, daß die jerusalemsche Bürger durch sein Beyspiel sich berechtigt halten möchten, auch zu Hause Mosis Gesetz zu verachten, welches der jüdischen Obrigkeit neue Anreizungen geben würde, die Christen zu verfolgen. – Mit Recht entschloß er sich also, sich nach den Schwachen zu richten und ein Aergerniß bey Leuten seiner Gemeine zu verhüten, was ihn die palästinische Kirche unbrauchbar machen, oder noch ausgebreitetere Folgen haben konte. Allein Paulus ward dadurch allarmirt. Auch Er wolte bey seiner Gemeine gern das Aergerniß verhüten, was Juden und Heiden an diesem schnell abgeänderten Betragen Petri nehmen konten. Er setzt daher Petrum mit vielen Affekt zur Rede. – Aber gewiß wußte der gute Paulus damals nicht, oder konte es sich nicht vorstellen, wie heftig der Enthusiasmus der christlichen Juden für das mosaische Gesetz noch in Jeru|z19|salem war. – Er erfuhr es aber wenige Jahre nachher, als er selbst nach Jerusalem kam. – Jakobus und die Aeltesten der dortigen Gemeine eröfneten ihm gleich bey seiner Ankunft, daß die viele tausend Juden, welche in Palästina gläubig geworden wären, alle für das Gesetz eiferten, daher sie ihm anriethen, sich nebst einigen andern Männern, die Gelübde gethan hätten, in den Tempel zu begeben und sich mit ihnen nach allen gesetzlichen Ceremonien reinigen zu lassen, um seine Hochschätzung gegen die Landesgesetze in Palästina zu zeigen, und den Verdacht zu verhindern, als ob er zu Jerusalem eben so, als in andern Ländern Gleichgültigkeit und Verachtung dagegen lehren wolte. Er befolgte diese Rathgebung. Allein so bald man ihn im Tempel erkante, erregten asiatische Juden einen Tumult gegen ihn, als einen Abtrünnigen, der auswärtige Juden das Gesetz der Väter verachten lehrte; selbst in Jerusalem in Gesellschaft von Heiden sich sehen liesse, und den Tempel durch seinen Anhang entweihte. Die ganze Stadt, ungläubige und gläubige Juden stürmten auf ihn, daß er kaum durch die römische Garnison dem gewissen Tode aus ihren Händen entrissen werden konte, Apg. 21, 22 ff. Selbst der römische Stadthalter würde ihn nach dem Religionseifer der Jüden aufgeopfert haben, hätte sich Paulus nicht auf sein römisches Bürgerrecht und auf den Kaiser berufen, Apg. 25, 9. 10. vergl. mit Kap. 22, 25–29.
Aus dieser Geschichte, und den vorgehenden Bemerkungen, ergeben sich nun augenscheinlich zwey höchstwichtige Folgerungen:
  • 1.
    Christus und seine Apostel haben einstimmig Mosis Gesetze blos für palästinische Landesgesetze erkläret, die ein unzertrennliches Ganze ausmachen; darin sie kein Pünktchen abändern wolten, und welche von allen Christen, die Mitbürger des jüdischen Staats waren, |z20| als obrigkeitliche Policeygesetze, nach der strengsten Auslegung der Pharisäer, bis zur Zerstörung des Tempels und des gemeinen Wesens der Juden beobachtet werden solten. Dagegen haben sie ihnen nun auch alle Autorität und Brauchbarkeit in der neuern göttlichen Oekonomie, die Menschen zu höherer Glückseligkeit anzuleiten, abgesprochen. In dieser Beziehung wird Mose und Christus; das Gesetz und der Glaube; der Buchstabe und der Geist; der alte und der neue Bund; die Gerechtigkeit aus dem Gesetz und die Gerechtigkeit vor Gott; die Knechtschaft und die Kindschaft; u. s. w. einander überall als unvereinbar und widersprechend entgegengesetzt, und Christus der Erlöser vom Fluch des Gesetzes und das Ende des Gesetzes genant, Joh. 1, 17. Gal. 5, 1 f. Kap. 2, 16. K. 3, 23 f. 2 Cor. 3, 6 f. Ebr. 8, 6–13. Röm. 10, 3 f. Ebr. 9, 14 f. 1 Petr. 1, 18. Röm. 8, 15. Gal. 4, 4–7. Kap. 3, 10–14. Wenn daher gleich Christus und seine Apostel in ihren Unterredungen mit palästinischen Juden Mosis und der Propheten öfters mit Achtung gedenken, so verweisen sie doch niemals darauf, als auf einen Unterricht zu höherer Glückseligkeit, sondern leiten nur aus denselben die Nothwendigkeit einer vollkomnern Anweisung her, welche die Propheten als künftig bevorstehend bereits verkündiget und verheissen hätten. Forschet in der Schrift, sagt Christus Joh. 5, 30. 40. 46. denn ihr steht in der Meinung, als enthielte sie eine Anweisung zur Glückseligkeit, ihr werdet aber finden, daß sie selbst auf einen bessern Unterricht, den ich euch nun ertheile, verweiset. Eben so erklären sich alle Apostel, Apg. 10, 43. Ebr. 9, 18. 19. K. 10, 1. Hieraus folgt, daß es ganz wider den Sinn Christi und der Apostel gehandelt ist, wenn man die Christen in unsern Tagen aufs alte Testament verweiset, welches nur eine Vor|z21|dämmerung zu dem hellern Licht des Christenthums seyn sollen; von welchen die Apostel die Juden möglichst abzuführen gesucht haben, weil es Gott zu sinnlich, menschlich und leidenschaftlich vorstellet, und mehr knechtische Furcht als Liebe und Vertrauen einhaucht. Für uns ist das alte Testament nur blos eine ehrwürdige historische Urkunde von den Religionsbegriffen und deren allmähligen Verbesserung unter den Juden bis zu den Zeiten Christi; aus deren Vergleichung mit den neutestamentischen Schriften, wir die überaus grossen Vorzüge des Christenthums vor jenen groben und ängstlichen Religionserkentnissen zu erkennen haben. Gewöhnlich tragen indes unsre Theologen aus dem Christenthum viel mehr Licht und Richtigkeit ins alte Testament hinein, als niemals darin statt gefunden hat; und bringen es nachher durch willkührliche Auslegungen wieder heraus, als ob es vor Christo schon darin zu finden gewesen wäre. Ganz unphilosophisch ist auch die Hypothese, als ob noch einige Gesetze aus dem Mose für uns verbindlich wären, so wie die ganze Abtheilung derselben in ceremonial, civil und moralische Gesetze willkührlich und unrichtig ist. Denn wenn gleich allgemeine Naturgesetze von ewiger Verbindlichkeit auch unter Mosis Gesetzen vorkommen, so entsteht doch keine Verbindlichkeit zu ihrer Beobachtung aus dem Moses für uns, indem kein Gesetzbuch irgends eines Volkes in der Welt ist, darin nicht allgemeine Naturgesetze z. B. du solst nicht tödten, du solst nicht stehlen u. s. w. aufgenommen seyn solten. Kein Mensch aber wird daher folgern daß wir an einige Gesetze der Chineser oder der Indianer gebunden wären, weil nemlich unsere Verpflichtung nicht aus ihren Gesetzbüchern herrühren kan.
    Doch dieses alles, was ich von der Unbrauchbarkeit der alttestamentische Schriften zu einer reinen Erkent|z22|nißquelle der Religion für uns angemerkt habe, wird noch mehr Licht und Bekräftigung erhalten, wenn ich die wichtige Verbesserungen aller Religionsbegriffe des alten Bundes, die wir Christo zu danken haben, im folgenden Paragraphen deutlicher auseinandersetzen werde.
  • 2.
    Christus und seine Apostel beobachten in Palästina das ganze mosaische Gesetz auf das pünktlichste, da sie doch von der Untauglichkeit und Zwecklosigkeit des ehemals nützlich gewesenen Tempeldienstes in ihren Tagen, und von dem schädlichen Aberglauben, der dadurch unterhalten ward, deutliche Einsichten hatten, und selbst dahin arbeiteten, die Juden allmählig davon abzuziehen, und zu edlern und reinern Erkentnissen von Gott zu bringen. Hieraus fließt die wichtige Regel für alle christliche Lehrer, daß sie, diesen erhabenen Beyspielen gemäß, sich ebenfalls nach allen obrigkeitlichen Landesverordnungen richten müssen, und wenn sie auch in den herrschenden Lehrformen und Kirchengebräuchen, die durch öffentliche Symbolen und Gesetze autorisirt sind, mancherley Aberglauben und veraltete zwecklosgewordene Ceremonien vorfinden, sich doch nach den kirchlichen Policeygesetzen ihrer Gegend, als gehorsame Unterthanen und recht christlich kluge Lehrer, zu bequemen haben; welches der Redlichkeit gar nicht entgegen ist, Matth. 10, 16. Will ein Lehrer nützlich werden, so muß er zuvörderst das Vertrauen seiner Landsleute zu gewinnen suchen. Dieses kan aber auf keine andre Weise geschehen, als indem man sich zu ihren Meinungen herabläßt, und sich ihnen gerade so zeigt, wie sie sich ihr Ideal von einem rechtgläubigen, einsichtsvollen und treuen Lehrer gebildet haben. So ging selbst Christus in seiner Herablassung zu den Vorurtheilen und der Schwachheit der Juden so weit, daß er nach Matth. 15, 22 f. so gar den gemeinen Ton des jüdischen Nationalstol|z23|zes gegen eine Cananiterin annahm, und anfänglich sie gar nicht anhören wolte, nachher aber durch die äusserst harte Vergleichung: daß es unschicklich sey, den Kindern das Brodt zu nehmen und es den Hunden zu geben; tief unter die Juden erniedrigte. Allein dis Betragen war nothwendig, wenn er seine Begleiter nicht von sich entfernen, sondern sie allmählig zu dem vorbereiten wolte, was sie im Anfange seines Lehramtes zu ertragen noch allzuschwach waren. Man siehet bey dieser und mehrern ähnlichen Geschichten, mit welcher Weisheit Jesus durch die scheinbare Genehmigung der Nationalprincipien seine Landesleute zu besserer Beurtheilung andrer Völker angeleitet hat. Er läßt seine Begleiter erst Thatsachen sehen, und dann folgert er daraus, so einleuchtend, daß sie die Wahrheit nicht weiter verkennen konten. So mußte die mütterliche Treue der Cananiterin, mit welcher sie sich aller Verachtung und Erniedrigung gelassen unterwarf, um nur Hülfe für ihre kranke Tochter zu finden, für die anwesende Juden ein auffallender Beweis von der Gutherzigkeit, die unter den Heiden anzutreffen war, seyn; und so führet Christus gewöhnlich zu Beyspielen der Rechtschaffenheit, Dankbarkeit und Menschenliebe Heiden oder Samariter, aber nur stets in Erzählungen auf, Matth. 8, 5 f. Luc. 10, 33 f. K. 17, 15. 16. da er noch nicht gerade zu die Wahrheit von der allgemeinen Gleichheit aller Menschen vor Gott, vortragen durfte.
    Hat man erst Zutrauen gewonnen, so kan man allmählig Aufklärung und Verbesserung der Einsichten nach Maaßgabe der Emfänglichkeit der verschiedenen Klassen der Zuhörer befördern. Gesetzt, daß man bey dieser Behutsamkeit auch nicht so geschwind weiter komt, als man zu gelangen wünscht, so muß man sich mit Christi Beyspiel trösten, der auch bey |z24| seinen Lebzeiten es nicht sehr weit bringen konte; und demohngeachtet seine Apostel zu einem ähnlichen Verhalten anwies; sie aber zugleich mit der bevorstehenden Erlösung von den äussern Einschränkungen tröstete, die nicht durch sie, sondern durch Gottes Vorsehung mit Aufhebung der jüdischen Gerichtsbarkeit über die Christen veranstaltet werden würde.
    Ueberhaupt sind wir nicht verbunden, eine Pflicht in höherm Grade auszuüben, als Gelegenheit dazu vorhanden ist, und diese Gelegenheiten hängen nicht von uns, sondern von den äussern Verhältnissen ab, in welche Gott uns zu setzen für gut findet: folglich wird auch von keinem christlichen Lehrer mehr gefordert werden, als so viel ihm bey einer treuen und klugen Benutzung der ihm dargebotenen Gelegenheiten, nach den Kirchen und Policeygesetzen seines Orts, zu leisten möglich gewesen ist. Einsichtsvolle Geistliche der katholischen Kirche befinden sich gewissermassen ganz eigentlich in den Umständen, darunter Christus und die Apostel in Palästina lehreten: und ich kenne mehrere sehr rechtschafne Männer unter ihnen, die in der Stille grosse Aufklärungen verbreiten. Sie würden unbrauchbar werden, wenn sie weniger behutsam verführen, oder sich gegen die hierarchischen Gesetze ihrer Kirche gerade zu erklären wolten. Aber auch unter den Protestanten lebt man an vielen Orten noch auf mosaisch-jüdischen Fuß: und tausend heller sehende Prediger dürfen nicht sagen oder schreiben, was sie denken. Sie handeln aber auch christlich weise, wenn sie sich nach den Schwachen richten, und die Policeygesetze der Kirche ihrer Gegend befolgen. Christus und seine Apostel decken sie durch ihr Beyspiel gegen den schwärmerischen Vorwurf der Unredlichkeit und Heucheley. – Allein diejenigen Lehrer, welche mit Paulo ausserhalb Palästina leben, oder |z25| wie Luther von ihrem Landesherrn von dem Zwange der Policeygesetze befreiet sind, haben nicht nur das Recht, sondern auch die Verpflichtung auf sich, gerade heraus zu gehen, und so laut gegen Aberglauben und Mißbräuche zu eifern, wie Paulus und Luther gethan haben. Von solchen wäre es Kleinmuth und Verrätherey an der Wahrheit, wenn sie vor den falschen Brüdern und jüdischgesinnten Schwärmern sich fürchten, und nicht die kleine Unbequemlichkeit, von dergleichen Leuten beseufzt oder beschimpft zu werden, um des Evangeliums willen übernehmen wolten. Nur muß jeder Lehrer, der über die gemeine und öffentlich bestimte Schranken der kirchlichen Symbolen und Policeygesetze hinausgehen will, bey jedem Vorschritt Rückfrage an seine Obrigkeit thun, um nicht die öffentliche Ruhe zu stören, oder ihres Schutzes verlustig zu gehen. Dieses hat selbst Luther bey aller seiner anscheinenden Unbiegsamkeit und Enthusiasmus gethan; und es ist jetzt bekant genung, daß die erste Trennung von den Schweizern mehr aus einer politischen Spekulation des Churfürsten, als aus Luthers Streitsucht ursprünglich hergerühret hat: nur Luthers Nachfolgern, besonders auf der Akademie, fehlte es völlig an christlicher und weltlicher Klugheit.
    Lasset uns, meine theologische Mitbrüder, künftig so apostolisch von einander denken, wie Jakobus, Petrus und Paulus, bey aller Verschiedenheit ihres Verhaltens in Lehre und Wandel, von einander geurtheilet haben. Ich stosse mich nicht daran, wenn ich einem helldenkenden Prälaten das hohe Amt mit allem Pomp abwarten sehe: ich denke mir dabey Paulum im Tempel, wie er mit den vier Männern sich wegen eines nicht gethanen Gelübdes förmlich reinigen läßt. Ich verdenke es auch euch nicht, meine protestantische Brüder, wenn ihr nach den Kirchengesetzen |z26| eures Orts den kleinen und grossen Exorcismus braucht, an Gottes Statt Sündenvergebung ertheilt, und euch vieler Lehrformeln bedient, deren Untauglichkeit ihr unter uns eingesteht; ihr habt Christi und seiner Jünger Verhalten zu eurer Rechtfertigung für euch, da ihr im christlichen Palästina lebt. Käme ich unter euch, warlich ich würde nicht laut sagen, nicht unter meinem Namen drucken lassen, was ihr hier leset. – Aber nun beurtheilet auch Ihr mich nicht ferner nach den Einschränkungsgesetzen der Kirchenpolicey eures Distrikts. Ich lebe und lehre ausserhalb der Gerichtsbarkeit der Priester und Schriftgelehrten, in den Umständen, worunter Paulus und Luther mir das Vorbild der Freimüthigkeit hinterlassen haben. Ich hänge von keiner Volksgemeine, auch keinen Fakultätsstatuten ab. Ich schreibe mit Genehmigung meiner höheren Obrigkeit; und da es ungewiß ist, wie lange die hellen Zeiten uns gegönt seyn werden, so halte ich mich verpflichtet zu wirken, weil es Tag ist. Ich verlange keinen lauten Beyfall von euch, die ihr mit mir gleich denket; so bald euch Leute aus Jerusalem beobachten, handelt wie Petrus! Ich will durch Pauli nachmalige Erfahrung erinnert mich nicht übereilen, euch Vorwürfe zu machen. Verwerfet und tadelt daher auch immerhin dreist diese Schrift gegen alle, welche die Empfänglichkeit nicht haben, den Inhalt zu ertragen, wenn sie durch Lesung derselben schon beunruhiget worden wären; nur predige keiner öffentlich dagegen; sonst kauft sie, wie die Erfahrung gelehrt hat, der Bauer und Küster, für die ich sie nicht schrieb, und die sonst nicht gewußt hätten, daß eine solche Schrift vorhanden wäre, wenn sie die Predigt dawider nicht neugierig gemacht hätte. Möchten doch alle christliche Theologen, die den Logos (die Vernunft) Gottes als ihr Haupt verehren, und Christi Lehre für |z27| den Geist Gottes erkennen, immer mehr λογικοι und πνευματικοι (vernünftig und geistiger denkende Leute) werden, und endlich einmal aufhören, an dem sinnlichen und buchstäblichen der heiligen Schriften zu kränkeln, und den Zehnten von Münz, Till und Kümmel zu berechnen! Möchten doch dafür alle ihre Kräfte und Eifer dahin vereinigen, die grossen Gebote der Gerechtigkeit, der Barmherzigkeit und der Treue und Redlichkeit immer mehr an allen Orten aufzurichten! Amen.

§. 89.

Wir haben bisher gesehen, wie Christus und seine Apostel sich gegen Mosis Schriften, in sofern sie die palästinische Landesgesetze enthielten, betragen haben; wie sie darin kein Jota verändert, sondern sich selbst aufs pünktlichste darnach gerichtet, und alles vermieden haben, was bey gemeinen Judenchristen die Achtung gegen das Gesetzbuch und den Eifer in dessen Befolgung hätte schwächen können. Lasset uns nun bemerken, wie ganz anders sie über eben diese mosaische Schriften urtheilen, in sofern die Juden ihren Inhalt als einen Religionsunterricht betrachteten, der zu höherer Glückseligkeit anzuleiten geschickt sey. Hier wird sich finden, daß kein Jota aus dem Mose unverändert geblieben, sondern ein durchaus neuer Lehrbegrif von Christo im Gegensatz des mosaischen geoffenbaret und eingeführet worden ist. Daher sagt Johannes Kap. 1, 17. Das Gesetz, (worauf euer bürgerliches gemeines Wesen beruhet,) ist durch Mosen gegeben, die Gnade und Wahrheit aber, das ist, die gnädigen Gesinnungen Gottes gegen die Menschen, und die wahre beseligende Religion, sind durch Jesum Christum allererst geoffenbaret worden. Dieses verdient nun um so mehr deutlicher auseinander gesetzt zu werden, da hauptsächlich auf einer richtigen Einsicht hiervon sowol der grosse Vorzug des Christenthums vor dem Judenthum, als auch das rechte Erkentniß von dem zweck|z28|mässigen Gebrauch des alten Testaments unter den Christen beruhet.
  • 1. Begriffe von Gott. Mose stellet Gott, nach den kindischen Fähigkeiten der Juden seiner Zeit, als ein Wesen von menschlicher Denkungsart und heftigen Leidenschaften vor. Er ist der höchste und stärkste der Götter, der eifersüchtig auf seine Ehre ist, der sich auf das Volk Israel nach den Kriegesgesetzen ein eigenthümliches Recht, durch ihre Eroberung und Erlösung aus Egyptens Sklaverey, erworben hat, und daher als der einzige Schutzgott des Landes, das er ihnen zur Benutzung eingiebt und erobern hilft, angesehen und verehrt werden will. Man soll ihm, als einen Grundzins und Schutzgeld, die Erstlinge und den Zehnten von allem geben; niemals ohne Geschenke vor ihm erscheinen; nirgends als vor seinem Pallast opfern, weil es sonst die Feldteufel geniessen, 3 Mos. 17, 7. Der Jehova hasset und verabscheuet die übrigen Völker, besonders die Cananiter, theils wegen Vergehungen ihrer Stamväter, theils weil sie andere Götter und die Feldteufel verehren, darum sollen auch die Juden sie hassen, verabscheuen und ausrotten. Wer sich gegen des Jehova Gesetze vergeht, kan keine Vergebung hoffen, bevor nicht Blut vergossen worden; und Abgötterey soll als Hochverrath unverzeihlich noch an den Nachkommen bis ins vierte Glied bestrafet werden. – Sehet da die mosaische Begriffe von Gott! Können diese wol Gemüthsruhe und Edelmuth erzeugen? Kan Gott, auf diese Art gedacht, der Gegenstand einer freudigen Anbetung und das vollkommenste moralische Muster unsrer Nachahmung seyn? – Christus macht es dagegen zum ersten Begrif von Gott, daß er der Vater aller Menschen sey; auf diesem Grundsatz sollen alle Völker, die seine Lehre annehmen, getauft wer|z29|den. Der Geist der kindlichen Liebe soll das Vorrecht der Christen vor den Juden seyn, die durch einen Geist der Furcht und der Knechtschaft beherrscht worden waren, und den Weg des Friedens nicht gewußt hatten; denn ihr Gesetz hatte nur Zorn und widrige Leidenschaften erregt, Röm. 8, 15. K. 4, 15. Luc. 1, 74. Die Feindschaft, welche durch dasselbe zwischen ihnen und andern Völkern gestiftet und unterhalten worden war, ist durch Christum aufgehoben, und die Verfluchungen des Gesetzes sind für unbedeutend erkläret, Ephes. 2, 13. 18. Gal. 3, 13. Nun wird Gott, der über Böse und Gute seine Sonne scheinen lässet, mit seinem Regen die Felder der Gerechten und Ungerechten befruchtet, und auch gegen Undankbare und Boshafte gütig ist, das erhabenste Muster der moralischen Vollkommenheit für uns, Matth. 5, 45. 48. Luc. 6, 35. Von ihm können keine andre als gute und vollkomne Gaben herkommen, denn er hat keine Leidenschaften, und ohne auf äussere Unterschiede der Nationen und ihre Herkunft zu sehen, ist nun in allerley Volk ein jeder, wer ihn hochschätzt und recht handelt, ihm angenehm, Apostg. 10, 34. Röm. 2, 6–16. Denn alle sind seine Kinder, alle will er durch Verbesserung ihrer Einsichten und Gesinnungen selig gemacht wissen, Röm. 3, 29. 1 Tim. 2, 4. 5. – Mit Recht sagt daher Johannes Evang. 1, 18. noch habe niemand, weder Moses noch andre Propheten, Gott gekant, sondern Christus sey der erste gewesen, der den Vater uns nach seinem wahren Charakter geoffenbaret habe. (Ebr. 8, 6–13. Röm. 10, 12. K. 11, 32. K. 3, 22. f.)
  • 2. Begriffe von der Vorsehung und moralischen Regierung Gottes. Nach Mose komt es darauf an, ob man das Glück gehabt hat, von jüdischen Aeltern geboren zu werden, um an der nähern Aufsicht |z30| und Wohlthätigkeit Gottes Theil zu nehmen, und ob die nächsten Ahnen das Gesetz beobachtet haben, oder ob man noch für sie büssen muß. Die Belohnungen für genaue Erfüllung der Gesetze sind nach dem Mose der Mitbesitz an dem gelobten Lande, Reichthum, viele Kinder, Gedeihen der Feldfrüchte, Ehre und andre äussre Vorzüge, 2 Mos. 13, 25. f. 5 Mos. 7, 12–16. Wem diese Merkmale des Segens vom Jehova fehlen; wer in Armuth, Verachtung, Krankheit und äusserm Elend lebt, der ist kein Gesegneter des Herrn, und hat entweder selbst oder in seinen Aeltern gesündiget, 5 Mos. 28, 15 f. – Glücks und Unglücksfälle sind Zeichen der Gnade oder des Zorns Gottes. – Hören wir Christum dagegen, so erstrecket sich die göttliche Vorsehung auf jede Blume des Grases, auf jeden Vogel, und demnach auf alle die mehr sind, als Blumen und Thiere, auf alle Menschen, ohne Unterschied der Herkunft, Matth. 6, 25–30. Krankheiten und äussere zufällige Uebel sind keine Anzeigen des Zorns Gottes, noch auch angeerbter oder selbst begangner Verschuldungen, Joh. 9, 2. 3. sondern werden durch die väterliche Regierung unsrer Schicksale, Mittel unsre grössre Wohlfart zu befördern. Auch die Armen, Verfolgten, Verachteten können schon hier selig seyn, wenn sie Gott ähnliche Gesinnungen haben: ja es ist denen, welche durch äusserliche Glücksgüter weniger zerstreuet werden, leichter als den Vornehmen und Reichen, gottselig zu leben, und ihr Gewissen rein zu bewahren, Matth. 5, 3. f. Luc. 6, 20–26. Alle Menschen haben in Gottes Augen einerley Werth, in was für äussern Verhältnissen sie sich auch befinden; nur nach dem innern Gemüthscharakter und den Werken unterscheidet er sie, und giebt jedem täglich, was ihm das zuträglichste ist, 1 Petr. 1, 17. Matth. 5, 31. |z31|
  • 3. Begriffe von der Anbetung Gottes. Nach Mosis Gesetz kan Gott nur an einem Ort ihm wohlgefällig angebetet werden, 5 Mos. 12, 5. Man darf aber nicht mit leerer Hand vor ihm erscheinen, 5 Mos. 16, 16. auch sich nicht unmittelbar an ihn wenden; sondern die Priester sind die geweiheten Mittelspersonen, die der Menschen Anliegen vor Gott bringen. Es sind auch nicht alle Tage gleich. Sabbat, Neumonden und Gedächtnißfeste sind heiligere Zeiten, die Gott zu ehren gefeiert werden müssen. Man muß sich von allerley Speisen enthalten, und selbst die Zubereitung der Kleider ist nicht gleichgültig, wenn man vor Gott rein bleiben will, 5 Mos. 22, 10. 11. – Dagegen erklärt Christus, daß Gott als ein Geist nur in Gedanken und Gesinnungen des Herzens gehörig angebetet werden könne, ohne daß der Ort dazu etwas beytrage; und die Apostel lehren nochmals, daß Gott nicht in Tempeln wohne, die von Menschen Händen gemacht sind, auch nicht von Menschen gepflegt und beschenkt werden dürfe; daß jeder einen ofnen freien Zutritt ohne vermittelnde Priester zu ihm habe; daß niemand sich ein Gewissen machen solle, über Speise oder Trank, oder bestimten Sabbatern, Neumonden oder Festtagen; daß alle Tage gleich sind, und alle Gabe Gottes, die mit dankbarem Andenken an ihn genossen werde, uns rein sey; und in der Kleidung jeder die Sitten des Landes beobachten könne, Col. 2, 16. Röm. 14, 5. 14. 17. Phil. 4, 8.
  • 4. Principium des Gehorsams gegen Gott. Nach dem Mose beruhen die Pflichten gegen Gott auf der Errettung der Juden aus der Sklaverey Egyptens und der Schenkung eines eignen Landes, daher sie Gott dienstbar seyn solten. Den Gehorsamen war äusseres Wohlergehn, den Ungehorsamen aber |z32| Verderben gedrohet. Das Gesetz war unter Donner und Blitz bekant gemacht, und Furcht und Zittern vor dem Eifer des Jehova solten die Uebertretungen verhindern; daher die schrecklichen Verfluchungen, die man 5 Mos. 28. nicht ohne Grausen lesen kan. Ob nun gleich Mose auch das Gebot hat: Man solle Gott von ganzem Herzen lieben, so vermochte doch sein Gesetz nicht, diese Liebe hervorzubringen. Nach Christi Lehre sollen die wohlthätigen Gesinnungen Gottes uns überzeugen, daß alle seine Vorschriften väterliche Rathgebungen zu unsrem Besten sind. Liebe soll die Quelle aller religiösen Gesinnungen gegen ihn seyn; und sich in der Begierde, ihm gefällig und ähnlich zu werden, bey allen Handlungen äussern; weil damit unmittelbare Gemüthsruhe und freudiger Muth in Absicht der Zukunft entsteht. Daher bedarf es keines geschriebenen Gesetzes mehr; alles positive ist aufgehoben, da ein dankbares liebevolles Herz gegen Gott von selbst das thut, was ihm recht und angenehm ist, Röm. 7, 6. K. 8, 2. 1 Joh. 4, 16. 19. Ebr. 8, 10. 11. Röm. 12, 1. 2. f.
  • 5. Principium der gesellschaftlichen Pflichten. Nach dem Mose solte der Jude zwar auch schon seinen Nächsten lieben als sich selbst, 3 Mos. 19, 18. aber der Nächste war nach eben dieser Stelle nicht jeder Mensch, sondern nur der Mitjude, der Religionsverwandte und Mitbürger; alle andre Völker war der Israelit zu hassen nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet. Daher sagt Christus: es ist zwar zu den Alten gesagt: du solst deinen Freund lieben und deinen Feind hassen; ich aber sage euch, liebet auch eure Feinde, segnet, die euch fluchen, thut wohl denen, die euch beleidigen und verfolgen, damit ihr Kinder seyd des allgemeinen Vaters, der allen seine Sonne scheinen läßt. Und darum zeigt Chri|z33|stus in der Erzählung von dem barmherzigen Samariter dem Juden, der ihn frug: wer denn sein Nächster sey? daß auch Menschen aus feindseligen Nationen, und die für Ketzer gehalten würden, darunter gehörten. Mit Recht wird daher auch, so wol wegen dieser Ausdehnung der Pflicht des Wohlwollens auf alle Mitmenschen, als wegen der weit innigern und thätigern Art der Liebe, welche das Christenthum empfielt, diese Vorschrift, den Nächsten zu lieben, für ein neues Gesetz erklärt, was Christus zuerst bekant gemacht hat, und welches zugleich statt aller übrigen buchstäblichen Verordnungen das einige Gebot der Christen seyn soll, Joh. 13, 34. Röm. 13, 8–10.
  • 6. Begriffe vom Zustande nach dem Tode. Im Mose findet sich gar keine Aussicht in ein besseres Leben eröfnet; alle Belohnungen und Strafen, die als Beweggründe zur Beobachtung seiner Gesetze angeführt werden, beziehen sich auf Palästina, und das äussere Glück dieses Lebens und auf die Nachkommenschaft. Durch Christum ist allererst Leben und Unsterblichkeit durchs Evangelium ans Licht gebracht. Denn was die Pharisäer, nach einer spätern Muthmassung, von einer bevorstehenden Auferstehung glaubten, war eine Wiederauflebung der Juden zu einem tausendjährigen Reich unter dem Messias, und keine Religionslehre, die das Herz zu göttlichern Gesinnungen und zu unendlichen Hofnungen hätte erweitern können, 2 Tim. 1, 10. 1 Petr. 1, 3. Ph. 3, 20. 21.
Nimt man alles dieses zusammen, so ist unleugbar, daß alle Religionsbegriffe, die Mose im Kindheitsalter des israelitischen Volkes in Beziehung auf seine politische Gesetzgebung bekant gemacht hatte, durchaus durch Christum abgeändert worden sind. Ob nun gleich die Propheten nach und nach schon manches darin zu bes|z34|sern versucht hatten, so konte es doch nicht fehlen, daß nicht auch bey ihnen der Geist der Furcht, der Knechtschaft, des Nationalstolzes und des Religionshasses gegen andre Völker, nebst dem Hange zum Sinnlichen in der Religion, vermöge des Geistes der mosaischen Gesetzgebung, noch herrschend blieben; daher diese auch jetzt noch den Lesern der alttestamentischen Schriften eingehaucht werden. Wie kan der gemeine Christ, wenn er an diese Bücher als einen für ihn bestimten göttlichen Unterricht gewiesen wird, mit seinem ungeübten Scharfsinn das absondern, was seine erfreulichere und edlere christliche Vorstellungen verschlechtert: Paulus warnet Gal. 5. aufs angelegentlichste vor aller Einmischung mosaischer Begriffe ins Christenthum, und sagt ausdrücklich in dieser Beziehung: ein wenig Sauerteig könte den ganzen Teig verderben; und warlich nicht nur gemeine Christen, sondern auch viele Theologen haben durch den zweckwidrigen Gebrauch des alten Testaments ihren Lehrbegrif vom Christenthum in vielen Artikeln sehr durchsäuren lassen. Dieses wird sich in der Folge noch deutlicher zeigen, und ich glaube schon jetzt meine Behauptung vom alten Testament dahin gerechtfertigt zu haben, daß es blos als eine historische Urkunde von der grossen Unvollkommenheit der Religionsbegriffe vor Christo, und von der allmähligen zunehmenden Dämmerung bis zum Anbruch des Tages bey Erscheinung Christi anzusehen und zu brauchen sey, 2 Petr. 1, 19.

§. 90.

Der Zweck Christi und seiner Apostel ging nach den deutlichsten Aussprüchen des neuen Testaments dahin, ohne Abänderung der Landesgesetze zuvörderst würdigere und geistigere Begriffe von Gott, als Mose und die Propheten von ihm noch nicht ertheilen konten, zu erwecken, damit die Menschen von aller Furcht und Aengstlichkeit, womit |z35| sie ihm äusserlich zu dienen und seinen Zorn zu besänftigen gesucht hatten, befreiet, Vertrauen zu ihm fassen, nichts als Gutes erwarten, bey allen Schicksalen ihres Lebens ruhig bleiben, und der Zukunft auch über das Grab hinaus getrost und hofnungsvoll entgegen sehen möchten, Luc. 1, 79. Dieses ist der Geist der Kindschaft, welchen die Juden nicht ohne Erlösung von Mosis Gesetz, in sofern es als Religion von ihnen betrachtet ward, empfangen konten, Gal. 4, 4. 5. 1 Petr. 1, 18. 19. Röm. 8, 1. 16. K. 14, 17. 18. Joh. 8, 31. 32. 1 Joh. 4, 16–19. K. 3, 1 f. Hiernächst solte ein allgemeiner Geist der Rechtschaffenheit und Liebe unter den Menschen, ohne Rücksicht auf Nationalherkunft und andre äussere Unterschiede der Stände, erweckt werden, damit die Menschen einander das Leben versüssen, und Gottes Absicht, allen möglichst wohlzuthun, ihrerseits thätigst befördern möchten, Joh. 13, 34. 35. Matth. 5, 43. 48. Ephes. 4, 15. 1 Joh. 3, 11. 24. Röm. 8, 15. Col. 3, 15. Röm. 13, 8–10. 1 Cor. 13. Und so ist demnach das Wesen aller Religion und des ganzen Christenthums lediglich und allein in dem Geist der Liebe zu Gott und zu unsren Mitmenschen zu setzen, Matth. 22, 36. 40. 1 Joh. 4, 16. Diese Gesinnungen sind die unmittelbare Quelle der innern Gemüthsruhe, der höhern moralischen Freuden und der erhabensten Hofnungen. Zu diesem Zweck hin sind alle Anweisungen des neuen Testaments unleugbar gerichtet. Hierüber ist man nun auch von je her in der christlichen Kirche einig gewesen, und diese Einigkeit des Glaubens und des Geistes ist das einzige ächte Symbolum der wahren allgemeinen christlichen Kirche. Alle andre Symbolen trennen das Band des Friedens und der Einigkeit, Ephes. 4, 3 f. und veranlassen, daß Christus getheilet wird und Partheien entstehen, die sich Paulisch, Kephisch, Athanasianisch, Papistisch, Lutherisch, Kalvinisch u. s. w. nennen, |z36| 1 Cor. 1, 10–13. – Da dergleichen Trennungen der Christen in Sekten schon zu der Apostel Zeiten, und nachher weit öfter und allgemeiner entstanden sind, und noch fortdauren, so lasset uns die natürliche Ursache derselben in ihrer Quelle aufsuchen, damit die möglichste Wiedervereinigung im Geist zu einerley Glauben, zwischen allen denkenden Christen aus allen Kirchpartheien, befördert werde; wenn wir gleich, wie Christus und seine Apostel, die kirchlichen Policeygesetze der Landesobrigkeiten, die uns äusserlich trennen und einschränken, als gute Bürger genau beobachten, und es der Vorsehung überlassen müssen, ob und wenn sie auch von diesen eine Erlösung veranstalten wird. Von Mosis knechtischem Joch ließ Gott die Christen durch die heidnischen Römer befreien, und wo ich anders die Zeichen unsrer Zeit richtig deuten kan, so wird Gott die zweite Erlösung vom hierarchischen Joch abermals durch Ungläubige bewirken, die nicht das geistige Christenthum, sondern das kirchliche Lehrgebäude und dessen symbolische Bollwerke in ihren Schriften bestürmen.

§. 91.

Ich habe bereits §. 80. erwähnet, daß im neuen Testament nicht blos ein Weg, sondern mehrere verschiedene Wege zu höherer Glückseligkeit abgezeichnet sind, nemlich so vielerley, als es zu den Zeiten Christi besondre Gemüthslagen oder Standorte nach Verschiedenheit der Vorerkentnisse gab, von wo aus jeder Zuhörer und Leser von den Aposteln zu den gemeinschaftlichen Ziel der überwiegenden Liebe zu Gott und einer allgemeinen Rechtschaffenheit und Menschenliebe geführet werden mußte. Dieses will ich in der Absicht deutlicher aus einandersetzen, damit es augenscheinlicher werde, daß die abweichende Kirchensysteme in der Christenheit sämtlich einen biblischen Grund haben, und mehr nützlich als schädlich sind, sofern sie nur keinen Religionshaß erregen, und |z37| den göttlichen Geist der Liebe nicht in seinen Wirkungen stören.
Christus selbst konte während seines Lehramtes das jüdische Volk nur wenig aufklären, und mußte sie nur durch Gleichnißreden, die ihnen künftig verständlicher werden solten, vorbereiten, einen weitern Unterricht anzunehmen; und selbst seine Jünger konten nur wenig mehr fassen, als das übrige Volk; daher er ausdrücklich sagte: ich habe euch noch viel zu sagen, aber ihr könnet es jetzt nicht tragen, Joh. 16, 12 folg. Das meiste von Christi Unterricht ward den Aposteln erst bey weiterm Nachdenken und aus der Erfahrung in ihrem Amte nach und nach verständlich, Apg. 10, 34. K. 11, 16–18. Hieraus erhellet nun schon unwidersprechlich, daß nicht allen Christen ein gleiches Maaß der Erkentniß nöthig und nützlich ist; daß es Wahrheiten giebt, die nicht alle fassen können, und daß demnach die christliche Lehre in jedem Zeitalter und in jeder Gegend, nach Maaßgabe der vorhandnen Grade der Fähigkeiten und Vorerkentnisse, eine ganz verschiedne Ausdehnung in Absicht der Zahl der Wahrheiten haben müsse, und bald mit mehr sinnlicher Einkleidung, bald ohne solche, reiner und deutlicher werde erkant werden können. Ein System der Glaubenswahrheiten, oder auch eine besondre Vortragsart, kan zu einer gewissen Zeit in einer bestimten Gegend vorzüglich gut gewesen seyn, und zu einer andern Zeit oder in einer andern Gegend verwerflich werden: ja es muß nothwendig mit jeder mehrern Fertigkeit im Gebrauch der obern Geisteskräfte, auch der Lehrbegrif von der Religion einen höhern Grad der Reinigkeit und Vollkommenheit erhalten. Die Schriften des neuen Testaments sind theils für palästinische, theils für hellenistische, theils für gemischte aus Juden und Heiden gesamlete Gemeinen aufgesetzt.
Diese waren in ihren Principien und bisherigen Religionsbegriffen sehr von einander verschieden, und |z38| die Apostel mußten daher nothwendig für jede Klasse derselben eine eigne Lehrart erwählen. Paulus versichert es selbst, daß er allen allerley geworden sey, den Juden als ein Jude, den Griechen als ein Grieche, um viele zu gewinnen, 1 Cor. 9, 19–22. Wir haben in der Samlung der heiligen Bücher keine Schrift, welche blos für Heiden aufgesetzt worden wäre; weil die Apostel an allen Orten zuerst die Juden zu gewinnen suchten, und diese daher überall den ersten Stamm der Gemeinen ausmachten, zu welchen sich nach und nach auch Leute aus andern Nationen geselleten. Evangelien und Briefe sind daher vornemlich für Juden geschrieben. Allein aus einem Auszug einer Rede Pauli an die heidnischen Athenienser, welcher uns Apg. 17, 22 f. aufbehalten worden ist, können wir uns doch von Pauli Lehrart unter den Griechen, und wie er ihnen selbst als ein Grieche zu erscheinen suchte, einen ziemlich vollständigen Begrif machen. Ich setze voraus, was alle christliche Theologen zugestehen werden, daß Lukas uns das Wesentlichste und Hauptsächlichste, was Paulus den Heiden als Christusreligion vorzutragen pflegte und die Methode, deren er sich gewöhnlich dabey bediente, vorlegen wollen. Nun erwähnt der Apostel in dieser Rede weder Mosis noch der Propheten, sondern beruft sich gegen die Athenienser auf ihre Philosophen und Dichter; er nennet Christum weder Sohn Gottes, noch Herr, noch Hoherpriester; er gedenkt keiner von ihm zum Beweise der Göttlichkeit seiner Lehre verrichteten Wunder; keines Versöhnopfers für die Menschen, keiner Erlösung vom Zorn, Fluch, Todesengel oder Teufel; denn dis alles waren blos jüdische Vorstellungsarten. Der ganze Inhalt seiner Christenthumspredigt gehet dahin: daß nur ein einiger Gott sey, der Weltschöpfer, der keines Wohnorts, keiner Verpflegung oder Beschenkung von den Menschen bedürfte, sondern der all|z39|gegenwärtige Mittheiler aller Kräfte und alles Guten sey, was wir besitzen: daß dieser gütige Gott alle Begebenheiten der Menschen regiere, und sie durch seine Wohlthaten zu erwecken gesucht habe, sich von ihm, als dem Geber des Guten würdige Begriffe zu machen: daß er indes allen die grobe Unwissenheit, darin sie sich in Absicht auf ihn bisher befunden hatten, nebst den daraus hergeflossenen Folgen in ihrem Verhalten, übersehen wolle; nun aber verlange, daß alle bessere Begriffe von ihm fassen, und ihre moralische Gesinnungen verändern solten: indem er beschlossen habe, die Schicksale der Menschen dereinst nach ihrer Aufführung in diesem Leben zu bestimmen und zwar (nicht durch den Minos und Radamanthus sondern) durch einen Mann, den er vom Tode erweckt, und dadurch zugleich als einen glaubwürdigen Lehrer über die Zukunft legitimiret habe. – Sehet da den Weg, welchen Paulus die Heiden zur Gemüthsruhe, zur Rechtschaffenheit und zu freudigen Hofnungen, als dem Ziel aller Religion, geführet hat!
Ganz andre Wege wurden für die Juden nach ihrer Gemüthslage eröfnet. Diese mußten vor allen Dingen von der Anhängigkeit an ihr väterliches Gesetz losgemacht werden; und daher mußten sie Christum als einen weit höheren Gesandten Gottes, als Mose und die übrigen Propheten gewesen waren, erkennen und verehren lernen. Nun erwarteten die Juden zur damaligen Zeit bereits einen noch grössern Propheten, als Mose gewesen war, und erklärten viele Stellen des alten Testaments für Vorherverkündigungen der Glückseligkeit, die sich bey seiner Ankunft über die Nation verbreiten würde. Sie nanten diesen erwarteten Propheten, den Messias, oder Christus, den Gesalbten und in sofern er ihr König seyn, und sie an Gottes Statt regieren solte, den Sohn Gottes und ihren Herrn, Ps. 89, |z40| 7. Ps. 2, 7. Joh. 10, 34. 36. Ebr. 1. Als dieser erwartete grosse Prophet, Messias oder Christus, Gottes Sohn und Herr, ward nun Jesus den Juden vorgestellet, Luc. 1, 32. 33. 76. Kap. 2, 11. Ebr. 3, 1–6. Apg. 2, 36. K. 3, 22–26. Allein die Juden in und ausserhalb Palästina hatten nicht einerley Begriffe von der Person des Messias, den sie erwarteten: und da die Apostel sich auch hierin nach ihren Vorerkentnissen richten mußten, so finden wir daher auch mehrere verschiedene Theorien hierüber in den Schriften des neuen Testaments. Insonderheit lassen sich deren drey sehr deutlich unterscheiden.
Die erste Theorie von Christi Person findet sich in den Schriften, die für ungelehrte Juden aus den gemeinen syrischen Schulen aufgesetzt worden, namentlich in den Evangelien Matthäus, Markus, Lukas, den Briefen Petri, Jakobi und Judä, und in den Reden an gemeine Juden, die in der Apostelgeschichte aufbehalten sind. In allen diesen Schriften ist keine Spur von einer Präexistens der Seele oder einer höhern Natur Christi, oder einer Herabkunft desselben vom Himmel zu finden, sondern Jesus wird als ein wunderthätig empfangener Mensch, den Gott mit Geist und Kraft zum Wunderthun ausgerüstet habe, beschrieben, Matth. 1, 18. 20. 23. K. 3, 16. Luc. 1, 30. 35. 76–80. K. 2, 40. 52. K. 3, 22. 14, 61. 62. K. 22, 42. 43. 44. Apg. 2, 22–36. K. 3, 12–26. K. 4, 27. 31. K. 5, 30–32. K. 10, 38. K. 13, 23. 33. 1 Petr. 1, 19. 20.
Die zweite Theorie ist nach dem Lehrsystem der gelehrten Juden, welche die pythagorisch-platonische Philosophie mit der Lehre ihrer Propheten verknüpften, eingerichtet. Man findet sie in den Schriften Johannis, der viele Jahre sich zu Ephesus aufgehalten hatte; auch etwas davon im Briefe an die Ebräer. Nach dem System der platonisirenden Juden hatte Gott vor Schöpfung der Welt den Logos (das Wort) hervorgebracht. Wenn Moses erzählt, Gott sprach, so lehret er, daß der Logos aus Gott hervorgegangen, und durch diesen, der eine besondere für sich bestehende Person geworden, ist nachher alles gebildet und ausgeschmückt worden. Ausser dem Logos sind nachher noch andre Ausgeburten aus Gott hervorgegangen, als die Wahrheit, das Licht, das Leben u. s. w. Nun glaubten diese philosophirende Juden, der Logos sey ihr Bundesengel, der schon ehedem dem Abraham und andern erschienen sey, und als ihr Messias sichtbar werden würde. Indes waren ihre Theorien nicht übereinstimmig, und andere erwarteten den Monogenes oder Eingebornen. In Hinsicht auf diese Vorerkentnisse lehret nun Johannes, daß Jesus der Logos, der Eingeborne, das Licht, das Leben, die Wahrheit und alles das vereint gewesen sey, was man sich nach der Philosophie der Platoniker grosses und herrliches unter diesem Namen dachte: also derjenige, durch welchen alle höhere Segnungen Gottes den Menschen zugetheilt würden. Dasselbe Wort, wodurch Gott ehemals alles erschaffen, habe Fleisch angenommen und seine Hütte unter uns aufgeschlagen, Joh. 1, 1–18. und sey von den Jüngern leibhaftig gesehen, gehört und gefühlt worden, 1 Joh. 1, 1–3. Daher wird von Christo in Johannis Erzählungen wiederholentlich gesagt, er sey vom Himmel gekommen, Joh. 13, 13. 24. und ehe gewesen, denn Abraham, Joh. 8, 58; er habe eine Herrlichkeit vor Schaffung der Welt gehabt, zu welcher er in den Himmel zurückkehre, Joh. 17, 5. er wirke von jeher mit seinem Vater, und der Vater wirke durch ihn, und zeige ihm immer mehrere Werke, Joh. 5, 19 f. u. s. w. Auf gleiche Weise redet Paulus Ebr. 1, 2. 3. K. 2, 7–10. 14. 16. 17. K. 3, 6. K. 5, 8. K. 7, 26–28.
Die dritte Theorie trift man in Pauli Lehrart an, welcher die vorhandne verschiedenen Begriffe durchs Allegorisiren einander näher zu bringen sucht, und inson|z42|derheit in den Briefen an die Epheser und Colosser Christum zwar als den Erstgebornen unter allen Geschöpfen vorstellet, durch welchen alles erschaffen sey; aber dabey diese Schöpfung mehr aufs Moralische bey Errichtung einer neuen Kirche deutet, indem er lehrt, daß aus Juden und Heiden eine neue dritte Gattung der Menschen erschaffen worden sey, und jeder Christ als eine neue Kreatur angesehen werden müsse: daher sich Christen nicht mehr nach ihrer ersten Geburt als Juden und Heiden, Freigeborne und Sklaven u. s. w. unterscheiden solten, Eph. 1, 10–23. K. 2, 5. 6. 10. 14. Col. 1, 15–22. K. 2, 9. 10. 2 Cor. 5, 17. Gal. 6, 15. In allen übrigen paulinischen Briefen findet sich keine nähere bestimte Erklärung über die Person Christi, wenn man nicht Ph. 2, 5–11. dahin rechnen will; und 1 Cor. 15, 23–28. wird Christo ein Reich zugeeignet, was mit Aufhebung der Sterblichkeit zugleich aufhören wird, weil dann keine historische vermittelnde Begriffe zu reinern Erkentnissen von Gott ferner nöthig seyn werden.
Ueberall wird indes, wo von Christo als einem uns vorgesetzten Herrn und Haupt geredet wird, Gott als ein höherer von ihm unterschieden, von dem Christus alle Kräfte, Kentnisse, Hoheit und Gewalt bekommen hat, und welcher Christum, als eine Mittelsperson, seine Segnungen auszutheilen brauche. Hierin stimmen alle Apostel überein, 1 Cor. 8, 5. 6. 1 Tim. 2, 5. Matth. 28, 18. Joh. 14, 28. K. 5, 18. 19. 20. 26. 27. K. 17, 3. Apg. 2, 32–36. Ph. 2, 5–11.

§. 92.

Da über die Lehre von der Person Christi die ersten, mehresten und allgemeinsten Streitigkeiten in der Kirche entstanden sind und noch in unsern Tagen fortwähren, so kan ich bey derselben am deutlichsten und vollständigsten zeigen, wie man sich aus dem Labyrinth der Zweifel, welche durch solche kirchliche Uneinigkeiten über den wah|z43|ren Unterricht der heiligen Schrift veranlasset worden, herausfinden, und seinen Glauben, seine Gemüthsruhe und seine Hofnungen zugleich dabey aufs stärkste bevestigen könne. Zuvörderst muß man also das gemeine Vorurtheil fahren lassen, als ob in der heiligen Schrift eine gewisse Anzahl von Lehrwahrheiten überall auf einerley Art vorgetragen wären, und jeder alle diese Sätze mit einerley Bestimmungen, um selig zu werden, erkennen müsse. Wir haben bisher gesehen, wie vielerley verschiedene Vorstellungen von der Person Christi in den Lehrvorträgen der Apostel herrschen, und diese Verschiedenheit der Begriffe muß also zum Seligwerden unschädlich seyn. Christus preiset Matth. 5. bereits seine damalige Zuhörer, die doch äusserst fehlerhafte und grobe Begriffe nicht nur von ihm, sondern auch selbst von Gott hatten, selig, wenn sie nur gutmüthig gesinnet wären, und Gott vertrauten. Es komt also gar nicht darauf an, was und wie viel jemand erkennet und glaubt, sondern nur darauf, ob das, was er glaubt, in Verbindung mit seinen übrigen Einsichten, dahin zusammen stimt, ihn christlichgesinnt zu machen; das ist, ihn mit Liebe und Zuversicht zu Gott, und mit Wohlwollen gegen seine Mitmenschen zu erfüllen: denn alsdenn hat er den Geist Christi, und ist in Gott und Gott ist in ihm, 1 Joh. 4, 6. 7. 8. 13. 16. 17. Es fragt sich demnach, was ist das Allgemeine und Wesentliche, was alle, die durch Christum zu Gott kommen oder durch ihn zu göttlichen Gesinnungen und daraus fliessender höhern Seligkeit gelangen wollen, von Christi Person zu erkennen und zu glauben haben? Unleugbar nichts von dem, worin die apostolischen Lehrvorträge von einander abweichen, sondern nur das allein, worin sie sämtlich übereinstimmen; und wovon sie Heiden, palästinische Juden, Hellenisten, Gelehrte und Einfältige gleich durch zu überzeugen suchen; der Punkt, auf welchen alle verschiedene Wege, die sie nach den verschiede|z44|nen Vorerkentnissen ihrer Leser gebähnet haben, zusammentreffen. Und welches ist dieser Punkt? Ohnstreitig blos der Satz: Jesus ist ein göttlicher Lehrer gewesen, dessen Unterricht, als Wahrheit von Gott, anzunehmen und zu befolgen ist, wenn man glückseliger werden will. Dieses ist offenbar hinlänglich, um durch ihn den Vater in seiner ganzen Liebenswürdigkeit anbeten zu lernen, die erfreulichsten Hofnungen zu fassen, und solche Gesinnungen anzunehmen, wie er gegen Gott und Menschen gezeiget hat.
Die weitern Fragen: wie ist Christus ein göttlicher Lehrer? Hat Gott ihn bey seiner Geburt oder bey seiner Taufe mit ausserordentlichen Geistesgaben ausgerüstet? Oder hat Gott nach und nach immerfort in ihm jede Vorstellung gewirkt? Oder ist seine Seele ein Geist einer höheren Ordnung gewesen? Ist dieser Geist der höchste nach Gott, und das erste seiner Geschöpfe? Oder ist er nur ein untergeordneter Geist, der etwa der Schutzgeist der Erde, oder gar nur der Schutzgeist und Bundesengel der jüdischen Nation gewesen ist? Oder ist er der einzige Geist seiner Art, der Eingeborne? Ist er aus Gott geboren oder erschaffen, und was ist dazwischen für ein Unterschied? In wiefern nimt er Theil am Wesen Gottes? Hat man in ihm mehrere Naturen zu unterscheiden, und heißt er nur nach einer oder nach beiden der Sohn Gottes? Wie theilen sich diese Naturen ihre Eigenschaften mit? u. s. w. alle diese Fragen und tausend andre kan der Christ zur Seligkeit unbeantwortet lassen, und jeder Gelehrte ist durch die mannigfaltige Vortragsarten der Apostel berechtiget, sich den Lehrbegrif nach Maaßgabe seiner sonstigen Erkentnisse so auszubilden, als es ihm zu seiner Beruhigung am erfreulichsten ist; und es werden sich ihm auch gewiß beym fleißigen Forschen der Schrift Aussprüche darbieten, die seine Theorie, wie sie auch immer ausfallen mag, begünstigen werden. Denn |z45| eben dadurch wird das Christenthum eine allgemeine Religion, daß es sich an alle Vorerkentnisse anschließt, und von da zu höherer Seligkeit leitet.
Die Geschichte der Lehrmeinungen in der Kirche bestätiget nun auch, daß es seit der Apostel Zeiten eine überaus grosse Mannigfaltigkeit der Vorstellungsarten von der Person Christi in allen Zeiten gegeben habe; und jede Parthey ihre Lehre deutlich im neuen Testament anzutreffen geglaubt, und Beweisstellen, die von ihren Gegnern nicht völlig widerlegt werden konten, dafür angeführet habe. Anfänglich, da man sich blos aus den mündlichen Vorträgen der ersten Christenthumslehrer etwas aufgezeichnet hatte, oder sich auf mündliche Ueberlieferungen von den Aposteln berief, gab es eine grosse Menge Lebensbeschreibungen von Christo, und viele einzelne Lehrbegriffe von seinem Unterricht. In jedem Lande, unter jeder besondern jüdischen und philosophischen Sekte, hatte man eigne Evangelien und Lehrbücher, die alle sehr von einander abwichen. Dieses konte nicht fehlen, da die Apostel sich überall nach den Vorerkentnissen ihrer Zuhörer richteten, und davon soviel beybehielten und benutzten, als zur Erweckung der größten Hochachtung und des möglichsten Zutrauens gegen Christum nur irgends brauchbar zu seyn schien; um den Principien zu bessern Religionseinsichten einige Haltung zu verschaffen. Nachmals, da die eigne Schriften der Apostel und ihrer Begleiter, die an die Hauptgemeinen gerichtet worden waren, durch diese ein höheres und allgemeineres Ansehen erlangt hatten, hielt jede Gegend sich an die Evangelien und Briefe, die für ihre Denkart eingerichtet, und ihr zunächst gewidmet worden waren. Die aus den Schulen der syrischen Juden hatten das Evangelium Matthäi, Marci, Lucä; die platonisirenden Christen das Evangelium Johannis. Die daraus nothwendig entstehende Verschiedenheit in ihren Lehren von der Person Christi |z46| veranlaßte indes noch keine Spaltung oder sektirischen Haß. Justinus der Märtyrer, der in der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts, und also bald nach der Apostel Zeiten gelebt hat, und die philosophischen Systeme mehrerer griechischen Schulen studirt hatte, nachher aber ein berühmter rechtgläubiger Lehrer und Vertheidiger des Christenthums geworden war, erklärt in seinem Gespräch mit dem Juden Tryphon ausdrücklich: „wenn ich auch nicht beweisen könte, daß Jesus schon zuvor der Sohn des Weltschöpfers gewesen sey, ehe er als ein Mensch von der Jungfrau Maria geboren worden ist, so würde doch dadurch nicht aufgehoben, daß er nicht Christus oder der Gesalbte Gottes sey. – Man kan annehmen, daß er als ein Mensch von Menschen geboren, und doch von Gott zum Christ gewählet oder bestimmet worden sey. Denn es giebt auch unter den Christen unsrer Nation (απο του ημετερου γενους) einige, die ihn für den Christ halten, und doch sagen, daß er ein Mensch von Menschen sey. Ich pflichte ihnen indes nicht bey, wenn es gleich die gemeine Meinung seyn mag.“ Aus dieser Stelle siehet man deutlich, daß nicht nur Christen aus den Juden, sondern auch aus den Griechen, Jesum blos für einen Mann, der durch ausserordentliche Mittheilung höherer Gaben von Gott autorisiret worden, die Religion zu verbessern, gehalten haben; ja daß dieses die gemeinere Vorstellungart damals gewesen sey, ohne daß eine Parthey die andre deshalb für unchristlicher erkläret habe.
Insonderheit veranlaßte nun der Johannäische Vortrag, daß der Logos (das Wort) Gottes einen menschlichen Körper angenommen habe, Joh. 1, 1–14. vielerley besondre philosophische Theorien. Denn da das griechische Wort Logos zweierley bedeutet, nemlich einmal die Vernunft, und dann auch ein Wort oder eine Rede, so mußte die weitere Entwickelung dieser Begrif|z47|fe nothwendig verschiedene Lehrbegriffe erzeugen. Die unter Logos die Vernunft verstunden, rechneten den Logos zum Wesen Gottes, und gaben ihm eine gleiche Hoheit und Ewigkeit; weil Gott ohne Vernunft nie würklich gewesen seyn konte. Diejenigen aber, welche unter Logos ein ausgesprochnes Wort verstunden, theilten sich in vielerley Partheien, und gaben dem Logos entweder eine besondere Subsistenz und abgesondertes Daseyn ausser Gott; oder sie dachten sich ihn blos als eine Ausstrahlung oder aus Gott hervorgehende Kraft und Wirkung. Daher finden wir die Kirchenväter der ersten drey Jahrhunderte, die alle für rechtgläubig gehalten worden, so sehr verschieden in ihren Vergleichungen, wodurch sie uns deutlich machen wollen, wie der Logos zu Gott gehört, und doch eine andre Person ist, als der Vater. Tertullian, ein afrikanischer Kirchenvater des zweiten Jahrhunderts, will es recht deutlich machen, wie der Sohn als Logos immer im Vater gewesen, und doch auch von ihm selbst als eine zweite Person gezeugt sey, und hält sich dabey an die doppelte Bedeutung des Ausdrucks Logos. In seiner Schrift wider den Praxeas trägt er diese Lehre folgendergestalt vor, K. 5. folg. „Man darf nur acht geben, wie die Schrift vom Sohn als vom Wort; oder besser als von der Vernunft (Gottes) spricht: Ehe etwas war, war Gott allein; da war er sich selbst Welt und Ort und alles. Allein war er, weil nichts ausser ihm war: übrigens war er auch damals nicht allein, denn er hatte seine Vernunft bey und in sich, – den Logos, wie ihn die Griechen nennen, und die unsren durch Wort oder Rede übersetzen, da es doch natürlicher wäre, die Vernunft als das ältere anzunehmen. Denn Gott wird uns von Anfang nicht als sprechend, wol aber als vernünftig vorgestellt. Wie wol es liegt so viel nicht daran (wie man Logos übersetzt); denn was man denkt, sind Worte, und dann ist |z48| das zweite, was sich bey uns äussert, die Rede, die den Gedanken herausbringt oder offenbaret. – Wie viel mehr wird das so in Gott seyn, dessen Bild und Gleichniß wir sind. – Ich kan mit Grunde annehmen, daß Gott vor der Schöpfung der Welt nicht allein gewesen, da er in sich selbst die Vernunft, und mit der Vernunft auch das Wort gehabt, welches er, indem er mit sich selbst überlegte, als den zweiten nächst sich machte, K. 6. Eben das heißt sonst auch die Weisheit in der Schrift. Daher heißt es auch, daß die Weisheit als die zweite Person geschaffen sey, Sprüchw. 8, 22. 31. vergl. mit V. 12. und eben in dieser Stelle wird sie, man bedenke das, als Gott beystehen und also als würklich von ihm abgesondert beschrieben. So bald nemlich Gott das, was er mit der Weisheit, Wort und Vernunft (Logos) in sich selbst geordnet hatte, würklich ans Licht bringen wolte, hat er das Wort selbst zuerst hervorgebracht – K. 7. Da nahm Gott also das Wort, selbst seine Form und Gestalt, Schall und Tonfügung an, da Gott sprach: Es werde Licht. Dieses ist nun die völlige Ausgeburt des Worts, indem es von Gott ausgeht. – Aber, wird man gegen mich einwenden, was ist denn das Sprechen; es ist ja nichts als ein hörbarer verständlicher Schall, übrigens aber etwas unkörperliches, was nicht für sich besteht. – Ja, antworte ich, was von Gott ausgeht, kan nicht etwas leeres oder vorübergehendes seyn; sondern was von einer solchen Substanz herkomt, muß selbst ein Bestehen und Fortdauer haben. – Was nun auch der Logos für eine Substanz oder Bestehen bekommen haben mag, so nenne ich dieses eine Person und den Sohn Gottes, und behaupte, er sey der zweite nächst dem Vater, u. s. w. –“ Den Geist Gottes aber erkläret Tertullian folgendergestalt: „Jede Rede hat einen Sinn |z49| oder Verstand, und dieser ist der Geist, welcher den Worten gleichsam das Bestehen giebt.“
Aus diesen Erklärungen der berühmtesten christlichen Lehrer, gleich nach den Zeiten der Apostel, erhellet nun aufs deutlichste, wie sich ein jeder nach seiner Philosophie die biblischen Begriffe weiter entwickelt und geformt hat, und daß es auch damals, so wenig als vor oder nachher, eine Uebereinstimmung in allen Begriffen gegeben habe. Dieses aber hinderte auf keinerley Weise den Zweck des Christenthums und den äussern Frieden der Kirche. Allein so bald die Kaiser das Christenthum begünstigten, und den Bischöfen eine obrigkeitliche Gewalt einräumten, fingen diese an, verbindliche Lehrvorschriften zu ertheilen, wornach sich alle ihre untergeordnete Priester richten solten. Man hatte nun nach und nach die apostolischen Schriften, die sonst nur einzeln bey den Gemeinen vorhanden gewesen waren, gesamlet; und es traf sich nicht selten, daß an einer Kirche Lehrer aus syrischen, griechischen und egyptischen Schulen zugleich angestellet wurden. Ein jeder trug nun die Lehren des neuen Testaments nach denjenigen apostolischen Schriften, die ihm zuerst bekant worden waren, und in der Einkleidung seiner Landesphilosophie vor. Daraus entstanden Mißverständnisse, und die Bischöfe setzten die Priester, welche sich nicht nach ihrer Vortragsart bequemen wolten, von ihren Aemtern in ihrem Kirchsprengel ab. Fand nun ein solcher Priester bey andern Bischöfen seiner theologischen Schule Unterstützung, so brach über die Streitfrage ein öffentlicher Zank aus; und indem jeder Bischof seine Parthey durch die Mehrheit der Stimmen zu verstärken suchte, so ward der Streit in kurzem in allen Gegenden der Christenheit allgemein. Jeder Theil führte Schriftstellen für sich an, worin er seine Meinung mit klaren Worten zu finden glaubte, und es war nicht möglich, sich aus der Bibel zu widerlegen. Die Kaiser sahen sich genö|z50|thiget, um den öffentlichen Unruhen, welche der Bischöfe Eifer gegen einander veranlaßte, Einhalt zu thun, sich selbst ins Mittel zu schlagen. Sie versuchten zuerst den Weg eines Vergleichs, und versamleten die angesehensten Bischöfe und Gottesgelehrten aus allen christlichen Gegenden. Allein, wie konten sich diese vereinigen, da keiner nach der Schrift unrichtig lehrete, und nur alle darin irreten, worin die Theologen noch heut zu Tage irren, nemlich daß sie annahmen, es sey in den heiligen Schriften überall nur einerley Theorie und Vorstellungsart über jeden Artikel anzutreffen. – Es mußte also natürlich der allgemeine Erfolg aller Kirchenversamlungen seyn, daß entweder die stärkere Parthey die schwächere unterdrückte, oder daß man sich über etwas, wie zu Nicäa aus Gefälligkeit gegen den gegenwärtigen (noch ungetauften) Kaiser, vereinigte, was keiner recht verstand, und worüber bald nachher, wenn man es erklären wolte, neue Zwistigkeiten ausbrachen.
Es ist unmöglich, daß mehrere von verschiedenen Gemüthsfertigkeiten und Vorerkentnissen, wenn sie einerley Lehrvortrag hören oder lesen, sich völlig gleiche Vorstellungen von dem Inhalte bilden solten, zumal wenn es unsinnliche oder moralische Gegenstände betrift. Ein jeder faßt daraus nur grade so viel, als er sich vermittelst der vorräthigen, ihm schon klaren, Begriffe begreiflich machen, und mit seinen übrigen Erkentnissen zusammen reimen und damit verknüpfen kan. Nun kommen auf den Koncilien Geistliche aus so sehr verschiedenen philosophischen Schulen, aus Egypten, Palästina, Griechenland und den Abendländern zusammen, die einander unmöglich ihre Philosophie beybringen konten, und deren ein jeder nur dieses oder jenes biblische Buch, was für sein Vaterland geschrieben worden war, für völlig klar und verständlich hielt. Gesetzt nun auch, daß man einräumen wolte, es wären auf den Koncilien solche Lehr|z51|bestimmungen und Vortragsarten beliebt worden, die damals nach der Fassung des größten Theils der Bischöfe und Priester die bequemsten gewesen wären, so konten sie es doch nicht lange bleiben, sondern mußten verändert werden, so bald die übrigen Einsichten der Geistlichen und ihre Philosophie sich verbesserte. Denn mit jeder Kultur der Vernunft wird die Fähigkeit zu reinern Erkentnissen von Gott ohnstreitig vermehret. – Ein jeder kan nun leicht hieraus erklären, woher so vielerley Geheimnisse und Dunkelheiten in das gelehrte System des Christenthums hineingekommen sind. Wir haben nach und nach die jüdische, alexandrinische, pythagorisch-platonische, afrikanische und gröstentheils auch die aristotelische Philosophie so verlassen, daß sich kaum noch einige Theologen um historische Kentnisse davon bemühen, und haben dem ohnerachtet die Lehrbestimmungen im Christenthum beybehalten, welche aus diesen verschiedenen philosophischen Theorien nach und nach auf Kirchenversamlungen aufgenommen worden sind. So solte z. B. auf dem Nicäischen Koncilium eine bestimte Erklärung von der Person Christi, und dem Verhältniß desselben zum Vater gegeben werden. Ist aber wol jetzt das damals geformte Symbolum eine würkliche Erklärung der biblischen Lehre, oder ist es nicht geständlich jetzt allen ein Geheimniß, das ist, eine weit dunklere Lehre, als sie die Schrift selbst vorträgt? –
Ich unterschreibe ohne Bedenken das symbolum Athanasianum in Beziehung auf die platonischen Sätze der Arrianer vom Logos, denen die verneinende Sätze desselben entgegen gestellet sind: ich bin aber zu gleicher Zeit überzeugt, daß unter tausend Predigern kaum einer ist, der den wahren Sinn desselben begreift, eben daher, weil sich überaus wenige mit der Geschichte der alten philosophischen Meinungen beschäftigen, woraus der wahre Verstand begreiflich wird. Die mehresten, die sich in dem |z52| kirchlichen Sinn darum für Rechtgläubige halten, weil sie die Worte der Koncilien und Symbolen beybehalten, sind nichts weniger als rechtgläubig, weil sie unter den alten Formeln sich gar nicht mehr die Begriffe denken, die ehedem damit verknüpft worden sind. Gleiche Bewandniß hat es nun auch mit den Symbolen der Protestanten. Man kan zugestehen, daß darin die Christenthumslehre so gut vorgetragen sey, als es nach der Fassung der Philosophie, und den übrigen Erkentnissen der Geistlichen zur Zeit der Reformation geschehen können. Sind wir denn aber seitdem nicht weiter gekommen? Solten nicht Gelehrte in unsren Tagen von vielen Religionssätzen schon weit reinere Vorstellungen haben, als damals möglich waren? Und solte nicht mancher Satz für uns anstössig geworden seyn, der es zu den Zeiten Luthers noch nicht war? Ohnstreitig hat jede Aufklärung des menschlichen Verstandes, in welcher besondern Wissenschaft sie auch immer erfolgen mag, einigen Einfluß auf die Religion. Nicht blos die so sehr verbesserte philologische, kritische und historische Erkentnisse, die sich näher auf die Bibel beziehen, sondern auch die neuern Aufschlüsse in der Naturkunde und spekulativen Philosophie machen einen gereinigtern Religionsvortrag, als für Luthers Zeiten erforderlich war, für unser Jahrhundert nothwendig. Ich kan hierüber jetzt nicht ausführlich werden; aber zur Erweckung des weitern Nachdenkens wird ein einziges Beyspiel für Leser, wie ich mir wünsche, hinlänglich seyn. Es ist bekant, daß zu den Zeiten der Reformation, und noch lange nachher, diese Erde für den einzigen bewohnten Weltkörper, und die Menschen für die vornehmsten Geschöpfe Gottes gehalten worden sind. Ob man nun gleich dabey auch Engel glaubte, welche höhere Kräfte besässen, so hielt man sie doch in Absicht der künftigen Bestimmung kaum den Menschen gleich, sondern beehrte sie mit dem Amte, hier die |z53| Menschen, besonders in der Kindheit zu beschützen, und ihnen dereinst an Abrahamstafel zu Tische zu dienen. Mir selbst hat man in meinen Kinderjahren dergleichen Vorstellungen noch beygebracht, wobey man sich auf Ebr. 1, 14. Luc. 16, 22. 1 Cor. 6, 3. berief. So lange man nun nach diesen Ideen das Menschengeschlecht für das vornehmste der göttlichen Werke ansahe, und dem Zweck der Schöpfung des Weltalls auf ihre Seligmachung einschränkte, konte man kein zu übergrosses Mittel erdenken, was nicht immer einer göttlichen Weisheit zu brauchen anständig gewesen wäre, um den Hauptzweck ihrer ganzen Weltschöpfung an den Menschen zu erreichen. – Allein da in unsren Tagen die Aussichten in die Stadt Gottes dergestalt erweitert worden sind, daß wir unsre Erde nur als ein unbedeutendes Kämmerchen in derselben betrachten können, was man im Ganzen, wenn es völlig wegfiele, gar nicht vermissen würde; da man viele tausend Sonnen, und um jede derselben eine Menge grösserer Erdbälle, als der unsrige ist, kennet, und diese insgesamt wahrscheinlich nur ein unendlich kleinerer Theil des ganzen Weltalls sind; da kan man wol unmöglich alle Lehrsätze und alle Einkleidungen derselben, wie sie die alten Dogmatiker ausgebildet haben, so schlechthin beybehalten. Wenigstens müssen die, welche mit Maupertuis es für einen der stärksten Beweise eines höchst weisen Urhebers des Ganzen erkennen, daß überall zu keiner Wirkung in der Natur mehr Kraft angewandt wird, als grade dazu nothwendig ist, eine auffallende Disproportion zwischen Absichten und Mitteln in dem Kirchensystem finden. Wer also nicht zugleich glauben kan, daß es weise sey, die Mittel zu den Zwecken genau zu proportioniren, und auch daß die höchste Weisheit zu kleinen endlichen beschränkten Zwecken Mittel, die ungleich grösser sind als die Zwecke selbst, gewählt habe: der wird im Kirchensystem in vielen Artikeln reformiren müs|z54|sen. – Deutlicher will ich hier mit Vorsatz nicht seyn; ein jeder mache die Anwendung, so gut er kan!

§. 93.

Mit allen übrigen Lehrartikeln der apostolischen Schriften hat es nun eben die Bewandniß, wie mit der Lehre von der Person Christi. Man verstehet alles, wenn man sich vorher klar macht, wie die unmittelbaren Zuhörer und Leser der Apostel über jeden Lehrpunkt dachten, und alsdenn nur das Ziel in Augen behält, wohin sie geführet werden solten, nemlich zur Furchtlosigkeit und freudigern Vorstellungen von Gott, und ihren künftigen Schicksalen bey moralischguten Gesinnungen. Um nur eine Probe zu geben, wie hieraus die Lehrart der Apostel ihr volles Licht erhält, wähle ich die Artikel von den Dämonen und von dem Versöhnopfer Christi.

    Dämonenlehre.

  • 1. Vorerkentnisse der ersten Leser. Ihr Juden glaubt, daß eine Menge Dämonen in der Luft sind, welche auf die Seele und den Körper der Menschen und auf die äussere Begebenheiten der Welt einen kräftigen Einfluß haben. Ihr glaubt, daß die mächtigsten unter denselben mit ihrem Anhange in eignen Gebieten herrschen, und sie zu erweitern suchen. Ihr haltet diejenigen, welche euer Reich beschirmen, für gute Engel, die Schutzgeister der übrigen Nationen aber für eure Widersacher und Teufel, und daher auch für Feinde des Jehova, Dan. 10. Jud. 9. Tob. 3, 8. K. 12, 14. 15. Offenb. 12, 3 f. Diesen bösen Geistern schreibt ihr die meisten Unfälle und verschiedne Arten unheilbarer Krankheiten zu; ja ihr befürchtet, daß ihr im Sterben, wegen der Uebertretung eures Gesetzes, ihnen ausgeliefert und von ihnen gequälet werden möchtet. Nun will ich mich nicht auf den |z55| Grund oder den Ungrund eurer Meinungen einlassen, aber euch zu eurer Beruhigung nun eine erfreuliche Lehre verkündigen.
  • 2. Unterricht der Apostel: Christus ist ein Stärkerer als das Oberhaupt der widerwärtigen Geister. Er ist dazu gekommen, die Wirksamkeit derselben aufzuheben, und hat in seinem Tode dem Gewalthaber des Todes seine Macht über die Menschen benommen; und zum Beweise davon alle, die vom Teufel überwältiget waren, gesund und frey gemacht. Nun ist er über alle Dämonen und Geister, sie mögen über, auf oder unter der Erde seyn, erhöhet; alles ist unter seine Füsse gethan. Wer daher an Christum glaubt, und redlich seinen Vorschriften gemäß lebt, an den hat Satan keine Gewalt, sondern er fliehet vor ihm. Aber durch Abfall vom Christenthum, und durch Betrug und Lieblosigkeit geräth man in der Teufel Gewalt und Verdamniß, Ebr. 2, 14. 15. 1 Joh. 3, 8. Eph. 6, 12. 16. 1 Tim. 4, 1. 1 Joh. 3, 10.

    Versöhnungstod Christi.

  • 1. Vorerkentnisse. Ihr Juden glaubt nach Mosis Gesetz, daß niemand als nur der Hohepriester einen nahen Zutritt zu Gott habe; daß man daher eines solchen zum Mittler und Fürsprecher bey Gott beständig bedürfe. Ihr glaubt, daß wer nicht alle Worte des Gesetzes erfülle, vom Herrn verflucht sey; und daß keine Vergebung ohne Blutvergiessen erfolgen könne. Unter diesen Verhältnissen lebtet ihr in Angst und Todesfurcht; aber nun verkündigen wir euch ein Evangelium.
  • 2. Apostolischer Unterricht: Christus ist uns von Gott zu einem ewigen unsterblichen Hohenpriester verordnet, er ist ein für allemal mit seinem eignen Blut, das mehr werth ist, als aller Böcke und Kälberblut |z56| und alles Lösegeld von Metall, in das Allerheiligste eingegangen, und hat dadurch eine ewige Erlösung und Befreiung von allen Strafen, die Mose den Uebertretern seines Gesetzes gedrohet hat, gestiftet. Nun ist der Vorhang im Tempel zerrissen, und jeder hat als ein Christ einen ofnen und freien Zugang zu Gott. Die Handschrift, die wider uns Juden war, ist ans Kreutz geschlagen, und aller Fluch aufgehoben, da Christus durch sein Hängen am Holz ihn auf sich genommen hat. Nun bedürfen Christen auch keines Priesters zum Fürsprecher, sondern sie selbst können in seinem Geist ihn überall wohlgefällig als Vater anbeten. Aber nun muß auch jeder Christo leben, der für ihn gestorben ist, wenn er dereinst auch mit ihm in seiner Herrlichkeit leben will, Ebr. 2, 12. Luc. 23, 45.
Es erhellet ganz deutlich, daß diese Lehrart die Juden gerade zu dahin brachte, alle Furcht fahren zu lassen, und die zur Glückseligkeit nöthige Freudigkeit zu Gott, besonders in Absicht der Zukunft, zu fassen, und überhaupt geistiger und vernünftiger zu denken und zu handeln. Aber auch in diesen Lehren ist eine grosse Mannigfaltigkeit der besondern Einkleidung, für die verschiedenen jüdischen Sekten und für die Heiden, in den heiligen Schriften anzutreffen. Nirgends wird denen, welche von den bösen Geistern nichts wußten, es zu einer Seligkeitsbedingung gemacht, dergleichen zu glauben; nirgends den Heiden gesagt, daß sie ohne Söhnopfer keine Vergebung zu hoffen gehabt hätten. Hieraus folgt demnach die Regel der Amtsklugheit: man wähle bey jeder Klasse der Zuhörer den nächsten Weg, sie mit Vertrauen, Liebe und Freudigkeit zu Gott zu erfüllen. Haben sie keine ängstliche Vorstellungen von der Gewalt böser Geister, so erwecke man sie ihnen nicht erst. Sind sie bereits von so hellen Einsichten, daß sie von Gottes väterlicher Güte Verzeihung, ohne vorgängiges Blutvergiessen oder andre |z57| Geschenke, hoffen, so bringe man sie nicht erst auf die finstere jüdische Begriffe zurück. Findet man dagegen unter den Christen Leute vor sich, die so weit in ihren Vorerkentnissen zurück sind, wie ehedem die Juden waren, nun dann führe man diese denselben Weg, den die Apostel von da aus vorgezeichnet haben. Wer jenseit des Stroms sich befindet, bedarf einer Brücke um herüber zu kommen, es wäre aber thöricht, wenn man Leute, die disseit des Wassers wohnen, darum erst auf einem gefährlichen Nachen über den Strom herübersenden wolte, um auch sie über die Brücke in die Stadt herein zu bringen. Die Lehre vom Opfertode ist die Brücke für alle; welche da stehen, wo sich die Juden zur Zeit der Apostel befanden: unsre denkende Christen wohnen schon disseits.
Lieset man nun die Schriften der Kirchenväter aus den ersten Jahrhunderten, so findet man fast durchgängig den Tod Christi als das Erlösungsmittel von der Gewalt des Todesengels oder des Teufels vorgestellt, aber keine Spur von der spätern Lehre, daß Gott besänftiget oder ihm eine Genungthuung geleistet werden sollen. Ein jeder christlicher Schriftsteller entwickelte sich, nach seiner eignen besondern Philosophie, die Gründe und die Art und Weise der Erlösung vom Teufel. Einige lehreten, der Körper Jesu sey dem Teufel als eine Lockspeise vorgehalten worden, damit Christus den Satan, wenn er glaubte, eine Menschenseele zu haschen, selbst fassen und gebunden ins Gefängniß führen können. Gregor von Nazianz. Rede 39. Andre wie z. B. Augustin sagten: Gott hätte zwar nach seiner Allmacht dem Teufel seine Gewalt über die Menschen nehmen können, aber dis hätte sich für Gott nicht geschickt, sondern der Teufel hätte durch Gerechtigkeit besiegt, oder nach Urtheil und Recht seiner Herrschaft über die Menschen, die sich ihm freiwillig unterwürfig ge|z58|macht hätten, beraubt werden müssen. Gott hätte daher veranstaltet, daß der Teufel Gelegenheit gehabt, sich an Christo als einem völlig Unschuldigen zu vergreifen und derselben zu tödten, und eben dadurch hätte er nun das bisher gehabte Anrecht an die Menschen verloren. Es ist daher auch diese Vorstellung in Luthers Erklärung des zweiten Artikels übergangen: erworben, gewonnen, von allen Sünden, vom Tode und von der Gewalt des Teufels.
Wer sich selbst ausführlich überzeugen will, wie mannigfaltig von der Apostel Zeiten her die besondre Vorstellungsarten einer jeden einzelnen Hauptwahrheit, und die Methoden sie mit einander zu verbinden, gewesen sind, und entweder die todten Sprachen nicht geläufig versteht, oder weitläuftige Werke sich nicht anschaffen kan, oder durchzustudiren nicht Zeit hat, der lese die deutsche Uebersetzungen und Auszüge aus den Schriftstellern der ersten Jahrhunderte, welche uns der Herr Professor Rößler zum Theil geliefert hat und noch liefern wird. Denn ob gleich Herr Rößler unter solchen Verhältnissen gegen kirchliche Policeygesetze schreibt, daß er das herrschende System möglichst schonen muß, und daher z. B. den wichtigen Unterschied zwischen Θεος (ein Gott) und ὁ Θεος (der höchste Gott) in seiner Uebersetzung nicht hervorstechen läßt, so ist doch für Gottesgelehrte durch die beygedruckte Originalstellen an vielen Orten gesorgt; und die übrigen Leser, die auf feinere Lehrbestimmungen zu merken nicht nöthig haben, werden aus der Lesung des Ganzen sich noch immer einleuchtend überzeugen, daß das Christenthum überall nach der Landesphilosophie und dem Geist des Zeitalters geformt worden ist; daß die jetzt gemeinen Kirchenlehren ehedem unbekant gewesen sind; daß in den frühern Jahrhunderten das Christenthum gleichsam in der Kindheit sich befunden, so wie es nachher in den finstern Zeiten der |z59| Barbarey in den Abendländern abermals noch sinnlicher geworden; und daß also bey einer solchen Aufklärung der Vernunft und aller Wissenschaften, als Gott in diesem Jahrhundert uns gönnet, nothwendig eine Absonderung der groben Begriffe und eine geistigere Vorstellung der Lehre Jesu, als von den Zeiten der Apostel an bis jetzt noch nie statt finden können, nicht nur möglich, sondern auch nothwendig ist.

§. 94.

Ich habe nun, meinem Versprechen gemäß, deutlich dargethan, daß es beym Christenthum nicht auf Buchstaben oder auf tiefsinnige Lehrbestimmungen, sondern blos auf die innere Gemüthslage ankomme; daß nur der Geist der kindlichen Liebe und Freudigkeit gegen den Weltregierer, und der Geist des thätigen Wohlwollens gegen alle Menschen die göttliche Wohlthat sey, die durch Christum allen Gläubigen hat zugetheilet werden sollen; und daß übrigens das Bruch- und Stückwerk aller sonstigen Erkentnisse bey den Menschen, der Seligkeit unbeschadet, mehr oder weniger sinnlich und fehlerhaft seyn kan, und in diesem Leben immer mangelhaft bleiben wird. Paulus, der Gelehrteste unter den Aposteln, bekennet, daß seine Einsichten und seine Auslegungskunst der Schriften alten Testaments Stückwerk sey, und daß er sich, wie alle Menschen hier in diesem Leben noch im Kindheitsalter befände, und Gottes Regierungsplan nur wie im Dunkeln sähe, 1 Cor. 13, 9–12. Was würde dieser grosse Apostel zu den demonstrirten Kirchensystemen der spätern Theologen gesagt haben, die genau alle Begriffe begrenzen, alle Fragen entscheiden, und von uns verlangen, daß nun keiner weiter denken, sondern seine Vernunft der festgestellten Lehrform unterwerfen soll! Paulus meint in dem ange|z60|führten Kapitel v. 1. 2. 3. daß, wenn er auch alle Sprachkunde und alle andre Wissenschaften im vollkommensten Grade besässe, die Schrift völlig erklären, und alle Religionserkentnisse in einem vollständigen System liefern, und noch oben drein Wunder thun könte, so wäre das alles zusammen genommen nicht so viel werth, als ein Herz voll Liebe zu Gott und den Menschen. Er meint ferner v. 8–13 alle damalige Schrifterkentnisse würden verschwinden, wenn in einem männlichen Alter des menschlichen Geistes reinere Einsichten sich darbieten würden; nur Redlichkeit, Liebe und Hofnung würden immer wesentlich bleiben, und unter diesen bliebe die Liebe das grösseste und wirksamste: auf welche Christus bey Entscheidung der ewigen Schicksale auch nur allein sehen wird, Matth. 25, 31 f. – Ich will gegen diesen ächten Geist des Christenthums den Geist der kirchlichen Orthodoxisterey nicht kontrastiren lassen; ich fühle, daß ich zu lebhaft werden würde, und auch dieses könte den Geist der Liebe schwächen, 1 Cor. 13, 4–7. Gott sey gedankt, daß wir seit zwanzig Jahren so weit empor gekommen sind, daß wir nun wiederum mit Paulo einsehen, es lasse sich kein allgemeines vollständiges System erbauen, weil unser Wissen Stückwerk ist, und daß es thöricht sey, von andern eine völlige Beystimmung zu unsrem Glaubensbekentniß zu verlangen! – Allein diese Schrift selbst solte, dem Titel nach, ein System der christlichen Glückseligkeitslehre vorlegen. – Wie stimt dieses mit den vorstehenden Entwickelungen zusammen? – – Was ich geliefert habe, theureste Leser, ist kein solches System, wie die Dogmatiker in weitläuftigen Werken aufführen; es ist nur eine Zusammenordnung der allgemeinsten Religionswahrheiten, wodurch Glaube, Liebe und Hofnung unmittelbar erzeugt werden; auch ist es nur für einen Theil meiner denkenden Zeitverwandten, die mit mir |z61| ohngefehr gleiche Denkart und Vorerkentnisse haben, geschrieben. Von den Sätzen und gelehrten Meinungen, worüber die Kirchen sich zanken, findet ihr nichts darin, und da man in der ganzen Christenheit über die Wahrheiten, welche ich §. 81. gesamlet habe, einig ist, so dünkt mir, es sey dieses ein neuer Beweis, daß eben diese Wahrheiten nur allein wesentlich sind; und daß die streitigen Lehrbestimmungen das Zufällige ausmachen, welches eben so wenig bey allen gleichförmig seyn kan, als die einzelnen Gesichtszüge der Menschen, ob wir gleich alle ein menschlich Gesicht in Absicht des Wesentlichen der Organisirung haben. Freilich werden hundert Leser meines Systems auch hunderterley verschiedene Vorstellungen von den Wahrheiten, die sie hier lesen, in dem Innern ihres Gemüths sich ausbilden, wenn sie es gleich alle verstehen. Es ist unmöglich, daß alle in gleichem Grade der Klarheit, Deutlichkeit, Bestimtheit, Gewisheit und des Lebens die Begriffe fassen solten, und die bisherige Vorerkentnisse eines jeden, die sich sogleich beym Lesen einmischen, müssen unendlich verschiedene Gedankenreihen darüber erzeugen.
Wenn aber nur jeder, nach seiner persönlichen Denkungs- und innern Empfindungsart, Gott über alles liebt und als den erfreulichsten Gegenstand der herzlichsten Anbetung verehrt; wenn nur jeder nach seiner Fähigkeit sich die herrlichsten Aussichten für die Zukunft eröfnet, und unbegrenztes Vertrauen zu Gott faßt, und wenn nur jeder nach dem Maaß seiner Kraft Gott immer ähnlicher zu denken und zu handeln strebt, und mit seinem ganzen Gemüth dem Nächsten wohlwill und liebt, o so sind wir alle gleich selig und Gott gleich wohlgefällig, so weit auch immer der Abstand in den Graden der Vollkommenheit unsrer einzelnen Begriffe zwischen uns seyn mag.

|z62| §. 95.

Der Nutzen, welchen ich durch diese Schrift bey meinen Lesern zu stiften wünsche, und bey dem grössern Theil derselben zu bewirken hoffe, ist vielfach.
  • 1. Indem ich das Ziel ins Licht gesetzt habe, wohin ein jeder durch die Religion zu gelangen wünscht, so können nun denkende Leute, die nicht blindlings einem Führer nachzufolgen angewöhnt sind, sich entweder selbst den kürzesten Weg zu höherer Seligkeit wählen, oder doch die Führer besser beurtheilen, denen sie sich anvertrauen und selbst wahrnehmen, ob sie vorwärts oder im Zirkel herum geführet werden. Ist der Zweck aller Religionen, Gemüthsruhe und Freudigkeit zu Gott, besonders in Absicht der Zukunft, und innere Betriebsamkeit zum Guten in uns zu erwecken, so folgt, daß jeder Begrif und Satz, der etwas dazu beyträgt, unsre Zufriedenheit und Rechtschaffenheit zu verstärken, auch zu unsrer Religion gehöre; daß Sätze deren Annehmung in uns Furcht gegen Gott erwecken, oder Menschenhaß erregen, oder sonst unsre heitre Gemüthsfassung verschlimmern würde, schlechterdings wegzuwerfen sind; und daß endlich alle Sätze, welche nichts dazu beytragen, uns mehr zu beseligen, auch nicht in unser System der Religion aufgenommen werden müssen, wenn gleich andre nach ihrer Denkart dieselbe nützlich oder tröstlich finden möchten.
  • 2. Indem ich gezeigt habe, daß im neuen Testament mehrerley Theorien über einerley Hauptwahrheiten, nach Verschiedenheit der Vorerkentnisse der Leser, welchen jede Anrede und Schrift zunächst bestimt worden ist, enthalten sind: so wird nun die Auslegung der heiligen Schrift überaus erleichtert, und man hat nicht |z63| ferner nöthig, den einzelnen Aussprüchen Gewalt anzuthun, um sie gleichstimmig zu machen. Ein jeder Satz muß nur in der Reihe der Anweisungen, zu welcher er gehört, gelassen werden, so wird sich ergeben, daß eine hinlängliche Zusammenstimmung aller Lehrvorträge der Schrift, zum gemeinschaftlichen Ziel, Gemüthsruhe und liebevolle Gesinnungen gegen Gott und Menschen zu befördern, überall vorhanden sey. Nur muß man eine doppelte Schriftauslegung unterscheiden.
    • a) Die logische Erklärung des Schriftverstandes nach den Regeln der Auslegungskunst. Bey dieser steht es fest, daß jeder Ausspruch nur einen einförmigen Wort- und Sachverstand hat. Dieser schränkt sich lediglich auf die Vorstellungen ein, welche der Verfasser in den nächsten Lesern unmittelbar hat erwecken wollen; und dieser kan für unsre Zeiten zum Unterricht ganz unbrauchbar geworden und veraltet seyn, weil die Christen jetzt schon weiter sind.
    • b) Die asketische oder erbauliche Schrifterklärung, bey welcher der Zweck ist, Erkentniß der Wahrheiten und gute Gemüthsbewegungen in heutige Christen hinein zu bringen, und durch das Ansehen der Bibel zu bevestigen. Hierbey ist der Sinn der heiligen Schrift sehr mannigfaltig, und ganz richtig, was der Cardinal Nicolaus de Cusa in seinem siebenten Briefe an die böhmische Klerisey ehemals schrieb: Intellectus scripturae currit cum praxi: non mirum ergo, si praxis ecclesiae vno tempore scripturam interpretetur vno modo, alio tempore alio modo. (Der Verstand der Schriftstellen |z64| verändert sich nach der Praktik der Kirche; man muß sich daher nicht wundern, wenn die Kirche ehedem anders ausgelegt hat, als sie es jetzt für gut befindet.) So legten die Evangelisten und Apostel viele Aussprüche des alten Testaments, zur Beförderung besserer Gesinnungen bey ihren Zuhörern, zwar nicht hermeneutisch aber doch ascetisch richtig aus; und so werden nicht nur auf den Kanzeln die Texte auf mannigfaltige Art erklärt; sondern es sind auch, wie mir deucht, die meisten neuern Wörterbücher, Uebersetzungen, Auszüge und Erklärungen, der helldenkenden Theologen über die heilige Schriften den Aufklärungen unsres Zeitalters gemäßer gemacht, so daß die heiligen Schriftsteller eine modernere Denk- und Sprachart dadurch erhalten haben. In sofern dieses den erbaulichen Gebrauch der heiligen Schriften für jetzige Leser befördert, ist es gar nicht zu tadeln, da wir hierin Apostel zu Vorgängern haben: in sofern aber Gottesgelehrte die alten Begriffe der ersten Christen zu den Zeiten der Apostel aufsuchen, oder uns liefern wollen, solten sie lieber das schwankende, gemischte nach der Einbildungskraft der Juden geformte, und sinnlich Grobe gerade so darlegen, wie es die Kindheit der christlichen Kirche damals bedurft hat: ob ich gleich gestehe, daß Paulus, durch seinen besonders feinen und künstlich allegorisirenden Vortrag, klugen Lesern schon weit mehr zu denken gegeben hat, als die gemeinen Christen nicht darin finden konten, und noch wenig Gottesgelehrte darin gefunden haben.
  • 3. Indem ich gezeigt habe, daß das Christenthum in Palästina, Griechenland, Egypten und den Abend|z65|ländern überall nach der Landesphilosophie, und in jeder Nation abermals nach den verschiedenen Sekten verschiedene Formen und Einkleidungen bekommen hat, so wird man auch besser thun, bey Lesung der ältern Schriften auf diese Mannigfaltigkeit zu merken, als sich die unphilosophische Mühe zu geben, alle für rechtgläubig gehaltene Schriftsteller nach der spätern durch Koncilien bestimten katholischen Lehre übereinstimmig erklären zu wollen: und zugleich den kleinern Partheien und einzelnen Gelehrten, die von der herrschenden Kirche für irrgläubig gehalten worden sind, mehr Gerechtigkeit wiederfahren lassen. Auch von ihnen ist oft viel zu lernen, und wo ich nicht irre, das meiste: denn reinere Einsichten sind wol von je her nur immer das Antheil einer kleinen Anzahl der Menschen und nicht des grössern Haufens gewesen.
  • 4.
    Indem ich gezeigt habe, wie Christus und die Apostel in Palästina sich gegen die Landesgesetze bey ihrem Religionsunterricht verhalten haben, so wird dieses vielen Lehrern zur Beruhigung gereichen, daß sie mit gutem Gewissen ohnerachtet ihrer hellern Einsichten und bessern Ueberzeugungen, sich doch nach den Kirchengesetzen ihrer Gegend bequemen können. Unsre symbolische Schriften sind Policeygesetze. Wer darauf vereidet ist, kan von denen davon dispensirt werden, die das Recht hatten, ihn zu vereiden: das ist, von seiner höhern Obrigkeit, welche die Bedingungen feststellt, unter welchen sie jemand ein öffentlich Amt in ihrem Gebiet anvertrauen will.
    Es ist äusserst lächerlich, wenn Theologen sich das Ansehen geben, als ob sie Garants des west|z66|phälischen Friedens wären, und für Deutschlands äussere Ruhe wachen müßten: oder wenn sie sich einbilden, der Kaiser und die Reichsfürsten hätten sich eine Anzahl Lehrbestimmungen im Religionsfrieden auf ewige Zeiten garantiren wollen. Blos die protestantischen Fürsten, nicht aber die Theologen haben diesen Frieden geschlossen, und nur die Fürsten, und nicht die Geistlichen, haben es unter einander auszumachen, wie weit dadurch ihre Rechte eingeschränkt worden seyn, Freiheit im Lehren und Schreiben in ihren Ländern zu gestatten. Zufällige Einschränkungen natürlicher Rechte und Freiheiten, dergleichen das Recht gemeinnützige Lehren zu verbessern, und seine Verbesserungen öffentlich bekant zu machen, ohnstreitig ist, haben mehrentheils ihren Grund in Zeitumständen und äussern Verhältnissen, und wenn diese Gründe bey veränderten Umständen wegfallen, fällt natürlich auch die Folge, oder der äussere widernatürliche Zwang zugleich weg. Jeder Landesfürst muß demnach beurtheilen, wie weit er die natürliche Gerechtsame seiner Unterthanen noch wegen äusserer Verhältnisse aus Politik einschränken müsse; dis kan kein Geistlicher von seinem niedrigen Standpunkt übersehen, und es ist die unbesonnenste Arroganz, wenn Theologen ihren Fürsten oder derselben Ministern Grenzen der Religionsduldung vorschreiben wollen, als wenn Geistliche von Gottes wegen auch Depositaires und Ausleger der weltlichen Friedensschlüsse wären. Freuen solte sich die ganze Christenheit, und besonders jeder Geistliche, daß es noch Länder giebt, wo der menschliche Geist sich frey empor heben kan, und wo man jede Wahrheit laut denken darf. – Niemals kan, was göttlich wahr |z67| ist, dabey verdunkelt werden. Je mehr Einwürfe und Zweifel vorgetragen werden, desto mehr wird nur die Wahrheit von den beygemischten menschlichen Meinungen geläutert. Sie ist ein Gold, das je öfter es ins Feuer komt, um desto glänzender wieder hervorgeht.
  • 5. Es ist überhaupt eine ganz leere Grille, wenn man sich die protestantischen Geistlichen als eine geschloßne Gesellschaft unter dem Namen einer Kirche denkt, und daher folgert, daß jeder mit allen übrigen völlig gleichstimmig lehren müsse. Diese Idee ist noch aus der hierarchischen Verfassung der römischen Kirche, darin sie etwas reelles hat, unter uns übrig geblieben; sie ist aber, wie wir gesehen haben, nicht apostolisch, so lange man Paulum und Jakobum beyderseits für rechtgläubig hält. Prediger unter den Protestanten sind moralische Aerzte, und stehen gegen einander in keinem andern Verhältniß, als die physischen Aerzte, die weiter keine Gesellschaftspflichten gegen einander haben, als daß sie gemeinschaftlichen Landesgesetzen unterworfen sind, und Beweise ihrer Tüchtigkeit abgelegt haben müssen, wenn ihnen öffentliche Praxis verstattet werden soll. Wenn dann jeder so gut verordnet, als er es versteht, so erfüllt er seine Pflichten, und es schadet gar nicht, wenn gleich Aerzte eines und desselben Orts zum öftern verschiedner Meinung sind. Dis ist bey dem Stückwerk unsrer Erkentniß nicht anders möglich. Ein jeder Bürger kan wählen, wem er sich anvertrauen will, und sich an denjenigen halten, bey dessen Rathgebungen er sich am besten befindet. Was würde wol herauskommen, wenn hier in Frankfurth der Arzt sich nach den Hamburger oder Nürnberger Prak|z68|tikern erst umsehen müßte, wenn er verordnen wolte, ob die auch eben so zu verordnen pflegten. Gesetzt also, es träfe sich, daß Prediger an einer Gemeine ganz verschiedne Systeme und Lehrarten hätten, so werden doch beide dahin arbeiten, Gemüthsruhe, Zuversicht zu Gott, und Rechtschaffenheit zu befördern. Ein jeder von der Gemeine wird dann aus ihren Vorträgen das auffassen, was ihm zusagt, und der Nutzen wird desto grösser seyn, je nöthiger eine Mannigfaltigkeit der Vorstellungen bey der verschiedenen Gemüthslage der Menschen ist. Indes müssen immer kirchliche Policeygesetze bleiben, damit diejenigen, welche wider den Haupzweck des Christenthums Argwohn, Zwiespalt, öffentliche Trennungen und Unruhen erregen, nach denselben ihres Amts entsetzt werden können. Man solte daher an allen Orten vornemlich diejenigen als wahre Ketzer (Partheienmacher) bestrafen, welche gegen ihre Kollegen und andre rechtschafne Lehrer predigen, und gegen sie Verdacht und Haß zu erregen suchen: denn diese mißbrauchen die Kanzel zum Tummelplatz ihrer Leidenschaften, und erbittern an statt zu bessern, Röm. 14, 19. K. 15, 1–7. 1 Cor. 14, 26. K. 13, 1–7. Eph. 4, 29–32. Wer durch unvorsichtiges Verhalten in seiner Lage sich Censur der Obern zuziehet und Vortheile verliert, ist kein Märtyrer für die Wahrheiten, die er gelehrt hat, sondern ein Märtyrer der Unbesonnenheit, und des Leichtsinns, daß er die Policeygesetze seiner Kirche und Gegend nicht menagiret hat.
  • 6. Vermöge dieser Auseinandersetzungen wird nun alles Aergerniß über theologische Streitigkeiten bey denkenden Personen wegfallen. Man siehet, daß |z69| bey allen Zwistigkeiten doch das eigentliche Christenthumssystem, wie ich es §. 81. vorgetragen habe, feststehet, und daß die Verschiedenheit der Meinungen mehr die vorläufige Hülfserkentnisse und die Einkleidung betrift, vermittelst deren jeder besondern Gattung der Menschen die Hauptwahrheiten verständlich gemacht werden müssen; oder daß die Fragen, worüber man sich nicht vereinigen kan, ausser den Grenzen des geoffenbarten Unterrichts zur Seligkeit liegen, blos spekulativ sind, und von niemand in diesem Leben völlig entschieden werden können.
  • 7.
    Junge Theologen insonderheit können aus dieser Schrift lernen, worauf sie ihren vorzüglichsten Fleiß zu verwenden haben[.] Philologische, kritische, antiquarische und andre zu den gelehrten Hülfsmitteln der Schriftauslegung gehörige Kentnisse sind, so wie die Geschichte der Lehrmeinungen, vortrefliche Vorbereitungen zu ihrem Lehramte; allein daraus lernen sie nur, wie ehedem Juden, abgöttische Völker, und Leute von allerley philosophischen Sekten, allmählig von ihren alten Meinungen abgeleitet, und von damaligen Epidemien sittlich kurirt worden sind. Sobald sie aber bey einer bestimten Gemeine als moralische Aerzte angesetzt werden, komt es vornemlich darauf an, ihre Gemeine und die Krankheiten in derselben kennen zu lernen, und die speciellern Genesungsmittel für jede Gattung derselben und jede Person insonderheit gehörig zu erfinden und anzuwenden. Dann muß ihr Hauptstudium dahin gehen, sich folgende Aufgaben immer zuverlässiger auflösen zu lernen:
    |z70| Wie verscheuche ich aus den Gemüthern meiner Zuhörer alle ängstliche Furcht vor Gott? Wie erwecke ich am leichtesten in ihnen eine Begierde Gott in seiner ganzen Liebenswürdigkeit sich oft zu denken, und seiner Wohlthätigkeit sich immer anschauender bewußt zu werden? Welche Vorstellungen können nach ihren bisherigen Erfahrungen sie am kräftigsten im Vertrauen zu Gottes Vorsehung bevestigen? Was für Hindernisse und Zweifel finden bey ihnen noch statt, und wie hebe ich diese am besten? Wie bringe ich Rechtschaffenheit und Menschenliebe in das Innerste ihrer Seele hinein, und wie unterhalte und belebe ich ihre Betriebsamkeit, Gott ähnlich zu werden, von Sonntag zu Sonntag? Wie kurire ich die Temperaments- oder Gewohnheitsneigung zur Mißmüthigkeit und Unzufriedenheit? Wie den Neid, den Stolz, den Geiz, den Leichtsinn, die übertriebne Tadelsucht, theils überhaupt, theils bey diesem und jenem der Gemeine in seiner besondern Lage? Wie bringe ich den Frieden in die Häuser, in welchen Zwietracht herrscht; gegenseitiges Zutrauen zwischen Ehegatten, die sich durch Argwohn das Leben verbittern? Wie Verträglichkeit und Dienstbeflissenheit zwischen widriggesinnte Nachbaren? Wie veranstalte ichs, daß mit den etwa vorhandenen oder ausfindig zu machenden Mitteln, die Kinder der Armen eine Erziehung zur künftigen Brauchbarkeit in ihrem Stande erhalten? Kurz, wie stelle ich es an, daß von Woche zu Woche immer mehr wahre Glückseligkeit in meiner Gemeine durch meine Sorgfalt hervorgebracht, und diese bey jedem Mitgliede immer vollkomner werde?
    |z71| O, meine Brüder, was köntet ihr für Segen über die Menschen verbreiten, wenn ihr als Väter und Aerzte gegen eure Gemeinen dächtet und fühltet? Wenn ihr die Muße, die euch vor allen andern, die in Aemtern stehen, gegönnet ist, dazu anwendetet, die einzelnen Mitglieder eurer Gemeine nach und nach genauer, in Absicht ihrer Gemüthsfassung und äussern Lage, kennen zu lernen, und dann jeden gleichsam bey der Hand fassetet, und ihm zu höherer Wohlfart hinauf steigen hülft! Wie ehrwürdig müßtet ihr euch selbst dabey fühlen, wie ehrwürdig müßte unser Stand und Amt dann jedem Menschenfreunde, jedem denkenden Mann erscheinen, und mit welcher Seligkeit müßte das Bewußtseyn, so viele zufrieden und weise gemacht zu haben, eure Seele erfüllen! Aber freilich, eure Dogmatiken, Polemiken, und andre weitläuftige theologische Werke, können euch wenig Dienste dabey thun! Eine Nachahmung Christi, Studium der Menschheit, Achtsamkeit auf Erfahrungen und Reflexion über den Eindruck und Erfolg, den eure Vorträge und Beyspiel bey euren Kirchkindern haben; das wird euch früher und sicherer lehren, was und wie ihr reden und handeln müßt. Dann werdet ihr auch bald selbst finden, welche Schriften ihr zu diesem Behuf mit Nutzen brauchen könnet. Vielleicht manche sehr verschrieene Bücher!
  • 8.
    Endlich müssen diese Betrachtungen allen Menschenfreunden höchst willkommen seyn. Wenn man nach den gemeinen Lehren annimt, daß es nur einen einzigen Weg zur Glückseligkeit giebt, und daß dieser Weg das Glaubenssystem irgends einer bestimten christlichen Kirchparthey sey; wie beklom|z72|men muß da das Herz werden? Unter allen Menschen, die gelebt haben, hat kaum einen, gegen eine Million andrer, das Glück getroffen, ein Mitglied derselben Kirchparthey zu seyn: und unter den äussern Bekennern des Glaubens dieser Kirche, ist es wieder unter hunderten kaum einer, der nach den Grundsätzen des Systems ein völlig Bekehrter und Gläubiger gewesen ist. Also werden nach dem Kirchensystem hundert Millionen, theils ungetaufte, theils irrgläubige Menschen verdamt, gegen einen, der vermittelst seines Glaubens an ein bestimtes Kirchensystem selig wird! Und wie, wenn nun unsre Kirche Unrecht hätte, und eine andre den richtigen Weg allein lehrte? – Wie sehr erweitert sich dagegen unser Herz zur freudigsten Anbetung der allgemeinen weisen Vaterliebe Gottes, wenn wir mit Paulo aus deutlicher Ueberzeugung ausrufen, Röm. 11, 32 f. O welcher Reichthum der Weisheit in den mannigfaltigen Wegen Gottes, die alle von ihm veranstaltet werden, und alle zu ihm führen!
    Aber wird man mich fragen, giebt es denn auch ausser dem Christenthum Wege zur Seligkeit? – Die Absicht dieser Schrift erfordert zwar nicht, diese Frage hier zu beantworten, indes will ich auch hierüber zu genauern Nachdenken Veranlassung geben, und wenigstens meine Leser in den rechten Gesichtspunkt, aus welchen alle Religionen überhaupt zu beurtheilen sind, führen. Man kan diese Betrachtung als eine Einschaltung oder Anhang zu dieser Schrift betrachten.

§. 96.

Wenn die Frage ist, welche Einrichtung in der Welt unter mehrerern möglichen die beste sey, oder wel|z73|che Mittel die göttliche Weisheit zu gewissen Zwecken wählen müsse, so dünkt mich, daß ein menschlicher Verstand sich es nie herausnehmen solte, dieses von vorne her (a priori) ausmitteln und bestimmen zu wollen. Die höchste Weisheit des höchsten Weltregierers übersiehet das Ganze im Zusammenhange, und wählet das, was nach allen seinen Folgen alle Ewigkeiten hindurch das beste ist. Wer also voraus bestimmen wolte, wie Gott zu verfahren hätte, müßte auch selbst den ganzen Zusammenhang der Ursachen, Wirkungen und Folgen im Weltall durch unbegrenzte Zeiten überschauen, und demnach selbst einen unendlichen Verstand besitzen. Dagegen ist uns vergönnt, und übersteigt unsre Fähigkeiten nicht von hinten her, (a posteriori) aus Thatsachen zu erkennen, welche Mittel Gott als die besten zu seinen gütigen Absichten über die Menschen gewählet hat. Und nun lasset uns in die Geschichte der Welt durch alle verflossene Jahrtausende zurück sehen, ob jemals seit der Ausbreitung des menschlichen Geschlechts auf dem Erdboden, nur Eine Religion und Lehrsystem der Glückseligkeit herrschend gewesen sey, oder ob nicht vielmehr die größte Mannigfaltigkeit der Lehrbegriffe von Anbeginn bis auf unsre Tage neben und nach einander statt gefunden haben. Ist dis letztere aber historisch gewiß und unleugbar, so muß die Einförmigkeit des Glaubens, so nützlich sie uns nach unsrem kurzen Gesicht immerhin scheinen mag, nicht in den höhern Plan der moralischen Erziehung des Menschengeschlechts zu seiner Bestimmung passen, sondern eine Verschiedenheit der Religionen im Ganzen sowol, als für einzelne Personen, weit zuträglicher seyn. Es ist also thöricht, darüber zu zürnen, oder zu seufzen, daß nicht mehr Menschen in eben der Laufbahn zur Glückseligkeit wandeln, in welcher wir durch unsre Erziehung eingeleitet worden sind.
|z74| So bald uns nun aber mit Zuverlässigkeit einleuchtet, wie Gott gehandelt, und welche Mittel er, als die besten zu seinen wohlthätigen Absichten wirklich gewählet hat, so ist es uns nun ferner erlaubt und wie mich deucht, eine sehr nützliche und würdige Beschäftigung für unsre Vernunft, daß wir durch Nachdenken möglichst zu entdecken suchen, wie die von Gott getroffene und dem ersten Anblick nach uns sonderbar vorkommende Anstalten dennoch das Wohl des Ganzen mehr befördern, als diejenigen Mittel, die wir nach unsern Einsichten für vorzüglichere gehalten haben würden. Es frägt sich also, ob sich nicht einige Gründe angeben lassen, warum Gott so vielerley Religionssysteme in der Welt duldet, darin zum Theil so grobe und nach unsern Vorstellungen so ganz abgeschmackte Vorstellungen von seinem Charakter, und dem Plane seiner Vorsehung herrschen; zumal es ihm doch nach seiner Macht etwas geringes seyn würde, einerley Lehrbegrif, und zum Beyspiel die Lehre der Augsburgischen Konfession überall unter sämtlichen Nationen des Erdbodens gemein zu machen? – Ich habe hierüber zum öftern nachgedacht, und was sich mir beym tieferforschen dargeboten, will ich denen unter meinen Lesern, die es fassen und brauchen können, nicht vorenthalten, da es zu weitern Aufschlüssen über viele andre wichtige Fragen Veranlassung geben kan.
  • 1. Ich setze die höchste Würde und wesentliche Aehnlichkeit des Menschen mit Gott in der Vernunft, und diese ist mir die freye Selbstthätigkeit, alle Erkentnißkräfte und andre Vermögen nach eigenen Belieben zu brauchen, und dann nach eignen Einsichten zur Verbesserung seines Zustandes zu wählen und zu wirken. Jede gute Bestimmung, welche der Mensch durch seine |z75| eigne Thätigkeit erlangt, macht ihn selbst innerlich vollkomner, dagegen alle scheinbare Verbesserungen seines Gemüths, die nicht in ihm selbst ihre Quelle haben, ein angehefteter Zierrath sind, wobey er im Grunde derselbe bleibt. Wenn ein Vater seinem Sohn alles, was er sagen solte, immerfort in den Mund legte, so würde der junge Mensch zwar jederzeit etwas klügeres und schöneres sagen, als wenn er seine eigne Gedanken, so gut er könte, vortragen müßte: allein er würde auch innerlich hierbey wenig vollkomner werden, und niemals eine solche Fertigkeit im Selbstdenken und Sprechen erlangen, als er erhalten wird, wenn man ihn von Kindheit an seinen eignen Verstand anzustrengen veranlasset. Eben diese Bewandniß hat es mit der göttlichen Erziehung der Geister zu ihrer höhern Bestimmung. Je mehr der Vater der Welt seine Kinder selbst handeln und ihre Kräfte brauchen läßt, je mehr innerliche Stärke und Vollkommenheit erhalten sie; wenn gleich ihre Vorstellungen, Wünsche und Handlungen noch so kindisch und thöricht bey den ersten selbstthätigen Bestrebungen wären. So oft aber der eigne freie Gebrauch der natürlichen Kräfte gehemmet wird; so oft durch Einwirkung einer höhern Macht Vorstellungen, Gesinnungen und Entschliessungen in die eigne Gedankenreihen hineingeschoben werden, und überhaupt so oft eine fremde Thätigkeit durch uns wirket, wäre es auch das Edelste und Göttlichste, was sodann gethan würde, so oft werden wir von dem Range freier, selbstthätiger, Gott ähnlicher Geister, zu unmoralischen sich nur leidentlich verhaltenden Werkzeugen herabgewürdiget, und die anscheinende Vervollkomnung ist ein ange|z76|hefteter Putz, der uns auf keine Weise innerlich reeller macht. Was in Absicht einzelner Menschen gilt, findet nun auch in Absicht des ganzen beseelten Körpers des menschlichen Geschlechts seine Anwendung. Je mehr Gott die Völker ihrer eignen Kultur und dem natürlichen Weiterstreben nach Erkentniß und Wohlfart überlassen hat, je grösser ist die Summe der wahren Realitäten, oder innern bleibenden Vollkommenheiten im Ganzen geworden; je weiter ist das Menschengeschlecht dem Ziel seiner höhern Bestimmung entgegen gerückt: so abgeschmackt und widersinnisch auch ihre selbstgebildete Religionsbegriffe in dem Kindheitsalter der Welt immer gewesen seyn mögen. Dieses ist auch nicht wider die Schrift: denn diese lehret selbst, daß Gott alle Offenbarungen oder grössere Aufklärungen moralischer Wahrheiten durch Lehrer besorgen lassen, daß diese sich immer nach den Fähigkeiten ihrer Zeitverwandten und nächsten Leser gerichtet haben, und daß alle Verbesserungen der Einsichten und Gesinnungen durch äussere Vorträge ohne innerliche Störung des natürlichen Gedankenganges der Menschen bewirkt worden sind. Daher gab es zu allen Zeiten Starkgläubige, Schwachgläubige und Ungläubige. Denn jeder Zuhörer und Leser nahm aus dem Unterricht der begeisterten Männer nur grade so viel auf, als er nach seiner Fähigkeit verstehen, fassen und mit seinen vorräthigen Begriffen zusammenreimen konte.
  • 2. Die mancherley uns seltsam scheinenden Meinungen der alten Völker von der Gottheit waren dem Grade ihrer Aufklärung in andern Kentnissen proportioniret und angemessen, und paß|z77|ten zu ihren übrigen physischen und moralischen Begriffen. Wer sich die Mühe geben will, genau zu erforschen, was gemeine Leute unter den Christen sich für innre Vorstellungen von dem göttlichen Wesen, und der Art seiner Regierung machen, wird bald finden, daß noch gar viel grobe und widersinnische, anthropopatische und anthropomorphische Begriffe, trotz allem Licht des Christenthums, sich bey ihnen erzeugen, und durch Anhörung noch so vieler Predigten wenig verbessert werden. Nur wird man in unsern Kirchen dieses nicht so leicht gewahr, weil das frühzeitige Auswendiglernen vernünftigklingender Worte, und die Gewöhnung zu ihrem Gebrauch uns täuscht, daß wir auch eben die Begriffe in dem Verstande des grossen Haufens vermuthen, die wir damit zu verknüpfen geübt sind. Ist es nun nach der Geschichte des menschlichen Verstandes aus allen Zeitaltern und nach unserer täglichen Erfahrung gewiß, daß die Religionserkentnisse bey keinem Menschen nicht geistiger und reiner seyn können, als es die Vorübung der Verstandeskräfte in Bildung unsinnlicher Begriffe, und die Beschaffenheit der übrigen damit zu verknüpfenden Einsichten in jedem Kopfe verstattet (1 Cor. 2, 14); so folgt, daß wenn einerley Glaube und eine völlig gleichartige Vorstellung der Religionswahrheiten im ganzen menschlichen Geschlecht fortdaurend herrschen solte, Gott alle Menschen nicht nur mit völlig gleichen Talenten geboren werden, und durch einerley Reihen der Vorerkentnisse von Kindheit an zubereiten lassen müßte, sondern daß auch, nach einmal erlangter vollständigen Kentniß des allgemeinen Lehrbegrifs, alles weitere Fortstreben |z78| der menschlichen Vernunft zu weitern Verbesserungen der Einsichten gehemt, und allmächtig verhindert werden müßte. Denn jeder höhere Grad der Verstandsfertigkeiten macht uns vollkomnerer Begriffe von geistlichen Dingen fähig; jede Aufklärung in der Naturkunde reiniget um etwas unsre Vorstellungen von dem Regierungsplan Gottes. Wenn uns daher auch der Vater der Welt, sogleich mit einer so grossen Stärke der Vernunft und so herrlichen Einsichten, als jetzt der vollkommenste der erschafnen Geister besitzet, in die Welt setzte, so würden doch diese Einsichten keinen Tag dieselben bleiben, und unter mehrern Menschen nach der Verschiedenheit ihrer Lage sogleich von einander abweichend werden; oder es müßte auf einmal ein allgemeiner Stillstand im Weiterdenken und Forschen verhangen, und unser Verstand auf das vorhandne Maaß der Einsichten auf immer geheftet und eingeschränkt bleiben. Da nun aber das Leben eines Geistes in der selbstthätigen Geschäftigkeit seine Begriffe zu erweitern, und vollkomner zu machen bestehet, so ist offenbar, daß es der höchsten Weisheit angemeßner ist, die Menschen, welche zu einem ewigen Fortschreiten im Erkentniß bestimt sind, von vorn anfangen zu lassen, damit sie durch eigne Uebung ihrer Geisteskräfte, und durchs Zusammensuchen der ersten Elemente zu höhern Einsichten aus den sinnlichen Empfindungen, das mit jedem Vorschritt zu grösserm Licht verknüpfte Geistesvergnügen sich selbst erwerben möchten.
  • 3. Alle Religionen in der Welt haben ihren grossen Nutzen gehabt, so viel Aberglaube und Widersinni|z79|sches auch darin zu finden gewesen seyn mag. Sie beförderten nemlich auf eine den übrigen Einsichten ihrer Bekenner angemeßne Art den doppelten grossen allgemeinen Zweck der Religion überhaupt, nemlich
    • a) Gemüthsruhe: in Absicht der allen Menschen fürchterlichen Ungewisheit der Zukunft und der darin bevorstehenden Schicksale, die nicht vorher gesehen, noch abgewandt werden können. Denn da alle Menschen von je her die Unglücksfälle der Schickung einer höhern Macht zugeschrieben haben, so war jede Ceremonie, durch welche man die Oberwelt sich günstig zu machen glaubte, ein Beruhigungsmittel des Gemüthes.
    • b) Gewissenhaftigkeit und Tugend. Die natürliche Empfindung von Recht und Unrecht wird durch die blosse Hinsicht auf eine höhere vergeltende Macht ausnehmend in ihrer Wirksamkeit verstärkt; und wenn auch nur anfänglich blos einige politische Tugenden, ohne welche sich die bürgerliche Gesellschaften nicht bilden oder erhalten konten, in Thätigkeit gesetzt wurden, so war dis schon ein grosser Vorschritt zu der daraus erfolgenden weitern Kultur der Menschheit.

§. 97.

Ich habe nun, wie ich glaube, sehr deutlich dargethan, daß eine völlige Einförmigkeit des Lehrbegrifs niemals in der Welt statt finden könne, und daß die Mannigfaltigkeit der Religionen überhaupt weit mehr nützlich als schädlich sey. Solten mich dieser freimüthigen Aeusserungen wegen einige Eiferer unter den |z80| christlichen Gottesgelehrten, ihrer Gewohnheit nach, für einen Latitudinarier, Synkretisten oder Indifferentisten erklären wollen, so würden sie sich nicht so wol gegen mich, als vielmehr gegen den höchsten Regierer der Welt, auf die unbesonnenste Weise vergehen: denn auf diesen würde der Vorwurf zurückfallen. Ich bin es ja nicht, der die Menge der Religionssysteme in den Erziehungsplan des menschlichen Geschlechts hineingebracht hat. Ich war es nicht, welcher der weitern Ausbreitung des Christenthums Grenzen setzte, und den gehoften Erfolg der Kreutzzüge vereitelte. Ich habe nichts dazu beygetragen, daß die vielen Sekten in der Christenheit entstanden sind, und daß alle Verfolgungen der herrschenden Parthey, sie gänzlich auszurotten, nicht vermocht haben. Worüber solte ich also Tadel verdienen? Etwa deswegen, daß ich auf den wahren Plan der göttlichen Vorsehung, wie er am Tage liegt, Aufmerksamkeit erwecke? Oder daß ich zu dem Vater aller Völker das ehrfurchtsvolle Vertrauen äussere, er könne sich in der Wahl der Wege, die er die verschiedene Nationen und jeden Menschen zu dem Ziel ihrer Bestimmung leitet, nicht irren; sondern alles werde dereinst, so wie es von ihm herkomt, auch durch ihn und nach seinem Plan wiederum zu ihm hingeführet werden? Haben nicht schon Christus, Petrus und Paulus eben dieses gelehret? Röm. 11, 33–36. Matth. 8, 10. 11. Apg. 10, 34. 35.
Uebrigens bin ich sehr weit davon entfernt, alle Religionen für gleich gut zu halten. Schon die Allegorie, welche ich in diesen Betrachtungen zum öftern gebraucht habe, legt es zu Tage, wie ich hierüber denke. Es können viele Wege zu einer glücklichen Provinz hinführen, und doch wird immer einer vor dem andern |z81| kürzer, sicherer und weniger beschwerlich seyn. Derjenige, welchem mehrere Wege, die von seinem Wohnort ausführen, bekant sind, ist im Stande, den besten darunter zu wählen; wer aber nur Einen in seiner Gegend vor sich findet, oder von keinem andern nichts weiß, ist genöthiget, den, der sich ihm darbietet, ohne weitere Wahl zu betreten. Sehr wenige Menschen befinden sich in solchen Umständen, daß sie ihre Religion wählen könten. Die meisten werden durch die Verhältnisse bey ihrer Geburt, und durch ihre Erziehung sogleich zwischen die Verzäunungen eines kirchlichen Lehrbegrifs hineingebracht, und an solche Führer gewiesen, die selbst keinen andern Weg kennen, und alle, die ausser ihren Schranken fortzukommen suchen, für unglückliche und verlorne Leute erklären. Kaum wird, selbst in gesitteten Ländern, unter jedem Tausend sich Einer befinden, der in männlichen Jahren Stärke des Geistes und Vorerkentnisse genung hat, sich selbst einen Weg, der ihn grade zum Ziel führet, zu suchen, oder sich einen neuen zu bähnen. Und diese einzelne unter Tausenden machen das kleine Publikum aus, für welche ich eigentlich schreibe: Junge Gottesgelehrte, welche selbst Wegweiser ihrer Zeitverwandten von so mannigfaltiger Denkungsart und Gemüthslage werden wollen, und bey den Streitigkeiten der ältern Theologen, über den Einzigen richtigen Weg zum Leben, sich nach Rathgebungen eines Unpartheyischen sehnen: und hiernächst auch die edlen Personen der gesitteten Stände, welche ihren Geist durch Lesung der besten untersuchenden Schriften geübt haben, und mit den Augen ihres eignen Verstandes sehen und beurtheilen wollen, in wiefern dieser oder jener Weg sie richtig oder durch unnöthige Krümmungen dem Ziel ihrer Wünsche entgegen führt: die|z82|se sind es, welchen ich nützlich zu werden wünsche; ohne bey der übrigen Menge das Vertrauen niederschlagen oder schwächen zu wollen, was jeder zu seinem angewiesenen kirchlichen Wegweiser gefaßt hat. Das Gedankenvolle, Enthymematische und Aphoristische der Schreibart, welche ich zu dieser Schrift gewählet habe, macht sie zu einem versiegelten Buch für alle, die nicht Stärke des Geistes genung haben, sie mit Nutzen zu lesen.

§. 98.

Zum Schluß, meine wertheste Leser, will ich hier die sämtlichen Hauptsätze dieser Schrift in einer solchen Ordnung hintereinander stellen, daß man ihren Zusammenhang und ihre Uebereinstimmung zu dem edlen und menschenfreundlichen Zweck, wozu sie hier abgehandelt worden sind, leichter übersehen, und die ganze Schrift desto fruchtbarer benutzen könne.
  • 1. Höhere Glückseligkeit ist das allgemeine Ziel aller menschlichen Wünsche. Sie bestehet in dem Gemüthszustande einer fortdaurenden Zufriedenheit und des öftern Vergnügtseyns. Die Quelle der Zufriedenheit ist das anschauende Erkentniß des überwiegenden Guten in unsrem Zustande, verknüpft mit der Hofnung der Fortdauer und der fernern Vermehrung des Guten. Die Quelle des Vergnügtseyns oder der Freude ist die Bemerkung des würklichen Anwachses der guten Bestimmungen. Es finden viele Grade der Glückseligkeit statt. §. 1 10.
  • 2. Eine Glückseligkeitslehre ist keine Schöpfung neuer noch nicht wirklicher Kräfte und Güter für uns, sondern blos ein Unterricht, durch welchen uns |z83| theils das schon vorhandene Gute in unsren natürlichen Bestimmungen und äussern Verhältnissen, und die Gründe zu guten Hofnungen, ins Licht gesetzt, theils zuverlässige Regeln bekant gemacht werden, wie wir durch eignes Bestreben zum Besitz und vollesten Genuß des vorhandenen Guten gelangen können. Daher muß jede wahre Glückseligkeitslehre mit dem Naturplan übereinstimmen. §. 30. Nr. 1. 3. §. 40. Das Leben jedes endlichen Geistes ist eine ununterbrochen fortgehende Reihe innerer und äusserer Veränderungen. Es folgen immerfort Gedanken auf Gedanken, Begierden auf Begierden, und eine äussere Abwechselung auf die andre. Keinen Augenblick bleibt unser Zustand völlig derselbe. Jede Veränderung verbessert oder verschlimmert den Zustand. Aber diese Veränderungen sind von doppelter Art: Einige hängen von uns ab, und sind Folgen der eignen Anwendung unsrer Kräfte: Andre stehen nicht in unsrer Gewalt, sondern sind Folgen physischer Gesetze, oder äusserer Einwirkungen fremder Kräfte auf uns, wobey wir uns blos leidentlich verhalten. Hieraus erhellet aufs neue, daß jede Glückseligkeitslehre in Beziehung auf die doppelte Art der Veränderungen, deren Reihe unser Leben ausmacht, zweierley leisten müsse, nemlich sie muß uns erstlich über die von uns selbst abhängende Veränderungen unterrichten, wie wir uns zu verhalten haben, damit jede Anwendung unsrer eignen Kräfte unsren Zustand verbessere; und zweitens über die von uns nicht abhängende Veränderungen beruhigen, daß durch keine fremde Gewalt oder Zufälle unsre Wohlfart zerstöret, noch jemals die Früchte unsres Wohlverhaltens auf immer vereitelt werden können. |z84|
  • 3. Die Ueberzeugung, daß die Welt einen höchst gütigen und weisen Urheber und Regierer habe, ist die einzige Quelle dauerhafter Gemüthsruhe, höherer Hofnungen, und eines standhaften weisen Verhaltens. Religion ist daher höhere Glückseligkeitslehre: denn es fließt unmittelbar aus dem Erkentniß einer höchst vollkomnen moralischen Regierung der Welt, theils daß es allgemeine und sichre Regeln des sittlichen Verhaltens giebt, bey deren Befolgung ohnfehlbar immer grössere Wohlfart entstehen muß, theils daß alle Veränderungen, die nicht von uns abhängen, durch eine höhere Weisheit und Güte gelenket werden, und daher zu Beförderungsmitteln unsrer höhern Glückseligkeit dienen müssen. Diese Wahrheiten machen das Wesen der Religion oder höhern Seligkeitslehre aus; denn nicht nur der Mensch, sondern alle endliche Geister müssen ihre Zufriedenheit, Hofnungen und Standhaftigkeit in moralischen Wohlverhalten, auf den Glauben oder die Ueberzeugung der moralischen Regierung des Weltalls von einer höchst gütigen Weisheit gründen. Alle andre Sätze, die zur Religion gerechnet werden, sind entweder Folgen daraus, oder blos zufällige Hülfserkentnisse, jene erhabene Wahrheiten sinnlichen Geistern verständlich und faßlich zu machen. Letztre sind nicht zur Religion selbst zu rechnen.
  • 4. Die Menschen haben sehr zeitig ihr Bedürfniß, eine Religion zu haben, gefühlet, so bald sie nur ihre Abhängigkeit von so vielen Dingen ausser sich bemerkten und darüber zu reflektiren vermochten. Allein sie konten sich ihre Begriffe von dem Regierer der Welt zu keiner Zeit vollkommener ausbilden, als es das Maaß |z85| der Kultur ihrer Geisteskräfte verstattete. Es war daher in den Volksreligionen vieles Kindische, was nach und nach bey jeder weitern Aufklärung der Vernunft allmählig durch Männer, die Gott von Zeit zu Zeit erweckte, verbessert ward. Bey den Gelehrten der ältern Nationen fanden auch schon reinere Einsichten in den Plan der göttlichen Regierung statt, die aber, weil das Volk sie noch nicht fassen konte, geheim gehalten wurden. Mose machte einen Theil derselben zuerst der jüdischen Nation bekant, und gab ihnen durch die theokratische Staatsverfassung einige Haltung, doch mußte viel Sinnliches noch beybehalten werden: den Priestern ward muthmaßlich noch etwas mehreres entdeckt. Nachdem aber die gesitteten Völker einige Volljährigkeit des Verstandes erhalten hatten, erschien Christus, und lehrte eine geistigere Religion. Aber diese konte auch damals noch nicht vom gemeinen Volk ohne Hülfe einiger sinnlichen Bekleidung gefaßt werden. Die ersten Lehrer des Christenthums mußten daher bey allen Nationen auf die vorhandne Vorerkentnisse Rücksicht nehmen und vermittelst derselben den geistigern Lehren einige Unterstützung verschaffen. Daher gab es so vielerley Theorien vom Christenthum, und eine so grosse Mannigfaltigkeit der Lehrarten in den ersten Jahrhunderten, als es verschiedne Klassen von Menschen gab: wie die Schriften des neuen Testaments selbst, und alle Ueberreste aus den unmittelbar folgenden Zeiten beweisen. Bey der Aufnahme der Menge gemeiner Heiden unter den ersten christlichen Kaisern mußte aufs neue mehr Sinnliches aus ihren bisherigen prächtigen Gottesdiensten in christliche Kirchen aufgenommen werden, und die Bildnisse |z86| der Götter wurden in Statüen der Apostel und Heiligen verwandelt. In den mittlern Jahrhunderten verkinderte abermals die Vernunft in den Abendländern und die Religion des Volks ward durchaus sinnlich. So bald die Wissenschaften mit Hülfe der alten Sprachen wiederauflebten, erfolgte die Reformation ganz natürlich, und eben so natürlich bringt die schnelle Aufklärung unsres Jahrhunderts abermals eine Reinigung des christlichen Lehrbegrifs von den groben und sinnlichen Bestimmungen, welche den vergangenen Zeitaltern unschädlich und ihren Bedürfnissen angemessen waren, hervor. Nach dem Plan Gottes in der physischen und moralischen Welt erfolgt in der Reihe der Ursachen und Wirkungen nirgends und niemals ein Sprung: alles entwickelt sich allgemach. Reinere und vollkomnere Einsichten sind in der Religion, wie in der Physik und andern Wissenschaften, zuerst das Eigenthum weniger guten Köpfe, welche nach und nach die Aufklärung weiter verbreiten nach dem Maaß der Empfänglichkeit ihrer Zeitverwandten. Es wird daher, wenn wir analogisch schliessen wollen, bis ans Ende der Welt eine Mannigfaltigkeit der Religionen und der besondern Lehrbegriffe über das Christenthum geben, wie es dergleichen von je her gegeben hat, und dieses muß zur Vorbereitung des menschlichen Geschlechts zu seiner weitern Bestimmung die beste Einrichtung seyn, weil es Gott selbst ist, der sie in den Erziehungsplan der Kinder Adams hineingebracht hat. Die höchste Weisheit kan in der Wahl ihrer Mittel nicht fehlen, und man befördert also Gottes Absicht und Ehre mehr durch Toleranz, als durch Geseufze und Ereiferung über die vielerley Religionsmeinungen. |z87|
  • 5. Ein christlicher Lehrer muß, nach dem Beyspiel Jesu und seiner Apostel, möglichst reine und geistige Begriffe von Gottes moralischer Regierung in seinen Zuhörern erwecken, und insonderheit die innigste dankbare Liebe und freudiges Vertrauen zu Gott in Absicht der Zukunft, und hiernächst Rechtschaffenheit, großmüthige Menschenliebe und vernünftige Betriebsamkeit zu allem Guten, nach allen seinen Kräften und sich darbietenden Gelegenheiten, verbreiten: denn in diesen Gesinnungen liegt die Quelle der Seligkeit: sie machen das Wesen und den Geist des Christenthums aus. Er muß aber auch, nach dem Beyspiel Christi und der Apostel, sich klüglich nach den Fähigkeiten seiner Gemeine und nach den Policeygesetzen der Kirche, in welcher Gottes Vorsehung ihn geboren werden lassen und zum Lehrer berufen hat, bequemen und richten, und alles vermeiden, was ihn des Schutzes der Obrigkeit und des Zutrauens der Schwachen berauben könte. Wo noch viele grobe und abergläubische Vorerkentnisse sich finden, mit welchen gute Religionsbegriffe verwebt sind, muß man des Unkrauts um des Weizens willen verschonen, weil dieser sonst mit ausgewurzelt wird. Diese Regel haben auch alle Menschenfreunde in mündlichen Unterredungen und besonders in Schriften zu beobachten. Lasset uns demnach, wenn wir Menschenfreunde seyn wollen, keine Stütze der Tugend oder der Hofnungen des Volks, wenn sie uns auch morsch scheinen solte, niederreissen, sondern nur darauf denken, festere Säulen unterzustellen. Wer z. B. einen neuen und stärkern Beweis für die Fortdauer unsrer Persönlichkeit nach dem Tode, als die bisher bekanten |z88| ihm zu seyn dünken, erfunden zu haben glaubt, lasse sich durch keine schriftstellerische Eitelkeit verleiten, den Vorzug desselben durch Entdeckung der Schwächen aller übrigen schon vorhandenen Beweise darthun zu wollen. Vielmehr lobe er alle bekante Beweise, und füge den seinigen zu ihrer Bekräftigung hinzu; sonst läuft man Gefahr, bey aller menschenfreundlichen Absicht mehr niederzureissen, als zu bauen. Lasset uns niemals Zweifel gegen trostvolle und gemeinnützige Wahrheiten in Gegenwart solcher Personen, die dergleichen noch nicht haben, bekant machen und äussern, weil hierdurch oft unleugbar eine der größten Feindseligkeiten, gegen die Gemüthsruhe der Mitmenschen und selbst gegen die gemeinsame Wohlfart, ausgeübt wird.
Paulus Röm. 15, 1. 2.
Wir aber, die wir an Geistesfertigkeiten und Einsichten stärker denn andre sind, haben die Pflicht auf uns, mit den Schwachheiten der Unvermögendern Nachsicht zu haben, und uns nicht gegen sie zu brüsten oder sie zu verachten. Ein jeder unter uns verhalte sich in allen Beziehungen vielmehr so, daß er andern gefalle, ihr Vertrauen gewinne, und ihnen zu immer mehrerer Bevestigung und Verbesserung guter Erkentnisse und Gesinnungen förderlich sey!